Streit um die Weltsynode

Der aktuelle Weg der römischen, sich katholisch nennenden Kirche, meiner Kirche, stürzt mich in Trauer und Panik. Vor einem Jahr hätte ich mir noch nicht vorstellen können, wie tief sich in mir der Ärger über ihre verirrten Reformaktivitäten einbrennt. Zugespitzt formuliert: Sie sind blind und orientierungslos, von leerem Aktivismus gezeichnet, noch immer im Griff einer unbelehrbaren Rechthaberei und der unseligen Behauptung, die römischen Aktivitäten seien vom Heiligen Geist geleitet. Die Unterscheidung zwischen Geist und Ungeist, von der Papst Franziskus so gerne redet, versagt in Rom genau dort, wo sie beginnen müsste. Weiterlesen

Machtorientierte Theologie – Zum Problem der offiziellen Trinitätslehre

Unter dem Titel „Die kirchliche Trinitätslehre ist überholt“ veröffentlichte Publik-Forum (10/2023) meine Reaktion auf die Beiträge, die Joachim Negel zur christlichen Lehre vom dreifaltigen Gott geschrieben hatte. Diese Beiträge, meine Antwort sowie eine Replik von Joachim Negel sind in www.publik-forum.de dokumentiert. Angesichts der gravierenden Missverständnisse, die Negel meiner Antwort entgegenbringt, soll eine nochmalige Antwort meinen eigenen Standpunkt genauer klären. Die entscheidenden Inhalte sind auch ohne Kenntnis der vorhergehenden Debatte verständlich.

Sechs Tage nach meiner Geburt wurde ich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes getauft und ich habe versucht, mein Leben nach diesem biblischen Dreiklang zu gestalten. Dass Kollege Negel mir vorhält, ich verabschiede mich vom „innersten Kern des neutestamentlichen Glaubensbekenntnisses“ und ich beerdige eine „bald 2000-jährige, überaus reiche Denk- und Frömmigkeitstradition“, das halte ich, gelinde gesagt, für übergriffig. Doch auch vom Kirchenvolk scheint er keine gute Meinung zu haben. So klagt er, Worte wie Gnade, Erlösung oder Menschwerdung Gottes würden kaum mehr verstanden; nach den Gründen dieses Sprachverlustes fragt er nicht. Hans Küng, der ein Leben lang den irrationalen Lehrstrategien von Bischöfen und Päpsten widerstand, bezichtigt er kaltblütig eines Rationalismus, der (oh Schreck!) auch mich in den Abgrund gezogen hat. Seit etwa 10 Jahren dachte ich, wir hätten die Zeiten der Glaubensbelehrer überstanden. Vielleicht ließ sich Negel vom Titel meines Beitrags irreführen. Wirklich gelesen und verstanden hat er ihn wohl nicht. Weiterlesen

Die Reformziele des Synodalen Wegs sind steigerungsfähig

Seit drei Jahren bemüht sich der Synodale Weg [SW] darum, die aktuelle Krise der katholischen Kirche in geduldiger Konsensbildung zu überwinden. Viele TeilnehmerInnen haben diese zeit- und kräfteraubende Arbeit aus freien Stücken auf sich genommen und dafür ist ihnen zu danken. Doch inzwischen werden sie von deutschen, römischen und ausländischen Purpurträgern mit engstirnigen Argumenten massiv kritisiert. Weiterlesen

Spiritualität und Lebensstil einer christlichen Gemeinde

Noch immer bilden unsere Kirch- oder Pfarrgemeinden die elementarste und primäre Form christlich-kirchlicher Gemeinschaften. Damit stehen sie in Kontinuität zur Urform christlichen Zusammenseins überhaupt. Ohne andere christliche Gemeinschaften auszuschließen (wie Klöster, Orden, Kongregationen, alters- oder berufsbezogene Gemeinschaften und andere soziale oder religiöse Vereinigungen), hat man sich immer vor Ort, im Rahmen von Stadt- und Landgemeinden getroffen. In Bedeutung und Funktion sind sie vergleichbar mit den im Neuen Testament genannten Gemeinden, der „Kirche“ von Jerusalem, Korinth, Galatien, Thessalonich, Philippi oder Kolossä). Auch heute sind die weitaus meisten ChristInnen Mitglieder einer Kirchgemeinde. Alle menschlichen Lebenssituationen sind in diesen Gemeinschaften präsent.

In unserem Kulturkreis (auf den sich dieser Text beschränkt) stehen die christlichen Kirch- oder Pfarrgemeinden unter besonderem Druck. Ähnlich wie die gesamte Gesellschaft durchlaufen sie einen unerhörten kulturellen Umbruch. Er stellt selbst die geistigen Grundlagen der Spätantike in Frage, ohne die sich die europäische Kultur bislang nicht denken ließ. Deshalb geraten sogar die klassischen Bekenntnisformeln in Diskussion, weil sie durchweg von hellenistischen Vorstellungen geprägt sind, heute nicht mehr verstanden werden und in unserer Gegenwart irrtümliche Signale aussenden. Weiterlesen

Ist uns Gott verloren gegangen, welches Leben teilen wir?

In diesen Stunden geht der Katholikentag 2022 zu Ende. Er war wie immer bunt und vielfältig, obwohl er weniger Menschen zusammenführte als erwartet. Er hat versucht, ein wunderbares Motto zu entfalten: Leben teilen. In mancher Veranstaltung mag das gelungen sein, doch an mehr als an einer Stelle war darüber zu klagen, dass auf unserer Erde das Leben eben nicht immer geteilt, sondern geneidet, klein gehalten, abgewürgt und vernichtet wird, in und außerhalb der Kirchen. Weiterlesen

Ein zeitgemäßer Glaubensentwurf. Zu einem Buch von Frithjof Ringler

Unsere Kultur erfährt einen Umbruch, der keinen Stein mehr auf dem andern lässt. Mit ihm lösen sich unsere Gottesbilder auf, zumindest verlieren sie ihre Tiefenwirkung und orientierende Kraft. So erleben die Kirchen nicht nur eine äußere Erosion mit wachsenden Austrittszahlen, sondern auch einen inneren Zerfall. Ihr mentaler Zusammenhalt wird labil, denn der traditionelle Gottesglaube verflüchtigt sich, ihre Formensprache zerfällt und mit ihr ein umfassendes Wissensgebäude, das über Jahrhunderte lang Wahrheit garantiert und für Hoffnung gesorgt hat. Weiterlesen

Die Nebel einer unmoralischen Amtsführung

Am 23.03.2021 lud Kardinal Woelki zu einer Pressekonferenz ein. G. Doliwa kommentierte sie und griff 35mal auf das Wörtchen „irgendwie“ zurück. Das war ein entlarvendes Stilmittel, denn alles, was Woelki erklärte, blieb „irgendwie“ unklar. Dabei sollte das neue Gutachten von Gercke-Wollschläger (GW) doch Zweifel ausräumen, Vorwürfe widerlegen und die Rücktrittsforderungen entkräften. Doch Woelkis Selbstverteidigung wirkte merkwürdig verwaschen und ungenau. Weiterlesen

Von Engeln getragen. Wie das Weihnachtsfest einen aktuellen Sinn zurückgewinnt

Dieser Text wurde zum Weihnachtsfest 2005 geschrieben

Weihnachten? Dass der Sinn des Festes eindeutig sei, beruht auf Täuschung. Zu viel wechselnde Erfahrungen fließen ein. Im Jahr 1914 geriet es an der Westfront (so der Film „Merry Christmas“) zum Fest atemberaubender Versöhnung, auch wenn es den Krieg mit 11 Millionen Toten nicht verhindern konnte. Weiterlesen

Worte zur Corona-Krise 8: Gedenken und Danken in schwieriger Zeit

Liebe Freundinnen und Freunde aus Kämpfelbach,
In Besinnung auf unsere Gebrechlichkeit!

Noch leben wir in einer Phase der Hilflosigkeit und Angst. Endlose Fragen nach unserer persönlichen und gemeinsamen Zukunft bleiben ohne Antwort. Bislang mussten wir etwa 7000 Väter, Mütter, Geliebte, Geschwister und Freund/innen für immer aus unserer Obhut geben und niemand kann richtig abschätzen, wie viele Abschiede uns noch bevorstehen, ab wann wir auf einen medizinischen Schutz hoffen können. Weiterlesen

Ein Buch über den vergessenen Gott. Kenntnisreich, einladend, auf der Höhe der Zeit

Norbert Scholl, Gott, der die das große Unbekannte. Staunens-Wertes und Frag-Würdiges, Grünewald 2020, 192 Seiten.
Schon die unkonventionellen Titel und Untertitel wecken die Neugier auf dieses Buch und niemand wird enttäuscht. Weiterlesen

Worte zur Corona-Krise 6: In Gottes Händen?

Freundinnen und Freunde,
Auf der Suche nach einem letzten Geheimnis!

Noch immer liefern uns Religionen umfassende und sehr wirksame Lebens- und Weltmodelle. Sie können – so jedenfalls ihre eigene Überzeugung – uns anleiten zu einem sinnvollen Umgang mit Unrecht, Katastrophen, Elend und Tod. Sie beeinflussen und prägen die übergroße Mehrheit der Menschen, gleich ob Frauen oder Männer, Jugendliche oder Kinder. Darunter sind Christen (2,25 Mrd.), Muslime (1,6 Mrd.), Hindus (1,1 Mrd.), Buddhisten (468 Mio.), Juden (17 Mio.) und andere Religionen (857 Mio.). Die mir vorliegende Statistik fügt 792 Mio. Menschen hinzu, die sich religionslos nennen. Natürlich sind solche Globalstatistiken immer umstritten, doch ihrer großen Linie ist zu trauen. Weiterlesen

Macht über die Seelen – Kernkompetenz und Kernproblem des Katholizismus

Die aktuelle Krise der römisch-katholischen Kirche (im folgenden oft „Kirche“ genannt) ist eng verkoppelt mit ihrem inneren und äußeren Machtzerfall, der seit einigen Jahrzehnten vor allem im westeuropäischen Kulturraum offenkundig wird, und er trifft diese Kirche besonders, weil in ihr schon seit der Spätantike ein ausgeprägtes und prominentes Machtdenken herrscht. Weiterlesen

Reform wohin? Zum Umgang mit der verfahrenen Situation der Kirche

Etwas läuft schief in der römisch-katholischen Kirche. Der Unmut ist gewaltig. Gewiss, seit 2013 setzt der neue Papst belebende Impulse. Doch nur bedingt löst sich die Angst vor den Kirchenleitungen auf und zu lasch wird über eine neue Glaubenswirklichkeit nachgedacht. Viele, die zuvor ängstlich schwiegen, formulieren jetzt laute Kritik. Die Schwächen von Franziskus werden weitgehend geschont. Gewiss, während die sexuellen Gewalt- und Vertuschungsskandale ans Licht kamen, wurden die Reformgruppen international vernetzt, die Eckpunkte einer überfälligen Grundsanierung profiliert und endlich die Stimmen der Frauen mit ihren erfrischenden Forderungen gestärkt; inzwischen fühlen sich sogar Bischöfe zur Selbstkritik herausgefordert. Doch die erneuernden Stimmen haben noch keine Linie gefunden, die den Herausforderungen der Gegenwart gerecht wird.

Gliederung

I. Wie Struktur- und Glaubensfragen zusammenhängen

  1. Kaspers Kritik
  2. Das Schein-Risiko der Spaltung
  3. Probe aufs Exempel

II. Gestaltende Vision: Ein weltweit lebenswertes Leben

  1. Ausgangspunkt: Tiefgreifender kultureller Umbruch
  2. Folgen: Außerhalb der Welt kein Heil

III.  Freiheit als Mut zu klarer Orientierung

  1. Ausgangspunkt: Freiheit in/durch Solidarität
  2. Folgen: Geliehene Autorität

 IV. Heiligkeit der Menschenwürde, der leiblichen Liebe, der Solidarität

  1. Ausgangpunkt: Tiefgreifende Verschiebung
  2. Folgen: Neue Fakten schaffen

V. Vertrauen aus der Erfahrung eines gelingenden Lebens

  1. Ausgangspunkt: Ohne Vertrauen kein Leben
  2. Folgen: Gegenseitige Teilhabe

Schluss: Dringliche Strukturreform

Text

Im März 2019 kündigte Kardinal Marx in Absprache mit dem ZdK einen „synodalen Weg“ an und mit ihm soll sich alles ändern. Doch seine vagen und jetzt schon umstrittenen Ankündigungen erinnern an den „Gesprächsprozess“, der 2011-2015 stattfand. Trotz hohen publikumswirksamen Aufwands gebar er nicht einmal eine Maus. Schon jetzt lässt sich voraussagen, dass auch der neue Weg keinen epochalen Durchbruch erreichen wird. Besprechen will man (1) die innerkirchliche Machtstruktur, (2) die Sexualmoral, (3) die priesterliche Lebensform und (4) die Rolle von Frauen in der Kirche. Ganz gegen einen synodalen Geist hat Marx schon mal Bischöfe zu Vorsitzenden der entsprechenden Arbeitskreise eingesetzt. Sollen uns die Mächtigen erneut über ihre Dominanz, Ehelose über das Geheimnis der Sexualität, Zölibatäre über die Vorteile des Zölibats und auserwählte Männer über die Würde der Frau aufklären!? Mit einer Verzögerung von gut fünf Monaten wurden endlich noch „Laien-Vertreter“ (drei Frauen und ein Mann) als Mit-Vorsitzende hinzugefügt.

Das alles klingt absurd und nichts daran ist innovativ, denn die Kernpositionen sind jetzt schon bekannt und die Leitplanken wurden nicht versetzt. Bei den Machtfragen wird man die moralische Integrität und den Dienstcharakter der Hierarchen beschwören. Die noch immer vormoderne Sexualmoral wird mit einem abstrakten Lobpreis der Sexualität und dem Hinweis abgefedert, die Sünder (Homosexuelle und Wiederverheiratete eingeschlossen) seien zu lieben. Neuregelungen zur priesterlichen Lebensform wird man von der Zustimmung Roms abhängig machen. Frauen werden wieder einmal nicht erreichen, was ihnen wirklich zusteht. Zu diesem Pessimismus zwingen schon jetzt die zahlreichen bischöflichen Verlautbarungen über den Fahrplan sowie der päpstliche Brief vom 29.06.2019, der die strukturellen Krisensymptome relativiert. Dieses pessimistische Urteil wird durch die römischen Verlautbarungen von Mitte September nur bestätigt. Sie haben die deutschen Pläne nicht „missverstanden“, wie Kardinal Marx unterstellt, sondern genau jene Punkte benannt, die dem deutschen Projekt, offiziell entgegenstehen.

Auch andere innerkirchliche Spaltungen lassen auf keine Durchbrüche hoffen, denn sie haben sich stabilisiert. Schon lange sind die Stellungnahmen der Bischöfe ebenso vorhersagbar wie die der Reformgruppen, auch ihre Methoden sind bekannt: Die Bischöfe belehren das Gottesvolk, als sei es historisch und theologisch unterbemittelt; und die Reformorientierten beißen sich wie immer an den Bischöfen fest: sie fragen, appellieren, kritisieren möglichst freundlich und verfassen Petitionen. Tatsächlich machen sie sich so von den Hierarchen abhängig.

Stabilisiert haben sich auch die Lager innerhalb der Purpur- und Zinnoberträger und ich verstehe nicht, warum man sich so aufregt über Hardliner wie die Kardinäle W. Brandmüller, G. Müller, W. M. Woelki oder die Bischöfe K. Zdarsa und R. Voderholzer. Schließlich vertreten sie höchstoffizielle Positionen, ohne diese beschwichtigend zu „verwässern“. Ihre Warnung: Vorsicht, die Lehre nicht verwässern! Klingt allerdings unhistorisch und rein defensiv. Neue Zukunftsvisionen, spannende gesellschaftspolitische Schwerpunkte und die Suche nach einer systematischen Grundlegung bleiben aus.

Die Wurzeln dieser zähen Verweigerungskunst reichen Jahrhunderte zurück und trotz großer Begeisterung konnte das 2. Vatikanum sie nicht auflösen. Schwerwiegender noch: Bis heute werden seine Reformeffekte überschätzt. Schließlich ließ es das überhöhte privilegierte Hierarchiesystem, das vormoderne Erlösungsdenken und das irreformable Lehrgebäude vollständig intakt. Der Qualitätsvorrang der Kleriker vor den „Laien“ blieb bestehen, die Unfehlbarkeitsthese wurde noch breiter angesetzt, als sein Vorgängerkonzil (1870) es tat, und klaglos hat sich das gesamte Konzil in der entscheidenden Kirchenkonstitution der „erläuternden Vorbemerkung“ von Paul VI. gebeugt, die alle hierarchischen Bischofsprivilegien bestätigte sowie den Vorrang des Papstes in ungewohnter Schärfe klargestellt hat: „Der Papst als höchster Hirte kann seine Vollmacht jederzeit nach Gutdünken ausüben, wie es von seinem Amt her gefordert ist.“ Für diese Feststellung wäre kein Konzil nötig gewesen.

Doch damit waren die innovativen Ansätze gründlich relativiert und es hatte seine Gründe, wenn schon damals zwischen vertrauenswürdigen und anderen loyalen Theologen unterschieden wurde und am Konzilsende einige Bischöfe in die Katakomben auswichen, um dort ihren zukunftsweisenden Pakt zu schließen. Hans Küng begann schon während des Konzils mit seinem Buch Die Kirche (1967) eine biblisch inspirierte Antwort auf verpasste Chancen zu schreiben.

Jetzt, ein halbes Jahrhundert später, befindet sich dieses Kirchenschiff in gefährlichen Gewässern. Ist dies die schwerste Krise seit der Reformation, gar eine Jahrtausendkrise, oder erleidet sie die Geburtswehen eines neuen Paradigmas, das sich von seinen Ursprüngen her neu durchbuchstabieren muss? Dabei bilden die sattsam bekannten ökumenischen Herausforderungen noch das geringste Problem. Vielmehr steht die rigide Rechtsgestalt des römisch fixierten Apparates zur Diskussion, ebenso der hellenistisch geprägte Bekenntnisstand und die Grundgestalt der zerfallenden Volkskirche. Eine Gesamtentwicklung der Lehre steht auf dem Prüfstand. Der intensive Versuch vieler, bei der (noch kirchenfreien) jesuanischen Lebenspraxis Anschluss zu finden, hat nicht nur wissenschaftliche, sondern auch spirituelle Gründe. Sogar die Bruchlinien zwischen der paulinischen und der jesuanischen Botschaft enthalten Sprengstoff, der aufgearbeitet werden muss. Hinzu kommen neue Grundlagenfragen, so nach dem Verhältnis zwischen dem Christentum und anderen Religionen sowie zur Frage, was Religion und Religiosität in einer säkularisierten Gesellschaft bedeuten.

Diese Anhäufung von Perspektiven stürzt auch die Reformszene in Verwirrung. Auch sie muss neu und gründlich über ihre Strategien nachdenken. Reformoffene Katholiken versuchten bisher, in ihrer Glaubensgemeinschaft als loyale Mitglieder zu agieren, dabei Spaltungen zu vermeiden und immer eine friedfertige Sprache zu pflegen. Jahrzehntelang wurden wichtige Reformen als Bitten oder verbindliche Forderungen vorgetragen, Verweigerungen milde als Missverständnisse kaschiert, die oberste Leitungsbefugnis von Bischöfen nur in Ausnahmefällen, die formale Autorität des Papstes nie in Frage gestellt. Man berief sich auf das 2. Vatikanische Konzil oder seinen Geist, verdrängte jedoch die tiefe Ambivalenz seiner von Kompromissen oft entstellten Texte. Klar, dass sich so viele Erneuerungen legitimieren ließen, doch gegenteilige Positionen konnte man genauso gut begründen.

In der Dauer von gut fünf Jahrzehnten resignierten allmählich die Reformkräfte. Teilweise verließen sie ihre Kirche oder gerieten in erfolglose Endlosschleifen. Dies führt zur Frage: Welche Fehlentwicklungen haben sie unreflektiert übernommen und warum ließen sie es (vielleicht aus falsch verstandener Restloyalität) an Konsequenzen fehlen? Eine Rückbesinnung auf die spirituellen Grundlagen von Christsein und Kirche zeigt ein Dreifaches:

– Faktisch haben sich die kirchlichen Führungseliten in erschreckender Weise von ihrem ursprünglichen Auftrag und vom Kirchenvolk entfremdet.

– Aus falsch verstandener Loyalität haben die kritischen Reformkräfte ihren Auftrag zur Erneuerung nicht radikal genug in Angriff genommen.
– So haben beide dazu beigetragen, dass die christliche Botschaft für partikulare Interessen missbraucht, zum eigenen Vorteil instrumentalisiert und in der öffentlichen Wahrnehmung verfälscht wurde.
Dies alles sind wesentliche Gründe für die  binnenkirchliche Erosion.

Wie gehen wir mit dieser erschütternden Erkenntnis um?
Inzwischen hat sich die innerkirchliche Gesamtstimmung geändert. Papst Franziskus bringt nachdrücklich moralische, klerikalismuskritische und spirituelle Gesichtspunkte ins Gespräch, ohne die unsere Glaubensbotschaft noch mehr austrocknen würde. Doch diese erneuernden Impulse reichen nicht aus für eine hochinstitutionalisierte Weltkirche, einen multikulturellen global player von 1,3 Milliarden Menschen, der jährlich um mehr als 1% wächst.

Für ihr Überleben müssen auch die Glaubenslehre, das Rechtssystem und die Führungsstruktur verbindlich saniert werden. Pastorale Aufrufe reichen dazu nicht aus. Wer grundlegende Reformen für nötig hält, kann sich nicht mit einer neuen Fassade begnügen; wer die Glaubensbotschaft kritisch in Augenschein nimmt, die Grundmauern abklopft und die alte Baumasse untersucht, stößt im Kern auf vermoderte und vormoderne Zustände, die noch immer geprägt sind von einer gestrigen Wissenschaftsangst, einem vorgestrigen Überlegenheitskomplex gegenüber dem Protestantismus sowie einer archaisch standeskirchlichen Distanz zwischen „Laien“ und den Klerikern, die ihre Vorrangansprüche zu einem Glaubensgut hochstilisiert haben.

I. Wie Struktur- und Glaubensfragen zusammenhängen

Doch die konkrete Gesamtdiskussion ist hochkomplex und lässt sich auf wenigen Seiten  nur skizzenhaft besprechen. Deshalb beschränke ich mich auf ein Diskussionsprofil, das Kardinal Walter Kasper wiederholt vorgegeben hat. Kasper, in vielen Reformkreisen wohlgelitten, gilt als vermittelnd und liberal. Zugleich gilt er als fähig, sich notfalls gegen konservative Positionen zu stemmen. In früheren Jahrzehnten hat er dies wiederholt gegenüber Kardinal Ratzinger getan. Ferner veröffentlichte er schon 1993 (damals noch Bischof von Rottenburg-Stuttgart) zusammen mit seinen Bischofskollegen von Freiburg und Mainz ein Hirtenwort zur Zulassung von konfessionsverbindenden Ehepaaren zur gemeinsamen Kommunion und reichte in Rom – wenn auch erfolglos – eine entsprechende Petition ein. Das verdient noch heute Respekt.

I/1.    Kaspers Kritik

Doch sein Reformwille hat klare Grenzen, die sich ebenfalls dokumentieren lassen. Zwischen 1970 und 1980 bezog er ‑ im Streit um die Unfehlbarkeit sowie später um den Entzug der Lehrerlaubnis von Hans Küng ‑ dezidiert Stellung gegen seinen Kollegen. Auch in seiner römischen Rede vom 20. 02. 2014 zur Zulassung von Geschiedenen zur Kommunion vermied er eine dogmatisch durchreflektierte Stellungnahme; in den darauffolgenden Jahren erwies er sich mit wachsender Entschiedenheit als Kritiker von Bemühungen um eine strukturelle Kirchenreform. Eine detaillierte Einzelkritik war ihm nicht so wichtig, wohl aber die Kritik an Strukturfragen überhaupt.

Dabei bringt er an anderer Stelle ein Argument vor, das allgemeines Misstrauen sät und den vielfachen Reformbemühungen ihre Seriosität abspricht. Statt sich in zweitrangigen[!] Strukturfragen zu verzetteln, so Kasper, sollten wir uns lieber dem Glaubensverlust der Gegenwart, also den zentralen Fragen nach Gott, Lebenssinn und Spiritualität zuwenden. Im Rahmen wachsender Säkularisierung seien sie viel wichtiger. „Die Strukturdebatten, das sind Insiderprobleme, da dürfen wir uns nichts vormachen, als ob wir die Menschen überzeugen könnten mit diesen innerkirchlichen Debatten, die wir machen müssen, aber wir müssen nach außen wirken. … Das ist der Punkt, wo ich Probleme habe mit manchen Anliegen, die hier so geäußert werden. Ich sage nicht, dass das keine Probleme sind, aber das Grundproblem ist die Gottesfrage, dass es irgendwie Gott gibt. Nehmen wir das ernst, dass es Gott ist?“[1]

Wie recht er hat! Natürlich wirkt der wachsende Glaubensverlust viel schwerer als die Frage nach innerkirchlichen Strukturproblemen. Doch Kasper instrumentalisiert diesen Zusammenhang zu reaktionären Zwecken, indem er ein Motiv unterschlägt, das für kirchliche Strukturreformen entscheidend ist. Denn genau diese intensiv diskutierten Fehlentwicklungen der Kirche verfälschen Geist und Inhalt der christlichen Botschaft bis ins Mark und erschweren massiv einen Zugang zu den Grundlagen des Glaubens. Damit überblendet Kasper auch seine eigene Rolle. Auch er ist, ob er es will oder nicht, ein hervorragender Repräsentant jener Kirchenelite, die diese Missstände stabilisiert und nachdrücklich verteidigt. Niemand hat ihn zum Bischofs- oder Kardinalsamt gezwungen. Vermutlich versteht er seine Karriere als Belohnung einer intensiven Glaubenspraxis, doch hierarchische Ämter stehen heute einem engagiert gelebten Glauben im Wege. Deshalb sollten er und seine Kollegen in der Kirchen- und Bistumsleitung sich in aller Demut mit der aktuellen Strukturkritik auseinandersetzen, bevor sie andere belehren.

