Bitte handeln Sie (ein offener Brief)

Angesichts der Missbrauchsskandale initiierten vor gut vier Jahren die Deutsche Bischofskonferenz und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken in enger Kooperation das Reformprojekt „Synodaler Weg“. Später brachte der Vatikan für die Jahre 2021-2024 das weltweite Projekt „Für eine synodale Kirche. Gemeinschaft, Teilhabe, Mission“ auf den Weg. Die vorbereitende Phase ist weitgehend abgeschlossen, im Juni 2024 erschien das Arbeitsdokument für die Endphase im Oktober 2024. Doch Zweifel am Gelingen des Projekts sind angebracht. Der Papst könnte eingreifen, indem er den Kirchen vor Ort endlich Freiräume bietet, die das Qualitätsmerkmal  „synodal“ verdienen. Der hier vorliegende Offene Brief an Papst Franziskus zeigt einige Hintergründe und Zusammenhänge auf. Weiterlesen

Pfingstliche Flammen oder römische Feuermelder? Was die Schrift zur Synode zu sagen hat.

Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und sie begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab. (Apg 2,3f)

Römisch-katholische Kirche in Deutschland. Es war 2019, da durchzog ihre Reformgruppen ein enthusiastischer Geist, der auch die Deutsche Bischofskonferenz und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken beflügelte; ein kirchliches Pfingsten rückte in die Nähe. Die Missverstandenen sollten endlich Gehör finden und die Sprache der gelehrten Dauerredner verstehen, die sich meist abgehoben, hochtheologisch und metaphysisch äußerten. Ihre Sprache, bestens mit einer Denkwelt von zwei Jahrtausenden trainiert, klang welt- und lebensfremd. Lebensrettende oder gefährlich künstliche Intelligenz? So suchte man Wege, um miteinander ins Gespräch zu kommen, nachdem zuvor schon einige Versuche gescheitert waren. Schon lange war kein Feuer mehr zu spüren. Weiterlesen

Nicht heilig, sondern katholisch III

III. Überwindung der Blockaden

Die Defizite, die sich in der römisch-katholischen Kirche aufgehäuft haben, sind enorm. Sie lassen sich nicht kurzfristig durch taktische Umstellungen, auch nicht durch eine Weltsynode regeln. Zu ihrer Überwindung bedarf es tiefgreifender Strategien, die ein verengtes und verhärtetes Glaubensbewusstsein, die empathielose Mentalität unseres theologischen Denkens, die Struktur der kirchlichen Institutionen sowie viele als selbstverständlich geltende Traditionen ändern. Weiterlesen

Katholischer Antisemitismus Verantwortung und Reaktionen

„Wir erleben eine Zeitenwende und das bedeutet, dass die Welt danach nicht mehr dieselbe ist wie die Welt davor.“ Diese Worte des Bundeskanzlers vom 27. Februar 2022 klingen nach und es fällt auf, wie oft sie seitdem zitiert wurden. Was manche damals für ein pathetisches Politikerwort hielten, andere aus historischen oder weltanschaulichen Gründen heftig kritisierten, das hat sich inzwischen allzu sehr bewahrheitet und es kann ruhig offen bleiben, ob wir diese Ansage nicht schon früher hätten hören sollen. Denn wie sich inzwischen zeigt, ist noch mehr aus den Fugen geraten. Weiterlesen

Streit um die Weltsynode

Der aktuelle Weg der römischen, sich katholisch nennenden Kirche, meiner Kirche, stürzt mich in Trauer und Panik. Vor einem Jahr hätte ich mir noch nicht vorstellen können, wie tief sich in mir der Ärger über ihre verirrten Reformaktivitäten einbrennt. Zugespitzt formuliert: Sie sind blind und orientierungslos, von leerem Aktivismus gezeichnet, noch immer im Griff einer unbelehrbaren Rechthaberei und der unseligen Behauptung, die römischen Aktivitäten seien vom Heiligen Geist geleitet. Die Unterscheidung zwischen Geist und Ungeist, von der Papst Franziskus so gerne redet, versagt in Rom genau dort, wo sie beginnen müsste. Weiterlesen

Der Preis der christlichen Freiheit Was eine neue gesellschaftliche Relevanz kostet

Die Meldung hat die Bischöfe erschüttert, als ob man sie nicht vorhergesehen hätte. Im Jahr 2022 verzeichnete die römisch-katholische Kirche mehr als 530.000 Austritte und alles steht dafür, dass dieser Trend sich 2023 fortsetzen wird. Offensichtlich hatte man an ein Wunder geglaubt, denn gemäß bekanntem Hierarchenjargon zeigt sich Kardinal Marx über diese Information „zutiefst bewegt“: „Was kann ich tun?“, fragt er sich, „was ist meine Aufgabe? Was ist unsere Aufgabe, unser gemeinsames Wirken?“ Diese Reaktion des neben dem Kölner Kollegen ranghöchsten Katholiken scheint mir phantasie- und orientierungslos. Weiterlesen

Machtorientierte Theologie – Zum Problem der offiziellen Trinitätslehre

Unter dem Titel „Die kirchliche Trinitätslehre ist überholt“ veröffentlichte Publik-Forum (10/2023) meine Reaktion auf die Beiträge, die Joachim Negel zur christlichen Lehre vom dreifaltigen Gott geschrieben hatte. Diese Beiträge, meine Antwort sowie eine Replik von Joachim Negel sind in www.publik-forum.de dokumentiert. Angesichts der gravierenden Missverständnisse, die Negel meiner Antwort entgegenbringt, soll eine nochmalige Antwort meinen eigenen Standpunkt genauer klären. Die entscheidenden Inhalte sind auch ohne Kenntnis der vorhergehenden Debatte verständlich.

Sechs Tage nach meiner Geburt wurde ich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes getauft und ich habe versucht, mein Leben nach diesem biblischen Dreiklang zu gestalten. Dass Kollege Negel mir vorhält, ich verabschiede mich vom „innersten Kern des neutestamentlichen Glaubensbekenntnisses“ und ich beerdige eine „bald 2000-jährige, überaus reiche Denk- und Frömmigkeitstradition“, das halte ich, gelinde gesagt, für übergriffig. Doch auch vom Kirchenvolk scheint er keine gute Meinung zu haben. So klagt er, Worte wie Gnade, Erlösung oder Menschwerdung Gottes würden kaum mehr verstanden; nach den Gründen dieses Sprachverlustes fragt er nicht. Hans Küng, der ein Leben lang den irrationalen Lehrstrategien von Bischöfen und Päpsten widerstand, bezichtigt er kaltblütig eines Rationalismus, der (oh Schreck!) auch mich in den Abgrund gezogen hat. Seit etwa 10 Jahren dachte ich, wir hätten die Zeiten der Glaubensbelehrer überstanden. Vielleicht ließ sich Negel vom Titel meines Beitrags irreführen. Wirklich gelesen und verstanden hat er ihn wohl nicht. Weiterlesen

Stark wie der Tod? Wie die Kirchen Ostern feiern

Den kirchlichen Verlustängsten zum Trotz bleiben die jährlichen Osterfeste am Leben, auch in unserer säkularisierten Gesellschaft. Im Laufe der Jahrhunderte wurden sie zu einem reichhaltigen Nährboden für zahllose kirchliche und säkulare, kollektive und private Bräuche, vom Osterfeuer und Gang zum Friedhof über den Osterspaziergang und den Osterurlaub, der Suche von Eiern und Schokoladehasen bis hin zu Osterbesuchen und dem Osternest bei Oma und Opa, die mit Geschenken nicht geizen. Seit einigen Jahren belebt die Kommerz die Sache nach Kräften. Weiterlesen

Zum zwiespältigen Ergebnis des Synodalen Wegs

„Ein Friedhof ist kein Lunapark“
(E. Kästner)

Zu wenig Mut – zu viel Loyalität

 Am Ende der letzten Synodalversammlung (März 2023) haben sie geklatscht und Fahnen geschwenkt, einander umarmt und Tränen gewischt. Sind sie aus Erleichterung oder aus Enttäuschung geflossen? Nach dem Debakel mit dem Grundlagentext „Leben in gelingenden Beziehungen“ (Sept. 2022) wurden die später behandelten Texte angenommen. Kamen die Bischöfe danach zur Besinnung oder hat ihr Warnschuss zur Zähmung des laikalen Übermuts genügt? Weiterlesen

Die Kurzmeditation des Alltags wird zum Gewinn

Günther Doliwa, Hätte aber die Liebe nicht ‑ Zeichen der Zeit ‑ Anders unterwegs sein, DO‑Verlag, Ostern 2020, 276 Seiten, ISBN 978-3-939258-26-1

Das ist ein erfrischendes Buch, genauer: eine wild erfrischende Mischung von ziemlich vielfältigen, immer überraschenden Texten. Günther Doliwa ist ein Meister kleiner Textformen und nachdenklicher Gedichte, aufmunternd und quer-orientiert, fromm und weltverliebt zugleich. Nicht dass ihn oft Fragen von Glauben und Lebenssinn beschäftigen, ist sein besonderes Merkmal, sondern dass er sie nicht in einer muffigen Vergangenheit, vielmehr in der Welt, in menschlichen Abgründen oder mitreißenden Zukunftsphantasien findet: „Christen müssten Zeitung lesen“ (103). Weiterlesen

Thesen zur Überwindung des Erbsündendogmas

Die einen nennen die Erbsünde eine Lachnummer, die anderen verharmlosen sie zum „kollektiven Unheilszusammenhang“, in dem wir doch alle leben (Joachim Negel in Publik-Forum 16/2022). Das ist unbestritten und es gibt genügend Grund, sich aus christlicher Perspektive intensiv damit zu beschäftigen. Doch es wird endlich auch Zeit, die destruktiven und traumatisierenden Anteile des Erbsündendogmas zu entdecken und entschieden zurückzuweisen. Nur so lässt sich die aktuelle Kirchenkrise nachhaltig überwinden. Weiterlesen

Zur inneren Dynamik und zukünftigen Relevanz von Hans Küngs Werk

Motive – Grundentscheidungen – Visionen

Sie haben mich nach Luzern, einen der entscheidenden Lebensorte von Hans Küng, zu einem Vortrag eingeladen, der die Reihe der Hans KüngWeltethos Lectures eröffnet. Dafür danke ich Ihnen sehr, für mich ist das eine Ehre und Herausforderung zugleich.

Dabei ist mir klar, dass Hans Küng vom bloßen Wiederkäuen alter Ideen nicht viel hielt. Dennoch ist es sinnvoll, zu Beginn dieser Reihe noch einmal den Blick auf diesen großen Menschen und Theologen zu lenken. Ich stelle die Frage: Welche Motive, Grundentscheidungen und Visionen haben seinen außerordentlichen Weg geebnet, den er trotz massivster Widerstände gegangen ist? Weiterlesen

Hat die Institution Kirche im 21. Jahrhundert ausgedient?

Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: In unserem Kulturkreis stecken die christlichen Kirchen in einer tiefen Krise. Viele Buchtitel bezeugen es, die ich hier wahllos aufreihe: Geht Gott verloren? (F. Ringler), Ehe alles zu spät ist (E. Teufel), Missbrauchte Kirche (W.F. Rothe), Entmachtet diese Kirche – und gebt sie den Menschen zurück (M. Mesrian, L. Kötter), Weiterlesen

Die Reformziele des Synodalen Wegs sind steigerungsfähig

Seit drei Jahren bemüht sich der Synodale Weg [SW] darum, die aktuelle Krise der katholischen Kirche in geduldiger Konsensbildung zu überwinden. Viele TeilnehmerInnen haben diese zeit- und kräfteraubende Arbeit aus freien Stücken auf sich genommen und dafür ist ihnen zu danken. Doch inzwischen werden sie von deutschen, römischen und ausländischen Purpurträgern mit engstirnigen Argumenten massiv kritisiert. Weiterlesen

Spiritualität und Lebensstil einer christlichen Gemeinde

Noch immer bilden unsere Kirch- oder Pfarrgemeinden die elementarste und primäre Form christlich-kirchlicher Gemeinschaften. Damit stehen sie in Kontinuität zur Urform christlichen Zusammenseins überhaupt. Ohne andere christliche Gemeinschaften auszuschließen (wie Klöster, Orden, Kongregationen, alters- oder berufsbezogene Gemeinschaften und andere soziale oder religiöse Vereinigungen), hat man sich immer vor Ort, im Rahmen von Stadt- und Landgemeinden getroffen. In Bedeutung und Funktion sind sie vergleichbar mit den im Neuen Testament genannten Gemeinden, der „Kirche“ von Jerusalem, Korinth, Galatien, Thessalonich, Philippi oder Kolossä). Auch heute sind die weitaus meisten ChristInnen Mitglieder einer Kirchgemeinde. Alle menschlichen Lebenssituationen sind in diesen Gemeinschaften präsent.

In unserem Kulturkreis (auf den sich dieser Text beschränkt) stehen die christlichen Kirch- oder Pfarrgemeinden unter besonderem Druck. Ähnlich wie die gesamte Gesellschaft durchlaufen sie einen unerhörten kulturellen Umbruch. Er stellt selbst die geistigen Grundlagen der Spätantike in Frage, ohne die sich die europäische Kultur bislang nicht denken ließ. Deshalb geraten sogar die klassischen Bekenntnisformeln in Diskussion, weil sie durchweg von hellenistischen Vorstellungen geprägt sind, heute nicht mehr verstanden werden und in unserer Gegenwart irrtümliche Signale aussenden. Weiterlesen

Testfall für den Synodalen Weg: Macht und Gewaltenteilung in der Kirche.

Die viel beachtete und weitgehend bejahte Auffassung, beide Kirchentümer seien einig in der Rechtfertigungslehre, … scheint ein Strohfeuer gewesen zu sein, das mit dem feinen, aber permanenten Strahl kirchlichen Weihwassers zum Verlöschen gebracht wird.
E. Jüngel, Die Kirche als Sakrament?, ZThK 80 (1983), 432.

Ein innerchristliches Gespräch?

Bei einer genaueren Analyse erschließt sich die Krise der römisch-katholischen Kirche als ein Schwelbrand von mehreren, gravierenden Unkulturen und Missständen, die ineinander verwoben sind. Alle wissen das, doch auch in Reformkreisen wird die Frage nach ihrem gemeinsamen tieferen Grund tunlichst vermieden. Man wagt sie nicht zu stellen, denn sie könnte irritierende, tief eingefleischte Verirrungen in kirchlicher Lehre, Theologie und Disziplin offenlegen. Die Tradition verborgener Missbrauchsverbrechen und einer respektlosen (geistigen und körperlichen) Übergriffigkeit gegenüber Frauen, die hartnäckige Vertuschung bzw. Verharmlosung dieser Untaten durch Kirchenleitungen, die gesetzlich verbürgte Frauendiskriminierung durch Ordinationsverbot wie überhaupt das gestörte Verhältnis zur Sexualität in der offiziellen Moral, schließlich die grassierenden Zerwürfnisse in kirchlichen Gemeinden und Organisationen, – wie kommt das alles zusammen? Weiterlesen

Orientierungsloser Orientierungstext. Ein Zwischenruf zum Synodalen Weg

Wem gehört diese Kirche?
Ist es die Kirche der Kardinäle und Bischöfe?
Nein, sie gehört uns Menschen!
Und es wird Zeit, dass wir sie in Besitz nehmen!
(Maria Mesrian und Lisa Kötter, in: Entmachtet diese Kirche, 2022)

Die Initiatoren des Synodalen Wegs (SW) haben sich viel vorgenommen. Voller Mut steckten sie die Hoffnungen so hoch, wie tief in Deutschland die römisch-katholische Kirche gesunken ist. Das Projekt soll der katholischen Kirche eine neue Zukunft eröffnen, indem es die Fragen aufarbeitet, die sich aus den Missbrauchsskandalen ergeben.

Im Dezember 2019 begann die offizielle Arbeit, nach zwei Jahren sollte sie vollendet sein. Doch die Pandemie verzögerte den Fortgang. Das hat die Arbeit nicht erleichtert und den Eindruck des Stillstands verstärkt, denn noch immer folgt eine Schreckensmeldung nach der anderen. Jedes Gutachten, jeder spektakuläre, angebotene oder vollzogene Rück- und Austritt, jedes bischöfliche Fehlverhalten, jeder dramatische Hilferuf und jeder Suizid löst neue Schockwellen aus. Dabei sprach Kardinal Marx im vergangenen April noch leichtfüßig von „Rezepten“, die einen Ausweg bringen sollen. Diese Wortwahl zeigt, dass man immer noch in Kategorien von verzeihlichem Fehlverhalten denkt. Wann endlich werden die Verbrechen ernstgenommen und die Reformschritte konkret? Weiterlesen

Die Häresie von der heiligen Macht. Wie sich die katholische Kirche neu erfinden muss

Am 1. April 2022 verbreitete Wir sind Kirche folgende Eilmeldung: „Wie wir aus speziellen Quellen erfuhren, hat Kardinal Reinhard Marx, München-Freising, sich soeben entschlossen, seinem Ruf als Reformbischof durch deutliche Taten gerecht zu werden. Angesichts der personellen Engpässe will er die Potentiale all seiner pastoralen Mitarbeiter*innen zugunsten der Gemeinden nun nutzen. Es ist ab sofort allen in der Pastoral Mitarbeitenden erlaubt, zu taufen, Eheschließungen zu assistieren, in Eucharistiefeiern zu predigen, zu beerdigen und in besonderen Fällen, die Krankensalbung zu erteilen. Um eventuell notwendige kirchenrechtliche Änderungen wird er sich dann nachträglich in Rom bemühen.“ Es war ein Aprilscherz mit doppelt entlarvender Wirkung. Zum einen wurde genannt, was selbst gemäß strenger kirchlicher Dogmatik möglich wäre. Zum andern verschwieg selbst Wir sind Kirche die noch entscheidenderen Mängel, dass nämlich zahllose ordinierte Priester unter uns leben, denen aus Gründen der Prüderie und Misogynie die Ausübung ihres Amtes verboten ist und dass zahllose kompetente Frauen unter uns leben, die in dieses Amt berufen werden könnten. Weiterlesen

Ist uns Gott verloren gegangen, welches Leben teilen wir?

In diesen Stunden geht der Katholikentag 2022 zu Ende. Er war wie immer bunt und vielfältig, obwohl er weniger Menschen zusammenführte als erwartet. Er hat versucht, ein wunderbares Motto zu entfalten: Leben teilen. In mancher Veranstaltung mag das gelungen sein, doch an mehr als an einer Stelle war darüber zu klagen, dass auf unserer Erde das Leben eben nicht immer geteilt, sondern geneidet, klein gehalten, abgewürgt und vernichtet wird, in und außerhalb der Kirchen. Weiterlesen

Trauma – Konstruktionsprinzip einer zeitgemäßen Theologie. Zu einem bahnbrechenden Buch von Michael Pflaum

Als systematischer Theologe beschäftige ich mich intensiv mit Kirchenbildern und Kirchenreform; dabei gehe ich gerne theologiegeschichtlichen, hermeneutischen und ideologiekritischen Fragen nach. Seit 2010 ist das kein langweiliges Geschäft mehr, denn im deutschen Katholizismus wurden unversehens die unsäglichen Verbrechen von Missbrauch und deren Vertuschung auf breiter Front präsent, während die Bischöfe und Insider schon seit 1995, spätestens 2001/02 über den weltweiten Sumpf der Skandale informiert waren. Weiterlesen

Zum Überfall der Ukraine durch Putins Militär

Wladimir Putin hat in ruchloser Weise einen Krieg gegen die Ukraine eröffnet. Zahllose Länder stellen sich auf die Seite des überfallenen Landes, doch ausgerechnet Kyrill I., der Patriarch von Moskau, spricht von den Feinden Russlands und den „Mächten des Bösen“. Damit demütigt er ein Land, das in gewaltloser Weise seinen eigenen Weg wählen möchte. Weiterlesen

Ein zeitgemäßer Glaubensentwurf. Zu einem Buch von Frithjof Ringler

Unsere Kultur erfährt einen Umbruch, der keinen Stein mehr auf dem andern lässt. Mit ihm lösen sich unsere Gottesbilder auf, zumindest verlieren sie ihre Tiefenwirkung und orientierende Kraft. So erleben die Kirchen nicht nur eine äußere Erosion mit wachsenden Austrittszahlen, sondern auch einen inneren Zerfall. Ihr mentaler Zusammenhalt wird labil, denn der traditionelle Gottesglaube verflüchtigt sich, ihre Formensprache zerfällt und mit ihr ein umfassendes Wissensgebäude, das über Jahrhunderte lang Wahrheit garantiert und für Hoffnung gesorgt hat. Weiterlesen

Sprache der Kirche auf dem Prüfstand Instrument der Kontrolle oder Schlüssel zum Leben?