Von wenigen Ausnahmen abgesehen hat die offizielle Kirchenelite ihre prekäre geistliche Lage noch nicht durchschaut. Doch ungewollt sitzen auch Reformbegeisterte diesem Irrtum auf, wenn sie sich – gewiss unbewusst – diese hochkonservativen Regeln und Grundhaltungen zu eigen gemacht haben. Unbesehen übernehmen auch sie bei Gottes- und Christusfragen die spätantiken, meist platonisch geprägten Denkweisen, die niemand mehr versteht. Sie verteidigen mittelalterliche Standards zum Sakraments- und Amtsverständnis, haben sie bei der eucharistischen Gegenwart Christi oder ihrem Verständnis von Auferstehung verinnerlicht und fürchten noch immer, eine überfällige Dogmenkritik könne eine Kirchenspaltung provozieren.

Zugleich meinen Reformer, sie könnten mit freundlichen Worten und vielen Unterschriften hochdogmatische Positionen (Verbot der Frauenordination, Vorrang des Klerikerstandes) ins Wanken bringen. Sie halten Kirchenführer in Ehren, die sich durch Freundlichkeit oder eine verbindliche Sprache hervortun, auch wenn diese ihre glanzvolle Karriere für keinen einzigen Reformschritt in die Waagschale werfen würden. Wieder andere fürchten zu viel Aufklärung statt gebotener Frömmigkeit, hängen noch einer transzendental-spekulativen, strukturell aber folgenlosen Theologie an oder der liturgischen Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts. In dieser Gemengelage verhindert ihre theologische Unsicherheit jede theologische Klärung ebenso wie eine eindeutige Vision vom Reich Gottes, das der Kirche vorangeht.

I/2.    DasSchein-Risiko der Spaltung

Dabei lassen sich Reformprozesse nie genau steuern. Zum einen verhalten sich spirituelle Ziele und soziale Wirklichkeit immer asymmetrisch. Zum andern entwerfen historische Entwicklungen ihre eigengesetzlichen Wege. Dies musste sogar Jesus erfahren, der seiner jüdischen Tradition treu bleiben wollte und deren prophetisches Erbe nur neu interpretierte. Das Erbe seiner Vorfahren hat er mit größter Sorgfalt behandelt. Dennoch wurde er aus jüdischer Sicht zum Häretiker, gegen seinen Willen sogar zum Begründer einer neuen Weltreligion, was zu den größten Absurditäten der Religionsgeschichte gehört. Vergleichbares ist wiederholt auch in der Kirchengeschichte passiert. Die Reformer hat man faktisch zu Spaltern und Häretikern gemacht und der Begriff res novae (= Neuerungen) wurde später zum Inbegriff der Revolution. So verhärtete sich der Kirchenteil, der sich den Neuerungen widersetzte, immer wieder zum Hort der Unbeweglichkeit. Die römisch-katholische Kirche lässt sich weitgehend aus solchen Reformverweigerungen definieren.

Solche Erfahrungen bewirken noch heute Ängste und führen häufig zu einer Selbstzensur, die oft gefährlicher ist als die hierarchischen Anordnungen selbst. Nur wer aus den Glaubensgrundlagen heraus absolut klare Konsequenzen zieht, kann zielführend unterscheiden zwischen vertretbarer und irreführender Kirchentreue.

Oberste Priorität genießt immer eine bedingungslose Loyalität gegenüber dem prophetischen Jesus-Impuls. Das einzig Unerträgliche ist die Untreue ihm gegenüber (1 Kor 12,2). Reformbewegungen müssen sich dieses Vorrangs mehr denn je bewusst werden, weil heute das Alles oder Nichts einer christlichen Zukunft auf dem Spiel steht. Dieser Maxime haben sich auch hierarchische Ämter unterzuordnen.

In diesem Sinn steht eine intensiv und verantwortlich erarbeitete Strukturreform einem spirituell vertieften Engagement nicht im Wege, sondern ist dessen Folge. Die Alltagspraxis katholischer Kirchengemeinden zeigt täglich: Die real existierende, von der Hierarchie nachdrücklich verteidigte Kirchenstruktur behindert empfindlich den Glaubensvollzug. Wer die Gewohnheit stört, macht sich verdächtig; diese aktuelle Misere lässt sich nicht übersehen. Zahllose Menschen haben die katholische Kirche nicht aus innerer Gleichgültigkeit, sondern wegen der skandalösen Zustände in ihr verlassen.

Diese Situation ist zu ändern. Jesus hat keine Kirche gewollt oder gegründet. Sie kann ihre Existenz nicht durch ein übernatürliches Mandat rechtfertigen, sondern muss durch ihr christliches Glaubensengagement überzeugen. Natürlich ist zu verstehen, dass und warum sich die Anhänger/innen Jesu nach seinem Tod zusammengeschlossen haben. Sie wollten ein neu erfahrenes Leben miteinander fortzusetzen, ihr Zusammenkommen ist der Gründungsakt der Kirche. Sie haben es aber getan, um Sache und Auftrag Jesu weiterzutragen und nicht, weil sie sich als legitime Vollmachtträger verstanden und auf diese Vollmacht pochten. Es lässt sich auch nachvollziehen, dass schon die frühen Generationen den charismatisch entstandenen und fest installierten Leitungsämtern mit hohem Respekt begegneten. Doch kann man auch leicht erkennen: Im Verlauf von nahezu 2000 Jahren haben sich Ämter und Institutionen eigenwillig herausgebildet; im Lauf der Jahrhunderte legte sich um sie Legitimationsschicht um Legitimationsschicht. Bald war sie historisch, sakral und juridisch überbestimmt, von autoritären, höfischen Gesellschaftsmodellen geprägt, strukturell verhärtet, ästhetisch selbstverliebt und theologisch umstritten.

I/3.    Probe aufs Exempel

Im Folgenden wird sich auch zeigen: Eine spirituelle Neujustierung der Reformziele wirft auf Bischofs- und Papstamt noch schwerere Schatten; dies lässt deren Umgang mit ihnen nicht unberührt. Zwar sind Christ/innen auf eine in Frieden versöhnte Gemeinschaft von Gleichgesinnten angewiesen, wenn sie ein christliches Lebenskonzept realisieren wollen. Unbestritten kann eine christliche Gemeinschaft auch als Beginn von Gottes Reich wirken. Aber die spirituellen Grundlagen zwingen uns dazu, die Handlungsziele und Strukturen der christlichen Kirchen von dieser Vision her zu relativieren. Sie sind auf das Reich Gottes hin ausgerichtet. Jeder kirchliche Narzissmus bedeutet Verrat am Erbe Jesu. Dies zwingt die Führungseliten zur Bekehrung und die Reformorientierten zu einer schonungslosen Kritik.

Hier sei die Probe aufs Exempel gewagt.
Im Folgenden stelle ich vier Grundfragen zur christlichen Spiritualität und konfrontiere sie mit den aktuell diskutierten Strukturfragen. Was folgt aus der jesuanischen Vision von einem in Gerechtigkeit und Frieden versöhnten Zusammenleben (Teil II)? Aus welchen Quellen wird die christliche Freiheit gespeist, die nach christlicher Überzeugung die Mächte der Zerstörung und des Verderbens überwindet (Teil III)? Wo und wie wird die Heiligkeit erfahrbar, die uns Respekt vor dem Unverfügbaren/Göttlichen abfordert (Teil IV)? Und wie gelingt es, jenes vorbehaltlose Vertrauen zum Sinn des Lebens und der Wirklichkeit zu entwickeln, die auch vom Tod nicht zerstört werden kann (Teil V)?

Daraus ergeben sich Folgerungen zum kirchlichen Loyalitätsproblem, zur beunruhigenden Asymmetrie von Kirche und Reich Gottes, zur Unverträglichkeit zwischen christlicher Freiheit und kirchlicher Autorität, zu einem kirchlich legitimen Umgang mit dem Heiligen sowie zur Frage, unter welchen Voraussetzungen die Kirche wieder zum Ort christlichen Vertrauens werden kann.

II. Gestaltende Vision: Ein weltweit lebenswertes Leben

II/1.  Ausgangspunkt: Tiefgreifender kultureller Umbruch

Wir leben als engagierte Bürger/innen mitten in Europa. Eine erdrückende Geschichte liegt hinter, eine risikoreiche Zukunft vor uns. Wir wissen um die ökologischen und ökonomischen Probleme der Welt sowie um die besonderen politischen und sozialen Herausforderungen Europas. Angesichts unserer hohen wissenschaftlichen, technischen und finanziellen Standards akzeptieren wir zugleich unsere weltweite Verantwortung vor allem für diejenigen, die auf unsere Solidarität angewiesen sind. Es reicht nicht, nur gelegentlich für sie etwas zu tun, sondern wir müssen uns mit ihnen auf den Weg machen, damit uns gemeinsam eine menschenwürdige Zukunft in möglichst globalem Maßstab gelingt.

Auch das europäische Christentum befindet sich in einem tiefgreifenden Umbruch; seine zukünftige Gestalt steht uns noch nicht klar vor Augen. Deshalb sind wir Lernende und Hoffende zugleich, gemeinsam mit allen Menschen zu einem lebenswerten Leben unterwegs. Wir kooperieren mit den Angehörigen anderer Religionen und allen Menschen guten Willens.

So widerstehen wir mit all unseren Kräften der weltweit wachsenden Gewalt und schreienden Ungerechtigkeit, einer grassierenden Verlogenheit und Korruption, dem systematischen Missbrauch der Medien sowie dem Verfall der zwischenmenschlichen Beziehungen auf Grund zerstörerischer Machtverhältnisse und Strukturen. Wir sind bereit, zusammen mit Anderen ein lebenswertes Leben aufzubauen, in dem Gerechtigkeit herrscht und Menschen einander vertrauen können. Zahllose Mitmenschen sind säkularen oder anderen religiösen Traditionen verpflichtet. Wir setzen darauf: Die meisten von uns eint ein humanes Ethos, im Sinn der Goldenen Regel, die uns allen ins Herz geschrieben ist.

Als Christ/innen wissen wir uns insbesondere der Botschaft Jesu von Nazareth verpflichtet. Über nahezu zwei Jahrtausende hin hat sie verschiedenste Epochen und Kulturräume mitgestaltet. In den gegenwärtigen Umbrüchen und Suchbewegungen tun wir gut daran, unser Glaubensverständnis von hinderlichen Verkrustungen und autoritären Missbildungen zu befreien, die Botschaft Jesu in neuer Unmittelbarkeit zu verstehen und unsere christliche Lebenspraxis konsequent an ihr auszurichten.

Klar muss dabei sein: Für uns lassen sich Religionen und Religiosität nicht in private Räume verdrängen. Recht verstanden stellen alle Weltreligionen eminent lebenspraktische, ethisch anspruchsvolle und öffentlich relevante Lebensformen dar. Sie beschränken sich weder auf Privatsphären noch auf subjektive Erfahrungen, weder auf bloße Innerlichkeit und Weltabgeschiedenheit; auch lassen sie sich weder rein ethisch auf Verhaltensregeln verengen noch rein pädagogisch auf Bildungsziele, kulturelle Werte oder sozialpolitische Ziele reduzieren. Religionen agieren ganzheitlich und durchdringen alle genannten Sektoren. Sie sind innerlich und zugleich gesellschaftspolitisch, erfahrungsbezogen, aber auch an Welt- und Menschheitszielen orientiert. Neben den existentiellen sind ihnen allen auch gesellschaftspolitische Ziele vorgegeben, für deren Verwirklichung sie zu kämpfen haben.

Ebenso klar muss sein: Als Christ/innen haben wir im öffentlichen Gespräch von Gesellschaft und Welt die Stimme zu erheben. Wir bauen auf die öffentliche Geltung der christlichen Botschaft, können uns nach allen Seiten verständlich machen und in Kooperation mit anderen Zukunftsvisionen entwickeln, die uns einen. Dabei ziehen wir nicht einfach die Konsequenzen dessen, was wir ohnehin schon wissen. Vielmehr lernen wir in und durch die säkulare Weggemeinschaft. Dabei fühlen wir uns anderen Religionen und Weltanschauungen nicht überlegen, fühlen uns aber stark genug, auch von ihnen Impulse zu übernehmen und sie zu unterstützen. Zu den Voraussetzungen für diese Vorhaben gehört das konstruktive gegenseitige Gespräch.

Aus christlicher Sicht erschöpfen sich diese Vorgaben nicht in theoretischen Modellen. Wir lassen uns vom prophetischen Geist Jesu inspirieren. Er war von der prophetischen Tradition seines Volkes getragen, die sich immer am Unfrieden mit konkreten Verhältnissen entzündete. Die neuen Impulse Jesu versetzten alle Zukunftserwartungen in die Gegenwart. Anders als der Täufer Johannes drohte Jesus nicht mit neuen Bestimmungen, Regeln oder apokalyptischen Strafen. Vielmehr ließ er sich darauf ein, dass das Reich Gottes, also Versöhnung, Ausgleich und Frieden hier und jetzt beginnen können: Für ihn war das Reich „gekommen“ (Mk 1,15), angebrochen.

So sehen wir eine zukunftsfähige, in Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung versöhnte Menschheit vor uns,. Es geht um eine Gesamtorientierung, die nach dem umfassenden Wohl der Menschheit strebt. Dieses Programm beginnt vor Ort und wird vor Ort erprobt, um dann in kontinentale und globale Dimensionen umgesetzt zu werden. Dabei dürfen die Zwecke nie die Mittel heiligen; die zielführenden Methoden sind uns nur bedingt vorgegeben. Wir wissen uns zusammen mit anderen Menschen auf einer universalen Spur.

Wir übernehmen Jesu unbedingte Bereitschaft zum Beginn. Zukunft und Gegenwart sind keine Alternativen mehr, weil die Liebe selbst keine Grenzen kennt, selbst den Tod überwinden kann. Deshalb erscheint die Auferstehung in den Evangelien nicht als eine abgetrennte oder noch ausstehende, sondern als eine Zukunft, die schon begonnen hat. „Wer glaubt, ist schon auferstanden und wird nicht sterben“ (Joh 11, 25f.). So erfahren die Jünger in Galiläa den Jesus, obwohl er am Kreuze starb, in ihrer eigenen Gegenwart. In dieser Mystik der Auferstehung zeigt sich die Begegnung mit dem ungreifbar Göttlichen, das sich nie sehen lässt.

Auferstehung bedeutet keine strahlend lichtvolle Gegenwart (wie etwa Matthias Grünewald nahelegt), die durch tägliche Gegenerfahrungen widerlegt werden kann. Sie zeigt sich im Paradox der Leeren Grabes, das jetzt einsehbar wird, also im offenen Ertragen des Misserfolgs. Gott zeigt sich als die Unterbrechung (J.B. Metz) oder als das Fehlen (la manque, M. Certeau), also in der Erfahrung dessen, was uns abgeht. Das Göttliche kann schon in der unsterblichen Sehnsucht der Menschen nach Bejahung und Anerkennung zu Hause sein und diese Sehnsucht der Menschen, zumal der Marginalisierten und der Schwachen, bildet unsere große, unerschöpfliche Kraft. So wird unser Leben zum unüberwindlichen Protest gegen alles vordergründige und egozentrische Interessen- und Machtdenken.

II/2.  Folgen: Außerhalb der Welt kein Heil

Diese Vision von Gottes Reich, also einer in Frieden und Gerechtigkeit versöhnten Menschheit, die sich einer nicht geschändeten Erde erfreuen kann, setzt keine Kirchenmitgliedschaft voraus. Wir erinnern uns, dass die Grenzen der Kirche immer schon in Bewegung waren. Die Alte Kirche kannte neben den gültig Getauften, vollgültigen Kirchenmitgliedern auch die Katechumenen, die sich auf die Taufe vorbereiteten, ferner die „Empfänger“ der Blut– oder der Begierdetaufe, die für Christus ihr Leben gaben oder sich heiß nach der Taufe sehnten. Heute wissen wir um die Menschen guten Willens, die ebenfalls das Heil erlangen und von K. Rahner etwas unglücklich anonyme Christen genannt wurden.

Kirchenmitgliedschaft war immer schon graduell. Augustinus erklärte, es gebe viele Menschen, die scheinbar innerhalb der Kirche, in Wirklichkeit aber draußen sind. Umgekehrt gebe es viele Außenseiter, die im Grund drinnen sind. Alle diese Teilhabe-Konstrukte haben zum Ziel, die zum Heil verpflichtete Kirchenmitgliedschaft abzufedern und für konkrete Situationen zu öffnen; sie wollen den höchst missverständlichen Heilsanspruch der katholischen Kirche mit der offenkundigen Wirklichkeit versöhnen.

Ferner sind in der langen Kirchengeschichte nicht die zahllosen Christ/innen zu vergessen, die wegen ihrer wohlbegründeten Kirchenkritik aus der sichtbaren Kirche ausgeschlossen, verfolgt, verfemt, bisweilen getötet wurden. Man denke an die Katharer und Albigenser, anzahlreiche Ketzer und Hexen, an Giordano Bruno und Jan Hus, auch an die erschreckend lange Liste der mit unwürdigen Sanktionen belegten Theolog/innen des 20. Jahrhunderts. Bei ihrem Schicksal hat man immer vergessen, dass Jesus keine Kirchengemeinschaft, sondern die Menschheit mit Gott versöhnen wollte. Edward Schillebeeckx stellte einmal die mutige Gegenthese auf: „Außerhalb der Welt kein Heil“.

Aus dieser Erkenntnis ergeben sich nicht zwingend Austritte aus der Kirche, doch klar sollte sein: Angesichts der hochdifferenzierten Motive, die zu Kirchenaustritten führen und angesichts einer Kirche, deren Glaubwürdigkeit aus eigener Schuld rapide gesunken ist, lassen sich über Kirchenaustritte keine pauschalen Urteile mehr fällen. Für viele gelten ernste Gewissensgründe, manche gehen um eines besseren Christseins willen. Aus einem vertieften Glaubensverständnis ist zu folgern, dass aus der jesuanischen Reich-Gottes-Botschaft Jesu keine Kirchenpflicht entsteht; das gilt erst recht für diejenigen, die Jesu Bergpredigt oder Gleichnisse nie oder nie richtig kennenlernten. Deshalb muss die Kooperation mit Menschen anderer Kirchen, Religionen oder Weltanschauungen problemlos möglich sein. Im Gegenteil, unser katholisch bzw. konfessionell verankertes Handeln wird umso glaubwürdiger, je mehr es solche erweiterten Horizonte annimmt.

Dieser prophetisch erweiterte Horizont schafft unserer Arbeit eine große Freiheit und Gelassenheit. Wir können alle Ängste vor einem „unkirchlichen“ Verhalten ablegen, weil den kirchlichen Vorgaben nur eine bedingte Gültigkeit zukommt. Die von vielen verinnerlichte Allgemeinverpflichtung des Jesusglaubens auf kirchliche Institutionen ist die Spätfolge eines Staatskirchenmodells, das in der Spätantike auf den Weg gebracht wurde und in vielen Kirchengemeinschaften noch nicht überwunden ist.

Immerhin hat Augustinus die gesamte Menschheit als „verdammte Masse“ erniedrigt. Demütigung und Unterdrückungen, Strafandrohungen und stände Kontrolle waren die Folge. Die führenden Institutionen der Kirche können ihren Selbstausschluss aus der Menschheit nur heilen, indem sie sich unprätentiös in die universale Gemeinschaft der Suchenden einordnen, gleich ob sie sich als eine befreiungsorientierte Zivilgesellschaft, als eine gesellschaftpolitische bzw. ideologiekritische Kampfgemeinschaft oder als eine verschworene Gruppe von Mystikerinnen und Mystikern präsentiert, die Gottes Gegenwart in der Natur und in ihrem eigenen Inneren verstehen.

Wer das Reich Gottes mit seiner Überwindung des Todes ernstnimmt, will zum Mitglied jener großen Gemeinschaft von Kämpfenden, Suchenden und Hoffenden werden, die sich zur Kirche völlig asymmetrisch verhält. Für die christliche Botschaft wäre es ein großes Glück, wenn die klerikalistische Hierarchie einer „allein-selig-machenden“ Kirche endlich ihre Privilegien aufgeben und sich zum solidarischen Teil dieser Menschheit erklären würde. Nur unter diesen Bedingungen könnte sie – von allen schreienden Missständen abgesehen – ihre verlorene Glaubwürdigkeit zurückgewinnen.

III.  Freiheit als Mut zu klarer Orientierung

III/1. Ausgangspunkt: Freiheit durch Solidarität

Trotz massiver, auch kirchlicher Widerstände und neben dem Kerngedanken der rationalen Aufklärung setzte sich in der Neuzeit – im Gegenzug zum autoritären Gesellschaftsbild von Spätantike und Mittelalter ‑ schrittweise ein Grundappell zu menschlicher Freiheit und Autonomie durch. Zunächst wurde er als massive Kritik an kirchlichen Institutionen formuliert, die autoritär handelten und versuchten, die Kirchenmitglieder mit massiven Kontrollmechanismen zu überziehen. Auf katholischer und evangelischer Seite führte diese Entwicklung zu einer Entfremdung zwischen den offiziellen kirchlichen Institutionen und starken gesellschaftlichen Faktoren.

Doch inzwischen verändern sich die Fronten. Während die Kirchen versuchen, ihre Freiheitslektionen in Theorie und Praxis zu lernen, entwickeln sich in der Gesellschaft individuelle und kollektive Zwänge, offene und verborgene, die das Recht und die Bedürfnisse nach Freiheit einschränken. Ausgelöst werden diese Prozesse von politischen und ökonomischen, gesellschaftlichen und medialen Entwicklungen, auch von neuen Politik- und Regierungsstilen, die offen und schamlos die „Wahrheit“ zum eigenen Vorteil instrumentalisieren. Diese Zwänge sind allgegenwärtig und überfallen viele hinterrücks. Von diesen Mechanismen bleibt niemand unberührt und wir können den Kampf um die politische und innere Freiheit aller Menschen nicht genug betonen. Für uns als Christen gilt das Pauluswort mehr denn je: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit, darum steht fest und lasst euch nicht wieder unter ein Joch bringen, das euch knechtet.“ (Gal 5,1)

Allerdings lassen wir uns nicht problemlos von diesem siegreichen Appell zur Freiheit und Befreiung leiten. Die Gegenwart kennt kaum ein umstritteneres Wort. In Wissenschaft und Alltag erhielt „Freiheit“ tausend Bedeutungen, vom Aufruf zur Anarchie bis zur ergebenen Einsicht in die Notwendigkeit, von der Freiheit der Mächtigen und Besitzenden, die den anderen ein armseliges Leben diktieren können, bis hin zur Freiheit des einsamen Wüstenmönchs, der sich von allem freigemacht hat, den anderen aber auch nicht helfen kann. Auch in vielen theologischen Überlegungen wurde Freiheit zu einem pathetisch hochgestimmten, aber abstrakten Begriff formalisiert, der von allen konkreten Inhalten frei ist.

Der Streit über den Sinn der Freiheit, den Erasmus und Luther 1524/1525 führten, gilt noch immer als Symbol für ein abstrakt unlösbares Problem, das engstens mit dem Streit um ein befreiendes Gottesbild zusammenhängt. Ausgerechnet gegenüber einem kirchlich domestizierten Gott bleiben die Begriffe von Freiheit und absoluter Unterwerfung umstritten. Die Theologie spricht neben der Autonomie und der Heteronomie gerne von einer Theonomie; hinreichend geklärt ist dieser Begriff aber nicht.

Stattdessen verstehen wir Freiheit und Autonomie als streitbare Beziehungsbegriffe. Wir müssen uns entscheiden und es hängt von unserem konkreten Handeln ab, für welche Art von Freiheit wir uns gegenüber wem entscheiden. Wir meinen die Freiheit, die nicht von der Freiheit der Anderen zehrt, sondern diese konsequent achtet und sich in kompromissloser Entschiedenheit für sie einsetzt. Jesus hat die Nächstenliebe keinen Bedingungen unterzogen, sich bis hin zum eigenen Tod ihren Konsequenzen gestellt und dies von seinen Jüngern erwartet. Auch an diesem Punkt hat er die Tradition seiner Väter ohne Vorbehalte übernommen.

Heute haben wir erkannt, dass die Liebe zum Nächsten auch in anderen Weltreligionen zu Hause ist. Immer geht es auf allen Lebensebenen um einen Kampf für gegenseitigen Respekt und unbedingte Gerechtigkeit, für Wahrhaftigkeit, gegenseitige Treue und für die Verantwortung für eine bewohnbare Erde.

Prinzipiell ist diese Freiheitsarbeit zugunsten der Mitmenschen in der Zivilgesellschaft zu Hause, bei jungen und alten Menschen, im Einsatz für Gleichberechtigung und zum Schutz vor Gewalt, an Erziehungsstätten und an allen Konfliktherden einer Gesellschaft, zwischen Ethnien und Religionen, in der Überwindung von Extremismus, auch von religiösem Fanatismus. Im Gegenzug schaffen wir, wo immer es möglich ist, Gelegenheiten, um einander kennenzulernen und die Hände zur Versöhnung auszustrecken. Doch Versöhnung gibt es nicht ohne Befreiung.

Die Auseinandersetzung des Liebesgebotes mit den zeitgenössischen Lebensverhältnissen hat schon viele theologische und weltanschauliche Ausformungen erhalten. Wir nennen die soziale und politische Befreiungstheologie in ihren verschiedenen Formen, die feministische Theologie und entsprechende Gendertheorien, verschiedenste kontextuelle Theologien und Verhaltensanalysen, in denen die Lebenspraxis verschiedenster Kulturen interpretiert wird. Es lassen sich verschiedenste theologische Entwürfe hinzufügen, dies in Kooperation mit den Humanwissenschaften aus historischer oder soziologischer, politischer oder psychologischer bzw. psychoanalytischer Perspektive. Natürlich dürfen individuelle Freiheitsaspekte nie vernachlässigt werden, denn ohne sie ist eine freiheitliche Gesellschaft nicht zu denken. Es muss jedoch klar bleiben, dass sie immer in eine solidarische Freiheit, also eine in Frieden versöhnte Gemeinschaft münden muss.

Die Nächstenliebe, der genuine Ort christlicher Freiheit, ist immer zu verstehen als aktiver Einsatz für die Freiheit der Anderen im Widerstand gegen die Mächte der Unfreiheit. Für Jesus sind Gottes- und Nächstenliebe gleichwertig. Konkret gesagt: Die Kraft der Gottesliebe erweist sich allein in der Nächstenliebe, der Wert des Gottesdienstes an seiner Einbettung in den Dienst an den Menschen. In allen Mitmenschen begegnet uns Christus selbst und diese tiefe Gemeinsamkeit strahlt im Handeln der Solidarität und Nächstenliebe auf.

Mehr denn je verstehen wir auch, warum Jesus in einem seiner wirkungsmächtigsten Gleichnisse das Handeln des Samariters mit einer Kritik an dem lieblosen Handeln seiner eigenen religiösen Institutionsvertreter konfrontierte. Das Handeln der Nächstenliebe wird zum unverzichtbaren Gottesdienst, der seine Freiheitsimpulse aus human überzeugenden Handlungen und Orientierungen schöpft. Gott ist durch unsere Hände präsent. Von ihnen hängt es ab, ob unsere Gemeinschaft zum Zeichen und Erweis von Gottes unendlichem Reichtum werden kann.

III/2. Folgen: Geliehene Autorität

Die von Paulus proklamierte Freiheit der Christen bezieht sich auf eine fundamentale, spirituell und geistlich begründete Überwindung der Mächte und Gewalten, die in die Menschen eindringen, sie erniedrigen und in Knechtschaft halten. In unbeugsamer Konsequenz spart Paulus nicht einmal die Thora, also das unantastbare Grundgesetz seines eigenen Volkes aus, an das sich selbst Jesus hielt. So nahm er die Trennung vom Judentum in Kauf, um die Universalität seiner Reich-Gottes-Botschaft für seine Zeit zu retten.

Die aktuellen Brennpunkte einer oft gefühlten Konkurrenz zwischen Kirche und einer säkularisierten Gesellschaft sind offenkundig. Wir haben erkannt: Diese Freiheit übersteigt mit ihren durchaus dramatischen, existentiellen und sozialpolitischen Konsequenzen prinzipiell auch die institutionellen Gestalten, die die christlichen Kirchen innerhalb von nahezu 2000 Jahren ausgebildet haben. Die christlichen Kirchen genießen für uns nur eine geliehene Autorität und diese bemisst sich nach dem Freiheitspotential, das sie uns faktisch vermitteln. Dostojewskis Erzählung vom Großinquisitor (Brüder Karamasow 5/5) ist noch immer eine bedenkenswerte Warnung vor den großkirchlichen Apparaten, die sich gerne an die Stelle Christi setzen und dessen Inspirationen als lästige Störung empfinden.

Der immer noch gültige Papsttitel Stellvertreter Christi, in paradoxer Weise mit dem Titel servus servorum (= Diener der Diener) kontrastiert, zeigt die ganze Abgründigkeit der papstkirchlichen Selbsteinschätzung, die sich noch immer mit byzantinisch kaiserlichen Herrschaftsansprüchen verwechselt. Bis heute zählen Gehorsam und Loyalität gegenüber kirchlichen Amtsträgern zu den entscheidenden Kriterien des christlichen Glaubens. Das ist absurd.

Es gehört zu den peinlichen Konsequenzen des kirchenoffiziellen Verhaltens, dass dieses in der kollektiven Erinnerung unserer Kultur nicht auf der Seite der Freien, sondern auf der Seite der Unterdrücker, der Freiheitsberauber und eines Ressentiments angesiedelt ist, das den Menschen die Lust und ihr irdisches Glück missgönnt. Zwar trug diese Kirche durch nahezu zwei Jahrtausende die biblisch-jesuanischen Impulse der Freiheit weiter und dafür ist ihr zu danken. Doch diese ermutigende Erinnerung macht auch darauf aufmerksam: Die christliche Freiheit besteht nicht in einer abstrakten Autonomie, nicht in einer neuen Kirchenfrömmigkeit oder einem „Fühlen mit der Kirche“, sondern nur im unermüdlichen Kampf zugunsten der Mitmenschen. Nur so kann sie zu der überlegenen Haltung heranwachsen, die mit Christus gemeint ist. Doch entwickelte die Kirche zu Freiheit und Autonomie ein zwiespältiges Verhältnis und wurde zu einer der schärfsten Feindinnen ihrer Befreiungsdynamik. Wenn sie sich von dieser katastrophalen Fehlpositionierung befreien will, hat sie noch viel Arbeit zu leisten. Daran arbeiten wir gerne mit.

Dies setzt aber voraus, dass die Hierarchie diese Vergangenheit klar verurteilt und durch ein konsequent freiheitliches Handeln korrigiert. Sie muss zahllose Verurteilungen zurücknehmen, die nur die eigene Übermacht, das eigene Recht und die eigene Wahrheit dokumentieren sollten. Zudem werden die Kirchen erst dann zu glaubwürdigen Orten der Freiheit, wenn die Solidarität mit den in Unfreiheit gehaltenen Menschen zu ihrem Grundimpuls geworden ist. Vorher ist es wohl unmöglich, in einem abstrakten und unkritischen Erneuerungseifer als loyales und widerspruchsfreies Mitglied dieser Kirche aufzutreten, denn eine solche Mitgliedschaft wirkt im Augenblick noch wie eine Bestätigung all der Untugenden, die sich mit den offiziellen Institutionen der Kirche verbinden.

Machen wir uns nichts vor: In den vergangenen Jahrzehnten hat kaum eine kirchliche Deformation so viel Verbitterung und Resignation ausgelöst wie die hochautoritäre, in Kernfragen absolutistische Deformation des katholischen Kirchensystems. Von Papst Franziskus dazu angeregt wird sie seit einigen Monaten unter dem Stichwort des Klerikalismus diskutiert. Allerdings ist ihre psychische und existentiell moralische Problematik in unangemessenen Strukturen und deren Legitimationen verankert. Die kirchliche Machtpyramide ist streng hierarchisch gegliedert und demokratische Elemente werden strikt verdrängt. Es verwundert nicht, dass loyale Hierarchen diese innere Verzerrung akzeptieren. „Das zentralistisch übersteuerte, patriarchale und höfische System ist reformbedürftig. Und Franziskus hat den Weg zur Diskussion auch der sog. heißen Eisen freigegeben.“ (Leo Karrer)

Trotz massiver Kritik sind die katholischen Machtapparate immer noch Horte der Intransparenz. Die Bestimmungen des Konzils von Basel zur Überlegenheit des Konzils über den Papst wurden in den Folgejahren schlicht hintertrieben; dies ist eine der Ursünden des neuzeitlichen römischen Katholizismus. Das 2. Vatikanum hat noch einmal behauptet, dass ein Konzil ohne den Papst schlicht handlungsunfähig sei. Der Begriff des „Laien“ ist zum Inbegriff für Nichtwissen, Nichtkönnen und Nichtdürfen verkommen und die Vorgänger von Papst Franziskus haben dieses autoritäre Verhalten perfektioniert. So nahm die innere und die äußere Emigration dramatisch zu. Noch heute haben viele kirchlich engagierte Männer und Frauen (gleich ob in Seelsorge, Diakonie oder Theologie) mehr Angst davor, sich kritisch zu äußern als den Mut, sich vom Geist der Freiheit beleben zu lassen. Vom Geist des biblischen Freimuts ist nur wenig zu spüren.

So erstaunt es auch nicht: Viele reformorientierte Männer und Frauen, die sich formal auf den Geist der Freiheit berufen, bieten dem autoritär geführten Apparat Roms weder kompromisslosen Widerstand noch möchten sie sich von den inneren Entlastungen lösen, die sie in Abhängigkeit halten. Sie leben im schützenden Kokon eines vormodernen Systems, das tausend Handlungsmodelle vorgibt, ihr Gewissen steuert und Entscheidendes für sie regelt. Sie schätzen noch immer den pontifikalen Prunk, sind glücklich, wenn der Bischof sie lobend erwähnt, und vermeiden alles, was ihn erzürnen könnte.

Oft ist nicht nur ihr politisches, sondern auch ihr spirituelles Sensorium schwach entwickelt. Sie spüren nicht, wie sehr sie mit ihrem angepassten Verhalten ein repressives System unterstützen, in dem die Freiheit der Kirchenführer alles, die innere Freiheit des Kirchenvolkes aber nichts gilt. Noch immer identifizieren sie sich mit dem Lehr- und Hirtenamt und stufen sich selbst in die Kategorie der Hörenden herab. Aus spiritueller Perspektive verachten sie frühere Kirchenepochen, in denen von allen zu entscheiden war, was alle betraf. Sie stehen in Gefahr, die christliche Botschaft zu verraten, die in repressiver Gestalt schlicht zur unglaubwürdigen Farce geworden ist.

Dies ist umso bedenklicher, als die Theologie in den vergangenen Jahrzehnten für einen Kurswechsel viele Argumente neu entdeckt und angeboten hat. Dabei könnten auch die Kirchenleitungen, wenn sie nur wollten, für einen Kurswechsel viele seriöse Gründe finden. Man denke an das paulinische Konzept einer charismatischen Kirchenordnung, an die spätantike Tradition der Bischofwahl oder an die urdemokratischen Strukturelemente, die sich die alten Orden noch bewahrt haben. Zudem ging die frühe Kirche mit ihrer Gemeindeordnung noch pragmatisch um, übernahm problemlos außerchristliche Modelle und beurteilte die Ämter nach funktionalen Gesichtspunkten. Sakrale Elemente tauchen erst später auf (s. Teil IV).

Um des Geistes der Freiheit und um der Glaubenskraft willen, die aus innerer Freiheit erwächst, sollten wir uns einen jeden begründungsleer formalen Kirchengehorsam verbieten und uns nur eine Solidarität mit den Kirchenleitungen angewöhnen, wenn sie im geistlichen Freiheitsimpuls zu Hause ist. Es reicht nicht, dass ein Kirchenleiter freundlich ist, gewinnend zu reden weiß und Sympathie ausstrahlt. Gerne setzen wir uns konstruktiv mit überzeugenden Handlungsvorschlägen und Glaubensentwürfen auseinander. Ansonsten sind wir nicht mehr bereit, den jesuanischen Geist der Freiheit, der Machtkritik und der gegenseitigen Dienstbereitschaft auf bloße Appelle zu beschränken. Dies verbietet uns unser tiefer Respekt vor der Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes, die in der Gestalt Jesu erschienen ist. Vielmehr wenden wir uns unvermittelt den Fragen, Sehnsüchten und Vorschlägen der Gemeinden zu. Unser oberstes Ziel muss es sein, die innere Freiheit des Gottesvolkes zu fördern, die eine Frucht des Reiches Gottes ist.

Dazu sagte Magnus Striet am 25.09.2019: „Freiheitssehnsucht und Gottesglaube lassen sich nicht gegeneinander ausspielen.“ Freiheit als Selbstbestimmungsrecht bedeutet, Glaube müsse nicht „lehramtskonform“ sein. Die Gottesfrage habe Konsequenzen für die Strukturen der Kirche, denn Gott ist „hoffentlich ein Gott der Gerechtigkeit“. So wirft die Gottesfrage die Frage auf, „wie der Gott, der an der Kirche sichtbar werden soll, es wohl mit Freiheit und Würde hält“.

Zu erinnern ist auch an die Eingangssätze der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute. „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nicht wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.“ Das sind stolze Worte, in denen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinanderklaffen. Mehr denn je haben reformorientierte Christ/innen das Recht und die Pflicht, das kirchenamtliche Handeln konsequent und kompromisslos an ihnen zu messen. Es gibt keine christliche Freiheit in einem autoritären Kirchensystem, sondern höchstens in harter Konfrontation mit ihm.

IV. Heiligkeit der Menschenwürde, der leiblichen Liebe, der tätigen Solidarität

IV/1. Ausgangpunkt: Tiefgreifende Verschiebung

In aller Regel gelten die Religionen als Hüterinnen des Heiligen. Sie setzen es gegenwärtig in ihren Götterbildern und Tempeln, in brennenden Kerzen und Opfergaben, in prunkvollen Altären, Statuen und wertvoll ausgestatteten Räumen, in brausenden Festen und Ritualen sowie mit – würdevoll oder schrecken-gebietend gekleideten – Priesterinnen und Priestern. Die monotheistischen Religionen zeigen das Heilige vorrangig in erhabener Einzigkeit, Hoheit und Macht sowie mit wertvoller, geradezu imperialer Prachtentfaltung. Als heilig gelten viele Regeln, die Respekt einflößen und zur Unterwerfung stimulieren, das Handeln der Menschen steuern, sowie mit Macht ausgestattete Amtsträger, die das Verhalten und den Glauben der Menschen kontrollieren. So sind bei den traditionellen Religionen Glaube und Frömmigkeit mit Gehorsam und Unterwerfung verkoppelt.

In demokratisch geprägten und organisierten Gesellschaften sind diese Formen des Heiligen in die Krise geraten. Das öffentliche Ansehen religiöser Würdenträger schmilzt dahin, die Gotteshäuser leeren, religiöse Traditionen und Lebensstile verflüchtigen sich. Auf den ersten Blick ist dieser Wandel mit schweren kulturellen und religiösen, vielleicht auch moralischen Verlusten verbunden, doch auf den zweiten Blick lässt sich dieser Wandel verstehen. Seine Gründe sind jedoch nicht einfach in der Demokratisierung unserer Gesellschaft zu suchen, sondern in umfassenderen kulturellen Umwälzungen.

Beginnend mit dem 18. Jh. hat sich die hoheitliche, sich überlegen gebende und machtaffine Symbolik des Heiligen allmählich gewandelt[2]. Heute entdecken wir das Heilige in der unantastbaren Würde des Menschen (Immanuel Kant), in der Unbedingtheit der Menschenrechte[3], im fordernden Blick der Mitmenschen (Emmanuel Levinas), in der intensiven und leidenschaftlichen Liebesbegegnung von Menschen, in der innigen Umarmung des Kindes durch seine Eltern, in der unverbrüchlichen Solidarität zwischen Menschen angesichts des drohenden Todes.

Diese gewaltige Verschiebung, die vielleicht den Kern aller Säkularisierungsprozesse ausmacht, ist lautlos geschehen. Die Religionen interpretieren sie als Glaubensverlust, weil ihre eigenen Symbole und Riten ihre Bindekraft verloren haben. Vor diesem Hintergrund zeigt sich die Säkularisierung gerade nicht als Verlust, sondern als eine tiefgreifende Metamorphose des Heiligen. Deshalb kann die Zuwendung zum Säkularen zur neuen Spurensuche nach einem Heiligen werden, das noch nicht hinreichend entdeckt ist.

Natürlich bringt der wachsende Relevanzverlust traditioneller Institutionen und Glaubensformen auch schwere Verluste. Zusammen mit den traditionellen Gottesdiensten und Verkündigungsformen verdunsten auch die Kenntnis der Bibel und ein unverzichtbares Wertesystem. Sakramente verlieren ihre bisherige Funktion und für viele wird die Gotteserfahrung zur lähmenden und irreführenden Chimäre. Deshalb gilt es, diese Transformationen bewusst zu verstehen und zu bearbeiten, damit aus der Vergangenheit eine neue Kontinuität entstehen kann.

Meine These lautet: Diese neue Spur – die Zuwendung zu den Mitmenschen, die Erfahrung seiner unendlichen Würde sowie das undurchdringliche Geheimnis der leiblichen Nähe, die tiefste Verbindungen und Bindungen zu schaffen weiß und die tätige Solidarität‑ wird prägend für eine neue religiöse Leidenschaft, mit der wir auf andere Menschen zugehen und kraft derer wir an einer menschenfreundlichen, gottgemäßen Zukunft arbeiten können.

Im konstruktiven Umgang mit dieser Säkularisierung haben wir die Botschaft Jesu hinter uns. Den Propheten vergleichbar lehnte er den öffentlich organisierten Tempel- und geistlosen Thorakult nicht einfach ab, aber er stand ihnen distanziert gegenüber, weil er sie am Wohl des Menschen maß, das ihm noch heiliger war. Zum Ärger der damaligen Glaubenshüter wandte er sich den Menschen, auch den Kindern zu, ließ sich „Fresser und Säufer“ nennen und pflegte öffentlich einen (für die „Frommen“ ärgerlichen) Umgang mit Frauen. In seinen Gleichnissen thematisierte er den Umgang von Menschen miteinander, ihre Enttäuschung und Vergebung, ihr Weglaufen und ihre Integration. Die Hochzeit wurde ihm zum großen Bild der Gottesreichs. In diesem Hochfest menschlicher Sexualität und Körperlichkeit, wurde Wasser zu Wein.

Von diesen Erinnerungen beseelt suchen wir die Nähe zu Menschen, gehen auf sie zu und verwahren wir uns gegen jede Diskriminierung und jeden Ausschluss, gegen jede Geringschätzung von Frauen gegenüber den Männern, gegen jede Abwertung der Leiblichkeit gegenüber dem erhabenen Geist. Das Heilige lösen wir nicht mehr als etwas Jenseitiges ein, das sich feiern lässt in wohlgeordneten Ritualen und geregelten Transzendenzverweisen, in juridisch überbestimmten Sakramenten und Bekenntnisakten. Wir feiern vielmehr seine menschlich fordernde und beschenkende, seine leibliche und liebende Gegenwart. Damit feiern wir nicht die Hoheit, sondern die stete Veränderlichkeit und Vergänglichkeit, die Zerbrechlichkeit und Hilfsbedürftigkeit von Menschen, die sich zugleich beschenken können und nur in Gemeinschaften stark sind. Als neues Merkmal der Liebe entdecken die Säkularen in erster Linie den Wandel, die Wandelbarkeit, nicht mehr die Bindekraft der Treue.

Zugleich protestieren wir gegen die Instrumentalisierung der Menschen zu materiellen, kommerziellen oder vermeintlich höheren Zwecken, für Ideologien und eine selbstzufriedene sowie machtgierige und durch Macht korrumpierte Religiosität. Nicht das Erhabene, sondern das Mitmenschliche, nicht das Mächtige, sondern die Begegnung, keine Unantastbarkeit, sondern das Mitfühlen, vielleicht die mystische Versenkung und gelegentliche Ekstase sind der neue Raum für heilige Ereignisse.

Mit dieser Neuentdeckung des Heiligen hängt auch die Neuentdeckung von Spiritualität und Mystik zusammen. Sie suchen und finden eine Nähe, die die Grenzen des Gegenständlichen übersteigt. Sie verankern Menschen in einer Tiefe, die von Bedrohungen viel weniger erschüttert wird. Sie verhelfen dazu, das Göttliche als den Kern von Menschen und menschlichen Begegnungen wahrzunehmen. Deshalb können Spiritualität und Mystik zu Faktoren von höchster politischer, auch kirchenpolitischer Brisanz werden.

Täglich machen wir die Erfahrung: Das Heilige begegnet uns sowohl in den Mitmenschen, die uns nahestehen, als auch in solchen, die wir stärken und ermutigen können, aber auch in denen, auf deren Hilfe wir angewiesen sind. Wer diese neue, alltäglich erfahrene und höchst vitale Heiligkeit in die liturgischen Zusammenkünfte unserer Sonn- und Feiertage einbringen will, sollte sich dessen bewusst sein: Christus begegnet uns in allen Menschen, mit denen wir in Beziehung treten.

Nur wenn der sonntägliche Gottesdienstbesuch nicht mehr isoliert und sakramentalistisch zu „Quelle und Mittelpunkt“ der Gotteserfahrung hochstilisiert wird, kann er zum Ort einer bewusst gefeierten Gottesnähe werden und uns dazu befähigen, unser Alltagshandeln an unseren Jesuserinnerungen zu spiegeln. Dann sind wir auch im Gottesdienst allen Menschen nahe, die Gott in keinem platonischen Jenseits mehr, sondern gut biblisch im konkreten Diesseits suchen. In dieser Spiritualität der Menschennähe liegt vielleicht der entscheidende Schlüssel eines zukunftsfähigen Christseins in unserem Kulturraum. Auf diesem Weg kann uns ein „heiliges Mysterium“ gelingen, das aus sich heraus die Kirchenmauern wie selbstverständlich durchbricht und auch andere Menschen zur Gemeinschaft einlädt.

IV/2. Folgen: Neue Fakten schaffen

Der epochale Bedeutungswandel des Heiligen im westlichen Kulturkreis löst im Christentum einen tiefgreifenden grundlegenden Gestaltwandet und die wohl tiefste und komplexeste der aktuellen Irritationen aus. Auch bei den gängigen Reformbewegungen kann er gefährliche Missverständnisse auslösen. Oft versuchen sie, die überlieferte Gottesdienstpraxis durch lautere Aktivitäten, neueres Liedgut und mehr Beteiligung der Teilnehmer zu beleben. Dagegen ist nichts einzuwenden, doch die Wirkung dieses Handelns darf nicht überschätzt werden.

Die Kirchenleitungen begreifen nur schwer, dass sie ihr Monopol auf Erfahrung und Gestaltung des Heiligen verloren haben. Auch sie müssten in Welt und Gesellschaft lernen, wo die neuen Begegnungsorte des Heiligen sind, und werden sich lange Zeit in einer Art Niemandsland bewegen. Konservativ gestaltete Gottesdienste berühren viele Menschen nicht mehr, andere vermissen in neu gestalteten Feiern die Erfahrung des Heiligen. Lernprozesse sind äußerst schwierig, denn zur Debatte stehen ganzheitliche Erfahrungen, bei denen unterschiedlichste Wirklichkeitsbereiche beteiligt sind.

Bis weit ins 20. Jahrhundert blieb die Formen- und Symbolsprache des Heiligen von einer vielschichtigen Tradition geprägt. In sie gingen spätantike, mittelalterliche und neuzeitliche Elemente ein und sie wurde von komplizierten, hoheitlich verordneten Elementen gesteuert. In ihr kommt die Erfahrung zeitgenössischer Menschen kaum mehr zum Ausdruck. Zudem lebt diese Liturgie mehr als 1600 Jahre lang aus ihrer Verschwisterung mit der politischen Macht. Dies führte dazu, dass die Kernfunktionen eines Gottesdienstes in Priester oder Bischof monopolisiert und damit verarmt wurden.

Man denke auch an die Kirchenkunst, die liturgische Kleidung, den Reliquien- und Opferkult sowie den erhabenen Baustil romanischer, gotischer oder barocker Kirchen, die im 19. Jahrhundert nicht immer kreativ repetiert wurden. Dabei herrschte bis zum Sturz der Monarchien in der Symbolik eine Symbiose von politischer und kirchlich-religiöser Macht, in der sich selbst Napoleon wohlfühlte. Die Kirchen in unserem Kulturraum müssen begreifen, dass diese machtaffin heilige Symbolik der Vergangenheit angehört. Sie müssen die Gründe dafür selbstkritisch akzeptieren. Die machtaffine Symbolsprache des Heiligen hat ihre Bindekraft verloren und kann die wahre Jesusgeschichte, die von Tod, Vergänglichkeit und verletzlicher Liebe zeugt, nicht mehr zur triumphalen Siegergeschichte uminterpretieren.

Nach dem 2. Vatikanum initiierte die katholische Kirchenleitung in hilfloser Gegenwehr gegen die globalen Verschiebungen eine restaurative Gegenbewegung. Das konziliare, durchaus ökumenische Bewusstsein, dass Wort und Sakrament zumindest eine dialektische Einheit bilden, wurde zugunsten eines neuen Sakramentalismus zurückgedrängt. Inzwischen prägt nichts so sehr die offizielle Identität der katholischen Kirche wie eine sakramentale Wirklichkeit, die in der Eucharistie kulminiert. „Die Kirche lebt von der Eucharistie“ (Ecclesia de Eucharistia) lautet der höchst einseitige und restaurative Titel einer Enzyklika des Wojtyła-Papstes vom April 2003. Diese massive Verkürzung des biblischen Kirchenbildes ist scharf zu kritisieren.

Im Zentrum dieses Konzepts steht erneut das priesterliche Amt, das ‑ Taufe und Ehe ausgenommen ‑ zur Spendung der Sakramente befähigt: von Firmung, Eucharistie, Sündenvergebung, Krankensalbung und Priesterweihe. Es reproduziert das traditionelle, auf kirchenamtliche Institutionen fixierte Bild von einer höchst offiziell, geistlich und überirdisch legitimierten Heiligkeit. So wird versucht, die Definitionsvollmacht über das Heilige zurückzugewinnen und es den kirchlichen Verwaltungs- und Erlösungspraktiken zu unterwerfen, obwohl es aus dem Machtverbund von Kirche und Staat schon längst ausgewandert ist.

In der katholischen Kirche hat diese Restauration noch immer massive Auswirkungen auf den Umgang mit Leiblichkeit und Sexualität. Dies zeigt sich in der Stellung von Frauen in ihr. Zudem zeugt diese Entwicklung von der bekannten ökumenischen Unbeweglichkeit. Auch 53 Jahre nach dem Konzilsschluss hat sie von der zentralen reformatorischen Erkenntnis nichts gelernt: die Kirche lebt zunächst von einem Wort, das der blinden Sakralisierung kirchlicher Ämter entgegensteht. Deshalb schadet eine neue Stärkung des kirchlichen Weiheamts der kirchlichen Erneuerung mehr, als sie nutzen könnte.

Ein Blick in die frühe Kirchengeschichte kann diese Beobachtung bestätigen. In den ersten Jahrzehnten ging es ja um das Leitungsamt einer Gemeinde und um begleitende Gemeindefunktionen. Sie wurden nicht sakral, sondern funktional umschrieben und auf das Gesamtwohl der Gemeinde hin ausgerichtet. Bei Paulus (1 Kor 12,1-11, 28-31) ging es um Dienste und Kräfte, die Vermittlung von Weisheit und Erkenntnis, um Krankenheilung und Wunderkräfte und die Unterscheidung der Geister, um Zungenrede und deren Deutung. Wichtig war die gar nicht sakrale Trias von Aposteln, Propheten und Lehrern. Dabei lag es auf der Hand, dass die Leiter/innen ihrer Gemeinde auch vorstanden, wenn sie gemeinsam das Brot brach. Jemanden zur Gemeindeleitung im Allgemeinen oder zum Vorsitz in der Eucharistiefeier zu ordinieren, wäre absurd gewesen und war deshalb verboten.

Doch seit dem 4. Jh. gerieten die Bischöfe in den Schatten einer imperialen und purpurgewandeten, byzantinisch konnotierten Sakralität. Bald waren die Formensprache politischer und kirchlicher Macht engstens verschränkt. Zum Beispiel ging der kaiserliche Titel „Stellvertreter Christi“ erst später in die bischöfliche und päpstliche Titulatur über. Selbst der bescheidene Papst Franziskus hat ihn übernommen.