Ich freue mich sehr und betrachte es als eine große Ehre, dass Ihr mich zum 25./26. Geburtstag von Wir sind Kirche eingeladen und dieses Referat als „Festvortrag“ angekündigt habt. Uns alle verbindet eine große Leidenschaft für unsere Kirche, die sich römisch-katholisch nennt. Eine ökumenisch christliche wäre uns lieber, aber in der vorgegebenen Identität haben wir sie irgendwann liebgewonnen, auch wenn wir sie nicht mehr – wie mancher Römer noch immer meint ‑ als die einzig wahre, gar als die alleinseligmachende betrachten und manche sich schon mit Scheidungsgedanken von ihr getragen haben. Weiterlesen

Verantwortung übernehmen – Verantwortung zeigen. Die Rolle der Religionen

Ich bin hier, um Alarm zu schlagen: Die Welt muss aufwachen. Wir stehen am Rande des Abgrunds und bewegen uns in die falsche Richtung. Unsere Welt war noch nie in größerer Gefahr und noch nie gespaltener. Wir stehen vor der größten Krisenkaskade unserer Lebenszeit. Weiterlesen

Menschen aus Fleisch und Blut

 

Da wir Menschen aus Fleisch und Blut sind,
hat auch er Fleisch und Blut angenommen
(vgl. Hebr. 2.14)

Was Sexismus, Rassismus und andere Menschen-Phobien verbindet

Nein, Bischof Oster ist kein Rassist. Die Versöhnung mit Frau Prof. Dr. Rahner ging allzu geräuschlos vonstatten. Ich habe ihn für seine Offenheit gelobt und tue es noch immer. Denn je mehr er die Auseinandersetzung anheizte, umso entlarvender trat die Denkart der bischöflichen, neuscholastisch geeichten Dogmatik zutage. So erzwang er eine offene Debatte darüber, was Rassismus ausmacht und wie er mit dem Ordinationsverbot für Frauen zusammenhängt, was ich mit guten Gründen dem Sexismus zurechne. Was sind ihre entscheidenden Komponenten und was macht sie so destruktiv? Weiterlesen

Bravo, Herr Bischof! Zu den Drohworten aus Passau

Erinnerung verpflichtet

Endlich hat ein „Kirchenfürst“ wieder den Mut, aus seinem Herzen keine Mördergrube zu machen. Unverblümt will er uns zeigen, wo gemäß seiner Überzeugung die Grenzlinien reformerischer Provokation verlaufen und wo sie überschritten werden. Ist das ein neuer Ton? Im Jahr 2021 kann er schon überraschen, schließlich sind die Hierarchen in der Defensive. Wie gut, dass wenigstens einer aus der Deckung kommt. Weiterlesen

Verdrängte Blockaden der katholischen Kirche

Was die katholische Kirche noch immer verdrängt

I. HANS KÜNGS ERBE

Am 6. April 2021, heute also vor einer Woche ist Hans Küng verstorben. War er  Kirchenkritiker? Großer Theologe? Streitbarer Geist? Rastloser Sucher? Alle diese Etiketten greifen zu kurz. Hans Küng war ein Multitalent und glänzender Kommunikator, in der Gregoriana mit einem universalen Wissenskanon ausgebildet. Allerdings war ihm klar: Sämtliche Wissenssysteme waren im Umbruch, auch deren theologische Durchdringung war neu zu leisten. Mit ungeheurer Energie und einer glühenden Leidenschaft wollte er die neuen Grenzen ausloten. Weiterlesen

Die Nebel einer unmoralischen Amtsführung

Am 23.03.2021 lud Kardinal Woelki zu einer Pressekonferenz ein. G. Doliwa kommentierte sie und griff 35mal auf das Wörtchen „irgendwie“ zurück. Das war ein entlarvendes Stilmittel, denn alles, was Woelki erklärte, blieb „irgendwie“ unklar. Dabei sollte das neue Gutachten von Gercke-Wollschläger (GW) doch Zweifel ausräumen, Vorwürfe widerlegen und die Rücktrittsforderungen entkräften. Doch Woelkis Selbstverteidigung wirkte merkwürdig verwaschen und ungenau. Weiterlesen

Ist Gott wirklich Mensch geworden?

Theologische Nach(t)gedanken zum Weihnachtsfest

Seit Jahrhunderten wird Weihnachten in unserem Kulturraum als ein reiches und vieldimensionales Fest erfahren. Sie wirkte als eine enorm fruchtbare Geburtsstätte von Sitte und Brauchtum. Kein anderer Tag hat im Christentum so viel Volksnähe erreicht und so bewegende Emotionen geprägt. Das spricht für das Fest, setzt es aber auch zahllosen Verfremdungen, Missverständnissen und Banalisierungen aus. Weiterlesen

Von Engeln getragen. Wie das Weihnachtsfest einen aktuellen Sinn zurückgewinnt

Dieser Text wurde zum Weihnachtsfest 2005 geschrieben

Weihnachten? Dass der Sinn des Festes eindeutig sei, beruht auf Täuschung. Zu viel wechselnde Erfahrungen fließen ein. Im Jahr 1914 geriet es an der Westfront (so der Film „Merry Christmas“) zum Fest atemberaubender Versöhnung, auch wenn es den Krieg mit 11 Millionen Toten nicht verhindern konnte. Weiterlesen

Mündige Gemeinden – das Gebot der Stunde

Allmählich werde ich müde, die vielen Dokumente zu kommentieren, die uns mit schöner Regelmäßigkeit aus unseren bischöflichen Schreibstuben und aus Rom erreichen. Meist beginnen sie ermutigend und verständnisvoll, enden aber ergebnislos oder stabilisieren ein verknöchertes System. Bestätigt werden dann Pflichtzölibat und ein misogynes Ordinationsverbot (15.01.2020), man verbietet Nicht-Priester als Gemeindeleiter (29.06.2020) oder verweigert den Verzweifelten die Sakramente, die freiwillig in den Tod gehen (14.07.2020). Weiterlesen

Eine unappetitliche Geschichte Zum Konflikt eines afrikanischen Priesters mit deutschen katholischen Behörden.

Woche um Woche häufen sich in der katholischen Kirche Berichte über sexuelle Verfehlungen und Vertuschungen. Täter sind Priester, Bischöfe und Kardinäle, eingeschlossen die beiden letzten Päpste. Dabei schockieren auch die Schandtaten höchster Repräsentanten nicht mehr, angefangen vom Wiener Kardinal Groër (1995 zurückgetreten) bis hin zu seinem Kardinalskollegen in Washington McCarrick (2019 laisiert). Was uns aktuell in Atem hält, ist die Unfähigkeit von deutschen Bischöfen, offen zu ihren Verfehlungen zu stehen, ihr Versagen zuzugeben und gegebenenfalls ihren Rücktritt anzubieten, was sie dies in vergleichbaren Fällen von Politikern selbstverständlich erwarten würden. Vor wenigen Tagen ließ der Kölner Kardinal Woelki ein ihm unangenehmes Gutachten in seinen Büros verschwinden. Daniel Deckers sprach von einem „ruchlosen Kardinal“, der Jesuit B. Hagenkord im Blick auf den jüngsten Skandalreport über McCarrick von einer „Kleriker-unter-sich-Haltung“; Wir sind Kirche schließlich prangerte neben der sexuellen auch die geistliche Gewalt an, die offensichtlich immer noch zum Alltag bischöflicher Behörden und von vielen Ordensleitungen gehört; Doris Reisinger hat sie ausführlich analysiert. Weiterlesen

Eine Enzyklika über Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft

Der bisweilen karg wirkende, aber stets freundlich gesonnene Papst Franziskus hat Sinn für Symbolik. Zum einen erkor er sich Ahmad Al-Tayyeb, den Großimam der Ashar-Moschee in Kairo und Rektor der dortigen Universität, zum offiziellen Gesprächspartner und verlieh seinem Schreiben damit einen interreligiösen Akzent. Zum anderen fuhr er von Rom eigens in das 200 km entfernte Assisi, um am Todestag am Grab seines Namenspatrons seine neue Enzyklika zu unterzeichnen. Schließlich verweist zum zweiten Mal der italienische Titel auf den Poverello. Weiterlesen

Aufruf zur Eigenverantwortung der Gemeinden

I. Entschiedenes Handeln

1. Es rumort in der römisch-katholischen Kirche. Sie hat sich in einen irreparablen Umbruch mit schweren Verlusten manövriert, die die Krise der Reformation weit übersteigen. Die hierarchische Elite samt offizieller Lehre, eine beunruhigte Theologie, das vielbeschworene Gottesvolk sowie die wachsende Masse von Ausgetretenen driften wie tektonische Platten auseinander. Ein Erdbeben jagt das andere. Sie alle hinterlassen einen dramatischen Verfall an Glaubwürdigkeit, und dies in einem Augenblick, da die Botschaft Jesu weltweit angesehener und aktueller ist denn je. Alle Kontinente sind betroffen, auch wenn das Epizentrum in Europa liegt. Weiterlesen

Worte zur Corona-Krise 10: Verunsicherung und Gleichgewicht

Liebe Freundinnen und Freunde,
Wie finden wir unser Gleichgewicht?

August 2020, seit nahezu sechs Monaten hält uns die Corona-Krise im Bann. Wiederholt habe ich von verlorenen Sicherheiten gesprochen und an das Grundvertrauen appelliert, ohne das niemand von uns ausgewogen leben kann. Ich verwies auf die Alternative von Leben und Tod, die vor allem die Älteren unter uns herausfordert. Natürlich habe ich die Frage gestellt, ob wir uns wirklich in den Händen Gottes oder einer letzten Instanz wissen. Jetzt komme ich noch einmal zurück auf dieses Grundthema, denn inzwischen hat uns die tiefe Verunsicherung nicht nur als einzelne Personen erreicht, sondern auch zu kollektiven Auswirkungen geführt. Es geschah etwas mit unserer Gemeinschaft. Weiterlesen

Worte zur Corona-Krise 9: Unsere Zukunftsträume

Liebe Freundinnen und Freunde
In der Erwartung besserer Zeiten

Das Corona-Virus hat seine Wirkung getan und wirkt noch weiter. Der Luftverkehr ist zusammengebrochen, die meisten Jets stehen eingemottet auf Abstellplätzen, die Düsenmotoren mit einem Wetterschutz abgedeckt, die Eingangsluken verschlossen und die Blinklichter erloschen. Die Rümpfe und Flügel wirken wie ein eng verzahntes und unbewegliches Linienkonstrukt. Nahezu fünf Monate dauerte der Lockdown mit seinen blockierten Gaststätten, geschlossenen Kaufläden und stillgelegten Betrieben. Beinahe vergessen blieben die zu Hause eingeschlossenen Kinder und Jugendlichen. Wir wissen jetzt, wie sich ein Homeschooling anfühlt, das täglich mit dem Homeoffice der Eltern kollidierte, noch immer kollidiert und sie an den Rand ihrer Kräfte brachte Weiterlesen

Die Angst vor den Relativierern – Zur Ratzingerbiographie von Peter Seewald

„Auch mir ist vor Kurzem der zweite Herzschrittmacher eingepflanzt worden; möge der Herr selber die Schritte des Herzens besser lenken, als es eine Maschine kann.“ (S. 759).

Vielleicht war es nur ungeschickt gewählt, denn vom so schreibfreudigen emeritierten Papst hätte man sicher ein besseres Zitat finden können. Vielleicht aber fand er es sehr treffend, Peter Seewald, Ratzinger-Verehrer von Beruf, der mit seinen 1150 Seiten ein Mammut-Werk vorlegt. Aber keine Angst, man hat es bemerkenswert schnell gelesen. Weiterlesen

Die Kurzmeditation des Alltags wird zum Gewinn

Besprechung von:

Günther Doliwa, Hätte aber die Liebe nicht ‑ Zeichen der Zeit ‑ Anders unterwegs sein, DO‑Verlag, Ostern 2020, 276 Seiten, ISBN 978-3-939258-26-1

Das ist ein erfrischendes Buch, genauer: eine wild erfrischende Mischung von ziemlich vielfältigen, immer überraschenden Texten. Günther Doliwa ist ein Meister kleiner Textformen und nachdenklicher Gedichte, aufmunternd und quer-orientiert, fromm und weltverliebt zugleich. Nicht dass ihn oft Fragen von Glauben und Lebenssinn beschäftigen, ist sein besonderes Merkmal, sondern dass er sie nicht in einer muffigen Vergangenheit, vielmehr in der Welt, in menschlichen Abgründen oder mitreißenden Zukunftsphantasien findet: „Christen müssten Zeitung lesen“ (103). Weiterlesen

Wie gehen wir mit Verschwörungstheorien um? Zur Angstmache vor einer drohenden Weltregierung

Zu Recht hat das Manifest „Die Wahrheit wird euch freimachen“ in Kirche und Gesellschaft zu einer breiten moralischen Empörung geführt. Die Reihe seiner Verdächtigungen ist absurd, die Angst vor einer Weltregierung unbegründet, das kirchliche Anspruchsdenken überheblich, der Aufruf zum Widerstand gefährlich und dazu angetan, die Menschen noch mehr zu verunsichern, als sie es in der gegenwärtigen Krise ohnehin schon sind. Eine christlich motivierte Reaktion sollte sich jedoch mit den Endzeitvorstellungen beschäftigen, die in vielen Menschen noch tief verankert sind, von Kirchen, christlichen Gemeinden und Theologie aber seit lange vernachlässigt werden. Wir brauchen eine jesuanisch inspirierte und für die Gegenwart erneuerte Erzählung über das Ziel von Menschheit und Welt. So gesehen ist eine Auseinandersetzung mit diesem Manifest selbst nicht der Mühe wert. Es braucht aber eine weiterführende Antwort. Weiterlesen

25 Jahre Erklärung des Weltparlaments der Religionen Was hat sie bewirkt – wie ist sie fortzuschreiben im Blick auf Europa?

Es mag sich zynisch anhören: Bis zum Jahr 1989 herrscht in den weltpolitischen Verhältnissen der nördlichen Halbkugel noch Ordnung. Westmächte und Ostblock waren eindeutige Zuweisungen; der Kalte Krieg sorgte innerhalb der beiden Machtsphären für Disziplin. Doch in den 1980er Jahren beginnt die Sowjetunion zu zerfallen. Im März 1985 erreicht Michail Gorbatschow den Gipfel der Macht, mit Glasnost (Transparenz) und Perestroika (Umbau) leitet er das Ende des Kalten Krieges ein, was ihm letztlich seine eigene Macht kostet. Weiterlesen

Worte zur Corona-Krise 8: Gedenken und Danken in schwieriger Zeit

Liebe Freundinnen und Freunde aus Kämpfelbach,
In Besinnung auf unsere Gebrechlichkeit!

Noch leben wir in einer Phase der Hilflosigkeit und Angst. Endlose Fragen nach unserer persönlichen und gemeinsamen Zukunft bleiben ohne Antwort. Bislang mussten wir etwa 7000 Väter, Mütter, Geliebte, Geschwister und Freund/innen für immer aus unserer Obhut geben und niemand kann richtig abschätzen, wie viele Abschiede uns noch bevorstehen, ab wann wir auf einen medizinischen Schutz hoffen können. Weiterlesen

Ein Buch über den vergessenen Gott. Kenntnisreich, einladend, auf der Höhe der Zeit

Norbert Scholl, Gott, der die das große Unbekannte. Staunens-Wertes und Frag-Würdiges, Grünewald 2020, 192 Seiten.
Schon die unkonventionellen Titel und Untertitel wecken die Neugier auf dieses Buch und niemand wird enttäuscht. Weiterlesen

Worte zur Corona-Krise 7: „Hast Dein Volk gezüchtigt sehr“

Liebe Freundinnen und Freunde aus Kämpfelbach,
In Erinnerung an eine neu gewordene Geschichte!

An jedem 7. September, dem Vortag der Feier von Mariä Geburt, erinnert Ihr Euch an ein dramatisches Geschehen, das in Ersingen und Bilfingen vor 663 Jahren wütete, rund 180 Jahre, bevor die Bevölkerung von Oberammergau dieses Schicksal erlebte. Von schätzungsweise 500 Einwohnern starben in kürzester Frist 232. Der Schwarze Tod hatte Ersingen und Bilfingen erreicht, Weiterlesen

Worte zur Corona-Krise 6: In Gottes Händen?

Freundinnen und Freunde,
Auf der Suche nach einem letzten Geheimnis!

Noch immer liefern uns Religionen umfassende und sehr wirksame Lebens- und Weltmodelle. Sie können – so jedenfalls ihre eigene Überzeugung – uns anleiten zu einem sinnvollen Umgang mit Unrecht, Katastrophen, Elend und Tod. Sie beeinflussen und prägen die übergroße Mehrheit der Menschen, gleich ob Frauen oder Männer, Jugendliche oder Kinder. Darunter sind Christen (2,25 Mrd.), Muslime (1,6 Mrd.), Hindus (1,1 Mrd.), Buddhisten (468 Mio.), Juden (17 Mio.) und andere Religionen (857 Mio.). Die mir vorliegende Statistik fügt 792 Mio. Menschen hinzu, die sich religionslos nennen. Natürlich sind solche Globalstatistiken immer umstritten, doch ihrer großen Linie ist zu trauen. Weiterlesen

Worte zur Corona-Krise 5: Im Griff der Natur

Liebe Freundinnen und Freunde,
Hilflose vor den Gesetzen des organischen Lebens!

In diesen Tagen entwickelt die Natur in Deutschland eine strahlende Pacht. Innerhalb weniger Tage legen sich die Büsche ein grünes Gewand zu und umgeben uns blau und rosa schimmernde Blumen. In den Gärten blühen Osterglocken und Tulpen auf, am Grab Hölderlins (Tübingen) etwa 900 an der Zahl.

Jetzt wäre die Zeit zu singen: „Geh‘ aus, mein Herz, und suche Freud …!“ Natürlich können wir zu zweit oder im Familienverband die Wohnung verlassen, doch rechte Freude kommt nicht auf, denn diese Natur, die unser Herz erfreut, hält uns zugleich im tödlichen Griff Weiterlesen

Ein Laokoon, der weiterkämpft

Wer kennt den Laokoon nicht, der in den Vatikanischen Museen mit den hochgefährlichen Schlangen ringt? Politi erinnert mich daran, wenn er in hoher Dramatik den Kampf schildert, den Papst Franziskus gegen die vielen Gegner führt, die sich in der Kurie und in weltweiten Bischofskreisen gegen ihn verschworen haben. Eine überschaubare Gruppe von Wortführern lässt nichts unversucht, ihn als ruchlosen Machiavellisten zu isolieren oder als Häretiker zu diskreditieren. Weiterlesen

„Da gilt weder Mann noch Frau“ – Zum Ausschluss der Frauen aus den kirchlichen Kernfunktionen

Bei seinem Reformvorhaben lässt sich der Synodale Weg (SW) von vier Kernfragen leiten lassen. Er debattiert über Art und Verteilung kirchlicher Macht, die angemessene Lebensform der Priester, ein Leben in gelingenden Beziehungen sowie über FRAUEN IN DIENSTEN UND ÄMTERN IN DER KIRCHE. Es ist gut, dass das letzte, beinahe vergessene Thema noch hinzugefügt wurde, denn es signalisiert kein bloßes Zusatzproblem. Es verleiblicht sich prominent in der Machtfrage, prägt das Grundverständnis der priesterlichen Existenz massiv mit und unterwirft die Frage gelingender Beziehungen einem unverzichtbaren Wirklichkeitstest. Schließlich kulminiert es aktuell in der viele bewegenden Frage: Warum, in Gottes Namen, soll den Frauen der Zugang zu den zentralen kirchlichen Ämtern nicht nur verboten, sondern auch prinzipiell unmöglich sein? Weiterlesen

Visionen im Widerspruch – Die falschen Folgerungen aus einem guten Ansatz

Selten prallten Anerkennung und Enttäuschung in einem päpstlichen Dokument so eng aufeinander wie in diesem Brief, der die Amazonas-Synode vom Oktober 2019 endgültig abschließt. Er entfaltet eine soziale, kulturelle und ökologische Invasion und zieht daraus Konsequenzen für eine amazonische Kirche. Dort aber kommen ein Priester- und ein Frauenbild zur Geltung, die den vorhergehenden Idealen Hohn sprechen. In Deutschland reagieren engagierte Katholikinnen unterschiedlich: Sie kämpfen unverdrossen weiter, gehen erst recht ihren eigenen Weg oder verlassen die römisch-katholische Kirche. Weiterlesen

Macht über die Seelen – Kernkompetenz und Kernproblem des Katholizismus

Die aktuelle Krise der römisch-katholischen Kirche (im folgenden oft „Kirche“ genannt) ist eng verkoppelt mit ihrem inneren und äußeren Machtzerfall, der seit einigen Jahrzehnten vor allem im westeuropäischen Kulturraum offenkundig wird, und er trifft diese Kirche besonders, weil in ihr schon seit der Spätantike ein ausgeprägtes und prominentes Machtdenken herrscht. Weiterlesen

Die Religionen und die Krankheit des Fundamentalismus – Im Gespräch mit Hermann Häring

Interview mit der SRF Sendung Perspektiven vom 17.12.2017

Vgl.: https://www.srf.ch/sendungen/perspektiven/die-religionen-und-die-krankheit-des-fundamentalismus

Im Namen der Religion geschieht weltweit Schreckliches. Und damit sind jetzt nicht nur Terroranschläge von Islamisten gemeint, selbst Buddhisten verfolgen in Myanmar Muslime mit großer Brutalität. Religionen wollen für Liebe und Barmherzigkeit stehen. Doch was nützen solche Ansprüche, wenn sich religiöse Menschen nicht daran halten? Diese Frage stellt sich der Theologe und Friedensforscher Hermann Häring. Häring war 25 Jahre lang Theologieprofessor in den Niederlanden. Seit seiner Emeritierung lebt er in Tübingen und arbeitet beim Projekt Weltethos und bei der Herbert Haag-Stiftung. Für ihn gilt das von Hans Küng geprägte Wort: „Kein Frieden auf Erden ohne Frieden unter den Religionen.“ Hans-Jörg Schultz hat sich mit Hermann Häring unterhalten. Weiterlesen

Zuerst Mensch! – Konsequenzen für den gesellschaftlichen Dialog – Thesen von Hermann Häring und Walter Lange

I.       Grundlegende Beobachtungen

1. »Die Welt aus den Fugen.« Mit diesem Shakespeareschen Buchtitel traf Pe­ter Scholl-Latour im Jahre 2012 den Nerv eines aufkommenden Zeitgefühls, das sich inzwischen voll ausgebildet hat.

2. Unsere Gesellschaft steht in einem gesellschaftlichen und kulturellen Um­bruch, der seinesgleichen sucht und uns ratlos macht. Weiterlesen

Reform wohin? Zum Umgang mit der verfahrenen Situation der Kirche

Etwas läuft schief in der römisch-katholischen Kirche. Der Unmut ist gewaltig. Gewiss, seit 2013 setzt der neue Papst belebende Impulse. Doch nur bedingt löst sich die Angst vor den Kirchenleitungen auf und zu lasch wird über eine neue Glaubenswirklichkeit nachgedacht. Viele, die zuvor ängstlich schwiegen, formulieren jetzt laute Kritik. Die Schwächen von Franziskus werden weitgehend geschont. Gewiss, während die sexuellen Gewalt- und Vertuschungsskandale ans Licht kamen, wurden die Reformgruppen international vernetzt, die Eckpunkte einer überfälligen Grundsanierung profiliert und endlich die Stimmen der Frauen mit ihren erfrischenden Forderungen gestärkt; inzwischen fühlen sich sogar Bischöfe zur Selbstkritik herausgefordert. Doch die erneuernden Stimmen haben noch keine Linie gefunden, die den Herausforderungen der Gegenwart gerecht wird.

Gliederung

I. Wie Struktur- und Glaubensfragen zusammenhängen

  1. Kaspers Kritik
  2. Das Schein-Risiko der Spaltung
  3. Probe aufs Exempel

II. Gestaltende Vision: Ein weltweit lebenswertes Leben

  1. Ausgangspunkt: Tiefgreifender kultureller Umbruch
  2. Folgen: Außerhalb der Welt kein Heil

III.  Freiheit als Mut zu klarer Orientierung

  1. Ausgangspunkt: Freiheit in/durch Solidarität
  2. Folgen: Geliehene Autorität

 IV. Heiligkeit der Menschenwürde, der leiblichen Liebe, der Solidarität

  1. Ausgangpunkt: Tiefgreifende Verschiebung
  2. Folgen: Neue Fakten schaffen

V. Vertrauen aus der Erfahrung eines gelingenden Lebens

  1. Ausgangspunkt: Ohne Vertrauen kein Leben
  2. Folgen: Gegenseitige Teilhabe

Schluss: Dringliche Strukturreform

Text

Im März 2019 kündigte Kardinal Marx in Absprache mit dem ZdK einen „synodalen Weg“ an und mit ihm soll sich alles ändern. Doch seine vagen und jetzt schon umstrittenen Ankündigungen erinnern an den „Gesprächsprozess“, der 2011-2015 stattfand. Trotz hohen publikumswirksamen Aufwands gebar er nicht einmal eine Maus. Schon jetzt lässt sich voraussagen, dass auch der neue Weg keinen epochalen Durchbruch erreichen wird. Besprechen will man (1) die innerkirchliche Machtstruktur, (2) die Sexualmoral, (3) die priesterliche Lebensform und (4) die Rolle von Frauen in der Kirche. Ganz gegen einen synodalen Geist hat Marx schon mal Bischöfe zu Vorsitzenden der entsprechenden Arbeitskreise eingesetzt. Sollen uns die Mächtigen erneut über ihre Dominanz, Ehelose über das Geheimnis der Sexualität, Zölibatäre über die Vorteile des Zölibats und auserwählte Männer über die Würde der Frau aufklären!? Mit einer Verzögerung von gut fünf Monaten wurden endlich noch „Laien-Vertreter“ (drei Frauen und ein Mann) als Mit-Vorsitzende hinzugefügt.

Das alles klingt absurd und nichts daran ist innovativ, denn die Kernpositionen sind jetzt schon bekannt und die Leitplanken wurden nicht versetzt. Bei den Machtfragen wird man die moralische Integrität und den Dienstcharakter der Hierarchen beschwören. Die noch immer vormoderne Sexualmoral wird mit einem abstrakten Lobpreis der Sexualität und dem Hinweis abgefedert, die Sünder (Homosexuelle und Wiederverheiratete eingeschlossen) seien zu lieben. Neuregelungen zur priesterlichen Lebensform wird man von der Zustimmung Roms abhängig machen. Frauen werden wieder einmal nicht erreichen, was ihnen wirklich zusteht. Zu diesem Pessimismus zwingen schon jetzt die zahlreichen bischöflichen Verlautbarungen über den Fahrplan sowie der päpstliche Brief vom 29.06.2019, der die strukturellen Krisensymptome relativiert. Dieses pessimistische Urteil wird durch die römischen Verlautbarungen von Mitte September nur bestätigt. Sie haben die deutschen Pläne nicht „missverstanden“, wie Kardinal Marx unterstellt, sondern genau jene Punkte benannt, die dem deutschen Projekt, offiziell entgegenstehen.

Auch andere innerkirchliche Spaltungen lassen auf keine Durchbrüche hoffen, denn sie haben sich stabilisiert. Schon lange sind die Stellungnahmen der Bischöfe ebenso vorhersagbar wie die der Reformgruppen, auch ihre Methoden sind bekannt: Die Bischöfe belehren das Gottesvolk, als sei es historisch und theologisch unterbemittelt; und die Reformorientierten beißen sich wie immer an den Bischöfen fest: sie fragen, appellieren, kritisieren möglichst freundlich und verfassen Petitionen. Tatsächlich machen sie sich so von den Hierarchen abhängig.

Stabilisiert haben sich auch die Lager innerhalb der Purpur- und Zinnoberträger und ich verstehe nicht, warum man sich so aufregt über Hardliner wie die Kardinäle W. Brandmüller, G. Müller, W. M. Woelki oder die Bischöfe K. Zdarsa und R. Voderholzer. Schließlich vertreten sie höchstoffizielle Positionen, ohne diese beschwichtigend zu „verwässern“. Ihre Warnung: Vorsicht, die Lehre nicht verwässern! Klingt allerdings unhistorisch und rein defensiv. Neue Zukunftsvisionen, spannende gesellschaftspolitische Schwerpunkte und die Suche nach einer systematischen Grundlegung bleiben aus.

Die Wurzeln dieser zähen Verweigerungskunst reichen Jahrhunderte zurück und trotz großer Begeisterung konnte das 2. Vatikanum sie nicht auflösen. Schwerwiegender noch: Bis heute werden seine Reformeffekte überschätzt. Schließlich ließ es das überhöhte privilegierte Hierarchiesystem, das vormoderne Erlösungsdenken und das irreformable Lehrgebäude vollständig intakt. Der Qualitätsvorrang der Kleriker vor den „Laien“ blieb bestehen, die Unfehlbarkeitsthese wurde noch breiter angesetzt, als sein Vorgängerkonzil (1870) es tat, und klaglos hat sich das gesamte Konzil in der entscheidenden Kirchenkonstitution der „erläuternden Vorbemerkung“ von Paul VI. gebeugt, die alle hierarchischen Bischofsprivilegien bestätigte sowie den Vorrang des Papstes in ungewohnter Schärfe klargestellt hat: „Der Papst als höchster Hirte kann seine Vollmacht jederzeit nach Gutdünken ausüben, wie es von seinem Amt her gefordert ist.“ Für diese Feststellung wäre kein Konzil nötig gewesen.

Doch damit waren die innovativen Ansätze gründlich relativiert und es hatte seine Gründe, wenn schon damals zwischen vertrauenswürdigen und anderen loyalen Theologen unterschieden wurde und am Konzilsende einige Bischöfe in die Katakomben auswichen, um dort ihren zukunftsweisenden Pakt zu schließen. Hans Küng begann schon während des Konzils mit seinem Buch Die Kirche (1967) eine biblisch inspirierte Antwort auf verpasste Chancen zu schreiben.

Jetzt, ein halbes Jahrhundert später, befindet sich dieses Kirchenschiff in gefährlichen Gewässern. Ist dies die schwerste Krise seit der Reformation, gar eine Jahrtausendkrise, oder erleidet sie die Geburtswehen eines neuen Paradigmas, das sich von seinen Ursprüngen her neu durchbuchstabieren muss? Dabei bilden die sattsam bekannten ökumenischen Herausforderungen noch das geringste Problem. Vielmehr steht die rigide Rechtsgestalt des römisch fixierten Apparates zur Diskussion, ebenso der hellenistisch geprägte Bekenntnisstand und die Grundgestalt der zerfallenden Volkskirche. Eine Gesamtentwicklung der Lehre steht auf dem Prüfstand. Der intensive Versuch vieler, bei der (noch kirchenfreien) jesuanischen Lebenspraxis Anschluss zu finden, hat nicht nur wissenschaftliche, sondern auch spirituelle Gründe. Sogar die Bruchlinien zwischen der paulinischen und der jesuanischen Botschaft enthalten Sprengstoff, der aufgearbeitet werden muss. Hinzu kommen neue Grundlagenfragen, so nach dem Verhältnis zwischen dem Christentum und anderen Religionen sowie zur Frage, was Religion und Religiosität in einer säkularisierten Gesellschaft bedeuten.

Diese Anhäufung von Perspektiven stürzt auch die Reformszene in Verwirrung. Auch sie muss neu und gründlich über ihre Strategien nachdenken. Reformoffene Katholiken versuchten bisher, in ihrer Glaubensgemeinschaft als loyale Mitglieder zu agieren, dabei Spaltungen zu vermeiden und immer eine friedfertige Sprache zu pflegen. Jahrzehntelang wurden wichtige Reformen als Bitten oder verbindliche Forderungen vorgetragen, Verweigerungen milde als Missverständnisse kaschiert, die oberste Leitungsbefugnis von Bischöfen nur in Ausnahmefällen, die formale Autorität des Papstes nie in Frage gestellt. Man berief sich auf das 2. Vatikanische Konzil oder seinen Geist, verdrängte jedoch die tiefe Ambivalenz seiner von Kompromissen oft entstellten Texte. Klar, dass sich so viele Erneuerungen legitimieren ließen, doch gegenteilige Positionen konnte man genauso gut begründen.

In der Dauer von gut fünf Jahrzehnten resignierten allmählich die Reformkräfte. Teilweise verließen sie ihre Kirche oder gerieten in erfolglose Endlosschleifen. Dies führt zur Frage: Welche Fehlentwicklungen haben sie unreflektiert übernommen und warum ließen sie es (vielleicht aus falsch verstandener Restloyalität) an Konsequenzen fehlen? Eine Rückbesinnung auf die spirituellen Grundlagen von Christsein und Kirche zeigt ein Dreifaches:

– Faktisch haben sich die kirchlichen Führungseliten in erschreckender Weise von ihrem ursprünglichen Auftrag und vom Kirchenvolk entfremdet.

– Aus falsch verstandener Loyalität haben die kritischen Reformkräfte ihren Auftrag zur Erneuerung nicht radikal genug in Angriff genommen.
– So haben beide dazu beigetragen, dass die christliche Botschaft für partikulare Interessen missbraucht, zum eigenen Vorteil instrumentalisiert und in der öffentlichen Wahrnehmung verfälscht wurde.
Dies alles sind wesentliche Gründe für die  binnenkirchliche Erosion.

Wie gehen wir mit dieser erschütternden Erkenntnis um?
Inzwischen hat sich die innerkirchliche Gesamtstimmung geändert. Papst Franziskus bringt nachdrücklich moralische, klerikalismuskritische und spirituelle Gesichtspunkte ins Gespräch, ohne die unsere Glaubensbotschaft noch mehr austrocknen würde. Doch diese erneuernden Impulse reichen nicht aus für eine hochinstitutionalisierte Weltkirche, einen multikulturellen global player von 1,3 Milliarden Menschen, der jährlich um mehr als 1% wächst.

Für ihr Überleben müssen auch die Glaubenslehre, das Rechtssystem und die Führungsstruktur verbindlich saniert werden. Pastorale Aufrufe reichen dazu nicht aus. Wer grundlegende Reformen für nötig hält, kann sich nicht mit einer neuen Fassade begnügen; wer die Glaubensbotschaft kritisch in Augenschein nimmt, die Grundmauern abklopft und die alte Baumasse untersucht, stößt im Kern auf vermoderte und vormoderne Zustände, die noch immer geprägt sind von einer gestrigen Wissenschaftsangst, einem vorgestrigen Überlegenheitskomplex gegenüber dem Protestantismus sowie einer archaisch standeskirchlichen Distanz zwischen „Laien“ und den Klerikern, die ihre Vorrangansprüche zu einem Glaubensgut hochstilisiert haben.

I. Wie Struktur- und Glaubensfragen zusammenhängen

Doch die konkrete Gesamtdiskussion ist hochkomplex und lässt sich auf wenigen Seiten  nur skizzenhaft besprechen. Deshalb beschränke ich mich auf ein Diskussionsprofil, das Kardinal Walter Kasper wiederholt vorgegeben hat. Kasper, in vielen Reformkreisen wohlgelitten, gilt als vermittelnd und liberal. Zugleich gilt er als fähig, sich notfalls gegen konservative Positionen zu stemmen. In früheren Jahrzehnten hat er dies wiederholt gegenüber Kardinal Ratzinger getan. Ferner veröffentlichte er schon 1993 (damals noch Bischof von Rottenburg-Stuttgart) zusammen mit seinen Bischofskollegen von Freiburg und Mainz ein Hirtenwort zur Zulassung von konfessionsverbindenden Ehepaaren zur gemeinsamen Kommunion und reichte in Rom – wenn auch erfolglos – eine entsprechende Petition ein. Das verdient noch heute Respekt.

I/1.    Kaspers Kritik

Doch sein Reformwille hat klare Grenzen, die sich ebenfalls dokumentieren lassen. Zwischen 1970 und 1980 bezog er ‑ im Streit um die Unfehlbarkeit sowie später um den Entzug der Lehrerlaubnis von Hans Küng ‑ dezidiert Stellung gegen seinen Kollegen. Auch in seiner römischen Rede vom 20. 02. 2014 zur Zulassung von Geschiedenen zur Kommunion vermied er eine dogmatisch durchreflektierte Stellungnahme; in den darauffolgenden Jahren erwies er sich mit wachsender Entschiedenheit als Kritiker von Bemühungen um eine strukturelle Kirchenreform. Eine detaillierte Einzelkritik war ihm nicht so wichtig, wohl aber die Kritik an Strukturfragen überhaupt.

Dabei bringt er an anderer Stelle ein Argument vor, das allgemeines Misstrauen sät und den vielfachen Reformbemühungen ihre Seriosität abspricht. Statt sich in zweitrangigen[!] Strukturfragen zu verzetteln, so Kasper, sollten wir uns lieber dem Glaubensverlust der Gegenwart, also den zentralen Fragen nach Gott, Lebenssinn und Spiritualität zuwenden. Im Rahmen wachsender Säkularisierung seien sie viel wichtiger. „Die Strukturdebatten, das sind Insiderprobleme, da dürfen wir uns nichts vormachen, als ob wir die Menschen überzeugen könnten mit diesen innerkirchlichen Debatten, die wir machen müssen, aber wir müssen nach außen wirken. … Das ist der Punkt, wo ich Probleme habe mit manchen Anliegen, die hier so geäußert werden. Ich sage nicht, dass das keine Probleme sind, aber das Grundproblem ist die Gottesfrage, dass es irgendwie Gott gibt. Nehmen wir das ernst, dass es Gott ist?“[1]

Wie recht er hat! Natürlich wirkt der wachsende Glaubensverlust viel schwerer als die Frage nach innerkirchlichen Strukturproblemen. Doch Kasper instrumentalisiert diesen Zusammenhang zu reaktionären Zwecken, indem er ein Motiv unterschlägt, das für kirchliche Strukturreformen entscheidend ist. Denn genau diese intensiv diskutierten Fehlentwicklungen der Kirche verfälschen Geist und Inhalt der christlichen Botschaft bis ins Mark und erschweren massiv einen Zugang zu den Grundlagen des Glaubens. Damit überblendet Kasper auch seine eigene Rolle. Auch er ist, ob er es will oder nicht, ein hervorragender Repräsentant jener Kirchenelite, die diese Missstände stabilisiert und nachdrücklich verteidigt. Niemand hat ihn zum Bischofs- oder Kardinalsamt gezwungen. Vermutlich versteht er seine Karriere als Belohnung einer intensiven Glaubenspraxis, doch hierarchische Ämter stehen heute einem engagiert gelebten Glauben im Wege. Deshalb sollten er und seine Kollegen in der Kirchen- und Bistumsleitung sich in aller Demut mit der aktuellen Strukturkritik auseinandersetzen, bevor sie andere belehren.

Von wenigen Ausnahmen abgesehen hat die offizielle Kirchenelite ihre prekäre geistliche Lage noch nicht durchschaut. Doch ungewollt sitzen auch Reformbegeisterte diesem Irrtum auf, wenn sie sich – gewiss unbewusst – diese hochkonservativen Regeln und Grundhaltungen zu eigen gemacht haben. Unbesehen übernehmen auch sie bei Gottes- und Christusfragen die spätantiken, meist platonisch geprägten Denkweisen, die niemand mehr versteht. Sie verteidigen mittelalterliche Standards zum Sakraments- und Amtsverständnis, haben sie bei der eucharistischen Gegenwart Christi oder ihrem Verständnis von Auferstehung verinnerlicht und fürchten noch immer, eine überfällige Dogmenkritik könne eine Kirchenspaltung provozieren.