Eine zweite Akzentverschiebung hat diese Sakralisierung von der Leitungsfunktion auf die Ebene der Sakramente hin intensiviert. Über die frühe funktionale bzw. theologische Unterscheidung zwischen Bischof und Presbyter (= Priester) wissen wir wenig. Doch wurde sie beim Übergang von der Spätantike zum Mittelalter mit der wachsenden Differenzierung zwischen Stadt- und Landbevölkerung fassbar. Vereinfacht gesagt: Die Priester wurden als Helfer der Bischöfe aufs Land geschickt, um dort Messen zu lesen und Sakramente (Taufe und Sündenvergebung) zu spenden. Diese Verlagerung der priesterlichen Aufgaben fügte ein zweites Ungleichgewicht hinzu[4], dessen Ergebnis zur Jahrtausendwende vorliegt. Zur Sakralisierung durch öffentliche Macht tritt die Magisierung eines heiligen Geschehens hinzu.

Ein neuer Berufsstand der Sakramentenspendung hatte sich herausgebildet und unversehens wurden die Zusammenhänge zwischen Gemeindeleitung und Sakramentenspendung umgekehrt. Jetzt wurde nicht mehr der in aller Form gewählte Leiter einer Gemeinde in sein Leitungsamt eingesetzt (= „ordiniert“), um dort natürlich auch der Eucharistiefeier und anderen Zusammenkünften der Gemeinde vorzustehen. Vielmehr wurden „Älteste“ (= presbyter) mit allgemeinen Weihevollmachten ausgestattet, um dann in bestimmte Gemeinden geschickt zu werden. Schrittweise wurde die Bindung der Ordination an eine bestimmte Gemeinde unterlaufen, denn die absolute Vollmacht zur Spendung der Sakramente, also die globale Sakralisierung einer Person, hat jetzt alle Einzelbedingungen von Wahl und konkreter Amtseinsetzung überrollt. Mit seinen wahlunabhängigen Vollmachten ließ er sich ja überall verwenden, wo es galt, die Sakramente zu verwalten.

Mit dieser massiven Magisierung der ländlichen Leitungsämter, kombiniert mit der politischen Sakralität der Bischöfe, musste es zur unheilvollen und hochaktuellen Diskriminierung der Frauen und zur Zölibatsfrage kommen, die hier nicht weiter zu besprechen sind. Vor dem Hintergrund einer neu erfahrenen Heiligkeit zeigen diese Entwicklungen: Eine Strukturreform, die das „Weiheamt“ reformieren will, wäre kontraproduktiv und kommt zu spät, denn die Figur des Weiheamts ist selbst schon eine Deformation. Sie perpetuiert eine von weltlicher Macht infizierte Sakralität, fördert ein magisches Heilsverständnis und zerstört erneut den christlichen Geist der Geschwisterschaft. Sie ist für die jüngste Kulturgeschichte blind.

Was aber ist zu tun?
Im Sinn frühchristlicher und durchaus zeitgemäßer Spiritualität ist eine nüchterne Erneuerung der Leitungsämter einzuleiten. Sie dürfen nicht mehr sakral isoliert, monokratisch überhöht und von archaischen Tabus belastet sein. Gemeindeleitende Personen, gleich ob Frauen oder Männer, verheiratet oder zölibatär, sind keine Weihebeauftragten, deren Vollmacht in irgendwelchen Opfer- oder Wandlungswundern kulminiert. Es ist die Gemeinde, also die Gemeinschaft der „Heiligen“ selbst, die miteinander feiert und in deren Mitte sie Christus weiß. Sie ist nicht nur der „mystische“, sondern nach Paulus der wahre Leib Christi, die das Mysterium von Christi Tod und Auferstehung feiert. Die Erfahrung des Heiligen beginnt nicht mit hehren Ritualen, sondern im gegenseitigen Dienen, der schon außerhalb der Gemeinde geschieht. „Was ihr den Geringsten meiner Geschwister getan habt, das habt ihr auch mir getan.“ (Mt 25,40). Was gibt es für Christ/innen Höheres, als Christus in den Nächsten zu begegnen, deren Qualität an keine Kirchengliedschaft gebunden sein muss! Das Heilige braucht keine amtlichen Kontrolleure und Verwalter.

Gewiss, diese Umorientierung vom Weihe- zum Leitungsamt kann eine spirituelle Lücke hinterlassen. Denn nach wie vor haben Gemeinden und einzelne Christ/innen das Recht auf spirituelle Nahrung und Führung, auf Orte des inneren Nachdenkens und der geistlichen Erneuerung. Es ist deshalb wichtig, spirituell begabte Frauen und Männer zu suchen und ihnen in den Gemeinden entsprechende Funktionen zuzuweisen. Erinnert sei an die Entstehung der “Ohrenbeichte“. Ursprünglich war sie nicht Sache der Priester. Vielmehr trat man an geistlich hoch respektierte Personen (meist Mönche oder Nonnen) heran. Sie hatten die innere Kraft, den Menschen im Namen Gottes Vergebung zuzusprechen, Trost zu spenden und Orientierung zu geben. Dass es auch heute solche gottbegnadete Männer und Frauen gibt, steht außer Zweifel.

Die zutiefst verbindliche, uns alle belebende Erfahrung wahrer Heiligkeit im Vergänglichen, Hilfsbedürftigen und Zerbrechlichen beginnt, wie schon gesagt, in der Begegnung mit Menschen. Der Ort wahrer Heiligkeit ist in der Welt und ihrem Alltag zu Hause. Dadurch sollten Gottesdienste nichts an ihrer Würde verlieren. Es muss aber klar sein: Die in ihnen gefeierte Heiligkeit Gottes kommt nicht aus dem amtlichen Handeln der Vorsitzenden, die mit großen oder kleineren mit Machtpotenzen und -symbolen ausgestattet sind. Sie kommt aus jeder engagierten Begegnung mit Menschen, die schon außerhalb des Tempels geschehen ist.

Zwar kann sich diese Erfahrung in der Feier des Abendmahls verdichten, aber sie muss zuvor schon im Leben der Feiernden gegenwärtig sein. Heiligkeit zu erfahren und erfahren zu lassen, liegt deshalb nicht in der Regie von Kirchen oder Religionen, sondern im Verhalten und Erleben von Menschen. Bischof Kohlgraf erklärte einmal, die Menschen müssten die Kirche als lebensdienlich erfahren. Diese Aussage wiegt schwer, lässt keinen praktischen Widerspruch mehr zu. Deshalb wäre es unerträglich, sollte sich derselbe Bischof einer Ordination von Frauen widersetzen.

Was sollte ihn daran hindern, in seinem Bistum Frauen zu vollgültigen Gemeindeleiterinnen zu ernennen (was in der Schweiz schon geschieht)? Glaubt denn ein Bischof, es käme je Bewegung in diese höchst sensible Frage, in der die Anerkennung oder Demütigung von Frauen zur Debatte steht, wenn nicht endlich überfällige Fakten geschaffen werden!? Übrigens sind diese Fakten schon geschaffen. Einerseits walten an vielen Orten offiziell geweihte Priesterinnen und Bischöfinnen ihres Amtes, andererseits wird an ungezählten Orten der Welt das Abendmahl ohne priesterliche Assistenz gefeiert. Die Heiligkeit dieses Geschehens zeigt sich beim gemeinsamen Mahlhalten und nicht in der magischen Wirkung priesterlicher Worte.

V. Vertrauen aus der Erfahrung eines gelingenden Lebens

 V/1.  Ausgangspunkt: Ohne Vertrauen kein Leben

Angst geht um, nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern. Ökologische Standards lösen sich auf, globale Sicherheitssysteme zerbröckeln, ökonomische Weltbeziehungen werden in Frage gestellt und skrupellose Staatsführer gewinnen an Einfluss. Ungezügelt kapitalistische und autoritäre Strukturen schaffen neben wenigen Gewinnern mehr und mehr Verlierer. Diese werden von unseren Gemeinschaften ausgeschlossen und an den Rand gedrängt, und so um ihre Bildungs- und Existenzmöglichkeiten betrogen.[5]

Auch in wohlsituierten Kreisen macht sich Angst breit. Kann ihnen unsere Gesellschaft noch eine menschenwürdige und freundliche Zukunft versprechen? In dieser prekären Situation wird es oft schwer, das natürliche Lebensvertrauen von Kindern zu behüten, zu stärken und so zu unterstützen, dass es sich in den Heranwachsenden zu einer gereiften und widerstandfähigen Vertrauenshaltung entwickelt, die im Erwachsenenalter persönliche und kollektive Krisen überstehen kann.

Im Widerspruch dazu leben alle Weltreligionen aus einem vitalen Vertrauen darauf, dass unser Leben von Sinn umgeben ist und selbst im Tod nicht zu einer lächerlichen Vision zerrinnt. Ihr Vertrauen auf Gott oder das Göttliche bietet ihnen dafür eine hinreichende Garantie. Diese paradoxe Kernüberzeugung besagt quer durch alle Religionen: Wir müssen uns nur auf diese Hoffnung einlassen, denn sie wird uns nicht enttäuschen. Ist das wirklich der Fall?

Natürlich geht es um kein naives Vertrauen, so legt den Glaubenden das Christentum selbst schwerste Prüfsteine in den Weg. Man denke an das Scheitern Jesu, der aus Angst Blut schwitzte und dessen Gottverlassenheit das Matthäusevangelium schilderte. Dennoch hält gerade das christliche Lebensmodell an einem unzerstörbaren Überschuss an Vertrauen fest. Allerdings muss es ein Leben lang erkämpft und wachgehalten werden. Es reicht nicht, auf äußerlich verfügbare Werte oder Erfolge zu bauen. Vielmehr kommt es darauf an, das Leben ‑ in einer „inneren“, also von innen her verstehenden Rationalität (Hans Küng) ‑ aus einem letzten Geheimnis heraus zu verstehen. Kann es gelingen? Genau das ist ein Teil des großen Geheimnisses vom menschlichen Leben.

Zugleich können wir sehen, dass dieses Vertrauen vielen Menschen gelingt. Offensichtlich nährt es sich aus den täglichen Erfahrungen und Begegnungen, Überraschungen und Überschreitungen an der Grenze, auch aus dem täglichen In-sich-gehen im gegenseitigen Gespräch, in Gebet und Meditation. Dieses durch und durch menschliche, zerbrechliche und zugleich unzerstörbare Grundvertrauen, das bruchlos in eine christliche Glaubenspraxis übergeht, verbindet uns mit den Angehörigen anderer Religionen.

Mit ihrer unglaublichen kulturellen Kreativität gelingt es auch ihnen in unterschiedlichsten Glaubensformen, einen unbedingten Vertrauensvorschuss in den Sinn des Lebens zu schaffen. Es entspricht dieser geradezu allgegenwärtigen Erfahrung, unbedingt angenommen zu sein vom Lebenssinn, von der Weltordnung, vielleicht einer ausgleichenden Harmonie oder einer letzten und unzerstörbaren Instanz. Vielleicht können Menschen dieses Lebensgefühl ohne ausdrückliche Glaubenserfahrungen nur schwer nachvollziehen, obwohl es auch bei ihnen aus dem fundamentalen Vertrauen ihrer Kindheit erwachsen kann. Die Weltreligionen haben diesen Grundgedanken in zahllosen Erzählungen, Symbolen und Erwartungen grundgelegt. Wir Christen möchten alle Menschen daran teilhaben lassen, nicht indem wir sie belehren oder moralisch drangsalieren, sondern indem wir sie für ihr eigenes Leben stärken. Dieses Angebot und dieses Teilgeben gehören zur spirituellen Grundausstattung einer christlichen Lebenspraxis.

Deshalb kann keine Religion, auch kein Christentum bei sich selbst bleiben. Sie alle leben von einer universalen Perspektive, von der schon die Rede war (II): der gemeinsamen Harmonie, des Erfüllt-seins, des universalen Hochzeitsmahls oder der Völkerwallfahrt zur Stätte des Heils, in der allen das Licht aufgeht. Aus dieser überschäumenden Erwartung und Zuversicht kommt auch die Kraft zur Versöhnung und Vergebung. Zumal in der aktuellen Globalisierungsdynamik sollte diese prophetische Vollendungsdynamik eines großen Vertrauens neue Konturen gewinnen. Ohne ihre Grundlage werden auch hochstehende Religions- oder Kirchensysteme ihre Relevanz verlieren.

V/2.  Folgen: Gegenseitige Teilhabe

Gemäß dem Johannesevangelium bietet Jesus den Jüngern eine bedingungslose Freundschaft an: „Ich habe euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe.“ (15,15) Diese Zusage Jesu gewährt den Gläubigen eine breite Vertrauensgrundlage und unbedingte Transparenz; sie sind von ihm vorbehaltlos angenommen. Wie schon gezeigt wurde, müssen ohne dieses gegenseitige Vertrauen auch hochreflektierte Kirchensysteme versagen; ihr Überleben hängt davon ab. Gelegentlich erweckt die katholische Liturgie den Eindruck, Jesus habe diese Freundschaft nur geweihten Würdenträgern zugesagt. In dieser Unterstellung zeigt sich das Grundproblem einer Kirche, die sich als Klassengesellschaft von Priestern und „Laien“, also als Paradigma eines halbierten Vertrauens präsentiert.

Statt einer Gemeinschaft, die von gegenseitiger Teilhabe geprägt ist, stoßen wir auf Kleriker und „Laien“, die sich ihrem Wesen nach unterscheiden. Überdies zeigt der klerikale Oberteil, einem autoritären Strukturdenken tributpflichtig, reiche Untergliederungen. Allen sichtbar steht oben der Papst mit dem erlauchten Kreis von Kardinälen. Ihm folgen die Bischöfe. Sie sind in Patriarchen, Kardinäle und Metropoliten, Erzbischöfe, Bischöfe und Hilfsbischöfe (in Deutschland „Weihbischöfe“ genannt) unterschieden und ihre unmittelbare Gefolgschaft wird gerne mit phantasievollen, teils kostspieligen Ehrentiteln geschmückt. Sie alle sind durch päpstlichen Entscheid ins Amt gekommen. Ihnen untergeordnet sind die Priester in verschiedensten Funktionen, durch ihre „Oberhirten“ ernannt. Dann kommt die große Trennungslinie zu den „Laien“, um deren Aufwertung man sich heutzutage halbherzig und etwas hilflos müht. Diese Trennungslinie bestimmt die gesamte Kirchenwirklichkeit und macht die Laien – auch die mit Sonderaufgaben betrauten ‑ in entscheidenden Dingen zu Stimmlosen und Außenseitern. Die Kleriker bleiben mit dem Glanz unantastbarer Würde umgeben.

Oft bildet diese Trennungslinie auch eine Grenzlinie des strukturellen, auch des persönlichen Vertrauens. So verschließt sich die römisch-katholische Kirche, einem banalen Männerbund vergleichbar, der entscheidenden Qualität, die eine Religion und religiöse Institutionen auszeichnen sollte: einem fundamentalen Vertrauensimpuls, der zunächst einmal alle umfasst. Entgegen aller historischen Erkenntnis wagt sie es sogar, sich dafür auf den Stifterwillen Jesu zu berufen. Das ist ein Skandal ersten Ranges, weil er die Grundregeln des Christseins von Grund auf verfälscht.

Man mag entgegenhalten, eine jede Institution benötige ordnende Elemente und keine größere Gemeinschaft komme ohne Kontrolle aus. Wo aber der Geist des Vertrauens herrscht, geschieht solche Kontrolle in offener Transparenz und nimmt die Meinung aller Kirchenmitglieder ernst, statt diese zu verfälschen. Selbst diese skandalöse Weigerung wird oft durch irreführende Äußerungen verdeckt und so von den Kritikern akzeptiert.

Ein Musterbeispiel bildet die stolze Aussage der Kirchenkonstitution „Die Gesamtheit der Gläubigen … kann im Glauben nicht irren.“ (Nr. 12). Das ist eine für Reformbewegungen wichtige Aussage. Doch der Folgesatz stellt klar, dass diese Übereinstimmung auch die Bischöfe umfassen muss. Die Gesamtaussage lautet deshalb: Ohne die Hierarchie könnt ihr trotz klarsten Konsenses irren. Zudem erklären andere Passagen der Konstitution, dass Irrtumslosigkeit auch ohne die „Laien“ je nach Umständen ein Sonderprivileg von Konzil, Bischöfen oder Papst sein kann. Dennoch wird die genannte Passage häufig als Plädoyer für ein außerordentliches Wahrheitsprivileg des Gottesvolks zitiert; das verkennt die tiefe Ambivalenz eines zentralen Konzilstextes.

Wie sind solche Missverständnisse auch bei anderen Konzilstexten möglich? Sehr viele Texte sind in extremer Weise von Kompromissen und inneren Widersprüchen durchzogen.[6] Progressive und Reaktionäre können sich auf jeweils ihre Passagen berufen. Die nachkonziliaren Spaltungen resultieren nicht aus tendenziösen Textinterpretationen, sondern spiegeln nur, was die „Konzilsväter“ in ihren ungelösten Streitpositionen programmierten. Bis zum Jahr 2013 haben die drei maßgeblichen nachkonziliaren Päpste ein perfektes System des Misstrauens und geheimer Kontrollmechanismen intensiviert, sozusagen ein Kartell des Misstrauens installiert, dies mit dem Ziel, die große „Kontinuität“ des Glaubens zu wahren.

Wer auf die fundamentale Spiritualität des religiösen Vertrauens baut, muss dem letzten Konzil und der nachkonziliaren Epoche jede Zustimmung entziehen, denn der Schaden für die Vertrauensbotschaft des christlichen Glaubens war und ist noch immer enorm. In einem Interview nennt es W. Kasper einen schwerwiegenden Skandal, dass die Kirche von heute von vielen als unbarmherzig betrachtet wird. Man kann ihm nur zustimmen, muss aber hinzufügen: In erster Linie ist diese Unbarmherzigkeit ein Produkt der Kirchenleitungen und von Kirchenstrukturen, wogegen die Reformbewegungen bislang erfolglos angegangen sind. Übrigens hat auch das päpstliche Jahr der Barmherzigkeit (2015/2016) zu keinen strukturellen Reformen geführt. Es ist eben keine erfolgversprechende Strategie, unbarmherzige Glaubensregeln prinzipiell zu akzeptieren und sie in einem zweiten Schritt barmherzig auszulegen.

Statt sich weiterhin in Hoffnung und Enttäuschung auf die Kirchenleitung zu fixieren, sollte es zu unserer Leidenschaft werden, Vertrauen in unsere Gesellschaft zu tragen und deshalb die christlichen Gemeinden zu Vororten eines Vertrauens zu machen, das die Grenzen der Kirche überschreitet.

Angesichts der offiziellen Situation ist es ganz erstaunlich, wie intensiv sich der Geist der Freundschaft und der gegenseitigen Treue trotz allem in vielen Gemeinden gehalten hat. Sie ließen ihre Vertrauenshaltung nicht von einer hierarchischen Misstrauenskultur zerstören. Deshalb sollten die Reformbewegungen dazu entschlossen sein, diesen Geist der Freundschaft in allen ihnen zugänglichen Lebensräumen durchzusetzen, auch wenn dies zu Konflikten führt. Natürlich gilt es, realistisch zu sein, denn im real existierenden, weltweit agierenden Katholizismus wird sich der Geist des Misstrauens, der moralischen Gängelung und der Glaubenskontrolle noch lange halten. Doch der Geist des geschwisterlichen Vertrauens vereint auch viele, die die katholische Kirche verließen oder nie ihre Mitglieder gewesen sind. Das Reich Gottes ist immer größer als selbstdefinierte Grenzen. Genau das schafft uns auch eine innere Freiheit und die Überzeugung, dass die Botschaft Jesu alle Grenzen übersteigt; seine Worte und sein Verhalten überzeugen aus sich selbst.

Schluss: Dringliche Strukturreform

Die Besinnung auf die geistigen und spirituellen Grundlagen unseres Glaubens sowie auf die schwindende Gegenwart Gottes in unserer Gesellschaft hat die strukturellen Reformfragen der römisch-katholischen Kirche nicht relativiert, sondern noch dringlicher gemacht. Schärfer denn je kann heute eine spirituelle Besinnung zeigen, wie diametral der katholische Kirchenapparat und der Geist christlichen Glaubens einander entgegenstehen. Wir vermissen in dieser kirchlichen Organisation konkrete Visionen, den prophetischen Geist Jesu und eine Lebensbejahung, die den Tod überwindet. Stattdessen lähmt noch immer eine Kultur der Kontrolle, der Unterdrückung und Todes allen Mut zur Freiheit, den uns der Einsatz für unsere Nächsten schenkt. Wir suchen das Heilige noch immer in einer machtaffinen und weltlosen Heiligkeit und haben die Orte wahrer menschlicher Heiligkeit vergessen. Als schlimmsten Mangel erfahre ich den tief eingefleischten Geist des Unfriedens, des Misstrauens und der Kontrolle, die für ein jedes Vertrauen tödlich sind.

Deshalb sollten Reformgruppen ihre Strategien ändern. Primär interessieren das Reich Gottes und nicht die Kirche, stehen also die Nöte und Bedürfnisse unserer Lebensräume, unserer Gesellschaft und der Welt im Zentrum unserer Leidenschaft. Deshalb muss alle Kraft den Mitmenschen und nicht der kirchlichen Institution gelten. Gerade eine neue innere Freiheit gegenüber der Hierarchie setzt viele Zukunftskräfte frei, die bis jetzt nutzlos gebunden waren. Wir suchen unseren Frieden nicht mehr im Arrangement mit der Kirche, sondern in der Solidarität mit unseren Mitmenschen. Wir kämpfen dafür, dass die kirchlichen Gemeinden autonom und innerlich frei werden. Das muss zu keiner Trennung von der Hierarchie führen. Aber die Hierarchie muss endlich um Gottes Reich wissen, um unsere Suche nach Gerechtigkeit vor Ort und um zeitgemäße Profile des christlichen Glaubens, die sich von der Säkularisierung nicht erdrücken lassen, sondern belebt werden. Wenn sich die Bischöfe vom Geist Jesu nicht korrigieren lassen, dann sei das ihr Problem, dann nämlich trennt sich die Hierarchie von den Gemeinden, nicht umgekehrt.

Der kritischste Punkt ist wohl der tiefgreifende Gestaltwandel des Heiligen, in dem wir dem Göttlichen begegnen. Wir suchen es nicht mehr in den traditionellen, oft nostalgischen Symbolen unserer Vorfahren, sondern in den vitalen Begegnungen, Erfüllungen und Frustrationen unserer Mitmenschen und im Wissen, dass wir in den Geringsten Christus selbst begegnen, unabhängig von seiner kirchlichen, christlichen oder religiösen Gesinnung. Nur dieser Ausgangspunkt kann langfristig auch zu einer erneuerten und zeitgemäßen Gottesdiensterfahrung führen. Sie lässt sich nicht mehr von einer sakramentalistischen, priesterlichen oder machtaffinen Symbolik leiten, vielmehr misst sie ‑ gemäß dem Wort Jesu ‑ alles menschliche und kirchliche Handeln am Vertrauen und inneren Frieden, der dadurch gefördert wird.

Dadurch ändern sich auch die innerkirchlichen Reformziele. Wir begleiten nicht mehr das hierarchische Handeln, sondern entwickeln im Gespräch mit den Gemeinden unsere eigene Kreativität. Wir kämpfen mit der Hierarchie nicht mehr um Erlaubnisse oder umfassende Grundsatzentscheidungen, sondern ermutigen die Gemeinden dazu, ihren eigenen Inspirationen zu folgen, also auf ihre eigene charismatische Kraft zu vertrauen. Wir verzehren unsere Kräfte nicht mehr im Kampf um geweihte Ämter und den gleichberechtigten Zugang von Frauen, sondern wählen in aller Sorgfalt solche Personen aus, denen wir eine segensreiche, kollegial begleitete Gemeindeleitung zutrauen. Zwischen katholischen und evangelischen Gemeinden sehen wir keine trennenden Unterschiede mehr.

Wir erwarten umso weniger Schwierigkeiten, als die Hierarchie uns nicht mehr mit Priestern alten Stils versorgen kann. So hoffen wir auf die Zeit, in der wir alle anstehenden Fragen wieder offen, angstfrei und transparent auch mit den Bischöfen besprechen können. Aber sie müssen wissen: Für uns sind nur Gespräche verbindlich, die auf gleicher Augenhöhe, von der Sache Jesu inspiriert, argumentativ und in der Möglichkeit der Gegenrede geschehen. Der Wesensunterschied zwischen Klerikern und Laien ist – zumal in einer demokratischen Gesellschaft – keine christliche, sondern eine feudale und männerbündische Fiktion.

In all ihren Vorhaben ermutigen wir die Gemeinden dazu, weltoffen, klug und bedachtsam zu handeln. Sie sollen dies immer im Geist der Freiheit tun und sich nie zum Misstrauen verleiten lassen. Denn Vertrauen, Freundschaft und klare Visionen, aus diesen Quellen kann der christlichen Botschaft auch in unserem Kulturkreis eine neue Zukunft erwachsen. Es muss nur gelingen, das „Volk Gottes“ nicht erneut zum Befehlsempfänger einer übergeordneten Führungsschicht zu erniedrigen.

Bevor Kardinal Kasper die Reformkräfte erneut zu einer vertieften Spiritualität ermahnt, sollte er bedenken, welch massiven Frevel die kirchliche Hierarchie noch immer an ihr betreibt.

Anmerkungen:

[1] Interview mit Domradrio am 06. 06. 2013, https://www.domradio.de/themen/Ökumene/2013-06-12/kasper-das-grundproblem-ist-die-gottesfrage.

[2] Als Schlüsselwerk betrachte ich Hans Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Berlin 2017.

[3] Meilensteine sind die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung (1776), die Französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789) sowie die Menschenrechtscharta der UNO (1948).

[4] Diesen Prozess, der wohl mit den Völkerwanderungen (4./5. Jh.) eintrat, skizziert kurz und anschaulich Hubert Wolf, Zölibat. 16 Thesen, München 2019, S. 38-40.