Zugleich meinen Reformer, sie könnten mit freundlichen Worten und vielen Unterschriften hochdogmatische Positionen (Verbot der Frauenordination, Vorrang des Klerikerstandes) ins Wanken bringen. Sie halten Kirchenführer in Ehren, die sich durch Freundlichkeit oder eine verbindliche Sprache hervortun, auch wenn diese ihre glanzvolle Karriere für keinen einzigen Reformschritt in die Waagschale werfen würden. Wieder andere fürchten zu viel Aufklärung statt gebotener Frömmigkeit, hängen noch einer transzendental-spekulativen, strukturell aber folgenlosen Theologie an oder der liturgischen Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts. In dieser Gemengelage verhindert ihre theologische Unsicherheit jede theologische Klärung ebenso wie eine eindeutige Vision vom Reich Gottes, das der Kirche vorangeht.

I/2.    DasSchein-Risiko der Spaltung

Dabei lassen sich Reformprozesse nie genau steuern. Zum einen verhalten sich spirituelle Ziele und soziale Wirklichkeit immer asymmetrisch. Zum andern entwerfen historische Entwicklungen ihre eigengesetzlichen Wege. Dies musste sogar Jesus erfahren, der seiner jüdischen Tradition treu bleiben wollte und deren prophetisches Erbe nur neu interpretierte. Das Erbe seiner Vorfahren hat er mit größter Sorgfalt behandelt. Dennoch wurde er aus jüdischer Sicht zum Häretiker, gegen seinen Willen sogar zum Begründer einer neuen Weltreligion, was zu den größten Absurditäten der Religionsgeschichte gehört. Vergleichbares ist wiederholt auch in der Kirchengeschichte passiert. Die Reformer hat man faktisch zu Spaltern und Häretikern gemacht und der Begriff res novae (= Neuerungen) wurde später zum Inbegriff der Revolution. So verhärtete sich der Kirchenteil, der sich den Neuerungen widersetzte, immer wieder zum Hort der Unbeweglichkeit. Die römisch-katholische Kirche lässt sich weitgehend aus solchen Reformverweigerungen definieren.

Solche Erfahrungen bewirken noch heute Ängste und führen häufig zu einer Selbstzensur, die oft gefährlicher ist als die hierarchischen Anordnungen selbst. Nur wer aus den Glaubensgrundlagen heraus absolut klare Konsequenzen zieht, kann zielführend unterscheiden zwischen vertretbarer und irreführender Kirchentreue.

Oberste Priorität genießt immer eine bedingungslose Loyalität gegenüber dem prophetischen Jesus-Impuls. Das einzig Unerträgliche ist die Untreue ihm gegenüber (1 Kor 12,2). Reformbewegungen müssen sich dieses Vorrangs mehr denn je bewusst werden, weil heute das Alles oder Nichts einer christlichen Zukunft auf dem Spiel steht. Dieser Maxime haben sich auch hierarchische Ämter unterzuordnen.

In diesem Sinn steht eine intensiv und verantwortlich erarbeitete Strukturreform einem spirituell vertieften Engagement nicht im Wege, sondern ist dessen Folge. Die Alltagspraxis katholischer Kirchengemeinden zeigt täglich: Die real existierende, von der Hierarchie nachdrücklich verteidigte Kirchenstruktur behindert empfindlich den Glaubensvollzug. Wer die Gewohnheit stört, macht sich verdächtig; diese aktuelle Misere lässt sich nicht übersehen. Zahllose Menschen haben die katholische Kirche nicht aus innerer Gleichgültigkeit, sondern wegen der skandalösen Zustände in ihr verlassen.

Diese Situation ist zu ändern. Jesus hat keine Kirche gewollt oder gegründet. Sie kann ihre Existenz nicht durch ein übernatürliches Mandat rechtfertigen, sondern muss durch ihr christliches Glaubensengagement überzeugen. Natürlich ist zu verstehen, dass und warum sich die Anhänger/innen Jesu nach seinem Tod zusammengeschlossen haben. Sie wollten ein neu erfahrenes Leben miteinander fortzusetzen, ihr Zusammenkommen ist der Gründungsakt der Kirche. Sie haben es aber getan, um Sache und Auftrag Jesu weiterzutragen und nicht, weil sie sich als legitime Vollmachtträger verstanden und auf diese Vollmacht pochten. Es lässt sich auch nachvollziehen, dass schon die frühen Generationen den charismatisch entstandenen und fest installierten Leitungsämtern mit hohem Respekt begegneten. Doch kann man auch leicht erkennen: Im Verlauf von nahezu 2000 Jahren haben sich Ämter und Institutionen eigenwillig herausgebildet; im Lauf der Jahrhunderte legte sich um sie Legitimationsschicht um Legitimationsschicht. Bald war sie historisch, sakral und juridisch überbestimmt, von autoritären, höfischen Gesellschaftsmodellen geprägt, strukturell verhärtet, ästhetisch selbstverliebt und theologisch umstritten.

I/3.    Probe aufs Exempel

Im Folgenden wird sich auch zeigen: Eine spirituelle Neujustierung der Reformziele wirft auf Bischofs- und Papstamt noch schwerere Schatten; dies lässt deren Umgang mit ihnen nicht unberührt. Zwar sind Christ/innen auf eine in Frieden versöhnte Gemeinschaft von Gleichgesinnten angewiesen, wenn sie ein christliches Lebenskonzept realisieren wollen. Unbestritten kann eine christliche Gemeinschaft auch als Beginn von Gottes Reich wirken. Aber die spirituellen Grundlagen zwingen uns dazu, die Handlungsziele und Strukturen der christlichen Kirchen von dieser Vision her zu relativieren. Sie sind auf das Reich Gottes hin ausgerichtet. Jeder kirchliche Narzissmus bedeutet Verrat am Erbe Jesu. Dies zwingt die Führungseliten zur Bekehrung und die Reformorientierten zu einer schonungslosen Kritik.

Hier sei die Probe aufs Exempel gewagt.
Im Folgenden stelle ich vier Grundfragen zur christlichen Spiritualität und konfrontiere sie mit den aktuell diskutierten Strukturfragen. Was folgt aus der jesuanischen Vision von einem in Gerechtigkeit und Frieden versöhnten Zusammenleben (Teil II)? Aus welchen Quellen wird die christliche Freiheit gespeist, die nach christlicher Überzeugung die Mächte der Zerstörung und des Verderbens überwindet (Teil III)? Wo und wie wird die Heiligkeit erfahrbar, die uns Respekt vor dem Unverfügbaren/Göttlichen abfordert (Teil IV)? Und wie gelingt es, jenes vorbehaltlose Vertrauen zum Sinn des Lebens und der Wirklichkeit zu entwickeln, die auch vom Tod nicht zerstört werden kann (Teil V)?

Daraus ergeben sich Folgerungen zum kirchlichen Loyalitätsproblem, zur beunruhigenden Asymmetrie von Kirche und Reich Gottes, zur Unverträglichkeit zwischen christlicher Freiheit und kirchlicher Autorität, zu einem kirchlich legitimen Umgang mit dem Heiligen sowie zur Frage, unter welchen Voraussetzungen die Kirche wieder zum Ort christlichen Vertrauens werden kann.

II. Gestaltende Vision: Ein weltweit lebenswertes Leben

II/1.  Ausgangspunkt: Tiefgreifender kultureller Umbruch

Wir leben als engagierte Bürger/innen mitten in Europa. Eine erdrückende Geschichte liegt hinter, eine risikoreiche Zukunft vor uns. Wir wissen um die ökologischen und ökonomischen Probleme der Welt sowie um die besonderen politischen und sozialen Herausforderungen Europas. Angesichts unserer hohen wissenschaftlichen, technischen und finanziellen Standards akzeptieren wir zugleich unsere weltweite Verantwortung vor allem für diejenigen, die auf unsere Solidarität angewiesen sind. Es reicht nicht, nur gelegentlich für sie etwas zu tun, sondern wir müssen uns mit ihnen auf den Weg machen, damit uns gemeinsam eine menschenwürdige Zukunft in möglichst globalem Maßstab gelingt.

Auch das europäische Christentum befindet sich in einem tiefgreifenden Umbruch; seine zukünftige Gestalt steht uns noch nicht klar vor Augen. Deshalb sind wir Lernende und Hoffende zugleich, gemeinsam mit allen Menschen zu einem lebenswerten Leben unterwegs. Wir kooperieren mit den Angehörigen anderer Religionen und allen Menschen guten Willens.

So widerstehen wir mit all unseren Kräften der weltweit wachsenden Gewalt und schreienden Ungerechtigkeit, einer grassierenden Verlogenheit und Korruption, dem systematischen Missbrauch der Medien sowie dem Verfall der zwischenmenschlichen Beziehungen auf Grund zerstörerischer Machtverhältnisse und Strukturen. Wir sind bereit, zusammen mit Anderen ein lebenswertes Leben aufzubauen, in dem Gerechtigkeit herrscht und Menschen einander vertrauen können. Zahllose Mitmenschen sind säkularen oder anderen religiösen Traditionen verpflichtet. Wir setzen darauf: Die meisten von uns eint ein humanes Ethos, im Sinn der Goldenen Regel, die uns allen ins Herz geschrieben ist.

Als Christ/innen wissen wir uns insbesondere der Botschaft Jesu von Nazareth verpflichtet. Über nahezu zwei Jahrtausende hin hat sie verschiedenste Epochen und Kulturräume mitgestaltet. In den gegenwärtigen Umbrüchen und Suchbewegungen tun wir gut daran, unser Glaubensverständnis von hinderlichen Verkrustungen und autoritären Missbildungen zu befreien, die Botschaft Jesu in neuer Unmittelbarkeit zu verstehen und unsere christliche Lebenspraxis konsequent an ihr auszurichten.

Klar muss dabei sein: Für uns lassen sich Religionen und Religiosität nicht in private Räume verdrängen. Recht verstanden stellen alle Weltreligionen eminent lebenspraktische, ethisch anspruchsvolle und öffentlich relevante Lebensformen dar. Sie beschränken sich weder auf Privatsphären noch auf subjektive Erfahrungen, weder auf bloße Innerlichkeit und Weltabgeschiedenheit; auch lassen sie sich weder rein ethisch auf Verhaltensregeln verengen noch rein pädagogisch auf Bildungsziele, kulturelle Werte oder sozialpolitische Ziele reduzieren. Religionen agieren ganzheitlich und durchdringen alle genannten Sektoren. Sie sind innerlich und zugleich gesellschaftspolitisch, erfahrungsbezogen, aber auch an Welt- und Menschheitszielen orientiert. Neben den existentiellen sind ihnen allen auch gesellschaftspolitische Ziele vorgegeben, für deren Verwirklichung sie zu kämpfen haben.

Ebenso klar muss sein: Als Christ/innen haben wir im öffentlichen Gespräch von Gesellschaft und Welt die Stimme zu erheben. Wir bauen auf die öffentliche Geltung der christlichen Botschaft, können uns nach allen Seiten verständlich machen und in Kooperation mit anderen Zukunftsvisionen entwickeln, die uns einen. Dabei ziehen wir nicht einfach die Konsequenzen dessen, was wir ohnehin schon wissen. Vielmehr lernen wir in und durch die säkulare Weggemeinschaft. Dabei fühlen wir uns anderen Religionen und Weltanschauungen nicht überlegen, fühlen uns aber stark genug, auch von ihnen Impulse zu übernehmen und sie zu unterstützen. Zu den Voraussetzungen für diese Vorhaben gehört das konstruktive gegenseitige Gespräch.

Aus christlicher Sicht erschöpfen sich diese Vorgaben nicht in theoretischen Modellen. Wir lassen uns vom prophetischen Geist Jesu inspirieren. Er war von der prophetischen Tradition seines Volkes getragen, die sich immer am Unfrieden mit konkreten Verhältnissen entzündete. Die neuen Impulse Jesu versetzten alle Zukunftserwartungen in die Gegenwart. Anders als der Täufer Johannes drohte Jesus nicht mit neuen Bestimmungen, Regeln oder apokalyptischen Strafen. Vielmehr ließ er sich darauf ein, dass das Reich Gottes, also Versöhnung, Ausgleich und Frieden hier und jetzt beginnen können: Für ihn war das Reich „gekommen“ (Mk 1,15), angebrochen.

So sehen wir eine zukunftsfähige, in Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung versöhnte Menschheit vor uns,. Es geht um eine Gesamtorientierung, die nach dem umfassenden Wohl der Menschheit strebt. Dieses Programm beginnt vor Ort und wird vor Ort erprobt, um dann in kontinentale und globale Dimensionen umgesetzt zu werden. Dabei dürfen die Zwecke nie die Mittel heiligen; die zielführenden Methoden sind uns nur bedingt vorgegeben. Wir wissen uns zusammen mit anderen Menschen auf einer universalen Spur.

Wir übernehmen Jesu unbedingte Bereitschaft zum Beginn. Zukunft und Gegenwart sind keine Alternativen mehr, weil die Liebe selbst keine Grenzen kennt, selbst den Tod überwinden kann. Deshalb erscheint die Auferstehung in den Evangelien nicht als eine abgetrennte oder noch ausstehende, sondern als eine Zukunft, die schon begonnen hat. „Wer glaubt, ist schon auferstanden und wird nicht sterben“ (Joh 11, 25f.). So erfahren die Jünger in Galiläa den Jesus, obwohl er am Kreuze starb, in ihrer eigenen Gegenwart. In dieser Mystik der Auferstehung zeigt sich die Begegnung mit dem ungreifbar Göttlichen, das sich nie sehen lässt.

Auferstehung bedeutet keine strahlend lichtvolle Gegenwart (wie etwa Matthias Grünewald nahelegt), die durch tägliche Gegenerfahrungen widerlegt werden kann. Sie zeigt sich im Paradox der Leeren Grabes, das jetzt einsehbar wird, also im offenen Ertragen des Misserfolgs. Gott zeigt sich als die Unterbrechung (J.B. Metz) oder als das Fehlen (la manque, M. Certeau), also in der Erfahrung dessen, was uns abgeht. Das Göttliche kann schon in der unsterblichen Sehnsucht der Menschen nach Bejahung und Anerkennung zu Hause sein und diese Sehnsucht der Menschen, zumal der Marginalisierten und der Schwachen, bildet unsere große, unerschöpfliche Kraft. So wird unser Leben zum unüberwindlichen Protest gegen alles vordergründige und egozentrische Interessen- und Machtdenken.

II/2.  Folgen: Außerhalb der Welt kein Heil

Diese Vision von Gottes Reich, also einer in Frieden und Gerechtigkeit versöhnten Menschheit, die sich einer nicht geschändeten Erde erfreuen kann, setzt keine Kirchenmitgliedschaft voraus. Wir erinnern uns, dass die Grenzen der Kirche immer schon in Bewegung waren. Die Alte Kirche kannte neben den gültig Getauften, vollgültigen Kirchenmitgliedern auch die Katechumenen, die sich auf die Taufe vorbereiteten, ferner die „Empfänger“ der Blut– oder der Begierdetaufe, die für Christus ihr Leben gaben oder sich heiß nach der Taufe sehnten. Heute wissen wir um die Menschen guten Willens, die ebenfalls das Heil erlangen und von K. Rahner etwas unglücklich anonyme Christen genannt wurden.

Kirchenmitgliedschaft war immer schon graduell. Augustinus erklärte, es gebe viele Menschen, die scheinbar innerhalb der Kirche, in Wirklichkeit aber draußen sind. Umgekehrt gebe es viele Außenseiter, die im Grund drinnen sind. Alle diese Teilhabe-Konstrukte haben zum Ziel, die zum Heil verpflichtete Kirchenmitgliedschaft abzufedern und für konkrete Situationen zu öffnen; sie wollen den höchst missverständlichen Heilsanspruch der katholischen Kirche mit der offenkundigen Wirklichkeit versöhnen.

Ferner sind in der langen Kirchengeschichte nicht die zahllosen Christ/innen zu vergessen, die wegen ihrer wohlbegründeten Kirchenkritik aus der sichtbaren Kirche ausgeschlossen, verfolgt, verfemt, bisweilen getötet wurden. Man denke an die Katharer und Albigenser, anzahlreiche Ketzer und Hexen, an Giordano Bruno und Jan Hus, auch an die erschreckend lange Liste der mit unwürdigen Sanktionen belegten Theolog/innen des 20. Jahrhunderts. Bei ihrem Schicksal hat man immer vergessen, dass Jesus keine Kirchengemeinschaft, sondern die Menschheit mit Gott versöhnen wollte. Edward Schillebeeckx stellte einmal die mutige Gegenthese auf: „Außerhalb der Welt kein Heil“.

Aus dieser Erkenntnis ergeben sich nicht zwingend Austritte aus der Kirche, doch klar sollte sein: Angesichts der hochdifferenzierten Motive, die zu Kirchenaustritten führen und angesichts einer Kirche, deren Glaubwürdigkeit aus eigener Schuld rapide gesunken ist, lassen sich über Kirchenaustritte keine pauschalen Urteile mehr fällen. Für viele gelten ernste Gewissensgründe, manche gehen um eines besseren Christseins willen. Aus einem vertieften Glaubensverständnis ist zu folgern, dass aus der jesuanischen Reich-Gottes-Botschaft Jesu keine Kirchenpflicht entsteht; das gilt erst recht für diejenigen, die Jesu Bergpredigt oder Gleichnisse nie oder nie richtig kennenlernten. Deshalb muss die Kooperation mit Menschen anderer Kirchen, Religionen oder Weltanschauungen problemlos möglich sein. Im Gegenteil, unser katholisch bzw. konfessionell verankertes Handeln wird umso glaubwürdiger, je mehr es solche erweiterten Horizonte annimmt.

Dieser prophetisch erweiterte Horizont schafft unserer Arbeit eine große Freiheit und Gelassenheit. Wir können alle Ängste vor einem „unkirchlichen“ Verhalten ablegen, weil den kirchlichen Vorgaben nur eine bedingte Gültigkeit zukommt. Die von vielen verinnerlichte Allgemeinverpflichtung des Jesusglaubens auf kirchliche Institutionen ist die Spätfolge eines Staatskirchenmodells, das in der Spätantike auf den Weg gebracht wurde und in vielen Kirchengemeinschaften noch nicht überwunden ist.

Immerhin hat Augustinus die gesamte Menschheit als „verdammte Masse“ erniedrigt. Demütigung und Unterdrückungen, Strafandrohungen und stände Kontrolle waren die Folge. Die führenden Institutionen der Kirche können ihren Selbstausschluss aus der Menschheit nur heilen, indem sie sich unprätentiös in die universale Gemeinschaft der Suchenden einordnen, gleich ob sie sich als eine befreiungsorientierte Zivilgesellschaft, als eine gesellschaftpolitische bzw. ideologiekritische Kampfgemeinschaft oder als eine verschworene Gruppe von Mystikerinnen und Mystikern präsentiert, die Gottes Gegenwart in der Natur und in ihrem eigenen Inneren verstehen.

Wer das Reich Gottes mit seiner Überwindung des Todes ernstnimmt, will zum Mitglied jener großen Gemeinschaft von Kämpfenden, Suchenden und Hoffenden werden, die sich zur Kirche völlig asymmetrisch verhält. Für die christliche Botschaft wäre es ein großes Glück, wenn die klerikalistische Hierarchie einer „allein-selig-machenden“ Kirche endlich ihre Privilegien aufgeben und sich zum solidarischen Teil dieser Menschheit erklären würde. Nur unter diesen Bedingungen könnte sie – von allen schreienden Missständen abgesehen – ihre verlorene Glaubwürdigkeit zurückgewinnen.

III.  Freiheit als Mut zu klarer Orientierung

III/1. Ausgangspunkt: Freiheit durch Solidarität

Trotz massiver, auch kirchlicher Widerstände und neben dem Kerngedanken der rationalen Aufklärung setzte sich in der Neuzeit – im Gegenzug zum autoritären Gesellschaftsbild von Spätantike und Mittelalter ‑ schrittweise ein Grundappell zu menschlicher Freiheit und Autonomie durch. Zunächst wurde er als massive Kritik an kirchlichen Institutionen formuliert, die autoritär handelten und versuchten, die Kirchenmitglieder mit massiven Kontrollmechanismen zu überziehen. Auf katholischer und evangelischer Seite führte diese Entwicklung zu einer Entfremdung zwischen den offiziellen kirchlichen Institutionen und starken gesellschaftlichen Faktoren.

Doch inzwischen verändern sich die Fronten. Während die Kirchen versuchen, ihre Freiheitslektionen in Theorie und Praxis zu lernen, entwickeln sich in der Gesellschaft individuelle und kollektive Zwänge, offene und verborgene, die das Recht und die Bedürfnisse nach Freiheit einschränken. Ausgelöst werden diese Prozesse von politischen und ökonomischen, gesellschaftlichen und medialen Entwicklungen, auch von neuen Politik- und Regierungsstilen, die offen und schamlos die „Wahrheit“ zum eigenen Vorteil instrumentalisieren. Diese Zwänge sind allgegenwärtig und überfallen viele hinterrücks. Von diesen Mechanismen bleibt niemand unberührt und wir können den Kampf um die politische und innere Freiheit aller Menschen nicht genug betonen. Für uns als Christen gilt das Pauluswort mehr denn je: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit, darum steht fest und lasst euch nicht wieder unter ein Joch bringen, das euch knechtet.“ (Gal 5,1)

Allerdings lassen wir uns nicht problemlos von diesem siegreichen Appell zur Freiheit und Befreiung leiten. Die Gegenwart kennt kaum ein umstritteneres Wort. In Wissenschaft und Alltag erhielt „Freiheit“ tausend Bedeutungen, vom Aufruf zur Anarchie bis zur ergebenen Einsicht in die Notwendigkeit, von der Freiheit der Mächtigen und Besitzenden, die den anderen ein armseliges Leben diktieren können, bis hin zur Freiheit des einsamen Wüstenmönchs, der sich von allem freigemacht hat, den anderen aber auch nicht helfen kann. Auch in vielen theologischen Überlegungen wurde Freiheit zu einem pathetisch hochgestimmten, aber abstrakten Begriff formalisiert, der von allen konkreten Inhalten frei ist.

Der Streit über den Sinn der Freiheit, den Erasmus und Luther 1524/1525 führten, gilt noch immer als Symbol für ein abstrakt unlösbares Problem, das engstens mit dem Streit um ein befreiendes Gottesbild zusammenhängt. Ausgerechnet gegenüber einem kirchlich domestizierten Gott bleiben die Begriffe von Freiheit und absoluter Unterwerfung umstritten. Die Theologie spricht neben der Autonomie und der Heteronomie gerne von einer Theonomie; hinreichend geklärt ist dieser Begriff aber nicht.

Stattdessen verstehen wir Freiheit und Autonomie als streitbare Beziehungsbegriffe. Wir müssen uns entscheiden und es hängt von unserem konkreten Handeln ab, für welche Art von Freiheit wir uns gegenüber wem entscheiden. Wir meinen die Freiheit, die nicht von der Freiheit der Anderen zehrt, sondern diese konsequent achtet und sich in kompromissloser Entschiedenheit für sie einsetzt. Jesus hat die Nächstenliebe keinen Bedingungen unterzogen, sich bis hin zum eigenen Tod ihren Konsequenzen gestellt und dies von seinen Jüngern erwartet. Auch an diesem Punkt hat er die Tradition seiner Väter ohne Vorbehalte übernommen.

Heute haben wir erkannt, dass die Liebe zum Nächsten auch in anderen Weltreligionen zu Hause ist. Immer geht es auf allen Lebensebenen um einen Kampf für gegenseitigen Respekt und unbedingte Gerechtigkeit, für Wahrhaftigkeit, gegenseitige Treue und für die Verantwortung für eine bewohnbare Erde.

Prinzipiell ist diese Freiheitsarbeit zugunsten der Mitmenschen in der Zivilgesellschaft zu Hause, bei jungen und alten Menschen, im Einsatz für Gleichberechtigung und zum Schutz vor Gewalt, an Erziehungsstätten und an allen Konfliktherden einer Gesellschaft, zwischen Ethnien und Religionen, in der Überwindung von Extremismus, auch von religiösem Fanatismus. Im Gegenzug schaffen wir, wo immer es möglich ist, Gelegenheiten, um einander kennenzulernen und die Hände zur Versöhnung auszustrecken. Doch Versöhnung gibt es nicht ohne Befreiung.

Die Auseinandersetzung des Liebesgebotes mit den zeitgenössischen Lebensverhältnissen hat schon viele theologische und weltanschauliche Ausformungen erhalten. Wir nennen die soziale und politische Befreiungstheologie in ihren verschiedenen Formen, die feministische Theologie und entsprechende Gendertheorien, verschiedenste kontextuelle Theologien und Verhaltensanalysen, in denen die Lebenspraxis verschiedenster Kulturen interpretiert wird. Es lassen sich verschiedenste theologische Entwürfe hinzufügen, dies in Kooperation mit den Humanwissenschaften aus historischer oder soziologischer, politischer oder psychologischer bzw. psychoanalytischer Perspektive. Natürlich dürfen individuelle Freiheitsaspekte nie vernachlässigt werden, denn ohne sie ist eine freiheitliche Gesellschaft nicht zu denken. Es muss jedoch klar bleiben, dass sie immer in eine solidarische Freiheit, also eine in Frieden versöhnte Gemeinschaft münden muss.

Die Nächstenliebe, der genuine Ort christlicher Freiheit, ist immer zu verstehen als aktiver Einsatz für die Freiheit der Anderen im Widerstand gegen die Mächte der Unfreiheit. Für Jesus sind Gottes- und Nächstenliebe gleichwertig. Konkret gesagt: Die Kraft der Gottesliebe erweist sich allein in der Nächstenliebe, der Wert des Gottesdienstes an seiner Einbettung in den Dienst an den Menschen. In allen Mitmenschen begegnet uns Christus selbst und diese tiefe Gemeinsamkeit strahlt im Handeln der Solidarität und Nächstenliebe auf.

Mehr denn je verstehen wir auch, warum Jesus in einem seiner wirkungsmächtigsten Gleichnisse das Handeln des Samariters mit einer Kritik an dem lieblosen Handeln seiner eigenen religiösen Institutionsvertreter konfrontierte. Das Handeln der Nächstenliebe wird zum unverzichtbaren Gottesdienst, der seine Freiheitsimpulse aus human überzeugenden Handlungen und Orientierungen schöpft. Gott ist durch unsere Hände präsent. Von ihnen hängt es ab, ob unsere Gemeinschaft zum Zeichen und Erweis von Gottes unendlichem Reichtum werden kann.

III/2. Folgen: Geliehene Autorität

Die von Paulus proklamierte Freiheit der Christen bezieht sich auf eine fundamentale, spirituell und geistlich begründete Überwindung der Mächte und Gewalten, die in die Menschen eindringen, sie erniedrigen und in Knechtschaft halten. In unbeugsamer Konsequenz spart Paulus nicht einmal die Thora, also das unantastbare Grundgesetz seines eigenen Volkes aus, an das sich selbst Jesus hielt. So nahm er die Trennung vom Judentum in Kauf, um die Universalität seiner Reich-Gottes-Botschaft für seine Zeit zu retten.

Die aktuellen Brennpunkte einer oft gefühlten Konkurrenz zwischen Kirche und einer säkularisierten Gesellschaft sind offenkundig. Wir haben erkannt: Diese Freiheit übersteigt mit ihren durchaus dramatischen, existentiellen und sozialpolitischen Konsequenzen prinzipiell auch die institutionellen Gestalten, die die christlichen Kirchen innerhalb von nahezu 2000 Jahren ausgebildet haben. Die christlichen Kirchen genießen für uns nur eine geliehene Autorität und diese bemisst sich nach dem Freiheitspotential, das sie uns faktisch vermitteln. Dostojewskis Erzählung vom Großinquisitor (Brüder Karamasow 5/5) ist noch immer eine bedenkenswerte Warnung vor den großkirchlichen Apparaten, die sich gerne an die Stelle Christi setzen und dessen Inspirationen als lästige Störung empfinden.

Der immer noch gültige Papsttitel Stellvertreter Christi, in paradoxer Weise mit dem Titel servus servorum (= Diener der Diener) kontrastiert, zeigt die ganze Abgründigkeit der papstkirchlichen Selbsteinschätzung, die sich noch immer mit byzantinisch kaiserlichen Herrschaftsansprüchen verwechselt. Bis heute zählen Gehorsam und Loyalität gegenüber kirchlichen Amtsträgern zu den entscheidenden Kriterien des christlichen Glaubens. Das ist absurd.

Es gehört zu den peinlichen Konsequenzen des kirchenoffiziellen Verhaltens, dass dieses in der kollektiven Erinnerung unserer Kultur nicht auf der Seite der Freien, sondern auf der Seite der Unterdrücker, der Freiheitsberauber und eines Ressentiments angesiedelt ist, das den Menschen die Lust und ihr irdisches Glück missgönnt. Zwar trug diese Kirche durch nahezu zwei Jahrtausende die biblisch-jesuanischen Impulse der Freiheit weiter und dafür ist ihr zu danken. Doch diese ermutigende Erinnerung macht auch darauf aufmerksam: Die christliche Freiheit besteht nicht in einer abstrakten Autonomie, nicht in einer neuen Kirchenfrömmigkeit oder einem „Fühlen mit der Kirche“, sondern nur im unermüdlichen Kampf zugunsten der Mitmenschen. Nur so kann sie zu der überlegenen Haltung heranwachsen, die mit Christus gemeint ist. Doch entwickelte die Kirche zu Freiheit und Autonomie ein zwiespältiges Verhältnis und wurde zu einer der schärfsten Feindinnen ihrer Befreiungsdynamik. Wenn sie sich von dieser katastrophalen Fehlpositionierung befreien will, hat sie noch viel Arbeit zu leisten. Daran arbeiten wir gerne mit.

Dies setzt aber voraus, dass die Hierarchie diese Vergangenheit klar verurteilt und durch ein konsequent freiheitliches Handeln korrigiert. Sie muss zahllose Verurteilungen zurücknehmen, die nur die eigene Übermacht, das eigene Recht und die eigene Wahrheit dokumentieren sollten. Zudem werden die Kirchen erst dann zu glaubwürdigen Orten der Freiheit, wenn die Solidarität mit den in Unfreiheit gehaltenen Menschen zu ihrem Grundimpuls geworden ist. Vorher ist es wohl unmöglich, in einem abstrakten und unkritischen Erneuerungseifer als loyales und widerspruchsfreies Mitglied dieser Kirche aufzutreten, denn eine solche Mitgliedschaft wirkt im Augenblick noch wie eine Bestätigung all der Untugenden, die sich mit den offiziellen Institutionen der Kirche verbinden.

Machen wir uns nichts vor: In den vergangenen Jahrzehnten hat kaum eine kirchliche Deformation so viel Verbitterung und Resignation ausgelöst wie die hochautoritäre, in Kernfragen absolutistische Deformation des katholischen Kirchensystems. Von Papst Franziskus dazu angeregt wird sie seit einigen Monaten unter dem Stichwort des Klerikalismus diskutiert. Allerdings ist ihre psychische und existentiell moralische Problematik in unangemessenen Strukturen und deren Legitimationen verankert. Die kirchliche Machtpyramide ist streng hierarchisch gegliedert und demokratische Elemente werden strikt verdrängt. Es verwundert nicht, dass loyale Hierarchen diese innere Verzerrung akzeptieren. „Das zentralistisch übersteuerte, patriarchale und höfische System ist reformbedürftig. Und Franziskus hat den Weg zur Diskussion auch der sog. heißen Eisen freigegeben.“ (Leo Karrer)

Trotz massiver Kritik sind die katholischen Machtapparate immer noch Horte der Intransparenz. Die Bestimmungen des Konzils von Basel zur Überlegenheit des Konzils über den Papst wurden in den Folgejahren schlicht hintertrieben; dies ist eine der Ursünden des neuzeitlichen römischen Katholizismus. Das 2. Vatikanum hat noch einmal behauptet, dass ein Konzil ohne den Papst schlicht handlungsunfähig sei. Der Begriff des „Laien“ ist zum Inbegriff für Nichtwissen, Nichtkönnen und Nichtdürfen verkommen und die Vorgänger von Papst Franziskus haben dieses autoritäre Verhalten perfektioniert. So nahm die innere und die äußere Emigration dramatisch zu. Noch heute haben viele kirchlich engagierte Männer und Frauen (gleich ob in Seelsorge, Diakonie oder Theologie) mehr Angst davor, sich kritisch zu äußern als den Mut, sich vom Geist der Freiheit beleben zu lassen. Vom Geist des biblischen Freimuts ist nur wenig zu spüren.

So erstaunt es auch nicht: Viele reformorientierte Männer und Frauen, die sich formal auf den Geist der Freiheit berufen, bieten dem autoritär geführten Apparat Roms weder kompromisslosen Widerstand noch möchten sie sich von den inneren Entlastungen lösen, die sie in Abhängigkeit halten. Sie leben im schützenden Kokon eines vormodernen Systems, das tausend Handlungsmodelle vorgibt, ihr Gewissen steuert und Entscheidendes für sie regelt. Sie schätzen noch immer den pontifikalen Prunk, sind glücklich, wenn der Bischof sie lobend erwähnt, und vermeiden alles, was ihn erzürnen könnte.

Oft ist nicht nur ihr politisches, sondern auch ihr spirituelles Sensorium schwach entwickelt. Sie spüren nicht, wie sehr sie mit ihrem angepassten Verhalten ein repressives System unterstützen, in dem die Freiheit der Kirchenführer alles, die innere Freiheit des Kirchenvolkes aber nichts gilt. Noch immer identifizieren sie sich mit dem Lehr- und Hirtenamt und stufen sich selbst in die Kategorie der Hörenden herab. Aus spiritueller Perspektive verachten sie frühere Kirchenepochen, in denen von allen zu entscheiden war, was alle betraf. Sie stehen in Gefahr, die christliche Botschaft zu verraten, die in repressiver Gestalt schlicht zur unglaubwürdigen Farce geworden ist.

Dies ist umso bedenklicher, als die Theologie in den vergangenen Jahrzehnten für einen Kurswechsel viele Argumente neu entdeckt und angeboten hat. Dabei könnten auch die Kirchenleitungen, wenn sie nur wollten, für einen Kurswechsel viele seriöse Gründe finden. Man denke an das paulinische Konzept einer charismatischen Kirchenordnung, an die spätantike Tradition der Bischofwahl oder an die urdemokratischen Strukturelemente, die sich die alten Orden noch bewahrt haben. Zudem ging die frühe Kirche mit ihrer Gemeindeordnung noch pragmatisch um, übernahm problemlos außerchristliche Modelle und beurteilte die Ämter nach funktionalen Gesichtspunkten. Sakrale Elemente tauchen erst später auf (s. Teil IV).

Um des Geistes der Freiheit und um der Glaubenskraft willen, die aus innerer Freiheit erwächst, sollten wir uns einen jeden begründungsleer formalen Kirchengehorsam verbieten und uns nur eine Solidarität mit den Kirchenleitungen angewöhnen, wenn sie im geistlichen Freiheitsimpuls zu Hause ist. Es reicht nicht, dass ein Kirchenleiter freundlich ist, gewinnend zu reden weiß und Sympathie ausstrahlt. Gerne setzen wir uns konstruktiv mit überzeugenden Handlungsvorschlägen und Glaubensentwürfen auseinander. Ansonsten sind wir nicht mehr bereit, den jesuanischen Geist der Freiheit, der Machtkritik und der gegenseitigen Dienstbereitschaft auf bloße Appelle zu beschränken. Dies verbietet uns unser tiefer Respekt vor der Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes, die in der Gestalt Jesu erschienen ist. Vielmehr wenden wir uns unvermittelt den Fragen, Sehnsüchten und Vorschlägen der Gemeinden zu. Unser oberstes Ziel muss es sein, die innere Freiheit des Gottesvolkes zu fördern, die eine Frucht des Reiches Gottes ist.

Dazu sagte Magnus Striet am 25.09.2019: „Freiheitssehnsucht und Gottesglaube lassen sich nicht gegeneinander ausspielen.“ Freiheit als Selbstbestimmungsrecht bedeutet, Glaube müsse nicht „lehramtskonform“ sein. Die Gottesfrage habe Konsequenzen für die Strukturen der Kirche, denn Gott ist „hoffentlich ein Gott der Gerechtigkeit“. So wirft die Gottesfrage die Frage auf, „wie der Gott, der an der Kirche sichtbar werden soll, es wohl mit Freiheit und Würde hält“.

Zu erinnern ist auch an die Eingangssätze der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute. „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nicht wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.“ Das sind stolze Worte, in denen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinanderklaffen. Mehr denn je haben reformorientierte Christ/innen das Recht und die Pflicht, das kirchenamtliche Handeln konsequent und kompromisslos an ihnen zu messen. Es gibt keine christliche Freiheit in einem autoritären Kirchensystem, sondern höchstens in harter Konfrontation mit ihm.

IV. Heiligkeit der Menschenwürde, der leiblichen Liebe, der tätigen Solidarität

IV/1. Ausgangpunkt: Tiefgreifende Verschiebung

In aller Regel gelten die Religionen als Hüterinnen des Heiligen. Sie setzen es gegenwärtig in ihren Götterbildern und Tempeln, in brennenden Kerzen und Opfergaben, in prunkvollen Altären, Statuen und wertvoll ausgestatteten Räumen, in brausenden Festen und Ritualen sowie mit – würdevoll oder schrecken-gebietend gekleideten – Priesterinnen und Priestern. Die monotheistischen Religionen zeigen das Heilige vorrangig in erhabener Einzigkeit, Hoheit und Macht sowie mit wertvoller, geradezu imperialer Prachtentfaltung. Als heilig gelten viele Regeln, die Respekt einflößen und zur Unterwerfung stimulieren, das Handeln der Menschen steuern, sowie mit Macht ausgestattete Amtsträger, die das Verhalten und den Glauben der Menschen kontrollieren. So sind bei den traditionellen Religionen Glaube und Frömmigkeit mit Gehorsam und Unterwerfung verkoppelt.

In demokratisch geprägten und organisierten Gesellschaften sind diese Formen des Heiligen in die Krise geraten. Das öffentliche Ansehen religiöser Würdenträger schmilzt dahin, die Gotteshäuser leeren, religiöse Traditionen und Lebensstile verflüchtigen sich. Auf den ersten Blick ist dieser Wandel mit schweren kulturellen und religiösen, vielleicht auch moralischen Verlusten verbunden, doch auf den zweiten Blick lässt sich dieser Wandel verstehen. Seine Gründe sind jedoch nicht einfach in der Demokratisierung unserer Gesellschaft zu suchen, sondern in umfassenderen kulturellen Umwälzungen.

Beginnend mit dem 18. Jh. hat sich die hoheitliche, sich überlegen gebende und machtaffine Symbolik des Heiligen allmählich gewandelt[2]. Heute entdecken wir das Heilige in der unantastbaren Würde des Menschen (Immanuel Kant), in der Unbedingtheit der Menschenrechte[3], im fordernden Blick der Mitmenschen (Emmanuel Levinas), in der intensiven und leidenschaftlichen Liebesbegegnung von Menschen, in der innigen Umarmung des Kindes durch seine Eltern, in der unverbrüchlichen Solidarität zwischen Menschen angesichts des drohenden Todes.

Diese gewaltige Verschiebung, die vielleicht den Kern aller Säkularisierungsprozesse ausmacht, ist lautlos geschehen. Die Religionen interpretieren sie als Glaubensverlust, weil ihre eigenen Symbole und Riten ihre Bindekraft verloren haben. Vor diesem Hintergrund zeigt sich die Säkularisierung gerade nicht als Verlust, sondern als eine tiefgreifende Metamorphose des Heiligen. Deshalb kann die Zuwendung zum Säkularen zur neuen Spurensuche nach einem Heiligen werden, das noch nicht hinreichend entdeckt ist.

Natürlich bringt der wachsende Relevanzverlust traditioneller Institutionen und Glaubensformen auch schwere Verluste. Zusammen mit den traditionellen Gottesdiensten und Verkündigungsformen verdunsten auch die Kenntnis der Bibel und ein unverzichtbares Wertesystem. Sakramente verlieren ihre bisherige Funktion und für viele wird die Gotteserfahrung zur lähmenden und irreführenden Chimäre. Deshalb gilt es, diese Transformationen bewusst zu verstehen und zu bearbeiten, damit aus der Vergangenheit eine neue Kontinuität entstehen kann.