[5] Die wütende Klage der Greta Thunberg (16) beim Klimagipfel der Jugend in New York ist programmatisch: „Wie könnt ihr es wagen? Mit euren leeren Worten habt ihr meine Träume und meine Kindheit gestohlen… Ganze Ökosysteme brechen zusammen. Wir stehen am Beginn einer massenhaften Auslöschung. Und alles wovon ihr reden könnt, ist euer Geld, sind eure Märchen vom ewigen Wirtschaftswachstum. Wie könnt ihr es wagen!“ Eine ganze Generation habe versagt, den Planeten zu schützen.

[6] Dazu O. H. Pesch, Das Zweite Vatikanische Konzil. Vorgeschichte – Verlauf – Ergebnisse – Wirkungsgeschichte, Kevelaer, 32011.

 

Vom Ungeist theologischer Rechthaberei

Schon am Tag seines Erscheinens erfuhr der Beitrag des Altpapstes so viel empörten Widerspruch, dass sich eine weitere Reaktion zu Inhalt und Qualität kaum lohnt. Statt sich zu ärgern, könnte man sich stellvertretend auch schämen über den Zerfall eines Geistes, der uns in den besten Jahren wenigstens noch in Atem hielt, denn sein Konservatismus und seine Intransigenz hatten noch einiges Niveau. Weiterlesen

20 Thesen zur Zukunft und Neuorientierung der katholischen Kirche im deutschsprachigen Raum

I. Die aktuelle Situation

  1. Wir leben in einer Zeit des tiefgreifenden Umbruchs. In ihr haben sich die großen Glaubensvisionen der vorhergehenden Epoche verflüchtigt. Neue Visionen sind nicht an ihre Stelle getreten.
    Dieses Vakuum ist der eigentliche Grund für die wachsende Bedeutungs- und Sprachlosigkeit der Kirche. Diese wurde im Jubiläumsjahr 2017 in ökumenischer Breite offenkundig.

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Kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden

Ein Gott, eine Welt, viele Religionen

Vortrag am 1. Juni 2017 in Weilheim (Obb.)

Einleitung: Religion, ein politischer Faktor

„Kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden“ Wer hätte vor 30 Jahren gedacht, dass dieses Motto so brisant werden könnte, wie es nach dem 11. September 2001 geworden ist, als die Twin Towers in New York zusammenstürzten! Nicht nur der Islam, auch andere Religionen wurden inzwischen wieder als hochpolitische Faktoren zur Kenntnis genommen. Weiterlesen

Wenn jemand eine Reise tut …

Predigt zu Christi Himmelfahrt

1. Wenn jemand eine Reise tut , dann kann er was erzählen

Dieses Motto gilt nicht nur für unsere Urlaubsreisen, vielleicht über den Atlantik, nach Fernasien oder aus alter Gewohnheit ans sonnige Mittelmeer, nach Italien oder Griechenland. Das Motto gilt auch für die Lebensreisen, die wir allein oder zusammen mit anderen unternehmen. Genauer müsste man sagen: Wenn jemand eine Reise getan und sie abgeschlossen hat, dann ist es Zeit, Bilanz zu ziehen. Dann hat sich eine Lebensgeschichte gerundet und geht in die Erinnerung der Nachkommen ein. Ich möchte etwas über die Hoffnungen und Schicksale unserer Lebensreisen sagen. Den Anlass dazu gibt mir das Fest der Himmelfahrt Christi, das wir heute feiern. Weiterlesen

Wir gehören zusammen

Zur Meditation

Liebe Anwesende,
gleich, ob Sie sich gläubig oder Suchende nennen oder einfach hier sind, um für eine halbe Stunde zu sich zu kommen. Hier und jetzt bindet uns dieser Raum zusammen. Wir bilden eine Einheit, auch wenn sie in wenigen Minuten wieder vergeht. Der Augenblick zählt. Weiterlesen

Heiligsprechungen im Hundertmaß

Das Guinessbuch der Rekorde lässt grüßen

Wer hat die meisten Heiligen kreiert? Unter Insidern galt die Antwort als unbestritten. Johannes Paul II. hat nicht nur eine Inflation der Selig- und Heiligsprechungen ausgelöst, sondern er darf dafür auch ins Guinessbuch der Rekorde. Mit 1338 Selig- und 482 Heiligsprechungen, also mit insgesamt 1820 Kanonisierungen hat er einen einsamen Rekord erzielt. Weiterlesen

Ein Akt der Selbstverherrlichung

Zur Heiligsprechung zweier Päpste

Wieder einmal wird Rom einen Besucher- und Medien-Hype erleben. Polen, Italiener und alle anderen Papstbegeisterten werden jubeln und glücklich sein. Warum? Gemeinsam werden zwei Päpste heiliggesprochen, die gegensätzlicher kaum sein könnten. So werden die Fans von beiden den Petersplatz füllen und gemeinsam jubeln. Aber wie selten prallen die inneren Widersprüche dieses Festtags so massiv aufeinander. Zwei Päpste, die gegensätzlicher kaum sein könnten, werden heiliggesprochen und man kann sich überlegen, ob man Gegensätze versöhnen will oder ob Johannes XXIII. nur als Alibi für Johannes Paul II. benutzt werden soll. Weiterlesen

Auf Ostern hin leben

Osterpredigt am 31. März 2013 in St. Eberhard, Stuttgart

Ostern 2013, wir feiern dieses Fest nach einer überraschungsreichen Fastenzeit. Benedikt XVI. zieht sich aus der Last seines übermenschlichen Amtes zurück und Papst Franziskus schreibt vom ersten Tag an Geschichte. Schon zuvor fordert er, die Kirche müsse hinaus an die Peripherien gehen, an die Grenzen der menschlichen Existenz: des Schmerzes, der Ungerechtigkeit und des Elends. Wir sollen uns nicht in uns selbst verkrümmen, sagt er, unseren theologischen Narzissmus hinter uns lassen. Eine um sich selbst kreisende Kirche, in der die einen die andern beweihräuchern, müsse aufgebrochen werden. Nur so werden wir eine Kirche des Lichtes Christi. Weiterlesen

Gottesrede zwischen Rechthaberei und Profilverlust

Kann christliche Ökumene noch überzeugen?

Zu meinen geliebten Kindheitserinnerungen gehört eine Reparaturwerkstatt für Fahrräder und technische Apparaturen, die man in meinem Heimatdorf benötigte. Später kamen Mofas und Motorräder, schließlich Autos dazu. Für mich als kleinen Jungen war das ein Paradies. Weiterlesen

Ein Intellektueller auf dem Papstthron? – Zum geistigen Profil von Joseph Ratzinger

Bei all seinen intellektuellen Leistungen muss sich J. Ratzinger an der Frage messen lassen, ob er den Kern der christlichen Botschaft in einen säkularen Diskurs übersetzt, oder ihm die Gottesfrage nur vorwurfsvoll entgegenschleudert. Gibt er auf die großen Erwartungen und Hoffnungen der Menschheit eine konstruktive Antwort? Weiterlesen

„Großer Baum und winziges Senfkorn“ – Neuere Bücher zu Benedikt XVI.

Die Literatur über Joseph Ratzinger, den Theologen, Kardinal und jetzigen Papst, ist immens. Sie reicht von populistischen Lobpreisungen über opulente Bildbände bis zu theologischen Auseinandersetzungen. Ausgewählt seien hier sechs Publikationen, die einen wissenschaftlich theologischen Rang beanspruchen und eine umfassende Vision über Ratzingers Theologie und Wirken entwickeln. Weiterlesen

Vom Kosmos der Dinge zum Sinn der Welt

Thesen zum Verhältnis zwischen Wissenschaft und Theologie

Die Postmoderne hat zu einem neuen Verhältnis zwischen Wissenschaft und Theologie geführt. In der Postmoderne  baut sie Brücken zwischen religiösen Symbolwelten und säkularer Rationalität.  So kann die Theologie innerhalb der Religionen auch zur Verteidigerin der modernen Naturwissenschaften und werden. Weiterlesen

Weltethos – Werteorientierung für Kulturen

Folgerungen für ein universales Naturverständnis

I. Vorbemerkungen

Weltethos ist einer jener gefährlichen Begriffe, den Interessierte auf Anhieb zu verstehen glauben, bis sie im Getümmel der Diskussion entdecken, dass ihre Gedanken entweder an Mauern des Unverständnisses abprallen oder den Eindruck banaler Selbstverständlichkeiten erwecken. In der Regel haben sie dann zwar keinen Unsinn geredet, aber doch einige Klarstellungen versäumt, ohne die ein sinnvolles Gespräch nicht in Gang kommen kann. Sowohl der Begriff Welt als auch der Begriff Ethos sind hier klärungsbedürftig. Zudem erfuhr der Doppelbegriff in dem von Hans Küng formulierten „Projekt Weltethos“ [PW] eine spezifische Ausprägung. Im Folgenden verwende ich den Begriff in diesem Sinn, versuche allerdings, ihn in einem breiteren Diskurs zu verankern.

1. Konkreter Anlass

Die ersten Bausteine zu Idee und Projekt gehen auf ein Symposion der UNESCO in Paris (1989) sowie auf einen Vortrag beim World Economic Forum in Davos (1990) zurück. Beide Male stand in Monaten des weltweiten Umbruchs die Frage zur Debatte, nach welchen moralisch verantworteten Normen und Standards aus der Sicht der Religionen, von Wirtschaftsführern und von Politikern die Zukunft der Welt zu gestalten sei[1]. 1993 kam auf dem Parlament der Weltreligionen in Chicago schließlich die ausdrückliche Frage hinzu, was die Weltreligionen zu diesem Problem beitragen könnten; das Parlament antwortete mit einer Erklärung zum Weltethos [Erklärung], das zum klassischen Text des PW werden sollte[2]. Von Anfang an war klar, dass uns nach dem Zusammenbruch des Weltkommunismus (1989) der Weltfriede nicht in den Schoß fallen würde. Denn alle Parteien waren sich in der globalen Analyse der bleibenden Weltbedrohung einig. Ganz im Sinne der Charta der Menschenrechte, aber auch ganz im Sinne der großen religiösen Weltvisionen sind für die gesamte Menschheit zu gewährleisten: ein elementarer Lebens-Schutz, die Verfügbarkeit der elementaren Lebensvoraussetzungen und Lebens-Mittel, der Schutz und die Aufrechterhaltung lebensnotwendiger Kommunikation sowie die gleiche unveräußerliche Würde und Gleichberechtigung aller Menschen, seien sie Mann oder Frau, erwachsen oder Kind, stark oder schwach.

Bei allem Realismus, der vor zu viel Optimismus warnte, ging das PW in Distanz zu zwei aufsehenerregenden Deutungen der neuen Situation: zu F. Fukuyama, für den der Zielpunkt historischer Entwicklung möglicherweise erreicht war und vor allem zu S. Huntington, für den das 21. Jahrhundert auf einen Kampf der Kulturen hinsteuert[3]. Von Anfang an setzt das PW auf die Möglichkeit eines Menschheitsfriedens. Dieser ist allerdings von Bedingungen abhängig, die noch zu nennen sind. Von zentraler Bedeutung ist für Küng das Motto, das die Thematik der ersten UNESCO-Veranstaltung aufnimmt und das er oft wiederholt: „Kein Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen.“ Ein Vergleich der umfassenden Analysen von Fukuyama und Huntington mit dem erstgenannten kleinen Buch von Küng oder mit der genannten Erklärung zum Weltethos zeigt sogleich auch den ganz anderen Charakter der Ansätze. Das PW versteht sich nicht als hochdifferenziertes Analyseinstrument, sondern als Beginn eines konkreten Prozesses. Am Beginn stehen keine umfassende Theoriebildung, sondern programmatische Texte mit knapper Problembeschreibung der Weltsituation und einer Strukturierung gebotener Lösungswege. Diese sollen entsprechende Theoriebildungen und ein praktisches Handeln initiieren, die uns dem Weltfrieden näher bringen.

2. Epochenumbruch

Das PW reagiert auf eine Weltsituation, die sich seit den neunziger Jahren nicht geändert hat: Weltweite Bedrohung durch militärische Waffen, durch Hunger und Verarmung, durch Korruption und Manipulation sowie durch die Auflösung elementarer Formen des Zusammenhalts in Familien, zwischen den Geschlechtern und den Generationen. Diese Bedrohungskategorien sind nicht neu[4], aber der aktuelle Globalisierungsschub hat universale Züge angenommen, weil er von keinen räumlichen, kulturellen oder gesellschaftlichen Grenzen mehr begrenzt wird[5]. Auch heute sind Globalisierungsprozesse nicht einfach vom Übel, aber sie verschärfen und universalisieren eine ererbte, moralisch nie bewältigte Ambivalenz von Machtpolitik, kapitalistischem Wirtschaftsgebaren, der umfassenden Meinungslenkung sowie der Instrumentalisierung intimer Lebensverhältnisse. Hemmende und zur Vorsicht mahnende Gegenkräfte bleiben nicht aus[6], aber ihr hinreichender Erfolg mag füglich bezweifelt werden. Es gibt nahezu keine Kultur und keine Zivilisation, keine Ausbildung und keine Staatenpolitik, keine anspruchsvolle Zukunftsplanung mehr, die sich nicht im Umfeld der aktuellen ökonomischen und fiskalischen, medialen und politischen Globalisierungsprozesse vollzieht.

Dass in diesem Kontext die Zukunftsfrage interkulturell zu reflektieren und die neue Rolle der Religionen interreligiös zu beantwortet ist, bedarf keiner näheren Begründung. Deshalb muss die Menschheit in einer kulturüberschreitend gemeinsamen Weise auch die neuen Gefahren erkennen und durch die Schaffung eines neuen gemeinsamen moralischen Bewusstseins darauf reagieren. Um diesen weltethischen Kontext geht es, auf den man in verschiedener Weise antworten kann. Deshalb hat das PW hier nur exemplarische Bedeutung, weil es m. E. kein vergleichbar ausgearbeitetes Modell gibt.

3. Induktiv-empirischer Ansatz

Exemplarisch für eine weltethische Theorie- und Praxisbildung scheint mir auch dies zu sein: Das PW hat nicht den Ehrgeiz, eine neue Anthropologie oder einen bestimmten Begriff vom Wesen des Menschen zu entwickeln. Es versteht Universalität als empirisch wahrgenommenes und induktiv weitergeführtes Phänomen. Die Rede von der menschlichen Natur kommt also nicht als philosophisch reflektierte Kategorie in Betracht, sondern als Benennung von Eigenschaften, ohne die – empirisch gesehen – ein menschliches Leben nicht lebbar wäre. Was man vom PW lernen kann, das sind die Einbeziehung des Ziels in die Überlegungen, von denen das Projekt geleitet wird sowie die strategischen Entscheidungen, die zu diesem Ziel führen sollen. Kurz gesagt: Das PW führt zu einem interreligiösen Dialog (Ebene 1), der in einen säkular interkulturellen Dialog einmündet (Ebene 2) und sich auf rational sowie universal einsehbare Wertorientierungen verständigt (Ebene 3). Für eine widerspruchsfreie Grundlegung dieses Ziels ist die globale Geltung universaler Grundwerte mit deren pluraler Gestaltung innerhalb einzelner Kulturen und Religionen zu versöhnen. Wie also kann das PW im Rahmen seines Ansatzes begründen, dass den erarbeiteten Grundwerten (Gewaltfreiheit, soziale Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Gleichberechtigung) eine universale Geltung und zugleich eine plurale Realisierung zukommen kann? Bei der Beantwortung dieser Frage wird von der Goldenen Regel zu sprechen sein.

So gründet das PW weder auf einer abstrakt-philosophischen noch auf einer humanwissenschaftlichen Grundlagenerörterung. Sein Beginn ist induktiv-empirischer, sein Ziel (im weitesten Sinn des Wortes) politischer oder (wenn Sie so wollen) eschatologischer Art. Sein Feuer schlägt es aus der Konfrontation zwischen einerseits der drohenden militärischen, ökonomischen und sozialen Weltkatastrophe und andererseits dem erstrebten Weltfrieden für eine versöhnte Menschheit. Auslöser der Überlegungen ist die Sorge um den beispiellosen Niedergang einer sich selbst zerstörenden Menschheit. Mit ihr verknüpft sich die Frage nach globalen Grundorientierungen zur Abwendung der großen Gefahren, die der Zukunft der Menschheit drohen. Seine Plausibilität erhält die Fragestellung aus dem Bewusstsein eines Epochenumbruchs, der seit den neunziger Jahren bis in die Gegenwart hinein anhält. Eine allgemeine, mehrdimensionale Bedrohung geht mit einem Gefühl der Hilflosigkeit einher, das wir schon seit Jahrzehnten kennen[7]. Von hoher Dringlichkeit ist nicht nur die Frage, was zu tun ist, sondern auch die Frage, woher wir die Orientierung und die Kraft nehmen, um erkannte Ziele sachgemäß anzusteuern und durchzusetzen. Es geht also um die Benennung von Zielen und Ressourcen im Kontext einer ernüchternden Erkenntnis: Die westliche Wissenschaftspraxis, die sich in einer ungeheuren Komplexität von Detailfragen abarbeitet und sich darin erschöpft, hat es bis heute zu keinen tragfähigen Konsensen gebracht, vielleicht gar nicht bringen können.

II. Interreligiöser Dialog

1. Grundkonsens bezüglich verbindlicher Werte

Da die dichte ökonomische, fiskalische, technische und mediale Vernetzung der Welt dichte kulturelle Vernetzungen nach sich zieht, interessiert sich das PW von Anfang an für den interreligiösen Dialog, der immer in interkulturelle Dialoge verwoben ist.

Auch dabei geht das PW, wie ich sagte, einen phänomenologisch induktiven Weg, den es strategisch ordnet. Das bedeutet zunächst die Suche nach gemeinsamen Grundregeln für eine versöhnte Weltzukunft. Wird es möglich sein, den Weltreligionen einen Grundkonsens bezüglich „verbindender Werte, unverrückbarer Maßstäbe und persönlicher Grundhaltungen“ [Erklärung I] abzuringen? Können die Weltreligionen mit einer Stimme sprechen und wie weit reicht diese Übereinstimmung? Dass eine Antwort eine intensive Kenntnis der Religionen sowie das kontinuierliche Gespräch mit ihnen voraussetzt, war für H. Küng zu Beginn der neunziger Jahre selbstverständlich. Spätestens seit Beginn der achtziger Jahre hat er sich ausführlich mit ihnen beschäftigt[8]. Die Suche nach Antworten hätte sich inhaltlich und methodisch höchst kompliziert gestalten können, möglicherweise hätte das gegenseitige Einverständnis in einer so zentralen Frage versagen können. Aber zur großen Überraschung brachten die Vorarbeiten zur Versammlung von Chicago trotz intensiver Detailarbeit einen unerwarteten Durchbruch[9]: einen Konsens in vier Grundregeln oder Prinzipien, auf den sich die große Mehrheit der Teilnehmer des Parlaments einigen konnten[10].

2. Vier Weisungen

Im Kern bezieht sich dieser Konsens von Chicago auf vier „Prinzipien“, mit deren Analyse ich hier beginne. Sie lauten:

  • Gewaltlosigkeit und Ehrfurcht vor allem Leben,
  • Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung,
  • Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit,
  • Gleichberechtigung und Partnerschaft von Mann und Frau.

Was bedeutet und wie erklärt sich dieser Konsens? Er bedeutet zunächst, dass die Angehörigen der verschiedenen Religionen diese Prinzipien in ihren normativen Schriften wiederfinden konnten und dass sich diese Entdeckung seitdem bewährt hat; er ist seit 1993 vielfach dokumentiert und dargestellt[11]. In der biblischen Tradition finden sich die vier Prinzipien im Dekalog, der sie – im Kontext einer vormodernen und relativ undifferenzierten Gesellschaft – in Form von vier Verboten ausspricht: nicht töten, nicht stehlen, nicht lügen, kein Missbrauch der Sexualität. Natürlich erklärt sich dieser Konsens auch dadurch, dass er schon Teil seiner Übersetzung in die Gegenwart ist. Es lässt sich nicht etwa behaupten, dass die vier Prinzipien in allen Religionen denselben prominenten Stellenwert haben wie etwa in der biblischen Tradition oder dass alle zustimmenden Religionen ihnen bei sich zu Hause allerersten Vorrang einräumen; das ist wohl auch im Christentum nicht der Fall[12]. Aber heute gibt ein gemeinsames globales Bedrohungspotential den Religionen einen einheitlichen hermeneutischen Horizont vor. Dieser stellt sie in Fragen der globalen Situation nicht mehr gegeneinander, sondern zwingt sie nach Möglichkeit zu einer gemeinsamen Haltung, sofern sie für die ihnen gemeinsame Zukunft überhaupt Verantwortung übernehmen.

Das PW ist also kein Rundumprojekt der Religionen mit Totalanspruch, vielmehr bezieht es sich zunächst auf jene alle berührenden Weltprozesse, die eine globalisierte Form zeitgenössischen Zusammenlebens hervorbringt. Ich nenne etwa die wachsende Einbindung der Staaten in internationale Organisationen, eine weltweit vernetzte Macht- und Militärpolitik, eine weltweit vernetzte Weltwirtschaft und globale Fiskalsysteme, aber auch alle elementaren Formen menschlichen Handelns, die globale Auswirkungen haben[13]. Schließlich ist nicht zu vergessen: Dieser Prozess gemeinsamer Überlebensfragen steht erst am Anfang. Der empirisch induktive Charakter des PW versteht sich nicht im Sinne naturwissenschaftlicher Empirie auf fertige, ein für allemal erhärtete und verfügbare Ergebnisse, sondern sind auf die Zukunft ausgerichtet, also unmittelbar in aktuelle Prozesse verwoben. Deshalb haben sie sich – sozusagen täglich – neu zu bewähren und zu differenzieren. Für die konkrete Arbeit bilden sie eine solide Arbeitshypothese, die bis zum Erweis des Gegenteils das Denken und Handeln bestimmt. Sobald sich Gründe dafür zeigen, sind sie neu auszuformulieren, gegebenenfalls zu korrigieren. Die vier gefundenen Pfeiler eines ethisch verantworteten Handelns bleiben also in die hermeneutischen Prozesse ständiger Selbstinterpretation verwoben, weil wir die konkreten Auswirkungen eines Handelns nie voll abschätzen können.

Kommen wir zum interreligiösen Konsens zurück. Es geht um Partizipation an der Weltverantwortung. Über diesen Umweg hat das PW wichtige Rückwirkungen auf die Gestaltung und ein zeitbezogenes Selbstverständnis der Religionen, vieler Gemeinschaften innerhalb ihrer und individueller Lebensgeschichten, denn ethische Forderungen wie Lebensschutz, Gerechtigkeit, Fairness und Gleichberechtigung führen zu einer Relecture der religiösen Grundlagentexte, weil sie nicht teilbar sind. Dabei zu hoffen, dass sich das Selbstverständnis einer Religion kurzfristig verändern ließe, wäre jedoch naiv. Aber es kann sich in dem Maße ändern, als im Rahmen tiefgreifender kultureller Metamorphosen auch die Identität von Religionen einem steten Wandel ausgesetzt ist. Zunächst wird es sich wohl bei den Religionsangehörigen wandeln, die auf globaler Ebene agieren und bei der Lösung globaler Fragen mitarbeiten.

Diese Perspektive kann auch eine erste Antwort auf die oft gestellte Frage geben, ob die Erklärung von Chicago und das Konzept des PW nicht „westlich“ konzipiert sind[14]. In erster Linie, so meine persönliche Antwort, muss die Erklärung für alle am Prozess beteiligten Teilnehmer verständlich sein, gleich welche Religion sie geprägt hat. Sie müssen die Anliegen ihrer eigenen Religion wiedererkennen. In zweiter Linie sollte die Erklärung denjenigen Diskursen nahe kommen, die sich in den Prozessen globalen Handelns faktisch bewähren. Drittens ist Folgendes nicht zu vergessen: Die Angehörigen einer jeden Religion, die dieser weltethische Ansatz überzeugt, haben das Recht und die Pflicht, dessen zentrale Inhalte sowie deren Folgerungen in die Mentalität und die Sprache ihrer je eigenen Religion zu übersetzen und von deren Spiritualität her zu füllen. Die vorliegende Erklärung versteht sich als den ersten Anstoß für einen globalen Verstehensprozess, dessen umfassende Füllung noch aussteht.

3. Ethos

Die vier genannten „Prinzipien“ sind nicht theoretisch konstruiert, sondern als interreligiöser Konsens vorgefunden, deshalb ist auf die spezifische Bedeutung des Begriffs Ethos hinzuweisen. Schon in den ersten Interpretationen wird er vom Begriff der Ethik unterschieden. Weder will noch kann er die wissenschaftliche Erarbeitung oder Legitimation von globalen Verhaltensregeln ersetzen; dies wird immer die Aufgabe einer wissenschaftlich reflektierten Ethik bleiben, welcher Art sie auch immer sein mag. Der Akzent liegt vielmehr auf der Suche nach kulturell tief verankerten (und akzeptierten) Lebenserfahrungen, die in bestimmten Lebenshaltungen und Lebensregeln zum Ausdruck kommen. Ethos meint eine faktisch gelebte, eine grundsätzlich internalisierte Moral, die ihr angestammtes Zuhause hat[15]. Chicago spricht von „Werten, Maßstäben und Grundhaltungen“, die in einer Religion bzw. in deren Kultur allseitig erprobt, durch Jahrhunderte hin konkret ausgestaltet und in verschiedenste Intensitätsgrade ausgefächert wurden. In vorwissenschaftlicher Weise ausgedrückt: Ein Buddhist, ein Moslem oder ein Jainist geht mit anderen Menschen so oder anders um, für ihn bedeutet Wahrheit dies oder jenes. Wenn es um eine globale Weltordnung geht, sind ihm diese oder jene Regeln wichtig.