Meine These lautet: Diese neue Spur – die Zuwendung zu den Mitmenschen, die Erfahrung seiner unendlichen Würde sowie das undurchdringliche Geheimnis der leiblichen Nähe, die tiefste Verbindungen und Bindungen zu schaffen weiß und die tätige Solidarität‑ wird prägend für eine neue religiöse Leidenschaft, mit der wir auf andere Menschen zugehen und kraft derer wir an einer menschenfreundlichen, gottgemäßen Zukunft arbeiten können.

Im konstruktiven Umgang mit dieser Säkularisierung haben wir die Botschaft Jesu hinter uns. Den Propheten vergleichbar lehnte er den öffentlich organisierten Tempel- und geistlosen Thorakult nicht einfach ab, aber er stand ihnen distanziert gegenüber, weil er sie am Wohl des Menschen maß, das ihm noch heiliger war. Zum Ärger der damaligen Glaubenshüter wandte er sich den Menschen, auch den Kindern zu, ließ sich „Fresser und Säufer“ nennen und pflegte öffentlich einen (für die „Frommen“ ärgerlichen) Umgang mit Frauen. In seinen Gleichnissen thematisierte er den Umgang von Menschen miteinander, ihre Enttäuschung und Vergebung, ihr Weglaufen und ihre Integration. Die Hochzeit wurde ihm zum großen Bild der Gottesreichs. In diesem Hochfest menschlicher Sexualität und Körperlichkeit, wurde Wasser zu Wein.

Von diesen Erinnerungen beseelt suchen wir die Nähe zu Menschen, gehen auf sie zu und verwahren wir uns gegen jede Diskriminierung und jeden Ausschluss, gegen jede Geringschätzung von Frauen gegenüber den Männern, gegen jede Abwertung der Leiblichkeit gegenüber dem erhabenen Geist. Das Heilige lösen wir nicht mehr als etwas Jenseitiges ein, das sich feiern lässt in wohlgeordneten Ritualen und geregelten Transzendenzverweisen, in juridisch überbestimmten Sakramenten und Bekenntnisakten. Wir feiern vielmehr seine menschlich fordernde und beschenkende, seine leibliche und liebende Gegenwart. Damit feiern wir nicht die Hoheit, sondern die stete Veränderlichkeit und Vergänglichkeit, die Zerbrechlichkeit und Hilfsbedürftigkeit von Menschen, die sich zugleich beschenken können und nur in Gemeinschaften stark sind. Als neues Merkmal der Liebe entdecken die Säkularen in erster Linie den Wandel, die Wandelbarkeit, nicht mehr die Bindekraft der Treue.

Zugleich protestieren wir gegen die Instrumentalisierung der Menschen zu materiellen, kommerziellen oder vermeintlich höheren Zwecken, für Ideologien und eine selbstzufriedene sowie machtgierige und durch Macht korrumpierte Religiosität. Nicht das Erhabene, sondern das Mitmenschliche, nicht das Mächtige, sondern die Begegnung, keine Unantastbarkeit, sondern das Mitfühlen, vielleicht die mystische Versenkung und gelegentliche Ekstase sind der neue Raum für heilige Ereignisse.

Mit dieser Neuentdeckung des Heiligen hängt auch die Neuentdeckung von Spiritualität und Mystik zusammen. Sie suchen und finden eine Nähe, die die Grenzen des Gegenständlichen übersteigt. Sie verankern Menschen in einer Tiefe, die von Bedrohungen viel weniger erschüttert wird. Sie verhelfen dazu, das Göttliche als den Kern von Menschen und menschlichen Begegnungen wahrzunehmen. Deshalb können Spiritualität und Mystik zu Faktoren von höchster politischer, auch kirchenpolitischer Brisanz werden.

Täglich machen wir die Erfahrung: Das Heilige begegnet uns sowohl in den Mitmenschen, die uns nahestehen, als auch in solchen, die wir stärken und ermutigen können, aber auch in denen, auf deren Hilfe wir angewiesen sind. Wer diese neue, alltäglich erfahrene und höchst vitale Heiligkeit in die liturgischen Zusammenkünfte unserer Sonn- und Feiertage einbringen will, sollte sich dessen bewusst sein: Christus begegnet uns in allen Menschen, mit denen wir in Beziehung treten.

Nur wenn der sonntägliche Gottesdienstbesuch nicht mehr isoliert und sakramentalistisch zu „Quelle und Mittelpunkt“ der Gotteserfahrung hochstilisiert wird, kann er zum Ort einer bewusst gefeierten Gottesnähe werden und uns dazu befähigen, unser Alltagshandeln an unseren Jesuserinnerungen zu spiegeln. Dann sind wir auch im Gottesdienst allen Menschen nahe, die Gott in keinem platonischen Jenseits mehr, sondern gut biblisch im konkreten Diesseits suchen. In dieser Spiritualität der Menschennähe liegt vielleicht der entscheidende Schlüssel eines zukunftsfähigen Christseins in unserem Kulturraum. Auf diesem Weg kann uns ein „heiliges Mysterium“ gelingen, das aus sich heraus die Kirchenmauern wie selbstverständlich durchbricht und auch andere Menschen zur Gemeinschaft einlädt.

IV/2. Folgen: Neue Fakten schaffen

Der epochale Bedeutungswandel des Heiligen im westlichen Kulturkreis löst im Christentum einen tiefgreifenden grundlegenden Gestaltwandet und die wohl tiefste und komplexeste der aktuellen Irritationen aus. Auch bei den gängigen Reformbewegungen kann er gefährliche Missverständnisse auslösen. Oft versuchen sie, die überlieferte Gottesdienstpraxis durch lautere Aktivitäten, neueres Liedgut und mehr Beteiligung der Teilnehmer zu beleben. Dagegen ist nichts einzuwenden, doch die Wirkung dieses Handelns darf nicht überschätzt werden.

Die Kirchenleitungen begreifen nur schwer, dass sie ihr Monopol auf Erfahrung und Gestaltung des Heiligen verloren haben. Auch sie müssten in Welt und Gesellschaft lernen, wo die neuen Begegnungsorte des Heiligen sind, und werden sich lange Zeit in einer Art Niemandsland bewegen. Konservativ gestaltete Gottesdienste berühren viele Menschen nicht mehr, andere vermissen in neu gestalteten Feiern die Erfahrung des Heiligen. Lernprozesse sind äußerst schwierig, denn zur Debatte stehen ganzheitliche Erfahrungen, bei denen unterschiedlichste Wirklichkeitsbereiche beteiligt sind.

Bis weit ins 20. Jahrhundert blieb die Formen- und Symbolsprache des Heiligen von einer vielschichtigen Tradition geprägt. In sie gingen spätantike, mittelalterliche und neuzeitliche Elemente ein und sie wurde von komplizierten, hoheitlich verordneten Elementen gesteuert. In ihr kommt die Erfahrung zeitgenössischer Menschen kaum mehr zum Ausdruck. Zudem lebt diese Liturgie mehr als 1600 Jahre lang aus ihrer Verschwisterung mit der politischen Macht. Dies führte dazu, dass die Kernfunktionen eines Gottesdienstes in Priester oder Bischof monopolisiert und damit verarmt wurden.

Man denke auch an die Kirchenkunst, die liturgische Kleidung, den Reliquien- und Opferkult sowie den erhabenen Baustil romanischer, gotischer oder barocker Kirchen, die im 19. Jahrhundert nicht immer kreativ repetiert wurden. Dabei herrschte bis zum Sturz der Monarchien in der Symbolik eine Symbiose von politischer und kirchlich-religiöser Macht, in der sich selbst Napoleon wohlfühlte. Die Kirchen in unserem Kulturraum müssen begreifen, dass diese machtaffin heilige Symbolik der Vergangenheit angehört. Sie müssen die Gründe dafür selbstkritisch akzeptieren. Die machtaffine Symbolsprache des Heiligen hat ihre Bindekraft verloren und kann die wahre Jesusgeschichte, die von Tod, Vergänglichkeit und verletzlicher Liebe zeugt, nicht mehr zur triumphalen Siegergeschichte uminterpretieren.

Nach dem 2. Vatikanum initiierte die katholische Kirchenleitung in hilfloser Gegenwehr gegen die globalen Verschiebungen eine restaurative Gegenbewegung. Das konziliare, durchaus ökumenische Bewusstsein, dass Wort und Sakrament zumindest eine dialektische Einheit bilden, wurde zugunsten eines neuen Sakramentalismus zurückgedrängt. Inzwischen prägt nichts so sehr die offizielle Identität der katholischen Kirche wie eine sakramentale Wirklichkeit, die in der Eucharistie kulminiert. „Die Kirche lebt von der Eucharistie“ (Ecclesia de Eucharistia) lautet der höchst einseitige und restaurative Titel einer Enzyklika des Wojtyła-Papstes vom April 2003. Diese massive Verkürzung des biblischen Kirchenbildes ist scharf zu kritisieren.

Im Zentrum dieses Konzepts steht erneut das priesterliche Amt, das ‑ Taufe und Ehe ausgenommen ‑ zur Spendung der Sakramente befähigt: von Firmung, Eucharistie, Sündenvergebung, Krankensalbung und Priesterweihe. Es reproduziert das traditionelle, auf kirchenamtliche Institutionen fixierte Bild von einer höchst offiziell, geistlich und überirdisch legitimierten Heiligkeit. So wird versucht, die Definitionsvollmacht über das Heilige zurückzugewinnen und es den kirchlichen Verwaltungs- und Erlösungspraktiken zu unterwerfen, obwohl es aus dem Machtverbund von Kirche und Staat schon längst ausgewandert ist.

In der katholischen Kirche hat diese Restauration noch immer massive Auswirkungen auf den Umgang mit Leiblichkeit und Sexualität. Dies zeigt sich in der Stellung von Frauen in ihr. Zudem zeugt diese Entwicklung von der bekannten ökumenischen Unbeweglichkeit. Auch 53 Jahre nach dem Konzilsschluss hat sie von der zentralen reformatorischen Erkenntnis nichts gelernt: die Kirche lebt zunächst von einem Wort, das der blinden Sakralisierung kirchlicher Ämter entgegensteht. Deshalb schadet eine neue Stärkung des kirchlichen Weiheamts der kirchlichen Erneuerung mehr, als sie nutzen könnte.

Ein Blick in die frühe Kirchengeschichte kann diese Beobachtung bestätigen. In den ersten Jahrzehnten ging es ja um das Leitungsamt einer Gemeinde und um begleitende Gemeindefunktionen. Sie wurden nicht sakral, sondern funktional umschrieben und auf das Gesamtwohl der Gemeinde hin ausgerichtet. Bei Paulus (1 Kor 12,1-11, 28-31) ging es um Dienste und Kräfte, die Vermittlung von Weisheit und Erkenntnis, um Krankenheilung und Wunderkräfte und die Unterscheidung der Geister, um Zungenrede und deren Deutung. Wichtig war die gar nicht sakrale Trias von Aposteln, Propheten und Lehrern. Dabei lag es auf der Hand, dass die Leiter/innen ihrer Gemeinde auch vorstanden, wenn sie gemeinsam das Brot brach. Jemanden zur Gemeindeleitung im Allgemeinen oder zum Vorsitz in der Eucharistiefeier zu ordinieren, wäre absurd gewesen und war deshalb verboten.

Doch seit dem 4. Jh. gerieten die Bischöfe in den Schatten einer imperialen und purpurgewandeten, byzantinisch konnotierten Sakralität. Bald waren die Formensprache politischer und kirchlicher Macht engstens verschränkt. Zum Beispiel ging der kaiserliche Titel „Stellvertreter Christi“ erst später in die bischöfliche und päpstliche Titulatur über. Selbst der bescheidene Papst Franziskus hat ihn übernommen.

Eine zweite Akzentverschiebung hat diese Sakralisierung von der Leitungsfunktion auf die Ebene der Sakramente hin intensiviert. Über die frühe funktionale bzw. theologische Unterscheidung zwischen Bischof und Presbyter (= Priester) wissen wir wenig. Doch wurde sie beim Übergang von der Spätantike zum Mittelalter mit der wachsenden Differenzierung zwischen Stadt- und Landbevölkerung fassbar. Vereinfacht gesagt: Die Priester wurden als Helfer der Bischöfe aufs Land geschickt, um dort Messen zu lesen und Sakramente (Taufe und Sündenvergebung) zu spenden. Diese Verlagerung der priesterlichen Aufgaben fügte ein zweites Ungleichgewicht hinzu[4], dessen Ergebnis zur Jahrtausendwende vorliegt. Zur Sakralisierung durch öffentliche Macht tritt die Magisierung eines heiligen Geschehens hinzu.

Ein neuer Berufsstand der Sakramentenspendung hatte sich herausgebildet und unversehens wurden die Zusammenhänge zwischen Gemeindeleitung und Sakramentenspendung umgekehrt. Jetzt wurde nicht mehr der in aller Form gewählte Leiter einer Gemeinde in sein Leitungsamt eingesetzt (= „ordiniert“), um dort natürlich auch der Eucharistiefeier und anderen Zusammenkünften der Gemeinde vorzustehen. Vielmehr wurden „Älteste“ (= presbyter) mit allgemeinen Weihevollmachten ausgestattet, um dann in bestimmte Gemeinden geschickt zu werden. Schrittweise wurde die Bindung der Ordination an eine bestimmte Gemeinde unterlaufen, denn die absolute Vollmacht zur Spendung der Sakramente, also die globale Sakralisierung einer Person, hat jetzt alle Einzelbedingungen von Wahl und konkreter Amtseinsetzung überrollt. Mit seinen wahlunabhängigen Vollmachten ließ er sich ja überall verwenden, wo es galt, die Sakramente zu verwalten.

Mit dieser massiven Magisierung der ländlichen Leitungsämter, kombiniert mit der politischen Sakralität der Bischöfe, musste es zur unheilvollen und hochaktuellen Diskriminierung der Frauen und zur Zölibatsfrage kommen, die hier nicht weiter zu besprechen sind. Vor dem Hintergrund einer neu erfahrenen Heiligkeit zeigen diese Entwicklungen: Eine Strukturreform, die das „Weiheamt“ reformieren will, wäre kontraproduktiv und kommt zu spät, denn die Figur des Weiheamts ist selbst schon eine Deformation. Sie perpetuiert eine von weltlicher Macht infizierte Sakralität, fördert ein magisches Heilsverständnis und zerstört erneut den christlichen Geist der Geschwisterschaft. Sie ist für die jüngste Kulturgeschichte blind.

Was aber ist zu tun?
Im Sinn frühchristlicher und durchaus zeitgemäßer Spiritualität ist eine nüchterne Erneuerung der Leitungsämter einzuleiten. Sie dürfen nicht mehr sakral isoliert, monokratisch überhöht und von archaischen Tabus belastet sein. Gemeindeleitende Personen, gleich ob Frauen oder Männer, verheiratet oder zölibatär, sind keine Weihebeauftragten, deren Vollmacht in irgendwelchen Opfer- oder Wandlungswundern kulminiert. Es ist die Gemeinde, also die Gemeinschaft der „Heiligen“ selbst, die miteinander feiert und in deren Mitte sie Christus weiß. Sie ist nicht nur der „mystische“, sondern nach Paulus der wahre Leib Christi, die das Mysterium von Christi Tod und Auferstehung feiert. Die Erfahrung des Heiligen beginnt nicht mit hehren Ritualen, sondern im gegenseitigen Dienen, der schon außerhalb der Gemeinde geschieht. „Was ihr den Geringsten meiner Geschwister getan habt, das habt ihr auch mir getan.“ (Mt 25,40). Was gibt es für Christ/innen Höheres, als Christus in den Nächsten zu begegnen, deren Qualität an keine Kirchengliedschaft gebunden sein muss! Das Heilige braucht keine amtlichen Kontrolleure und Verwalter.

Gewiss, diese Umorientierung vom Weihe- zum Leitungsamt kann eine spirituelle Lücke hinterlassen. Denn nach wie vor haben Gemeinden und einzelne Christ/innen das Recht auf spirituelle Nahrung und Führung, auf Orte des inneren Nachdenkens und der geistlichen Erneuerung. Es ist deshalb wichtig, spirituell begabte Frauen und Männer zu suchen und ihnen in den Gemeinden entsprechende Funktionen zuzuweisen. Erinnert sei an die Entstehung der “Ohrenbeichte“. Ursprünglich war sie nicht Sache der Priester. Vielmehr trat man an geistlich hoch respektierte Personen (meist Mönche oder Nonnen) heran. Sie hatten die innere Kraft, den Menschen im Namen Gottes Vergebung zuzusprechen, Trost zu spenden und Orientierung zu geben. Dass es auch heute solche gottbegnadete Männer und Frauen gibt, steht außer Zweifel.

Die zutiefst verbindliche, uns alle belebende Erfahrung wahrer Heiligkeit im Vergänglichen, Hilfsbedürftigen und Zerbrechlichen beginnt, wie schon gesagt, in der Begegnung mit Menschen. Der Ort wahrer Heiligkeit ist in der Welt und ihrem Alltag zu Hause. Dadurch sollten Gottesdienste nichts an ihrer Würde verlieren. Es muss aber klar sein: Die in ihnen gefeierte Heiligkeit Gottes kommt nicht aus dem amtlichen Handeln der Vorsitzenden, die mit großen oder kleineren mit Machtpotenzen und -symbolen ausgestattet sind. Sie kommt aus jeder engagierten Begegnung mit Menschen, die schon außerhalb des Tempels geschehen ist.

Zwar kann sich diese Erfahrung in der Feier des Abendmahls verdichten, aber sie muss zuvor schon im Leben der Feiernden gegenwärtig sein. Heiligkeit zu erfahren und erfahren zu lassen, liegt deshalb nicht in der Regie von Kirchen oder Religionen, sondern im Verhalten und Erleben von Menschen. Bischof Kohlgraf erklärte einmal, die Menschen müssten die Kirche als lebensdienlich erfahren. Diese Aussage wiegt schwer, lässt keinen praktischen Widerspruch mehr zu. Deshalb wäre es unerträglich, sollte sich derselbe Bischof einer Ordination von Frauen widersetzen.

Was sollte ihn daran hindern, in seinem Bistum Frauen zu vollgültigen Gemeindeleiterinnen zu ernennen (was in der Schweiz schon geschieht)? Glaubt denn ein Bischof, es käme je Bewegung in diese höchst sensible Frage, in der die Anerkennung oder Demütigung von Frauen zur Debatte steht, wenn nicht endlich überfällige Fakten geschaffen werden!? Übrigens sind diese Fakten schon geschaffen. Einerseits walten an vielen Orten offiziell geweihte Priesterinnen und Bischöfinnen ihres Amtes, andererseits wird an ungezählten Orten der Welt das Abendmahl ohne priesterliche Assistenz gefeiert. Die Heiligkeit dieses Geschehens zeigt sich beim gemeinsamen Mahlhalten und nicht in der magischen Wirkung priesterlicher Worte.

V. Vertrauen aus der Erfahrung eines gelingenden Lebens

 V/1.  Ausgangspunkt: Ohne Vertrauen kein Leben

Angst geht um, nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern. Ökologische Standards lösen sich auf, globale Sicherheitssysteme zerbröckeln, ökonomische Weltbeziehungen werden in Frage gestellt und skrupellose Staatsführer gewinnen an Einfluss. Ungezügelt kapitalistische und autoritäre Strukturen schaffen neben wenigen Gewinnern mehr und mehr Verlierer. Diese werden von unseren Gemeinschaften ausgeschlossen und an den Rand gedrängt, und so um ihre Bildungs- und Existenzmöglichkeiten betrogen.[5]

Auch in wohlsituierten Kreisen macht sich Angst breit. Kann ihnen unsere Gesellschaft noch eine menschenwürdige und freundliche Zukunft versprechen? In dieser prekären Situation wird es oft schwer, das natürliche Lebensvertrauen von Kindern zu behüten, zu stärken und so zu unterstützen, dass es sich in den Heranwachsenden zu einer gereiften und widerstandfähigen Vertrauenshaltung entwickelt, die im Erwachsenenalter persönliche und kollektive Krisen überstehen kann.

Im Widerspruch dazu leben alle Weltreligionen aus einem vitalen Vertrauen darauf, dass unser Leben von Sinn umgeben ist und selbst im Tod nicht zu einer lächerlichen Vision zerrinnt. Ihr Vertrauen auf Gott oder das Göttliche bietet ihnen dafür eine hinreichende Garantie. Diese paradoxe Kernüberzeugung besagt quer durch alle Religionen: Wir müssen uns nur auf diese Hoffnung einlassen, denn sie wird uns nicht enttäuschen. Ist das wirklich der Fall?

Natürlich geht es um kein naives Vertrauen, so legt den Glaubenden das Christentum selbst schwerste Prüfsteine in den Weg. Man denke an das Scheitern Jesu, der aus Angst Blut schwitzte und dessen Gottverlassenheit das Matthäusevangelium schilderte. Dennoch hält gerade das christliche Lebensmodell an einem unzerstörbaren Überschuss an Vertrauen fest. Allerdings muss es ein Leben lang erkämpft und wachgehalten werden. Es reicht nicht, auf äußerlich verfügbare Werte oder Erfolge zu bauen. Vielmehr kommt es darauf an, das Leben ‑ in einer „inneren“, also von innen her verstehenden Rationalität (Hans Küng) ‑ aus einem letzten Geheimnis heraus zu verstehen. Kann es gelingen? Genau das ist ein Teil des großen Geheimnisses vom menschlichen Leben.

Zugleich können wir sehen, dass dieses Vertrauen vielen Menschen gelingt. Offensichtlich nährt es sich aus den täglichen Erfahrungen und Begegnungen, Überraschungen und Überschreitungen an der Grenze, auch aus dem täglichen In-sich-gehen im gegenseitigen Gespräch, in Gebet und Meditation. Dieses durch und durch menschliche, zerbrechliche und zugleich unzerstörbare Grundvertrauen, das bruchlos in eine christliche Glaubenspraxis übergeht, verbindet uns mit den Angehörigen anderer Religionen.

Mit ihrer unglaublichen kulturellen Kreativität gelingt es auch ihnen in unterschiedlichsten Glaubensformen, einen unbedingten Vertrauensvorschuss in den Sinn des Lebens zu schaffen. Es entspricht dieser geradezu allgegenwärtigen Erfahrung, unbedingt angenommen zu sein vom Lebenssinn, von der Weltordnung, vielleicht einer ausgleichenden Harmonie oder einer letzten und unzerstörbaren Instanz. Vielleicht können Menschen dieses Lebensgefühl ohne ausdrückliche Glaubenserfahrungen nur schwer nachvollziehen, obwohl es auch bei ihnen aus dem fundamentalen Vertrauen ihrer Kindheit erwachsen kann. Die Weltreligionen haben diesen Grundgedanken in zahllosen Erzählungen, Symbolen und Erwartungen grundgelegt. Wir Christen möchten alle Menschen daran teilhaben lassen, nicht indem wir sie belehren oder moralisch drangsalieren, sondern indem wir sie für ihr eigenes Leben stärken. Dieses Angebot und dieses Teilgeben gehören zur spirituellen Grundausstattung einer christlichen Lebenspraxis.

Deshalb kann keine Religion, auch kein Christentum bei sich selbst bleiben. Sie alle leben von einer universalen Perspektive, von der schon die Rede war (II): der gemeinsamen Harmonie, des Erfüllt-seins, des universalen Hochzeitsmahls oder der Völkerwallfahrt zur Stätte des Heils, in der allen das Licht aufgeht. Aus dieser überschäumenden Erwartung und Zuversicht kommt auch die Kraft zur Versöhnung und Vergebung. Zumal in der aktuellen Globalisierungsdynamik sollte diese prophetische Vollendungsdynamik eines großen Vertrauens neue Konturen gewinnen. Ohne ihre Grundlage werden auch hochstehende Religions- oder Kirchensysteme ihre Relevanz verlieren.

V/2.  Folgen: Gegenseitige Teilhabe

Gemäß dem Johannesevangelium bietet Jesus den Jüngern eine bedingungslose Freundschaft an: „Ich habe euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe.“ (15,15) Diese Zusage Jesu gewährt den Gläubigen eine breite Vertrauensgrundlage und unbedingte Transparenz; sie sind von ihm vorbehaltlos angenommen. Wie schon gezeigt wurde, müssen ohne dieses gegenseitige Vertrauen auch hochreflektierte Kirchensysteme versagen; ihr Überleben hängt davon ab. Gelegentlich erweckt die katholische Liturgie den Eindruck, Jesus habe diese Freundschaft nur geweihten Würdenträgern zugesagt. In dieser Unterstellung zeigt sich das Grundproblem einer Kirche, die sich als Klassengesellschaft von Priestern und „Laien“, also als Paradigma eines halbierten Vertrauens präsentiert.

Statt einer Gemeinschaft, die von gegenseitiger Teilhabe geprägt ist, stoßen wir auf Kleriker und „Laien“, die sich ihrem Wesen nach unterscheiden. Überdies zeigt der klerikale Oberteil, einem autoritären Strukturdenken tributpflichtig, reiche Untergliederungen. Allen sichtbar steht oben der Papst mit dem erlauchten Kreis von Kardinälen. Ihm folgen die Bischöfe. Sie sind in Patriarchen, Kardinäle und Metropoliten, Erzbischöfe, Bischöfe und Hilfsbischöfe (in Deutschland „Weihbischöfe“ genannt) unterschieden und ihre unmittelbare Gefolgschaft wird gerne mit phantasievollen, teils kostspieligen Ehrentiteln geschmückt. Sie alle sind durch päpstlichen Entscheid ins Amt gekommen. Ihnen untergeordnet sind die Priester in verschiedensten Funktionen, durch ihre „Oberhirten“ ernannt. Dann kommt die große Trennungslinie zu den „Laien“, um deren Aufwertung man sich heutzutage halbherzig und etwas hilflos müht. Diese Trennungslinie bestimmt die gesamte Kirchenwirklichkeit und macht die Laien – auch die mit Sonderaufgaben betrauten ‑ in entscheidenden Dingen zu Stimmlosen und Außenseitern. Die Kleriker bleiben mit dem Glanz unantastbarer Würde umgeben.

Oft bildet diese Trennungslinie auch eine Grenzlinie des strukturellen, auch des persönlichen Vertrauens. So verschließt sich die römisch-katholische Kirche, einem banalen Männerbund vergleichbar, der entscheidenden Qualität, die eine Religion und religiöse Institutionen auszeichnen sollte: einem fundamentalen Vertrauensimpuls, der zunächst einmal alle umfasst. Entgegen aller historischen Erkenntnis wagt sie es sogar, sich dafür auf den Stifterwillen Jesu zu berufen. Das ist ein Skandal ersten Ranges, weil er die Grundregeln des Christseins von Grund auf verfälscht.

Man mag entgegenhalten, eine jede Institution benötige ordnende Elemente und keine größere Gemeinschaft komme ohne Kontrolle aus. Wo aber der Geist des Vertrauens herrscht, geschieht solche Kontrolle in offener Transparenz und nimmt die Meinung aller Kirchenmitglieder ernst, statt diese zu verfälschen. Selbst diese skandalöse Weigerung wird oft durch irreführende Äußerungen verdeckt und so von den Kritikern akzeptiert.

Ein Musterbeispiel bildet die stolze Aussage der Kirchenkonstitution „Die Gesamtheit der Gläubigen … kann im Glauben nicht irren.“ (Nr. 12). Das ist eine für Reformbewegungen wichtige Aussage. Doch der Folgesatz stellt klar, dass diese Übereinstimmung auch die Bischöfe umfassen muss. Die Gesamtaussage lautet deshalb: Ohne die Hierarchie könnt ihr trotz klarsten Konsenses irren. Zudem erklären andere Passagen der Konstitution, dass Irrtumslosigkeit auch ohne die „Laien“ je nach Umständen ein Sonderprivileg von Konzil, Bischöfen oder Papst sein kann. Dennoch wird die genannte Passage häufig als Plädoyer für ein außerordentliches Wahrheitsprivileg des Gottesvolks zitiert; das verkennt die tiefe Ambivalenz eines zentralen Konzilstextes.

Wie sind solche Missverständnisse auch bei anderen Konzilstexten möglich? Sehr viele Texte sind in extremer Weise von Kompromissen und inneren Widersprüchen durchzogen.[6] Progressive und Reaktionäre können sich auf jeweils ihre Passagen berufen. Die nachkonziliaren Spaltungen resultieren nicht aus tendenziösen Textinterpretationen, sondern spiegeln nur, was die „Konzilsväter“ in ihren ungelösten Streitpositionen programmierten. Bis zum Jahr 2013 haben die drei maßgeblichen nachkonziliaren Päpste ein perfektes System des Misstrauens und geheimer Kontrollmechanismen intensiviert, sozusagen ein Kartell des Misstrauens installiert, dies mit dem Ziel, die große „Kontinuität“ des Glaubens zu wahren.

Wer auf die fundamentale Spiritualität des religiösen Vertrauens baut, muss dem letzten Konzil und der nachkonziliaren Epoche jede Zustimmung entziehen, denn der Schaden für die Vertrauensbotschaft des christlichen Glaubens war und ist noch immer enorm. In einem Interview nennt es W. Kasper einen schwerwiegenden Skandal, dass die Kirche von heute von vielen als unbarmherzig betrachtet wird. Man kann ihm nur zustimmen, muss aber hinzufügen: In erster Linie ist diese Unbarmherzigkeit ein Produkt der Kirchenleitungen und von Kirchenstrukturen, wogegen die Reformbewegungen bislang erfolglos angegangen sind. Übrigens hat auch das päpstliche Jahr der Barmherzigkeit (2015/2016) zu keinen strukturellen Reformen geführt. Es ist eben keine erfolgversprechende Strategie, unbarmherzige Glaubensregeln prinzipiell zu akzeptieren und sie in einem zweiten Schritt barmherzig auszulegen.

Statt sich weiterhin in Hoffnung und Enttäuschung auf die Kirchenleitung zu fixieren, sollte es zu unserer Leidenschaft werden, Vertrauen in unsere Gesellschaft zu tragen und deshalb die christlichen Gemeinden zu Vororten eines Vertrauens zu machen, das die Grenzen der Kirche überschreitet.

Angesichts der offiziellen Situation ist es ganz erstaunlich, wie intensiv sich der Geist der Freundschaft und der gegenseitigen Treue trotz allem in vielen Gemeinden gehalten hat. Sie ließen ihre Vertrauenshaltung nicht von einer hierarchischen Misstrauenskultur zerstören. Deshalb sollten die Reformbewegungen dazu entschlossen sein, diesen Geist der Freundschaft in allen ihnen zugänglichen Lebensräumen durchzusetzen, auch wenn dies zu Konflikten führt. Natürlich gilt es, realistisch zu sein, denn im real existierenden, weltweit agierenden Katholizismus wird sich der Geist des Misstrauens, der moralischen Gängelung und der Glaubenskontrolle noch lange halten. Doch der Geist des geschwisterlichen Vertrauens vereint auch viele, die die katholische Kirche verließen oder nie ihre Mitglieder gewesen sind. Das Reich Gottes ist immer größer als selbstdefinierte Grenzen. Genau das schafft uns auch eine innere Freiheit und die Überzeugung, dass die Botschaft Jesu alle Grenzen übersteigt; seine Worte und sein Verhalten überzeugen aus sich selbst.

Schluss: Dringliche Strukturreform

Die Besinnung auf die geistigen und spirituellen Grundlagen unseres Glaubens sowie auf die schwindende Gegenwart Gottes in unserer Gesellschaft hat die strukturellen Reformfragen der römisch-katholischen Kirche nicht relativiert, sondern noch dringlicher gemacht. Schärfer denn je kann heute eine spirituelle Besinnung zeigen, wie diametral der katholische Kirchenapparat und der Geist christlichen Glaubens einander entgegenstehen. Wir vermissen in dieser kirchlichen Organisation konkrete Visionen, den prophetischen Geist Jesu und eine Lebensbejahung, die den Tod überwindet. Stattdessen lähmt noch immer eine Kultur der Kontrolle, der Unterdrückung und Todes allen Mut zur Freiheit, den uns der Einsatz für unsere Nächsten schenkt. Wir suchen das Heilige noch immer in einer machtaffinen und weltlosen Heiligkeit und haben die Orte wahrer menschlicher Heiligkeit vergessen. Als schlimmsten Mangel erfahre ich den tief eingefleischten Geist des Unfriedens, des Misstrauens und der Kontrolle, die für ein jedes Vertrauen tödlich sind.

Deshalb sollten Reformgruppen ihre Strategien ändern. Primär interessieren das Reich Gottes und nicht die Kirche, stehen also die Nöte und Bedürfnisse unserer Lebensräume, unserer Gesellschaft und der Welt im Zentrum unserer Leidenschaft. Deshalb muss alle Kraft den Mitmenschen und nicht der kirchlichen Institution gelten. Gerade eine neue innere Freiheit gegenüber der Hierarchie setzt viele Zukunftskräfte frei, die bis jetzt nutzlos gebunden waren. Wir suchen unseren Frieden nicht mehr im Arrangement mit der Kirche, sondern in der Solidarität mit unseren Mitmenschen. Wir kämpfen dafür, dass die kirchlichen Gemeinden autonom und innerlich frei werden. Das muss zu keiner Trennung von der Hierarchie führen. Aber die Hierarchie muss endlich um Gottes Reich wissen, um unsere Suche nach Gerechtigkeit vor Ort und um zeitgemäße Profile des christlichen Glaubens, die sich von der Säkularisierung nicht erdrücken lassen, sondern belebt werden. Wenn sich die Bischöfe vom Geist Jesu nicht korrigieren lassen, dann sei das ihr Problem, dann nämlich trennt sich die Hierarchie von den Gemeinden, nicht umgekehrt.

Der kritischste Punkt ist wohl der tiefgreifende Gestaltwandel des Heiligen, in dem wir dem Göttlichen begegnen. Wir suchen es nicht mehr in den traditionellen, oft nostalgischen Symbolen unserer Vorfahren, sondern in den vitalen Begegnungen, Erfüllungen und Frustrationen unserer Mitmenschen und im Wissen, dass wir in den Geringsten Christus selbst begegnen, unabhängig von seiner kirchlichen, christlichen oder religiösen Gesinnung. Nur dieser Ausgangspunkt kann langfristig auch zu einer erneuerten und zeitgemäßen Gottesdiensterfahrung führen. Sie lässt sich nicht mehr von einer sakramentalistischen, priesterlichen oder machtaffinen Symbolik leiten, vielmehr misst sie ‑ gemäß dem Wort Jesu ‑ alles menschliche und kirchliche Handeln am Vertrauen und inneren Frieden, der dadurch gefördert wird.

Dadurch ändern sich auch die innerkirchlichen Reformziele. Wir begleiten nicht mehr das hierarchische Handeln, sondern entwickeln im Gespräch mit den Gemeinden unsere eigene Kreativität. Wir kämpfen mit der Hierarchie nicht mehr um Erlaubnisse oder umfassende Grundsatzentscheidungen, sondern ermutigen die Gemeinden dazu, ihren eigenen Inspirationen zu folgen, also auf ihre eigene charismatische Kraft zu vertrauen. Wir verzehren unsere Kräfte nicht mehr im Kampf um geweihte Ämter und den gleichberechtigten Zugang von Frauen, sondern wählen in aller Sorgfalt solche Personen aus, denen wir eine segensreiche, kollegial begleitete Gemeindeleitung zutrauen. Zwischen katholischen und evangelischen Gemeinden sehen wir keine trennenden Unterschiede mehr.

Wir erwarten umso weniger Schwierigkeiten, als die Hierarchie uns nicht mehr mit Priestern alten Stils versorgen kann. So hoffen wir auf die Zeit, in der wir alle anstehenden Fragen wieder offen, angstfrei und transparent auch mit den Bischöfen besprechen können. Aber sie müssen wissen: Für uns sind nur Gespräche verbindlich, die auf gleicher Augenhöhe, von der Sache Jesu inspiriert, argumentativ und in der Möglichkeit der Gegenrede geschehen. Der Wesensunterschied zwischen Klerikern und Laien ist – zumal in einer demokratischen Gesellschaft – keine christliche, sondern eine feudale und männerbündische Fiktion.

In all ihren Vorhaben ermutigen wir die Gemeinden dazu, weltoffen, klug und bedachtsam zu handeln. Sie sollen dies immer im Geist der Freiheit tun und sich nie zum Misstrauen verleiten lassen. Denn Vertrauen, Freundschaft und klare Visionen, aus diesen Quellen kann der christlichen Botschaft auch in unserem Kulturkreis eine neue Zukunft erwachsen. Es muss nur gelingen, das „Volk Gottes“ nicht erneut zum Befehlsempfänger einer übergeordneten Führungsschicht zu erniedrigen.

Bevor Kardinal Kasper die Reformkräfte erneut zu einer vertieften Spiritualität ermahnt, sollte er bedenken, welch massiven Frevel die kirchliche Hierarchie noch immer an ihr betreibt.

Anmerkungen:

[1] Interview mit Domradrio am 06. 06. 2013, https://www.domradio.de/themen/Ökumene/2013-06-12/kasper-das-grundproblem-ist-die-gottesfrage.

[2] Als Schlüsselwerk betrachte ich Hans Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Berlin 2017.

[3] Meilensteine sind die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung (1776), die Französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789) sowie die Menschenrechtscharta der UNO (1948).

[4] Diesen Prozess, der wohl mit den Völkerwanderungen (4./5. Jh.) eintrat, skizziert kurz und anschaulich Hubert Wolf, Zölibat. 16 Thesen, München 2019, S. 38-40.

[5] Die wütende Klage der Greta Thunberg (16) beim Klimagipfel der Jugend in New York ist programmatisch: „Wie könnt ihr es wagen? Mit euren leeren Worten habt ihr meine Träume und meine Kindheit gestohlen… Ganze Ökosysteme brechen zusammen. Wir stehen am Beginn einer massenhaften Auslöschung. Und alles wovon ihr reden könnt, ist euer Geld, sind eure Märchen vom ewigen Wirtschaftswachstum. Wie könnt ihr es wagen!“ Eine ganze Generation habe versagt, den Planeten zu schützen.

[6] Dazu O. H. Pesch, Das Zweite Vatikanische Konzil. Vorgeschichte – Verlauf – Ergebnisse – Wirkungsgeschichte, Kevelaer, 32011.

 

„Schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein!“ Christoph Röhl leistet anstrengende Aufklärung

Auch sechs Jahre nach seinem Rücktritt spaltet Papst Benedikt noch Deutschlands Gemüter. Für die einen ist er ein herausragender Theologe und Bayerns größter Sohn, für andere wurde er zum reaktionären Versager auf dem Papstthron, der an seinem korrupten System zerbrach. Christoph Röhl, britisch-englischer Dokumentarfilmer und mehrfacher Filmpreisträger wurde in Deutschland bekannt durch seine Arbeiten zum Missbrauch in der Odenwaldschule („Und wir sind nicht die Einzigen“) und zum Rücktritt von Kaiser Wilhelm II. („Kaisersturz“). Er hat sich der vielleicht komplexesten Figur des jüngsten deutschen Katholizismus angenommen und mehr als vier Jahre an seinem Portrait gearbeitet. Die Mühe hat sich gelohnt. Weiterlesen

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Nach dem großen Erfolg der ersten Auflage (2017) hat R. Ropers seine Porträtsammlung um über 20 Darstellungen erweitert. Neben Mystikern spricht der neue Titel auch von den „Weisen“ unserer Zeit. Gerade die neuen Profile zeigen, wie wenig sich Mystik in außerordentlichen Erfahrungen erschöpft. Weiterlesen

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Schon am Tag seines Erscheinens erfuhr der Beitrag des Altpapstes so viel empörten Widerspruch, dass sich eine weitere Reaktion zu Inhalt und Qualität kaum lohnt. Statt sich zu ärgern, könnte man sich stellvertretend auch schämen über den Zerfall eines Geistes, der uns in den besten Jahren wenigstens noch in Atem hielt, denn sein Konservatismus und seine Intransigenz hatten noch einiges Niveau. Weiterlesen

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Ein Beitrag zur schweren Krise der römisch-katholischen Kirche. Wie tief steckt sie in der Falle? Warum fällt ihr eine innere Erneuerung so schwer? Viele Faktoren wirken zusammen und es ist nahezu unmöglich, den Beginn des unheilvollen Fadens aufzuspüren. Weiterlesen

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Die römische Bischofssynode vom 3. bis 28. Oktober 2018 zur Situation der Weltjugend hatte sich viel vorgenommen: Ein dynamisches, für die Kirche zentrales Thema sollte von der wohl einzigen gesamtkirchlichen Institution bearbeitet werden, die es neben einem Konzil gibt. Weiterlesen

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Was Gott gefiel und was man daraus machen könnte

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Aus mehreren Gründen macht mich das Schreiben Placuit Deo hilflos. Und es enttäuscht. Formal fällt es in den kurialen Hofstil zurück, den Papst Franziskus schon hinter sich gelassen hatte. Weiterlesen

Weihnachten 2017 – Eine Nachbetrachtung

Es liegt mal wieder hinter uns, das Fest aller Feste. Kinderaugen haben gestrahlt, die Kirchen waren voll, das vertraute Klischee von der seligen Weihnachtszeit zog Jung und Alt in seinen Bann. Keine Frage, auch ich habe mit meinen Angehörigen, unseren Enkeln zumal, schöne Stunden erlebt. Doch mir entgingen auch die gehetzten Mütter und Väter nicht, die sich zuvor durch die Kaufhäuser drängten, auf den Rechnern ihre Bestellungen durchtakteten und nervös auf die letzte Paketsendung warteten. Weiterlesen

20 Thesen zur Zukunft und Neuorientierung der katholischen Kirche im deutschsprachigen Raum

I. Die aktuelle Situation

  1. Wir leben in einer Zeit des tiefgreifenden Umbruchs. In ihr haben sich die großen Glaubensvisionen der vorhergehenden Epoche verflüchtigt. Neue Visionen sind nicht an ihre Stelle getreten.
    Dieses Vakuum ist der eigentliche Grund für die wachsende Bedeutungs- und Sprachlosigkeit der Kirche. Diese wurde im Jubiläumsjahr 2017 in ökumenischer Breite offenkundig.