Man kann nicht oft genug darauf hinweisen, dass solche grundlegenden Antworten für die konkrete Gestaltung höchst variabel sind und sein müssen. Ich nenne hier nur vier Gesichtspunkte: (1) Zunächst werden solche Regeln eines bestimmten Ethos, so selbstlos sie auch klingen, immer im Rahmen der eigenen partikularen Probleme formuliert. Die Kritik der religiösen Androzentrik hat dies auf breiter Linie illustriert. Auf bestimmte Aspekte ist also erst hinzuweisen, bevor sie sich durchsetzen. (2) Ein geltendes Ethos bedeutet nicht, dass es nicht massiv verletzt werden kann; das Phänomen des „Sünders“ ist in allen Religionen zu Hause. Es kommt vielmehr darauf an, dass sich Angehörige einer Religion an den geltenden Maßstäben messen, gegebenenfalls auch kritisieren lassen. (3) Zunächst führt das Ethos einer Religion zu allgemeinen und gut lebbaren Standards. Innerhalb der Religionen bildet es aber auch höchst kreative Sonderformen und hochethische Gestalten aus; man denke an Formen des Mönchtums und an die Hochschätzung der Märtyrer. In unerwarteten, eventuell lebensbedrohlichen Situationen kann dieses Ethos zur Entlarvung des Inakzeptablen, zur bedingungslosen Ablehnung eines bestimmten Verhaltens führen. Es kann (in religiöser Terminologie ausgedrückt) zu prophetischen Zeichen und Antworten führen. (4) Ein Ethos im normativen Sinn des Wortes spiegelt, wenn es denn leben soll, den vitalen und ganzheitlichen Charakter einer Religion wider. Es geht den Rechtekatalogen (denken Sie an die modernen Menschenrechte), den Pflichtkatalogen (denken Sie an unsere alltäglichen Verpflichtungen), den Verboten (denken Sie an den Dekalog), aber auch den verinnerlichten Gesinnungen (denken Sie an die Hochschätzung von Tugenden) voraus. Zudem weist die Erklärung von Chicago auf den „Wandel des Bewusstseins“ und auf die „Umkehr der Herzen“ hin [Erklärung IV]. Dieses Ethos bereitet also auch auf Situationen vor, die unseren normalen Alltag überfordern und den unverrückbar kategorischen Charakter eines solchen Ethos zum Tragen bringen.

4. Dynamische Aspekte

Die vier genannten Prinzipien sind nicht in sich, sondern als Elemente und Ausfluss eines religiösen Ethos (genauer: als Ausfluss eines religiösen Ethos schlechthin) zu verstehen. Dies muss gesehen werden, will man den Weg in eine neue rigide, endgültig abgeschlossene Form religiöser Moralbildung vermeiden. Es geht um fundamentale Anweisungen, die in jeder neuen Wirklichkeitskonstellation von den einzelnen Religionen und innerhalb ihrer von einzelnen Menschen neu auszuschöpfen sind. Zur Konkretisierung der Regeln gehört notwendigerweise Pluralisierung, Anpassung an verschiedene Herausforderungen und Lebenssituationen. Auch dies wird im PW nicht als analytischer Akt, sondern als empirisch wahrnehmbarer Prozess begriffen, der sich immer neu darstellt und an den Wirklichkeitsänderungen einer Religion abzulesen ist.

Im Unterschied zu einer vergleichenden Religionsphänomenologie bzw. Religionsethik gibt das PW einigen dynamischen Aspekten ein besonderes Profil. Das ist die Erfahrung einer neuen Situation. Sie schafft keine neuen Regeln, aber verleiht den geltenden Regeln eine neue Geltung. Hinzu kommt die Erfahrung der Erschütterung und der Dringlichkeit. Wir können weder auf neue Konzepte noch auf bessere Zeiten warten; Handeln ist hier und jetzt angesagt. Schließlich geht es um die Erfahrung einer hohen Komplexität, die nur durch eine globale Perspektive, durch umfassende Kooperation und den Umgang mit komplementärem Handeln zu bewältigen ist. Dies alles erhöht nicht nur den Handlungsdruck. Es geht also nicht nur darum, dass wir bessere Christen, Juden oder Hindus werden, sondern es macht auch ein gemeinsames Handeln erforderlich. Dies schließt das gegenseitige Kennenlernen und Lernen ein. Nur unter diesen Bedingungen können die genannten Prinzipien zum Erfolg führen[16].

Schließlich mag auch schon aufgefallen sein, dass im PW einerseits mit Nachdruck von einem gelebten umfassenden Ethos, also einer ganzheitlichen Perspektive die Rede ist, dass andererseits die Aufmerksamkeit immer wieder auf vier Regeln gelenkt wird, die als vier spezifische Aspekte aus dem Gesamtverhalten der Religionen herausgelöst werden. Wie ist diese Diskrepanz zu verstehen? Wir lösen diesen Widerspruch nur auf, wenn wir die vier Regeln als ganzheitliche Werte entschlüsseln, die ihrerseits im Prinzip der Menschlichkeit begründet sind. Darauf komme ich später zurück.

5. Dialog zwischen den Religionen

Die Fragen nach einer gemeinsamen Zukunft führen als zu einer vielfach verschränkten Situation, die die Religionen nicht nur zur gegenseitigen Toleranz, sondern auch zu einer verständnisvollen Kooperation zwingt. Gegenseitige Annäherung kann sich also nicht in Einbahnstraßen erschöpfen, denn so sehr die Weltreligionen Erfahrungen – um des gegenseitigen Wissensgewinns willen – austauschen und voneinander lernen sollen, so sehr dürfen und müssen sie sich – um der gemeinsamen Zukunft willen – gegenseitig auf ihre Regeln, ihr Handeln und ihr Versagen ansprechen. Vermutlich gehört dies langfristig zu den heikelsten Aspekten des Projekts, denn bislang waren Religionen daran gewöhnt, dass sie ihre Situation selbst bestimmten, während wir dabei sind, die Anderen als Andere zu respektieren und uns ihnen mit Respekt zu nähern. Die anderen Religionen sind in eigenen Kulturräumen gewachsen, haben in ihnen höchste Kompetenz erworben. Zu Recht gehen sie in ihnen von ihrer kulturellen Definitionshoheit aus und halten an dieser eifersüchtig fest. Es wäre nicht korrekt, wenn sich die eine Religion aus formalen Erwägungen über die andere erheben würde. Umgekehrt können wir von keiner Religion erwarten, dass sie sich einer anderen Religion mit dem Argument unterordnen müsse, diese andere habe ein besseres Ethos. Wenn es Überlegenheitsansprüche gibt, dann sind sie aus Sachgründen auszudiskutieren.

Die einzige Weise der Begegnung lautet deshalb Dialog. Er hat von der Tatsache auszugehen, dass wir politische und kulturell in globale Handlungsraumsräume eingetreten sind, in denen sich jede Definitionshoheit relativiert. Der hier angezielte Dialog hat sich also nicht mit der Identität einer jeden Religion auseinanderzusetzen. Es geht um die Fragen, die uns gemeinsam berühren und in denen wir voneinander abhängen. Das PW kann nur als institutionalisierter Dauerdialog, als Katalysator eines solchen Dauerdialogs zwischen den Religionen zu Fragen der gemeinsamen Zukunft funktionieren. Dies gilt insbesondere für das PW als solches. Nichts wäre kontraproduktiver, als wenn sich eine Institution selbst als der große Korrektor der Religionen präsentieren würde. Zu Recht riefe es damit einen Widerstand hervor, der seinen Zielen nur schaden würde[17]. Nein, das PW kann seine Aufgabe nur als Katalysator des Gesprächs und eines wachsenden Problembewusstseins erfüllen, das sich – unabhängig von den Religionen selbst – auf die Weltsituation bezieht. Aber gehen wir einen Schritt weiter.

III. Interkultureller Dialog

Das PW ist auf Orientierungssuche für die Zukunft einer versöhnten Menschheit angesichts einer globalisierten Welt. Zwar beginnt es seinen Weg im Dialog der Weltreligionen, die es als die großen moralischen Agenturen für die Zukunftsgestaltung betrachtet. Deshalb haben die Weltreligionen keinen Dialog um ihrer selbst, sondern um der genannten Potentiale willen zu führen. In einer sich globalisierenden Welt ist die allgegenwärtige Problematik religiöser Selbstanpreisung und Nabelschau endlich zu durchbrechen. Neu am PW ist, dass es die Religionen für ein durch und durch weltliches Ziel in Anspruch nimmt. Das verlangt eine genauere Klärung. Erschöpfen sich die Weltreligionen jeweils in ihrem Innenleben, das ihren Anhängen Heil, Erlösung, Antworten auf ihre großen Fragen verspricht, oder haben sie in ihren langen Geschichten, Erfolgen und Paradigmenwechseln nur vergessen, dass sie ursprünglich alle auf durch und durch weltliche Probleme bezogen waren? Geht es also nur darum, dass die Weltreligionen in säkularisierten Kontexten ihr Verhältnis zur Welt neu justieren, also ein Selbstverhältnis finden, das ihrem Weltverhältnis zugute kommt? Wie hängen Religionen und Welt zusammen?[18]

1 Religion als kulturelle „Sinnform“ (Luhmann)

Der neuzeitliche Religionsbegriff hat zu weitreichenden Missverständnissen geführt, denn er betrachtet Religionen als primär geschlossene, in sich funktionierende Systeme. In der Regel werden sie als Sinnsysteme verstanden, die sinnlichen Grenz- und Kontingenzerfahrungen transzendente Bezüge zuschreiben und ansonsten die Welt sich selbst überlassen. Dagegen hat N. Luhmann Religion als eine bestimmte „Sinnform“ definiert, deren zentraler Code die Wirklichkeit in die Kategorien der Transzendenz und Immanenz einordnet[19]. Damit bekommt Religion einen ganz anderen Akzent. Sie formt (formuliert und praktiziert) eine Differenzerfahrung, deren andere Seite das ganz Andere, die uns nicht mehr verfügbare Transzendenz ist. Ich gehe auf die verschiedenen Unbekannten dieser Definition nicht im Einzelnen ein. In unserem Zusammenhang scheint mir wichtig, dass sich Religion gerade nicht auf bestimmte Entitäten konzentriert (und sich dadurch vorrangig für das Jenseits zuständig erklärt). Sie konzentriert sich vielmehr auf den Umgang mit der ganzen Wirklichkeit, dies vom Standpunkt einer bestimmten Sinngebung aus, die die Wirklichkeit nicht mehr in ihrer Existenz (so die klassische Religionskritik), sondern in ihrer Bedeutung verdoppelt.

Bislang hat das PW keinen Versuch unternommen, Religion selbst zu definieren. Aber die selbstverständliche Art und Weise, mit der sie Übergänge und Interaktionen zwischen Religion und Religion, zwischen Religion und „Welt“ voraussetzt und bespricht, erlaubt wenigstens als Hypothese die Folgerung: Das PW betrachtet Religion als ein kulturell fassbares Phänomen, das der gesamten Wirklichkeit von einer bestimmten Sinnperspektive her eine theorie- und praxisbezogene Deutung gibt. Sie bearbeitet die aporetischen Fragen von Menschen und ihrer Kultur. Zu Jahrhunderte lang gewachsenen, ausgereiften und kulturell wirksamen Religionen gehören im Blick auf die Gegenwart m.E. vier Eckpunkte: (1) Religionen sind in ihren Kulturen verankert, also ein Teil von ihnen; ohne diese Verankerung könnten sie nicht existieren. (2) Religionen verleihen diesen Kulturen in deren Aporien eine wirksame Differenzerfahrung, in der sich das Heilige und Unverrückbare nicht mehr als Gegenstand, sondern als unverfügbarer Sinnkern äußert. (3) Religionen, so meine Folgerung, erweisen sich dadurch als wirklich und effektiv, dass sie in und gegenüber diesen Aporien eine wirksame Sinn- und Identitätserfahrung schaffen. Sie kommen nur zu sich in Weltlichkeit, d.h. der Auseinandersetzung mit ihrer Kultur. (4) In einer Welt mit intensiven, global sich ausbreitenden Globalisierungseffekten[20] erweisen sich Religionen dadurch als wirklich, dass sie die neuen Aporien einer in ihrem Überleben bedrohten Welt wirksam bearbeiten.

2. Streng auf Kultur und Welt bezogen

Nun stehen Religionen immer in Gefahr, sich mit sich selbst zu beschäftigen, also in eine ineffektive Nabelschau zu versinken, denn ihnen fehlt ein wirklich verfügbares Objekt; sie nehmen ihr Objekt  immer und notwendig als Geheimnis wahr. Dies zeigt sich besonders in differenzierten Gesellschaften, die ihre Teilsektoren in Eigengesetzlichkeiten entlassen und ihre gemeinsame Aporie verdrängen. Sie tun sich mit der fundamentalen Entlarvungs- und Entdeckungsarbeit schwer, wofür ihnen früher Jahrhunderte blieben. Deshalb ist es für sie lebenswichtig, dass sie ihre Sinnarbeit in den neu zu formulierenden Lebens- und Überlebensproblemen ihrer Kulturen, Gesellschaften und Individuen entdecken.

In einer Epoche wachsender Globalisierung kommt ein entscheidender (und die Religionen irritierender) Gesichtspunkt hinzu: Bislang geschlossene Denk-, Handlungs- und Lebensräume einzelner Kulturen werden aufgebrochen und auf ein gemeinsames kultur- und religionsübergreifendes Problem bezogen. Daraus ergibt sich für die Religionen – gemäß den neuen interkulturellen Anforderungen – die Notwendigkeit, einen gemeinsamen Gesprächs- und Handlungsraum zu entwickeln. Natürlich schließt er einen interreligiösen Dialog im engeren Sinn ein, aber letztlich zielt er auf eine fruchtbare Begegnung von ganzen Kulturen und umfassenden Lebensräumen, gleich ob sie sich religiös oder säkular definieren. Dies ist eine Bewusstseinsfrage, die für die Religionen nur eine sekundäre Rolle zu spielen hat. Diese Kulturen und Lebensräume müssen einen neuen gemeinsamen Simulationsraum zur Lösung ihrer Probleme, zur Vorwegnahme ihrer Gefährdungen, zum Experiment neuer Denk- und Lebensstile schaffen. Darauf will das PW hinweisen.

3. Kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden

Wer diese „Welt“ (hier als polarer Gegenbegriff zu Religion verstanden) in das Religionsgespräch einbezieht, sie mit deren Erwartungen und Bedürfnissen konfrontiert, relativiert die Religionen nicht, sondern praktiziert ihnen gegenüber höchstes Vertrauen. Er macht damit ernst, dass sie selbst ein Stück Welt sind und diese Polarität nicht einfach nach außen projizieren können. Er anerkennt, dass sich in ihren Religionen die Kulturen selbst immer schon ihren ernstesten Ausdruck geschaffen haben. Hans Küng hat deshalb programmatisch, wie wir sahen, den Frieden zwischen den Religionen zur Bedingung eines Weltfriedens erklärt; die Religionen können, wenn sie nur authentisch handeln, als Repräsentanten und Interpreten ihrer Kulturen auftreten. Für die oben genannten Prinzipien heißt das: So sehr die Religionen die Prinzipien von Lebensschutz, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Gleichberechtigung auch tragen und propagieren, so sehr diese Prinzipien auch in den Religionen unverrückbar festgelegt und von einer transzendenten Instanz her begründet sind, es sind und bleiben doch durch und durch weltliche und in der Welt zu realisierende Werte, Maßstäbe und Grundhaltungen. Deshalb ist der interreligiöse Dialog über eine menschenwürdige und zukunftsfähige Gestalt der Menschheit, über die Überwindung von Gewalt und ungerechten Strukturen nur wirksam zu führen, wenn er als weltlicher und weltbezogener Dialog darüber gestaltet wird. Formell kann er deshalb nicht auf eine Programmatik göttlicher Gebote ausweichen, sondern muss mit den Mitteln menschlicher Rationalität geführt werden. Der interreligiöse Dialog muss sich also bewähren, indem er interkulturelle Dialoge initiiert, inspiriert und gegebenenfalls selbst führt. Er muss (um auf Luhmann zurückzukommen) zeigen können, was die bedachte Differenz zwischen Immanenz und Transzendenz zur Gestaltung einer durch Selbstzerstörung bedrohten Welt beiträgt.

Deshalb hat das PW von Anfang an weltbezogene Diskurse ausgebildet und solche initiiert. Neben den religionstheoretischen Diskursen und den Diskursen zu einer interkulturellen Ethik sind Diskurse zu Fragen der Wirtschaftsethik, der Rechtswissenschaft, der Politik (insbesondere der Friedenspolitik), der Erziehungswissenschaft und Pädagogik ausgebildet worden. Dabei werden zwischen religiösen und nicht-religiösen Diskursen keine differentiellen Akzente gesetzt; es geht um Akzente intellektueller und praktischer Kooperation. Ziel ist keine theologische Arbeit im engeren Sinn des Wortes, sondern eine interdisziplinäre Arbeit mit angemessener – auch hier dialogischer – Rollenverteilung. Gegenstand bleibt das durchaus weltliche Ziel einer befriedeten Menschheit. Dass dies eines der zentralen Anliegen von Religion sein kann und sein muss, lässt sich zumal aus der biblisch messianischen Tradition leicht aufzeigen.

4. Goldene Regel – Regel der Humanität

Im Blickpunkt des PW steht also die konstitutive Weltbezogenheit der Religionen, deren intensive Symbiose mit ihren Kulturen[21]. Dieser Aspekt wird durch die global interkulturelle Perspektive intensiviert. Über die genannten vier Prinzipien hinaus legt sich deshalb die Frage nahe: Lässt sich das Gesamt der genannten Prinzipien an einer ethisch relevanten Leitlinie ausrichten und könnte diese als Kriterium für den Fall dienen, dass diese Prinzipien im interkulturellen Dialog unterschiedlich interpretiert werden? Hier ist endlich jene eine zutiefst säkulare „Grundforderung“ zu nennen, die – jedenfalls im ethischen Diskurs der westlichen Kulturen – bis heute ihre religiösen Wurzeln erkennen lässt und ohne die eine Weltreligion nicht zu denken ist[22]. Gemeint ist – säkular ausgedrückt – das Grundprinzip der Humanität, mit den Worten umschrieben: „Jeder Mensch muss menschlich behandelt werden.“ [Erklärung] Natürlich wird auch diese Regel in den einzelnen Religionen unterschiedlich, teils verdeckt, teils offen formuliert. Doch ist sie im interreligiösen Austausch und unter dem Problemdruck der Gegenwart als ein und dieselbe Forderung erkennbar. Unbestritten geht es auch hier um eine gemeinsame, von keiner Religion bestrittene, wenn auch oft missachtete Überzeugung, dass das Wohl des Anderen in dem Sinn zu achten sie, als ich das eigene achte[23].

Dem Leser der Erklärung von Chicago (II) mag auffallen, wie intensiv sich diese bei dieser grundlegenden Humanitätsforderung aufhält. Dabei interessiert weniger die inhaltliche Explikation, sondern deren Tragweite für die Religionen. Die Erklärung soll keine Unterschiede verwischen, aber „öffentlich … proklamieren, was uns bereits jetzt gemeinsam ist“. Religionen, so die Erklärung, können keine ökologischen, wirtschaftlichen, politischen oder sozialen Probleme lösen. Sie können aber etwas erreichen, was offizielle Regelungen offensichtlich nicht erreichen können, nämlich „die innere Einstellung, die ganze Mentalität, eben das ‚Herz’ des Menschen zu verändern und ihn zu einer ‚Umkehr’ von einem falschen Weg zu einer neuen Lebenseinstellung zu bewegen. Die Menschheit bedarf der sozialen und ökologischen Reformen, gewiss, aber nicht weniger bedarf sie der spirituellen Erneuerung.“ Im folgenden Satz ist von spirituellen Kräften, von Grundvertrauen und einem Sinnhorizont, von letzten Maßstäben und einer geistigen Heimat die Rede. Das letzte Kapitel der Erklärung greift diese Tonlage unter dem Titel „Wandel des Bewusstseins“ noch einmal auf. Kurz gesagt: Gerade die säkularste der entfalteten Regeln wird mit hoher Intensität auf die innerste, analytisch nicht mehr erreichbare Motivation des menschlichen Verhaltens bezogen, die nur noch in religiöser Terminologie angesprochen wird. Hier liegt m. E. die angestrebte Spannungsbreite des PW offen zutage. Hier zeigt sich auch, dass selbst die vier genannten Prinzipien nicht als sich selbst regelnde Normen betrachtet, sondern in den umfassenden Sinnhorizont humanen Handelns und einer humanen Haltung integriert werden. So gesehen entlarvt die Humanitätsregel mögliche Missbräuche etwa der Gerechtigkeits- oder Wahrheitsforderung ebenso wie sie hilft, gegen indirekte oder implizite Rückfälle auf jede Form von Klassendenken, Rassismus, Nationalismus, Sexismus, Naturausbeutung oder Klimaverschmutzung einzuschreiten[24].

Keine Grundregel verklammert Religion und weltliches Verhalten also intensiver als diese Grundforderung, die sich in allen Religionen als „Goldene Regel“ identifizieren lässt. Im christlichen Kulturkreis ist sie vor allem in ihrer negativen Wendung bekannt: „Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg auch keinem anderen zu.“ Oder positiv formuliert: „Was du willst, dass man dir tut, das tue auch den Anderen.“ In der ethischen Reflexion ist der Stellenwert dieser Maxime nicht unumstritten. P. Ricoeur etwa zieht ihr den kategorischen Imperativ Kants eindeutig vor[25]. Für die Ebene der distanzierenden Reflexion und im Rahmen hoch differenzierter Gesellschaftsformen mag man diese These unterstützen. Sie ist für unsere Überlegungen aber sekundär, denn das PW streitet diesem Ansatz seine Legitimität nicht ab. Unverzichtbar scheint mir die Goldene Regel aber als eine elementare, zugleich performative Aussage sowie unter der Voraussetzung, dass sie nicht auf den Kontext einer bürgerlich domestizierten Existenz abgedrängt wird. Faktisch ist sie für diejenigen Kulturen, in denen die Weltreligionen zu Hause sind, von ungeheurer Bedeutung. Sie kommt – einen explizit religiösen Sinnhorizont einmal vorausgesetzt – dem Gebot der Nächstenliebe gleich.

Gelegentlich führt die Frage, ob das „Humanum“ als religiöse, speziell als christliche Grundregel menschlichen Verhaltens akzeptabel ist, zu intensiven Diskussionen[26]. Auf den komplexen Sachverhalt ist hier nicht einzugehen. Schon 1974 hat H. Küng etwas auf Grund einer exegetisch begründeten und systematisch reflektierten Rekonstruktion der christologischen Frage Christsein als radikales Menschsein dargestellt[27]. Für das PW ist das Humanum das unverzichtbare Schlüsselkriterium aller weiteren Gesprächsprofile, Gestaltungsvorschläge und Zielvorgaben. Zur Klärung mögen noch einige Hinweise dienen.

(1) Natürlich beansprucht dieses „Humanum“ nicht, alle anthropologischen und ethischen Probleme zu lösen, die in ethischen und anthropologischen Diskursen wohl bekannt und anerkannt sind. Menschlichkeit und Humanität sind weder apriorische noch analytische Definitionen, sondern elementare, immer auch kontextabhängige Erfahrungsbegriffe. Deshalb hat auch das PW streng darauf zu achten, dass diese Begriffe nicht ideologisch oder zu Zirkelschlüssen missbraucht werden, deren Ergebnis das von Anfang an Gewünschte ist. Aus gutem Grund bringt die Erklärung von Chicago immer wieder die Opfer von Hass und Gewalt, von Folter und Diktatur ins Spiel. Es spricht von den Hungernden, den Brot- und Arbeitslosen, den Opfern eines ungezügelten Kapitalismus. Genannt werden Manipulation und Fanatismus, Hass und Glaubenskriege. Gegeißelt werden sexuelle Ausbeutung und Entwürdigung. An solchen Erscheinungen hat sich Menschlichkeit zu messen.

(2) Dieses „Humanum“ wäre auch missverstanden, würde es die hochethischen Ansprüche nivellieren oder ersetzen, die sich in den Hochreligionen herausgebildet haben und weiterhin ihr Daseinsrecht verdienen. Nicht ohne Grund kennt die christliche Moraltheologie die Diskussion über hochethische Herausforderungen, die man aus allgemeiner Perspektive als Überforderung begreifen kann. Die Situationen außerordentlichen Handelns (der Opferbereitschaft, der absoluten Gewaltlosigkeit, der Vergebung, der Regeln des Bergpredigt) dürfen nicht aus dem Blick geraten. Es sind Konkretisierungen des Humanum in außerordentlichen Situation und als solche unverzichtbare Zeichen für den inneren Grund allen humanen Verhaltens. Aus diesem Grund ist das Humanum aus der Perspektive der Religionen nicht zu entlassen.

IV. Universale Werte?

Hiermit sind die Voraussetzungen für die entscheidende Frage dieses Referates geschaffen: Kann ein Weltethos, exemplarisch in den vorgetragenen Konturen beschrieben, als Werteorientierung für Kulturen gelten und was ist daraus für ein universales Naturverständnis zu folgern? Der Begriff der Werte[28] bedürfte einer umfassenden Klärung. Hier sind nur einige stichwortartige Hinweise möglich.

1. Werte

Werte und Normen: Einer ersten Klärung dient die Unterscheidung zwischen Werten und Normen. Normen sind messbare Verhaltensregeln, auf das Richtige bedacht, nicht auf ethische Fragen beschränkt, formal als Gebot, Gesetz oder Regel von außen auferlegt und im Kontext eines Gehorsamsverhältnisses zu befolgen. Damit muss kein autoritäres Verhältnis gemeint sein, wohl aber ein Verhältnis der Unterordnung, wie begründet es auch immer sein, auf welche konsensuellen Wurzeln zurückgehen und an die Freiheit appellieren mag. Werte dagegen sind schwieriger zu definieren. Auf das menschliche Individual- und Zusammenleben bezogen erscheint als wertvoll alles, was für die Existenz eines Menschen, einer Gemeinschaft oder Gesellschaft eine positive oder förderliche Bedeutung hat, also als gut wahrgenommen wird[29]. Auch hier ist vor einer vorschnellen Verengung des Begriffs zu warnen. Immerhin spielt der Begriff des Wertes gerade in der Finanz- und Konsumwelt eine wichtige Rolle. Genau besehen sind Werte, um die sich niemand kümmert, keine Werte, allenfalls Alibigrößen, Wertprojektionen oder gewesene Werte, museale Erinnerungen. Entscheidend ist für den Wertbegriff immer die subjektive und aktuell vollzogene Komponente, gleich ob sie sich auf eine faktische Entscheidung, einen Wunsch, ein Bedürfnis oder auf eine als sinnvoll oder wichtig akzeptierte Notwendigkeit bezieht.