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Was kommt nach Kardinal Müller?

Erwarten uns dunkle oder goldene Tage? Kardinal George Pell ist vorerst abgereist, Kardinal Gerhard Müller bleibt ohne Amtsverlängerung mit Schwert und Feuereifer in der Arena zurück und Kardinal Joachim Meisner, der sein Kölner Amt 1989 unter Beugung des Wahlrechts antrat, ist unerwartet verstorben. Weiterlesen

Kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden

Ein Gott, eine Welt, viele Religionen

Vortrag am 1. Juni 2017 in Weilheim (Obb.)

Einleitung: Religion, ein politischer Faktor

„Kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden“ Wer hätte vor 30 Jahren gedacht, dass dieses Motto so brisant werden könnte, wie es nach dem 11. September 2001 geworden ist, als die Twin Towers in New York zusammenstürzten! Nicht nur der Islam, auch andere Religionen wurden inzwischen wieder als hochpolitische Faktoren zur Kenntnis genommen. Weiterlesen

Das Familiengeheimnis der römischen Kirche

Es rumort in Rom. Mitte November 2016 schrieben vier Kardinäle an den Papst einen offenen Brief. Sie stellten ihm vier Fragen zu seinem Schreiben Amoris laetitia. Das war ein außerordentlicher Schritt. Das Echo, das dieses Quartett bei Kritikern und Verteidigern auslöste, hallt immer noch nach. Der Papst reagierte irritiert. Am 23.12.2016 sprach Franziskus von „bösartigen Widerständen“ und davon, dass die Reformverweigerung oft „im Schafspelz“ daherkommt. Weiterlesen

Visionen bitte, statt nostalgischer Nabelschau!

DIE ÖKUMENE HAT IHR REFORMPOTENTIAL VERSPIELT

„Die große Zeit des Christentums liegt nicht hinter uns. Sie liegt noch vor uns“, mit solch ungetrübter Zuversicht kommentierte Kardinal R. Marx den ökumenischen Jubiläumsbeginn der Reformation (ZEIT, 27. Okt. 2016). Ich würde ihm gerne zustimmen, doch der Zustand der Ökumene spricht für das Gegenteil. Seit 50 Jahren versucht man sich in Vergangenheitsbewältigung, doch keine der großen Blockaden ist aus dem Weg geräumt. Erfolglos ging es erst um Konsens, dann um Konvergenz, schließlich nur noch um versöhnte Verschiedenheit. Amts- und Eucharistieverständnis bleiben umstritten, das Verhältnis von Schrift und Tradition ist ungeklärt. Das Papsttum mit seinen Exklusivansprüchen sorgt nach wie vor für Streit. Weiterlesen

Die Botschaft Jesu jenseits von Konfession und Religion – Thesen

Schon lange geht die exegetische Forschung davon aus, dass Jesu Botschaft und Lebensprojekt den Rahmen der späteren Kirche weit überschreiten. Deshalb tun die Kirchen und Konfessionen in einer säkularisierten Epoche gut daran, sich neu an diesem vorkirchlichen Jesus zu orientieren. Die hier abgedruckten Thesen dienten als Grundlage für ein Referat in einer Pastoralkonferenz. Weiterlesen

Weltethos – Die Reformation des 21. Jahrhunderts?

Vom Weg in ein zukunftsfähiges Christentum

Herbst 2016, geraume Zeit schon laufen die Vorbereitungen zum Reformationsjahr auf vollen Touren. Seit 2008 läuft die Lutherdekade mit zentralen Themen wie Reformation und Bekenntnis (2009), Bildung (2010), Freiheit (2011), Musik (2012), Toleranz (2013), Politik (2014), Bild und Bibel (2015), Reformation und die Eine Welt (2016). 2017 soll sie im Reformationsjubiläum kulminieren. Die theologischen Fakultäten haben sich fit gemacht; abgehalten wurden Vorlesungsreihen, Symposien, Veranstaltungen in den Akademien. Margot Käßmann hat ihre weltweite Werbetour mit den bunten Lutherstatuen aus Plastik abgeschlossen und die Schlosskirche in Wittenberg ist rundum saniert. Viele freuen sich über das erste wirklich aufgeklärte Lutherjubiläum, doch andere rufen: „500 Jahre Luther sind genug“. Weiterlesen

Glaube in einer säkularisierten Epoche – Über die Möglichkeiten einer Gemeinde, sich selbst zu gestalten

Kirche und christliche Gemeinden begreifen die allgegenwärtigen Säkularisierungsprozesse nicht als Chance, sondern als Gefahr. Damit verurteilen sie sich zur gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit, statt eine zukunftsgerichtete Dynamik zu entwickeln. Jesu Botschaft vom Reich Gottes könnte sie eines Besseren belehren. Weiterlesen

Christliche Grundlagen einer fundamentalistischen Politik

Zu den Grundlagen eines römisch-katholischen Fundamentalismus
Ein Arbeitspapier

Die Zusammenhänge zwischen Rechtstendenzen in europäischen Ländern und der christlichen Tradition sind offenkundig. In diesem Arbeitspapier werden Hinweise zur Begriffsklärung des Fundamentalismus und zur politischen Situation der betroffenen Länder unter dem Motto von Emmanuel Todd gegeben: Die richtige Reaktion einer Gesellschaft, der es schlecht geht, bleibt für mich die Selbstkritik ‑ und nicht die Dämonisierung äußerer Umstände. Weiterlesen

Wenn jemand eine Reise tut …

Predigt zu Christi Himmelfahrt

1. Wenn jemand eine Reise tut , dann kann er was erzählen

Dieses Motto gilt nicht nur für unsere Urlaubsreisen, vielleicht über den Atlantik, nach Fernasien oder aus alter Gewohnheit ans sonnige Mittelmeer, nach Italien oder Griechenland. Das Motto gilt auch für die Lebensreisen, die wir allein oder zusammen mit anderen unternehmen. Genauer müsste man sagen: Wenn jemand eine Reise getan und sie abgeschlossen hat, dann ist es Zeit, Bilanz zu ziehen. Dann hat sich eine Lebensgeschichte gerundet und geht in die Erinnerung der Nachkommen ein. Ich möchte etwas über die Hoffnungen und Schicksale unserer Lebensreisen sagen. Den Anlass dazu gibt mir das Fest der Himmelfahrt Christi, das wir heute feiern. Weiterlesen

Glauben und zweifeln, Grenzen bedenken

Was wir von den Weltreligionen lernen können

Vor wenigen Wochen wurde ich auf ihn aufmerksam, als das Fernsehen einen Film über ihn zeigte. Der Titel lautete: Das Ende ist mein Anfang; es ist zugleich der Titel seines letzten Buches, in dem er seinem Sohn Folco seine spannende Lebensgeschichte erzählt. Weiterlesen

Fundamentalismus – Schatten aller Religionen

Gegen den fremden und den eigenen Fundamentalismus

Der 7. Januar 2015, der Tag der Pariser Attentate, muss kein historischer Einschnitt sein, aber er verbietet es dem Islam und dem Christentum im west-östlichen Spannungsfeld endgültig, weiterhin die komplexen Probleme und Fragen zu verdrängen, die unser gegenseitiges Verhältnis vergiften und uns von Katastrophe zu Katastrophe schlittern lassen. Die Zeit der konstruierten Feind- und Idealbilder ist vorbei. Zwischen uns stehen reale Fragen, die wir schon längst miteinander, nicht gegeneinander hätten lösen müssen. Weiterlesen

„Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf“ (Ps 127,2) – Religionen und Sexualität, ein brisantes Verhältnis

Alle Weltreligionen haben zur Sexualität ein prekäres Verhältnis. Einerseits wird sie in höchsten Tönen gepriesen, andererseits eifersüchtig kontrolliert, bisweilen sogar verteufelt. Es ist höchste Zeit, den Gründen dieses ambivalenten Verhaltens auf die Spur zu kommen. Einige Thesen sollen dafür eine erste Richtung weisen. Weiterlesen

Von Engeln, Schlangen und einer herausfordernden Botschaft

Renate Schoof geht in ihrem umfassend bebilderten Buch der reichen Welt von Bildern und Symbolen nach, von denen die christliche Religion begleitet wird und die ihrerseits aus archaischen Quellen leben. Dieses Buch ist ein wirksames Gegengift gegen alle fundamentalistischen Besserwisser, die heute Urständ feiern. Weiterlesen

In der Angstfalle

Der Vorwurf des Fundamentalismus ist schnell gemacht. Aber welche Religion ist frei davon?

„Die Zeit ist aus den Fugen.“ Seit dem 7. Januar, dem Tag der Pariser Attentate, denke ich immer an diese Zeile aus dem „Hamlet“ von Shakespeare. Bis dahin registrierte ich, letztlich gefasst, die Schreckensberichte aus dem Irak, aus Syrien, Afghanistan oder Pakistan. Die New Yorker Anschläge von 9/11, zweifellos ein Höhepunkt terroristischer Gewalt, schienen ein singuläres Ereignis zu sein. Morde in Madrid (2004) und London (2005), selbst die Grausamkeiten in Nigeria nahm ich in der Hoffnung hin, dass sich solche Taten nicht wiederholen. Doch Paris hat uns nun näher an politische Abgründe geführt. Weiterlesen

Wahr ist, was uns für die Anderen öffnet

Klarstellungen zu Ökumene und Weltethos

Einleitung: Was ist Wahrheit?

Angesichts der Weltsituation erscheinen das Projekt Weltethos und der innerchristliche und interreligiöse Dialog als eine nicht zu leugnende, dringliche Notwendigkeit. Wie aber kann ein ernsthafter Dialog entstehen, wenn die Partner sich der eigenen Wahrheit sicher und der Unwahrheit anderer religiöser Denkweisen gewiss sind? Gibt es nur die eine oder mehrere Formen der Wahrheit, und wie lässt sich Wahrheit im Dialog entdecken? Weiterlesen

Wir gehören zusammen

Zur Meditation

Liebe Anwesende,
gleich, ob Sie sich gläubig oder Suchende nennen oder einfach hier sind, um für eine halbe Stunde zu sich zu kommen. Hier und jetzt bindet uns dieser Raum zusammen. Wir bilden eine Einheit, auch wenn sie in wenigen Minuten wieder vergeht. Der Augenblick zählt. Weiterlesen

„Das Netz ist zerrissen …“ (Ps 124,7)

Vom Glück und der Schwierigkeit, mit anderen zu teilen

 

Psalm 124
Ein Wallfahrtslied Davids.

Hätte sich nicht Jahwe für uns eingesetzt
– so soll Israel sagen -,
hätte sich nicht Jahwe für uns eingesetzt,
als sich gegen uns Menschen erhoben,
dann hätten sie uns lebendig verschlungen,
als gegen uns ihr Zorn entbrannt war.
Dann hätten die Wasser uns weggespült,
hätte sich über uns ein Wildbach ergossen. Weiterlesen

Europa als Experimentierfeld für ein künftiges Christenum

Materialien zur Arbeit und drei abschließende Thesen

Charles Taylor schreibt:
Mit den vorliegenden Überlegungen plädiere ich für eine Revision und Öffnung des »Säkularismus«-Konzepts. Wenn die Demokratie den Herausforderungen unserer Zeit gewachsen sein soll, darf sie die säkularistische Ordnung nicht länger als Bollwerk gegen die Religion verstehen, sondern muss sie weiterentwickeln im Sinne der drei grundlegenden Zielsetzungen, die ich oben skizziert habe.
Weiterlesen

Heiligsprechungen im Hundertmaß

Das Guinessbuch der Rekorde lässt grüßen

Wer hat die meisten Heiligen kreiert? Unter Insidern galt die Antwort als unbestritten. Johannes Paul II. hat nicht nur eine Inflation der Selig- und Heiligsprechungen ausgelöst, sondern er darf dafür auch ins Guinessbuch der Rekorde. Mit 1338 Selig- und 482 Heiligsprechungen, also mit insgesamt 1820 Kanonisierungen hat er einen einsamen Rekord erzielt. Weiterlesen

Ein Akt der Selbstverherrlichung

Zur Heiligsprechung zweier Päpste

Wieder einmal wird Rom einen Besucher- und Medien-Hype erleben. Polen, Italiener und alle anderen Papstbegeisterten werden jubeln und glücklich sein. Warum? Gemeinsam werden zwei Päpste heiliggesprochen, die gegensätzlicher kaum sein könnten. So werden die Fans von beiden den Petersplatz füllen und gemeinsam jubeln. Aber wie selten prallen die inneren Widersprüche dieses Festtags so massiv aufeinander. Zwei Päpste, die gegensätzlicher kaum sein könnten, werden heiliggesprochen und man kann sich überlegen, ob man Gegensätze versöhnen will oder ob Johannes XXIII. nur als Alibi für Johannes Paul II. benutzt werden soll. Weiterlesen

Freude des Evangeliums – Freude am Evangelium

Zum Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium

Freude des Evangeliums (evangelii gaudium) lauten die Anfangsworte der programmatischen Reformschrift, die Papst Franziskus am 26.11.2013 veröffentlichte. In ihr wirbt der Papst für einen missionarischen Gestaltwandel der Kirche und die Umgestaltung der Seelsorge. Er denkt an eine Neuausrichtung, die keinen Aufschub duldet und die alle Strukturebenen umfasst: Basisgemeinden und Pfarreien, Teilkirchen und das Bischofsamt (eingebunden in Mitspracheregelungen und innerkirchliche Dialoge), gestärkte Bischofskonferenzen mit authentischer Lehrautorität. Einbezogen wird selbst eine „Neuausrichtung des Papsttums“, dessen Vorrangstellung (technisch als Primat definiert) sich neuen Situationen öffnet. Weiterlesen

Christen, Muslime und der eine Gott

Noach als Prophet unserer gemeinsamen Friedensarbeit
Einige Grundgedanken zum Bedenken und zur Diskussion

1. Die Menschheit – eine Familie Gottes

Die drei prophetischen Religionen Judentum, Christentum und Islam glauben ausdrücklich nicht nur an den Einen, sondern auch an denselben Gott, gleich ob wir ihn Allah, Jahwe oder den Gott Jesu Christi nennen. Verglichen mit den anderen Weltreligionen ist diese gegenseitige Verwandtschaft einzigartig. Weiterlesen

Weisheit – notwendiger denn je

Zur aktuellen Bedeutung einer religiösen und zugleich staatsbürgerlichen Tugend

1. Ein Weisheitsideal, das sich aufgelöst hat

Im September 1949, also vor über 63 Jahren, betrat ich zum ersten Mal die Heimschule Lender. Über dem damaligen Haupteingang las ich das Motto der Heimschule Initium Sapientiae – timor Domini. Die Worte konnte ich übersetzen, wirklich verstanden habe ich sie nicht. Weiterlesen

Auf Ostern hin leben

Osterpredigt am 31. März 2013 in St. Eberhard, Stuttgart

Ostern 2013, wir feiern dieses Fest nach einer überraschungsreichen Fastenzeit. Benedikt XVI. zieht sich aus der Last seines übermenschlichen Amtes zurück und Papst Franziskus schreibt vom ersten Tag an Geschichte. Schon zuvor fordert er, die Kirche müsse hinaus an die Peripherien gehen, an die Grenzen der menschlichen Existenz: des Schmerzes, der Ungerechtigkeit und des Elends. Wir sollen uns nicht in uns selbst verkrümmen, sagt er, unseren theologischen Narzissmus hinter uns lassen. Eine um sich selbst kreisende Kirche, in der die einen die andern beweihräuchern, müsse aufgebrochen werden. Nur so werden wir eine Kirche des Lichtes Christi. Weiterlesen

Versuchung Fundamentalismus

Gemeinsames Weltethos als Ausweg?

Fundamentalismus ist ein typisches Antiprodukt der Moderne und in allen Religionen zu spüren. Kann das Konzept eines umfassenden Weltethos wenigstens ein Gegengift bieten, auch wenn es den Fundamentalismus nicht einfach ausrotten kann? Weiterlesen

Glaube zwischen Schrecken und Faszination

Zur Rolle von Leidenschaft und Gewalt in den Religionen

I. Gewalt im Vormarsch

Auf unserer Welt, in den politischen Auseinandersetzungen und kulturellen Entwicklungen, selbst im religiösen Denken ist Gewalt im Vormarsch. Vorbei sind die Hoffnungen, die uns beim Zusammenbruch der kommunistischen Systeme begleitet haben. Wir dachten, jetzt sei die Ära der Konflikte endlich zu Ende gegangen. Weiterlesen

Pluralisierte Weltkirche und ein souveräner Papst

Diagnosen und Visionen am Beginn eines neuen Pontifikats

Herr Professor Häring, Sie sagen, das kirchliche Wahrheitsverständnis ist der eigentliche Knackpunkt, wenn man mit der Kirchenreform weiterkommen will, und es hilft nicht, für die Frauenordination und für dieses und jenes einzutreten. Weiterlesen

Theologe über die Religionen und ihr Verhältnis zur Gewalt

Hermann Häring im Gespräch mit Philipp Gessler

In dem Moment, in dem Religionen politische Macht gewinnen, kann ein Primat der Gewaltlosigkeit oftmals nicht aufrechterhalten werden, sagt der emeritierte Theologieprofessor Hermann Häring. Dies zeige sich beispielsweise bei den Vertreibungen von Muslimen durch Buddhisten in Birma. Weiterlesen

Freiheit im Haus des Herrn – Zur Zukunft einer gemeinsamen Kirche

Trotz massiver römischer Widerstände ist der Ruf nach einer Entklerikalisierung der römisch-katholischen Kirche unüberhörbar. Inzwischen ist sie ökumenisch unfruchtbar und in der Öffentlichkeit unglaubwürdig. Doch wirksame Reformschritte müssen komplex sein. Weiterlesen

Zwischen Wahrheitsanspruch und Relativismusangst – Zum Dilemma des modernen Katholizismus

Seit dem 19. Jahrhundert sucht der Katholizismus für den Umgang mit Irrtum und Wahrheit nach realistischen Regeln. Sein Unfehlbarkeitsmodell, das 1870 dogmatisiert wurde, verabsolutierte die Institution und geriet spätestens 1970 in die Krise. Weiterlesen

Gottesrede zwischen Rechthaberei und Profilverlust

Kann christliche Ökumene noch überzeugen?

Zu meinen geliebten Kindheitserinnerungen gehört eine Reparaturwerkstatt für Fahrräder und technische Apparaturen, die man in meinem Heimatdorf benötigte. Später kamen Mofas und Motorräder, schließlich Autos dazu. Für mich als kleinen Jungen war das ein Paradies. Weiterlesen