Elementare Bedeutung: Im ethischen Bereich versteht man unter Werten diejenigen Ziele, Standards oder Grundsätze, an denen sich eine Gesellschaft, eine Menschengruppe oder ein Individuum faktisch ausrichtet oder ausrichten will. Es geht also um eine elementare Faktizität, die von keinen Normen abhängt, in vielen Fällen jedoch Normen zugrunde liegt, die ihrerseits Werte schützen oder durchsetzen sollen. So gesehen gehen Werte den Normen voraus, da sie zunächst in subjektiven Entscheidungen begründet sind. Sie existieren also nicht in sich, sondern sind Beziehungsgrößen. Wir entscheiden uns für Verhaltensweisen oder Haltungen, die wir als nützlich, sinnvoll oder als gut erkennen.

Doch bevor wir uns den Vorwurf des Subjektivismus einhandeln, ist genauer hinzusehen. In der Regel entscheiden wird uns für Eigenschaften, Verhaltensweisen oder Ziele, weil wir in ihnen selbst etwas Sinnvolles erkennen. Die Entstehung eines Wertes setzt im Selbstverständnis der Betroffenen etwas voraus, das sie für sich selbst und/oder für Andere als sinnvoll erkennen, zumindest als solches zu erkennen meinen[30]. Daraus erklärt sich, dass wir die von uns akzeptierten Werte in der Regel als eine objektive, weil eine vorgegebene und in der Sache selbst begründete Größe erfahren und geneigt sind, die Werte anderer als Ergebnis willkürlicher Entscheidung zu verstehen. Werte entstehen also in einem fundamentalen hermeneutischen Prozess, der – vorgängig zur Unterscheidung zwischen einer subjektiven und einer objektiven Ebene – subjektive Präferenz und objektive Erkenntnis in gegenseitigen Einklang bringt[31]. In diesem elementaren Sinn sind Werte immer hermeneutische Größen, die es nicht an sich gibt und die nie an sich zur Sprache kommen, sondern die in Mensch und Gesellschaft wirken. Deshalb ist die Rede von „den Werten“ immer klärungsbedürftig[32].

Situationsbezogen: Ferner ist der Begriff des Wertes wegen seines elementaren Charakters ein eminent kontextueller und situationsbezogener Begriff, so vielfältig wie die elementare Welt der provozierten Reaktionen, der darauf folgenden Reflexionen und der thematisch geordneten Erfahrungen. Die differentiellen Ebenen der Werteerfahrungen lassen sich geradezu beliebig vervielfältigen. Sie unterscheiden sich nach kulturellen und sozialen, nach geschlechtlichen und nach Altersgründen; sie pluralisieren sich nach biographischen und charakterlichen, nach religiösen und vitalen Gesichtspunkten. Jede Familie und jede Partnerschaft, jede Kommune und jede Region, jedes Alter und eine jede Generation entwickelt ihre eigenen Werte, kann sie abstoßen und ändern. Gerade in den interkulturellen Diskursen der vergangenen Jahrzehnten hat sich das Gespür für diese elementare Vielfalt stark geschärft. Der Wertepluralismus ist also zu respektieren. Anders gesagt. Auch keine noch so scharfsinnige Wertereflexion darf diese Vielfalt relativieren und in einen apriorisch vorgelegten Wertemonismus hineinzwingen[33].

Plural: Deshalb ist die Behandlung von Werten nie voraussetzungslos, sondern nur in jeweils abstrakter Eingrenzung möglich. Im Rahmen thematisch bestimmter Diskurse tritt der Wertebegriff immer in hermeneutisch unterschiedliche Bezugsrahmen ein. Es ist also ein Unterschied, ob ich von den Werten meiner Partnerschaft oder meines Berufslebens, den Werten Europas oder eines freiheitlichen Rechtsstaats, den Werten meiner deutschen Staatsbürgerschaft oder von den notwendigerweise generalisierten Werten spreche, die ein friedvolles, gar globales Zusammenleben ermöglichen[34]. Selbst im letzten Falle drängen sich kulturell unterschiedliche Modalitäten mit Nachdruck auf. So lässt etwa das Tötungsverbot je nach Kulturen ebenso verschiedene Ausnahmen zu wie seine Begründung sich auf verschiedene Argumente stützt. Wenn wir in unserem Zusammenhang also von Werteorientierungen sprechen, dann –zunächst! – nur von den Werteorientierungen, in denen sich verschiedene Kulturen im Blick auf eine friedvoll versöhnbare Menschheit treffen können. Diese einschränkende Voraussetzung gilt es vor dem Hintergrund einer globalen Fragestellung im Auge zu behalten.

2. Vier Weisungen als Werte

Unter dieser Voraussetzung kehren wir zur Erklärung von Chicago zurück. Exemplarisch wird in ihr das Bemühen deutlich, die dort beschriebenen vier Standards („Werte, Maßstäbe, Grundhaltungen“) nicht als faktische, von Gott gegebene Normen zu präsentieren, sondern sie in ihrer inneren Legitimation als sinnvolle Werte so zu begründen, wie es die verschiedenen Religionen in verschiedener Intensität tun. Bei der Besprechung der vier Regeln finden sich in logisch streng durchgeführter, also bewusst vollzogener Parallelität folgende Schritte:

(a) Die negativ formulierte Regel wird in eine positive überführt.
(b) Sie wird mit gesellschaftlichen Problemen von globalem Ausmaß konfrontiert; so erweisen sich die Regeln als sinnvoll und für das Überleben als unverzichtbar.
(c) Die Regel wird auf umfassendere Dimensionen des Zusammenlebens und der Welt ausgeweitet.
(d) Verwiesen wird auf die omnipräsente Grundlagenbedeutung der genannten Regeln.

Die Folgerung aus (d) ist eindeutig: Letztlich geht es nicht um isolierte und isolierbare Regeln, die auf Einzelfälle anwendbar und in konkrete Normen umzumünzen sind, sondern – wie die Erklärung formuliert – um eine Kultur der Gewaltlosigkeit, der Solidarität, der Toleranz und der Gleichberechtigung. Gemeint ist eine gesellschaftlich wirksame Grundhaltung, die sich stetig auf die Gestaltung des Lebens und des Zusammenlebens auswirkt. Sofern eine Kultur immer von faktisch akzeptierten Werten lebt (sonst wäre sie keine lebendige Kultur), schließt sie die genannten „Maßstäbe und Grundhaltungen“ immer als tragende Elemente ein.

Diese Maßstäbe gehen also allen äußeren, rechtlich einklagbaren Regeln und Verpflichtungen voraus. Sie funktionieren nur dann und sie können nur dann eine kreative Dynamik entfalten, wenn sie von innen her akzeptiert werden und wenn man ihre Legitimität im konkreten, jeweils unterschiedlichen Zwischenspiel von Akzeptanz und Forderung erkennt. Deshalb weist die Erklärung auch daraufhin, dass diese Regeln in den verschiedenen Kulturen bzw. Religionen verschiedene Realisierungen erfordern (IV.3) und dass sie innerhalb derselben Gesellschaft je nach Berufs- und Aufgabengruppe zu verschiedenen Standesregeln u. ä. führen können (IV,2). Bei diesen vier als Werte analysierten Maßstäben geht es also nicht um abschließende Verhaltensregeln, sondern um eine je vergleichbare Dimension, die sich in der Vielzahl konkreter Werte durchhält. Man könnte deshalb von abstrakten oder abstrahierten Grundwerten sprechen, die mehrheitlich auch mit abstrakten Begriffen umschrieben werden (Lebensrespekt, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Gleichberechtigung). Diese abstrakten oder generalisierten Werthaltungen verwirklichen sich nur in höchst verschiedenen und als verschieden erfahrenen konkreten, auf konkretes Handeln bezogenen Werten und Wertungen. Zwar führen verschiedene generalisierende Diskurse – etwa der religiöse, der philosophisch ethische, der juristische oder der historische – dazu, dass die vier Grundwerte als solche herausgearbeitet, besprochen, propagiert, möglicherweise sogar erfahren werden. Aber für das vorreflexe Bewusstsein des Alltags muss das nicht der Fall sein. Es genügt, wenn sie in konkreten „Kultur“ gewordenen Codes präsent sind. Deshalb hängt die Beantwortung des Pluralitätsproblems von der gewählten Perspektive ab.

3. Goldene Regel als Leitprinzip

Aus systematischer Perspektive führt dieser komplexe Zusammenhang zu einer weiteren Differenzierung. Wie wir aus Erfahrung wissen, sind die in den vier Prinzipien beheimateten Werte sehr verletzlich. Sie können missverstanden oder missbraucht, geradezu in ihr Gegenteil verdreht werden, so wenn im Namen des Rechts höchste Ungerechtigkeit geschieht, im Namen der Wahrheit gelogen, im Namen der Menschheit Völkermord legitimiert wird. Wie etwa ist das Gebot „Du sollst nicht stehlen!“ anzuwenden? Wann fängt der Diebstahl an und wann hört er auf? Erlaubt er Mundraub und wo sind die Grenzen der ungleichen Güterverteilung in einer Gesellschaft festzusetzen? Wie vertragen sich Gerechtigkeit und Gleichheit im Weltmaßstab mit dem Leistungsprinzip und dem Problem verschiedener Bedürfnisse? Brauchen wir nicht ein fundamentales und unhintergehbares Leitprinzip, das eine richtige Auslegung dieser Regeln ihrerseits regelt?

An diesem Punkt setzt die Funktion der Goldenen Regel ein. Das PW versteht sie nicht als ein weiteres, besonders allgemeines Prinzip, das zu den vier Prinzipien hinzukommt oder aus ihnen abgeleitet wird. Die Goldene Regel wirkt als das qualitativ unterschiedene Leitprinzip aller weiteren Regeln. Sie sagt ja nicht, wie eine bestimmte Problemdimension menschlichen Lebens konkret zu regeln ist, sondern bietet eine formale Verhältnisbestimmung zwischen Täter und Betroffenem, indem sie die Rolle der beiden in einer fiktiven Operation vertauscht. So steuert und justiert sie die konkrete Anwendung der vier genannten Standards. Sachbezüge werden durch die vertauschten Personalbezüge beurteilbar, kritisierbar und korrigierbar. Gegebenenfall macht die Goldene Regel die Anwendungen so flexibel, dass die vier Prinzipien gefahrlos auch historische und kulturelle Brücken überschreiten können.

Die Goldene Regel ist zudem das Prinzip, das den Geltungsbereich eines als religiös vorgetragenen Prinzips von innern her überschreitet. Denn bei aller religiösen Sanktion, die der Goldenen Regel anhaftet, bezieht sie sich auf den säkularen Zusammenhang, der mit dem Begriff der Humanität gemeint ist. Formal zielt Humanität auf keine Sachverhältnisse (Tötung, Armut, Belügen oder Sexualität), sondern trifft das Ich von Personen, die alle Sachdimensionen in ihrer Subjektivität integrieren. Es ist schließlich die Goldene Regel, die über den Innenweg der Selbsterfahrung an die Vernunft appelliert. Sie entdeckt das Grundprinzip menschlicher Gemeinschaft als Prinzip der zwischenmenschlichen Gegenseitigkeit und der gegenseitigen Zuerkennung von Würde. Niemand will ja in einer Gemeinschaft leben, in der er seines Lebens nicht sicher ist, die ihm die Deckung seiner elementaren Lebensbedürfnisse verweigert, ihn an der Wahrheit der Welt nicht partizipieren lässt und ihm seine Angewiesenheit auf Treue und Solidarität versagt.

Unter der Richtschnur der Goldenen Regel repräsentieren die genannten vier Standards also Wertsetzungen, die ihrem Vermögen und ihrem Anspruch nach universal sind. Denn die Goldene Regel bildet die Garantie dafür, dass ein jeder Mensch – unabhängig von Kultur und anderen Kontexten – die vier genannten und andere Prinzipien aus Überzeugung annehmen kann; unter der Vormundschaft der Goldenen Regel garantieren sie ein menschenwürdiges Menschsein. Die Geltung der Regeln in den uns bekannten Weltreligionen bestätigen ihre universale kulturelle Geltung in hohem Maße. Den Normcharakter der Goldenen Regel verstehe ich als Ausdruck menschlicher Universalität schlechthin, denn unter ihrer Ägide spielt nur noch das jeweilige Menschsein als solches die entscheidende Rolle; die Universalität hat keinen deskriptiven, sondern einen prozessualen Charakter[35]. Sie gilt als „Wert“ im hermeneutischen Zusammenhang des Menschseins überhaupt.

V. Ein universales Naturverständnis?

Die Themenstellung mit ihren „Folgerungen für ein universales Naturverständnis“ impliziert die Erwartung, dass es sinnvoll sei, von einem „universalen Naturverständnis“ zu sprechen. Wie ist dieses Naturverständnis näher zu beschreiben?.

Auf den ersten Blick führen Erwartung und Frage zu einer zwiespältigen Reaktion: Die erste Reaktion neigt zur vorbehaltlosen Bejahung eines universalen Naturverständnisses, denn unter seiner Voraussetzung ließen sich für ein Weltethos ohne weitere Komplikationen Folgerungen ziehen. Für ein die gesamte Menschheit (wenigstens in ihren gemeinsamen Fragen) umfassendes Ethos bestünde in der allen gemeinsamen Menschennatur eine gemeinsame Ansprechbasis. Geben wir diese verlockende Idee also nicht zu schnell auf.

Auf den zweiten Blick aber weckt diese universale Naturidee Widerstände, denn das PW will die Weltreligionen, deren Kulturen sowie andere nichtreligiöse Sinnsysteme gerade nicht über einen Leisten schlagen. Es geht ja darum, dass die Menschen in ihrer vielfältigsten Verschiedenheit angesprochen werden. Was also meint menschliche Natur und wie ist mit dieser Ambivalenz umzugehen? Zunächst hierzu fünf grundsätzliche Bemerkungen

1. Pragmatischer Zugang:

Erstens: Wenn das Unternehmen Weltethos einseitige Dominanzeffekte vermeiden will, sollte es schon aus pragmatischen Gründen von einem ontologisch-abstrakten Verständnis der menschlichen Natur absehen. Schon der Anschein deduktiver Operationen, wie sie vielleicht einer deontologischen Ethik zugänglich ist, verträgt sich weder inhaltlich noch methodisch mit dem induktiv zu erarbeitenden Modell eines umfassenden Ethos.

Zweitens: Ausgangspunkt eines Weltethos muss das Ethos der Menschheit in seiner vorfindlichen Vielfalt sein, die sich (in Möglichkeiten und Bedrohungen) aus der Vielfalt von Religionen, Kulturen, historischen und soziologischen Kontexten ergibt. Empirisch-induktiv gesehen ist die Menschennatur so vielfältig wie es Menschen, Ethnien, Kulturen und Religionen gibt. Um in Anschluss an Simone de Beauvoir zu zitieren: Man ist nicht als Mensch geboren, sondern wird zu diesem oder jenem Menschen gemacht.

Drittens: Die Suche nach einem (empirisch vorfindlichen und erprobten) Weltethos geht deshalb einen dritten Weg. Sie begibt sich innerhalb der Weltreligionen auf die Suche nach zentralen, vergleichbaren, wenn nicht gar gemeinsamen Aussagen, die für ein gutes Zusammenleben unverzichtbar sind. Diese Suche hat zum Leitprinzip der Goldenen Regel und zu den vier Weisungen geführt, die kurz dargestellt wurden.

Viertens: Gleich, ob man von einer universalen Menschennatur oder von verschiedenen Menschennaturen sprechen will, in jedem Fall erlauben diese besprochenen Prinzipien einen Rückschluss auf vier Grundkonstanten des Menschseins, die mit diesem Regelsystem korrespondieren und es plausibel machen. Möglicherweise lassen sich diese Regeln und diese Grundkonstanten erweitern. Man denke (a) an die Rolle von Umwelt und Nachhaltigkeit[36], (b) an die religiöse Dimension des Menschseins, (c) an Haltungen wie Genugtuung, Vergebung und Versöhnung und (d) an die Frage eines Hochethos, das nicht von jedem Menschen verlangt werden kann, gleichwohl es für eine Gesamtkultur unverzichtbar ist. Die Weltreligionen legen den Schluss nahe, dass man sie auf keinen Fall reduzieren sollte.

Fünftens: Die Rede von vier Grundkonstanten der menschlichen Natur ist im Sinn eines pragmatischen Naturverständnisses zu verstehen. Es meint ein Naturverständnis, das sich aus den Mindesterfordernissen menschlichen Handelns bestimmt. Die Möglichkeit ontologisch begründeter Konzepte wird zwar nicht ausgeschlossen, aber nach dem gegenwärtigen Diskussionsstand behindern sie einen offenen interreligiösen und interkulturellen Dialog.

2. Grundkonstanten der menschlichen Natur

Das PW ist ein induktiv und pragmatisch aufgebautes Unternehmen. Es geht, wie oben beschrieben, vom gemeinsamen Bestand (der gemeinsamen „Schnittmenge“) eines Grundethos aus, das in allen Weltreligionen zu finden ist. Wie schon gesagt, schließt es nicht aus, dass sich auf der Basis eines allgemeinen Konstrukts oder Verständnisses von menschlicher Natur eine Weltethik erarbeiten lässt; das PW hat keinen Grund, an dem Sinn und der Möglichkeit einer solchen Weltethik zu zweifeln. Vermutlich trägt eine jede auf Menschlichkeit bedachte Ethik das Potential einer Weltethik in sich. Aber der pragmatisch empirische Ansatz des PW ergibt sich aus der Frage nach einer empirisch erreichbaren Grundkonstitution, die allen Menschen unabhängig von ihrer ethnischen, kulturellen oder religiösen Herkunft gemeinsam ist. In diesem funktional pragmatischen Sinn kann (gemäß westlicher Diktion) auch ein weltethisches, auf einem Weltdialog gegründetes Projekt von einer „menschlichen Natur“ sprechen. Aus dem Blick des PW stellen sich die Konstanten des menschlichen Lebens wie folgt dar[37].

(1) Lebensexistenz (verletzliche Existenz): Unverrückbar haben alle Menschen ein vitales Da-Sein, das in je bestimmten Raum- und Zeitkoordinaten verläuft. Menschen leben in der hochkomplexen Einheit eines leib-geistigen Organismus, der die Summe seiner Einzelteile um ein Unendliches übersteigt und dessen prozesshafter Charakter Leben genannt wird. Vorgängig zu allen Einzelbedürfnissen kommt es deshalb darauf an, das Leben und Überleben dieser leib-geistigen Existenz zu schützen. Wo dieses Leben vernichtet wird, ist alle weitere Sorge und Vorsorge sinnlos. Im Horizont der Gegenseitigkeit heißt das erste Grundprinzip menschlichen Verhaltens deshalb Gewaltfreiheit und Unverletzlichkeit des Lebens aller. Diese Dimension entspricht den Standards der Gewaltlosigkeit.

(2) Lebenserhaltung (leibliche Existenz): Unverrückbar ist das Leben eines Menschen an materielle Bedingungen gebunden und von ihnen abhängig. Sie beziehen sich zunächst auf die Grundbedürfnisse des Überlebens (Nahrung, Kleidung, Wohnung und Lebensraum), deshalb auch auf die Möglichkeit, sich für dieses Überleben stabile Bedingungen zu schaffen. In den meisten zeitgenössischen Gesellschaften bedeutet das ein Minimum von Besitz, Arbeit und Verdienst. Mit der materiell-leiblichen Existenz des Menschen ist zugleich die Möglichkeit gegeben, zwischen menschlichen Leben zu vergleichen. Leiblichkeit bedeutet konkrete Mitmenschlichkeit, gegenseitige Abhängigkeit und gegenseitige Verantwortung. Dies beinhaltet die Möglichkeit eines besseren und weniger guten, eines mehr geschützten oder mehr gefährdeten, eines von Krankheit bedrohten oder gegen Krankheit geschützten Lebens. Angesichts des Gegenseitigkeitsprinzips ist dieser zweite Aspekt vom ersten Aspekt des Überlebens nicht zu trennen. Der abstrakte Gedanke der Gerechtigkeit (also das Recht, materielle Gerechtigkeit zu erfahren) erweitert sich zur Pflicht der Solidarität. Mit Gerechtigkeit ist hier gemeint: Das Recht und das Bedürfnis, in Verhältnissen zu leben, die den Verhältnissen anderer Menschen (Gemeinschaften, Gesellschaften) vergleichbar und in diesem Vergleich akzeptabel sind, wird hier mit dem Begriff der Gerechtigkeit umschrieben. Diese Dimension entspricht den Standards der Gerechtigkeit.

(3) Lebensorientierung (geistige Existenz): Unverrückbar gehören zum organisch voll entfalteten Menschsein der Gebrauch der Vernunft, die Möglichkeit zu sprechen und die Kommunikation. Daraus folgt das fundamentale Bedürfnis, im Rahmen des Möglichen über sich, über Andere und über die Welt Bescheid zu wissen. Vor diesem Hintergrund das eigene Leben in Gegenwart und Zukunft bewusst einzurichten, zu planen und über sich selbst Bescheid zu wissen. Im Rahmen dieser Lebensplanung treten Menschen mit dem elementaren Bedürfnis auf, die vorfindliche (physische und soziale) Wirklichkeit wahrheitsgemäß abzubilden, sinnvoll zu beeinflussen sowie andere Menschen an ihrer Wahrheit teilnehmen zu lassen. Ohne Teilnahme an der Wahrheit sind Mitmenschlichkeit und Gegenseitigkeit nicht möglich. Dies verpflichtet uns zu einer Wahrhaftigkeit, die den Mitmenschen die Teilnahme am menschlichen Leben als einem Kommunikationsgeschehen ermöglicht. Zur Debatte steht die Wahrheit (sowie und deren Vorenthaltung) in all ihren subjektiven, objektiven und sozialen Dimensionen. Diese Dimension entspricht den Standards der Wahrhaftigkeit

(4) Lebensweitergabe (Kreative Existenz): Unverrückbar gehören zum leiblich und geistig voll entfalteten Menschsein die bewusste Erfahrung und Weitergabe des Lebens. Dazu gehören – als Ecksteine des Zusammenlebens – Sexualität, körperliche Abhängigkeit, Kindheit und Alter, die alle unter dem Gebot der Treue stehen. Diese elementar vitalen Formen des Zusammenlebens entfalten sich in einem komplexen und gegenseitig gepolten Netz von Respekt und Bejahung, von Treue und Fürsorge, von sinnlicher Nähe und Liebe. Kein Einzelner kann sich vom Gesamtschicksal der Menschheit, insbesondere von der Bedürftigkeit der Mitmenschen herauslösen. Diese Dimension entspricht den Standards der Gleichberechtigung und gegenseitigen Treue.

(5) Mitmenschlichkeit: Unverrückbar leben Menschen aller Kulturen und Religionen in Gemeinschaften, d. h. in gegenseitiger Zugewandtheit und Abhängigkeit von verschiedener Qualität und Intensität. Alles, was von Menschen an einzelnen Konstanten auszusagen ist, gilt ausschließlich und immer vor dem Hintergrund dieser gemeinschaftlichen Konstitution, weil Menschlichkeit nur durch Mitmenschlichkeit zu sich kommen kann. Alles, was für das Individuum Mensch oder eine menschliche Gemeinschaft prinzipiell als unverzichtbar gelten kann, ist – im Prinzip der Gegenseitigkeit – für alle Menschen und alle Gemeinschaften unverzichtbar. In ihrer unverletzlichen Würde sind alle Personen gleich. In dieser Überlegung kommen Humanität und die Goldene Regel zu gegenseitiger Deckung. Unter dieser Voraussetzung gelten mindestens vier Konstanten, die in ihrer Konkretisierung einander durchdringen. Diese Dimension entspricht den Standards der gegenseitigen Humanität (Goldene Regel).

Angesichts dieser vitalen, den Menschen vorgegebenen Gegenseitigkeit ergibt sich für das PW die Gleichursprünglichkeit von Sein und Sollen, von Rechten und Pflichten[38]. Menschen stehen nicht auf Grund einer sekundären Verpflichtung, sondern a priori im gegenseitigen Verhältnis von Lebensrespekt, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Treue, weil sich in ihnen nur die gegenseitige vitale Abhängigkeit auswirkt, die schon vor der Geburt begonnen hat. Diese Struktur macht auch verständlich, dass menschliches Sollen als ursprünglicher Wert erfahren wird.

3. Zirkuläre und übergreifende Struktur

Natürlich ist mit diesen Hinweisen die Diskussion nicht abgeschlossen, sondern erst eröffnet. Die genannte Sollensstruktur mit ihren Prinzipien und der Goldenen Regel als steuernder Vorgabe eröffnen nicht nur einen breiten Raum der Gestaltungen, sondern erläutern sich auch gegenseitig. Mit anderen Worten: Sie unterstehen dem Gesetz des Alles oder Nichts. Keine der vier Grundforderungen lässt sich aus dem Gesamt der Prinzipien herausbrechen, wenn die anderen ihren Sinn behalten sollen. Für keine der Grundforderungen bleibt der Wertcharakter garantiert, wenn sie nicht vorbehaltlos auf die Goldene Regel bezogen wird. Gerechtigkeit als Folge der Lebenserhaltung erhält erst ihre volle Bedeutung, wenn Lebensplanung und Lebensweitergabe einbezogen werden. Treue ist nur im Zusammenhang mit Gerechtigkeit und Ehrlichkeit möglich. Die drei Ebenen der Erhaltung, Planung und Weitergabe menschlichen Lebens finden ihrerseits auf der Ebene der Lebensexistenz ihre Zusammenfassung.

Ein weiterer Gesichtpunkt kommt hinzu: Die genauere Analyse der Zusammenhänge zeigt: Die Frage nach dem Weltethos führt nicht von den Grundprinzipien eines primären, örtlich oder kulturell gebundenen Ethos weg, sondern zu ihnen hin. Die Grundforderungen, die sich für die Gestaltung eines Weltethos als unverzichtbar erweisen, erweisen sich zugleich als die zentralen Prinzipien eines menschlichen Ethos überhaupt. Offensichtlich kann dieses Weltethos eine universale Gültigkeit erhalten, weil sie für jeden Menschen auf Grund der genannten fundamentalen Konstanten gültig sind: Mitmenschlichkeit, Lebensexistenz, Lebenserhaltung, Lebensplanung und Lebensweitergabe. Mit dem letzten Prinzip der Lebensweitergabe schließt sich der Kreis zum ersten, der Mitmenschlichkeit, die sich in die nächste Generationenfolge hinein erweitert. Somit erreichen wir einen Punkt, an dem die Rede von einem universalen Naturverständnis des Menschen einen reichen funktionalen Sinn erhalten kann. In diesem Sinn lässt sich der Rekurs auf eine funktional verstandene und induktiv gewonnene Naturrechtslehre nicht ablehnen.

4. Religiöse Dimension

Im Blick auf seine weltethischen Ziele hat das PW in Diktion und Gedankenführung bislang auf säkulare Kommunikation und Verständlichkeit geachtet. Dabei sollte nicht übersehen werden, dass es seine Kraft in hohem Maße aus seinem interreligiösen Dialog bezieht. Der beschriebene Konsens der Weltreligionen lebt aus einer transempirischen Legitimation und aus spirituellen Tiefenschichten, die sich auf Gott als eine transzendente Wirklichkeit berufen.[39] Dieser Ausgangspunkt bleibt werde der Rolle und Geltung der insgesamt fünf Grundregeln noch den hier entwickelten Konstanten des Menschseins äußerlich. Die Verletzlichkeit menschlicher Existenz wird als Kreatürlichkeit begriffen, die Leiblichkeit des Menschen als begrenzte Zeitlichkeit, der ein Ende gesetzt ist und die sich im Hier und Jetzt verwirklichen muss. Die Grundkonstante der orientierungsbedürftigen Geistigkeit wird als prinzipielle Entgrenzbarkeit von Sein und Sollen sowie als eine grundlegende Orientierung und Sinngebung begriffen. Die Verwiesenheit auf andere Menschen und anderer Menschen auf mich rückt Fragen nach Selbstlosigkeit, Vergebung und Versöhnung in den Blick. Diese Aspekte erweitern und radikalisieren die besprochenen Dimensionen menschlichen Lebens auf einen universalen Sinnhorizont hin und machen die Prinzipien des Weltethos gegen Instrumentalisierung resistent. Sie ermöglichen Erfahrungen von „Selbstbildung und Selbsttranszendenz“, die ihrerseits die genannten Werte und Wertbindungen ermöglichen. Damit behaupte ich nicht, ohne eine religiöse Weltinterpretation seien solche Prozesse unmöglich, aber innerhalb der Religionen sind sie breit entfaltet und die gleitenden Übergänge von innen nach außen sind zwar kaum erkundet, aber in vielfachen Nuancierungen existent.

Schluss

Von diesem Umständen her lassen sich Ziel, Ausrichtung und Einordnung des PW näher beleuchten.

Ziel des PW ist es, unter Rückgriff auf die verfügbaren moralischen Weltressourcen möglichst direkt und ohne Zeitverzug einem Gesamtkonzept näher zu kommen, das die Zukunft einer versöhnten Menschheit ermöglicht und mindestens vor einer Menschheitskatastrophe bewahrt. Dieses Ziel ist von höchster Brisanz und einer Dringlichkeit, die durch den aktuellen Globalisierungsschub mit all seinen unberechenbaren Folgewirkungen in unerhörter Weise erhöht wird. Im Zug dieser Globalisierung zwingt uns die Gesamtsituation dazu, die Verfassung unserer Gesellschaften nicht in statischen Kategorien, sondern unter dem Vorzeichen von langfristigen Prozessen zu betrachten, die sich in hohem Maße verselbständigt haben. Die Dynamik von Militärpotentialen kann – allein durch seine Existenz – in kürzester Zeit zur Vernichtung von Millionen von Menschenleben führen. Das ist nicht hinnehmbar. Die Ressourcenverteilung kann wegen der langfristigen Entwicklungsprozesse in kurzer Zeit zur Verarmung und zum Verhungern ganzer Völker führen; der Verfall ganzer Staaten, mörderische Bürgerkriege und der gegenseitige Hass ganzer Kulturkreise ist nicht mehr auszuschließen. Das ist inakzeptabel. Politische Fehlinformation und Korruption rauben Millionen von Menschen die Möglichkeit, angemessen für ihre eigene Zukunft zu sorgen. Dem ist durch Aufklärung ein Ende zu setzen. Auf weiten Teilen der Welt werden Frauen immer noch marginalisiert und in ihrer Würde verletzt; Frauen- und Kinderhandel sind über alle staatlichen Grenzen hinweg möglich geworden; dieser Zustand ist unerträglich.

Deshalb reicht es nicht mehr aus, die traditionellen Regeln des politischen Umgangs – und seien sie auf dem besten Stand der UNO- Menschenrechtscharta der UNO – einfach zu perpetuieren. Wir bedürfen einer neuen und strengen Setzung der nicht hinnehmbaren Grenzüberschreitungen, der Radikalisierung des Gerechtigkeitsprinzips in das Prinzip der Lebensschonung, des Prinzips Hoffnung in das Prinzip Verantwortung, des Prinzips Verantwortung in das Prinzip der strengen Prävention, eine Übersetzung statischer Grenzziehungen in die Dynamik von Strukturen.

Damit ist die Einordnung des PW vorgezeichnet. Wir können nicht warten, bis wir eine Definition über die gemeinsame menschliche Natur gefunden haben. Notwendig ist es, im Sinne des Überlebens konkrete Phantasie und Kreativität zu entwickeln. Kluge Vorschläge zur Gestaltung der Weltwirtschaft, zur Verhütung von Korruption zur Strukturierung der Weltpolitik genießen im PW deshalb großes Interesse. Es geht darum, ein durch und durch weltliches Geschäft zu betreiben, weil die Überlebensfragen der Menschheit durch und durch weltlich sind. Auch in diesem Sinn versteht sich das PW als Katalysator. Es sucht und ermutigt Fachleute, die kraft ihrer Sachkompetenz die Gründe für das klägliche Scheitern bisheriger Globalpolitik analysieren und neue Modelle für ein gedeihliches Zusammenleben von Kulturen und Völkern entwickeln (vgl. „Brücken in die Zukunft“).

Damit sind schon die Grenzen des PW angedeutet. Das PW will keine Theologie, welcher Religion denn auch, ersetzen. Es setzt sie vielmehr voraus und hofft auf eine indirekte Belebung religionsorientierter Selbstreflexion. Das PW setzt dort ein, wo die Religionen und Kulturen miteinander in Berührung kommen, um ihre gemeinsame Sache gemeinsam zu regeln. Das hat nichts mit mangelndem Tiefgang, auch nichts mit Moralismus, aber alles mit kluger und effektiver Konzentration zu tun. Dass der Glaube an Gott, ein tiefes Vertrauen in Mitmensch und Wirklichkeit, dass eine selbstlose, sich ins Geheimnis des Göttlichen vertiefende Spiritualität enorme Kräfte freisetzen kann und muss, ist selbstverständliche Voraussetzung. Dass die großen Kräfte der Selbstheilung zum großen Teil aus den Religionen kommen, ist einer der Gründe für die wichtige Rolle des interreligiösen Dialogs. Im anderen Fall würde sich der Einsatz bei den Weltreligionen nicht lohnen. Dies gehört zu den spezifischen Randbedingungen des PW, von denen sie ihren Ausgang nimmt.

Ein Punkt bedürfte allerdings einer eigenen Überlegung. Gerade die ethos-orientierte Konzentration auf die brennenden Überlebensfragen der Menschheit hat zum erstaunlichen Ergebnis geführt, dass die erarbeiteten vier Weisungen und ihr Leitprinzip nicht erst auf der Ebene etwa internationaler Zusammenarbeit, sondern in der je persönlichen Lebensführung beginnen können und beginnen müssen. So führt die Frage nach dem Überleben der Menschheit zurück zu den Werten eines jeden Menschenlebens und zur politisch bedeutsamen Rolle der Religionen, die das Herz des Menschen berühren.

Anmerkungen

[1] Hans Küng, Projekt Weltethos, München 1990.

[2] Hans Küng (Hg.), Dokumentation zum Weltethos, München 2002, 15-35. Grundlagentexte und eine umfassende Bibliographie der Sekundärliteratur sind einzusehen in: www.weltethos.org.

[3] F. Fukujama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992; S. P. Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 1996.

[4] Man denke: (1) an die Zeit der Kreuzzüge, die wichtige Handelskontakte mit dem Nahen Osten eröffnet haben; (2) an die Epoche der großen „Entdeckungen“ im 15. und 16. Jh. des gesamten amerikanischen und dem asiatischen Kontinents, seit dem man von einem Welthandel sprechen kann; (3) an die Epoche des Imperialismus mit ihrem Schwerpunkt im 19.und 20. Jh.. Auch sie bewirkte eine erhebliche Bewusstseinserweiterung, auch +wenn+ sie das eurozentrische Bewusstsein nicht überwand und für Europa keine Bedrohung brachte.

[5] H. Lenk/ M. Maring, Globalisierung – Entwicklung und Wirkungen. Dimensionen und Arten der Globalisierung, in: Reinalter, 11-40.

[6] Globalisierung bedeutet gerade nicht, dass alles und jedes eine globale Denk- und Lebensform annimmt. Globalisierungsprozesse und deren Entfremdungseffekte führen an vielen Orten zur Rückbesinnung auf die je eigene örtliche Kultur und Religion. Aus diesem Grund wurde der Begriff der „Glokalisierung“ (R. Robertson, Z. Bauman, U. Beck) geprägt.

[7] G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, München, Bd. I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution (1956) 71992; Bd. II: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution (1980) 41992.

[8] Auf die zahlreichen und intensiven Begegnungen der Mitglieder der Stiftung Weltethos mit Vertretern anderer Weltreligionen sei hier nicht eingegangen. Vgl. die in www.weltethos.org verzeichneten Abhandlungen und Monografien von Hans Küng zu Christentum, Judentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus und chinesischen Religionen sowie das multimediale Projekt „Spurensuche (München 2005); ferner S. Schlensog, Der Hinduismus. Glaube, Geschichte, Ethos, München 2006, sowie Karl-Josef Kuschel, Juden – Christen – Muslime. Herkunft und Zukunft, Düsseldorf 2007.

[9] Zur Geschichte der Vorbereitung: Hans Küng, Geschichte, Sinn und Methode zu einem Weltethos, in: Dokumentation, a.a.O. 37-67.

[10] Unterzeichnet haben das Dokument insgesamt 14 große Religionsgemeinschaften, deren Untergruppen nicht eigens gerechnet sind. Die Untergruppen folgender Religionsgemeinschaften sind getrennt aufgeführt: Buddhismus mit 5 Untergruppen, Christentum mit 5 Ug., Eingeborenen-Religionen mit 4 Ug., Hinduismus mit 2 Ug., Jainismus+ mit 3 Ug., Judentum mit 4 Ug., Islam mit 3 Ug..

[11] Zum ersten Mal bei Hans Küng, ebd., 61 f., sowie in der inzwischen bekannten, von der Stiftung Weltethos organisierten und abrufbaren, pädagogisch ausgerichteten Wanderausstellung „Weltreligionen. Weltfrieden. Weltethos“.

[12] Nipkow, Weltreligionen – Weltethos – Weltfrieden. Offene Flanken des Weltethos-Programms in religions-philosophischer, pädagogisch-evolutionstheoretischer und anthropologischer Sicht, in: Reinalter, 23-43; vgl. ferner die Beiträge von Figl und Litsch in Reinalter, sowie die Beiträge von Die Beiträge aus der Sicht einzelner Religionen von H. Schüller, Elsayed Elshahed, Bimal Kundu, Theodor Strohal und K.S. Davidowitz in Bader. Zum Hinduismuus vgl. Schlensog 420-422: Der Beitrag des Hinduismus zu einem Menschheitsethos liege vor allem darin, „dass die große ethische Hindutradition für die verschiedenen Menschen in ihren verschiedenen Lebenssituationen gangbare Wege weist, Unwissenheit, Begierde, Haß und Egoismus zu überwinden und den Menschen ‚zu nüchternem, selbstlosem Urteil und zu richtigem Tun zu führen`.“ (422)

[13] Instruktiv ist der Sammelband von Hans Küng und Karl-Josef Kuschel (Hg.), Wissenschaft und Weltethos, München 1998, TA 2001 mit Konkretisierungen für Wirtschaftsethik und Rechtswissenschaft, Politikwissenschaft, Erziehungswissenschaft, Naturwissenschaft (einschl. ökologischer Aspekte) und Ethik. Dieser Band kann zugleich zeigen, wie ein allgemein programmatischer Ansatz allmählich wissenschaftliche Analysen initiiert.

[14] Hans Küng, ebd.

[15] G. Theissen spricht von sozial gebundener Moral; vgl. Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Darmstadt 2003, 303..

[16] Vgl. dazu Hermann Häring, Weltethos und Religionen im Zeitalter der Globalisierung, in: H. Reinalter (Hg.), Ethik in Zeiten der Globalisierung, Wien 2007, 41-71.

[17] H.-J. Sander, Der Wille zum Weltethos – ein Wille zur Macht aus der Ohnmacht. Zu Stärken und Schwächen eines globalen religiösen Projektes, in: H. Reinalter (Hg.), Ethik in Zeiten der Globalisierung, Wien 2007, 65-78.

[18] G. Gebhardt, Weltethos – Brücke zwischen Kulturen und Religionen, in: E. Bader (Hg.), Weltethos. Weltfrieden. Weltreligionen, Berlin 2007, 17-29.

[19] N. Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, hg. v. A. Kesterling, Frankfurt 2000.

[20] Es handelt sich bei dieser Formulierung um keine Tautologie, sondern um die Tatsache, dass sich die Globalisierungseffekte nicht mehr auf einige Zentralen des Zusammenlebens beschränken, sondern auf die gesamte Welt ausbreiten. Die sitz- und besitzlosen Seevölker Südostasiens sammeln die Heuschrecken als Gastgeschenke in Colaflaschen.

[21] Im Blick auf die Thematik wird hier nur verkürzt von der Symbiose der Religionen mit „ihren“ Kulturen gesprochen. Wie die Geschichte zeigt, zeichnet die meisten Weltreligionen die Fähigkeit zu Inkulturation mit allen dazu gehörenden komplexen Prozessen des Gebens und Nehmens aus. Die bekanntesten Beispiele finden sich in Buddhismus, Christentum und Islam.

[22] Weltreligion wird hier nicht im quantitativen Sinn einer weitverbreiteten, sondern im qualitativen Sinn eine Religion verstanden, in deren Zentrum die Frage nach dem Menschen als solchem steht. Damit werden alle anthropologischen, geographischen und historischen Partikularismen verbunden. Hier kann die Frage offen bleiben, ob diese Leitidee einer universalen Humanität Grund, Folge oder die hermeneutische Schwester eines transzendenten Gottesbildes ist.

[23] G. Dresen, Wat gij niet wilt dat u geschiedt …. Spreekwoorden als expressie van alledaags ethos en bron voor intercultureel gesprek, in: Tijdschrift voor Theologie 40(2000), 32-42; A. Dihle, Die Goldene Regel: Eine Einführung in die Geschichte der antiken und frühchristlichen Vulgärethik Göttingen 1962; P. Ricoeur, Soi-même comme un autre, Paris 1990; C. Theobald, La règle d’or chez Paul Ricoeur: Une interrogation théologique, in: Paul Ricoeur: L’herméneutique à l’école de la phénoménologie, ed. J. Greisch, Paris 1995, 139-158; Ch. Mandry, Von Liebesgebot und Goldener Rege zur Verhältnisbestimmung zwischen theologischer und philosophischer Ethik? Überlegungen im Anschluss an die Ethik von Paul Ricoeur, in: A. Holderegger, J.-P. Wils (Hg), Interdisziplinäre Ethik. Grundlagen, Methoden Bereiche, Freiburg Schw./ Freiburg i.B. 2001, 124-147. Im Blick auf die Diskussion zum Projekt Weltethos sind die Überlegungen von G. Dresen höchst interessant. Im Gespräch mit P. Ricoeur und Ch. Theobald zeigt sie, wie sich Funktion und Bedeutung der Goldenen Regel in verschiedenen gelebten, philosophischen und theologischen Kontexten ändern und gerade in dieser Pluralität eine globale Bedeutung erlangen können. Leider unterliegt auch G. Dresen einem verbreiteten Missverständnis, das ganz nebenbei auftaucht und deshalb auch nicht reflektiert wird. In der Erklärung von Chicago geht es weder um eine „universale Moral“ noch wird die Goldene Regel dort als ‚universale Grundregel proklamiert (a.a.O. 24,25). Es wird lediglich folgendes festgestellt: Diese Goldene Regel und – in Verbindung damit – die vier folgenden Regeln (Lebensschutz, Gerechtigkeit, Wahrheit, Partnerschaft) finden sich in den durch Unterschrift bezeugten Religionen faktisch vor; sie bilden einen jetzt schon gelebten, deshalb wirkmächtigen  Ansatz zur Gestaltung und Durchsetzung von Verhaltenscodes, die das Überleben der Menschheit in der gegenwärtigen Situation sichern. Insofern tut die Tatsache, dass H. Küng kein Ethiker ist, nichts zur Sache, denn diese Tatsachenfeststellung geht den gewiss sinnvollen ethischen Überlegungen voraus.

[24] Vor diesem Hintergrund erstaunt es sehr, dass das Programm von J. B. Metz (Compassion – Weltprogramm des Christentums: Soziale Verantwortung lernen, Freiburg 2000) bisweilen als „Provokation“ für das PW präsentiert wird (vgl. H. Haker, ‚Compassion’ als Weltprogramm des Christentums?, in: Concilium 37 (2001), 436-449). Vom PW aus stellt sich das Verhältnis jedenfalls anders dar, zumal das PW erklärtermaßen die spezifischen Profile der Religionen weder ersetzen noch einebnen will. Umgekehrt geht die Frage an das ‚Compassion’-Programm, wie sich der Anspruch auf christliche Exklusivität rechtfertigen lässt. Christen haben in dieser Sache keinen Alleinanspruch auf Welterlösung. Für das PW wäre es allerdings reizvoll, die vier Prinzipien noch intensiver, d.h. in einem spirituell vertieften Sinn (wie oben beschrieben) auf die Grundregel hin auszulegen. Gewaltlosigkeit erschiene dann intensiviert als Empathie für die Bedrohten, als eine Fundamentaloption für sie, Gerechtigkeit als Einsatzbereitschaft und Verzicht auf eigene Vorteile zu ihren Gunsten, Wahrhaftigkeit als Entlarvung der großen Weltlügen und als Kampf um ein besseres Verständnis der Verkannten, Gleichberechtigung als gelebte Solidarität mit den Schwachen. Auch dies ist im säkularen Raum und aus säkularen Motiven möglich, aber unbestreitbar liefern die Religionen zu einer solchen Hochethik ausdrückliche Motivationen und nachahmenswerte Beispiele.

[25] Ricoeur ebd.

[26] G. Neuhaus, Kein Weltfrieden ohne christlichen Absolutheitsanspruch: eine religionstheologische Auseinandersetzung mit Hans Küngs „Projekt Weltethos“, Freiburg 1999.

[27] Hans Küng, Christ sein, München 1974, 239-267. Im Jahr 1990 hat er das Humanum, das „wahrhaft Menschliche“, die „gemeinsame Menschlichkeit aller Menschen“ als ein allgemein ethisches Grundkriterium dargestellt, das im heute allgemein akzeptierten Begriff der „Menschenwürde“ ein unüberhörbares Echo findet. Dort ist von einem „ökumenischen Kriterium“ die Rede. „Sittlich gut wäre also, was menschliches Leben in seiner individuellen und sozialen Dimension auf Dauer gelingen und glücken lässt.“ Hans Küng, Projekt Weltethos, München 1990, 119.

[28] K.-H. Hillmann, Wertwandel. Ursachen – Tendenzen – Folgen, Würzburg 2004; H. Küng, Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft, München 1997; J. B. Müller, Werteverfassung und Werteverfall. Eine kulturkritische Betrachtung, Berlin 2000; P. Prange u.a., Werte. Von Plato bis Pop, München 2006; F. Werner, Vom Wert der Werte. Die Tauglichkeit des Wertbegriffs als Orientierung gebende Kategorie menschlicher Lebensführung. Eine Studie aus evangelischer Perspektive, Münster 2002;

[29] Zum spezifischen Unterschied zwischen Wert und Norm sowie eine angemessen Definition von beiden vgl. H. Schnädelbach, `Werte und Wertungen‘, in: ders., Analytische und postanalytische Philosophie: Vorträge und Abhandlungen, 4, Frankfurt 2004, 242‑265.

[30] Daraus erklärt sich die Tradition des – meist recht oberflächlich verstandenen – Werterealismus und M. Schelers materialer Wertethik. Scheler spricht zwar von Wertesehen und Wertefühlen, aber er versteht dies im Sinne einer Intuition. Zu warnen ist auch vor der Verdinglichung des Denkens (Adorno), der die Rede von Werten oft zum Opfer fällt. Dagegen ist eine hermeneutische Annäherung vorzuziehen und auf der Linie eines ständigen praktischen Diskurses weiter zu entwickeln (vgl. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 2 Bd., Frankfurt 1981, insbes. I 369-452). Ziel dieses Diskurses wäre es, zu konsensuellen Sprachregelungen bzw. zu Konsensen in der Willensbildung zu gelangen. Übrigens ist dies auch das Ziel des PW, wenn man es als ein performatives Unternehmen betrachtet bzw. seine illokutionären Aspekte betrachtet. Hier wird es als argumentativ informierendes Unternehmen dargestellt.

[31] Dazu E. Cassirer: „Die Ausdrucksfunktion und das Leib-Seele-Problem“: „So weit wir in den Gestaltungen des sinnlich-geistigen Bewußtseins auch hinabgehen mögen – niemals treffen wir dieses Bewußtsein als ein schlechthin Gegensatzloses, als ein absolut-Einfaches, vor allen Scheidungen und Unterscheidungen an. Immer erscheint es als ein Lebendiges, das sich in sich selber trennt. … Aber wenn diese Differenz besteht, so ist sie doch damit noch nicht als solche gesetzt; vielmehr erfolgt diese Setzung erst, sofern das Bewußtsein aus der Unmittelbarkeit des Lebens in die Form des Geistes und in die des spontanen geistigen Schaffens übergeht. Erst dieser Übergang lässt alle jene Spannungen, die als solche schon dem einfachen Bestand des Bewusstseins angehören, zur Entfaltung kommen: was zuvor, ungeachtet aller inneren Gegensätzlichkeit, eine konkrete Einheit war, das beginnt jetzt auseinanderzutreten und sich in analytischer Sonderung „auszulegen“( Philosophie III, a.a.O. 109f.).

[32] Offensichtlich lassen sie sich am besten umschreiben in der Kombination einer allgemeinen Sinnkategorie und der Ablehnung dessen, was man nicht will, vergleichbar den Geboten des Dekalogs in ihrer negativen Form: „Nicht töten“ bezeichnet in indirekter, aber so genau möglicher Weise den Wert des Leben, der zur Debatte steht.

[33] Anschaulich wird der situationsbezogene, immer plurale und umstrittene Charakter der Wertefrage schon illustriert bei Prange. Er zeigt an Hand sog. Europäischer Werte, dass sie sich nie als reine Entitäten, Zielgebungen oder Intuitionen, sondern immer als umstrittene Diskurse präsentiert haben. In diesem Sinn setzt das PW Akzente in Diskurse, über deren konkrete Realisierung es sich keine Illusionen macht. Wäre die Sache klar, wären die dargelegten Werte also unbestritten, würde sich die Mühe einer Programmatik und von deren Ausarbeitung überflüssig.

[34] Wertegeneralisierung ist für die Erweiterung einer Kommunikation unverzichtbar, aber man muss um die Begriffsverschiebungen wissen, die dieser Prozess in Gang bringt: Nipkow 30; vgl. Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt 1999)

[35] Zum prozessualen Charakter dieser Universalität vgl. E. Schillebeeckx, Jesus. Die Geschichte von einem Lebenden, Freiburg 1975, 533-538; ders., Christus und die Christen. Die Geschichte einer neuen Lebenspraxis, Freiburg 1977, 772-787.

[36] H.-J- Höhn, Zwangssolidaritäten der Globalisierung, in: Reinalter 161-176; Höhn spricht von ökologischen Gefährdungslagen (173).

[37] Zur Frage der „Konstanten“ des menschlichen Lebens: E. Schillebeeckx spricht von Leiblichkeit, Gesellschaft, Kultur, Gemeinschaft und Praxis (Christus und die Christen. Die Geschichte einer neuen Lebenspraxis, Freiburg  1977, 715-725).

[38] Vgl. H. Schmidt (Hg.), Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten, München 1997;  Parlament der Weltreligionen, Aufruf an unsere führenden Institutionen, in:  H. Küng (Hg.), Dokumentation zum Weltethos, München 2002, 151-196.

[39] Mit Rücksicht auf den Buddhismus spricht die Erklärung von Chicago (I) von Menschen, „die ihr Leben auf eine Letzte Wirklichkeit gründen und aus ihr in Vertrauen, in Gebet oder Meditation, in Wort oder Schweigen spirituelle Kraft und Hoffnung schöpfen“.

(vgl. Ch. Böttigheimer u.a. (Hg), Sein und Sollen des Menschen. Zum göttlich-freien Konzept vom Menschen, Münster 2009, 275-295; ungekürzter Text)

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Kirche in der Welt – Wider die Privatisierung der Religion

In den vergangenen Tagen erreichten uns gehäuft Meldungen über eine seltsam missionarische Initiative von Atheisten. Nach dem Vorbild von London sollen jetzt auch in deutschen Städten Busse mit dem Slogan fahren: „Es gibt (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) keinen Gott.“ Die Reaktionen sind heftig; die meisten Stadtwerke lehnen die Initiative ab. Viele überzeugt Glaubende hingegen erklären, sie hätten damit keine Probleme. Weiterlesen

Wie kann Gott das alles zulassen?

Die Schreckenstaten in Winnenden und an anderen Orten werden bei den Betroffenen noch lange und tiefe Spuren hinterlassen. Wie konnte Gott dieses Grauen zulassen? Haben Seelsorge und Theologie die richtigen Worte gefunden? Der Vortrag zeigt auf, welche grundlegenden Fragen geblieben sind, was wir vom christlichen Glauben nicht erwarten können und worin er Christen und Nichtchristen wirklich helfen kann. Weiterlesen

Intelligenz und biblischer Glaube

 

Es ist ein tief eingewurzeltes Vorurteil: Zu viel Intellekt tue dem Glauben nicht gut. Vor allem Kirchenführer halten es am Leben. Nicht nur die Intellektuellen einer Gesellschaft gelten als gefährlich, weil sie „Unruhe stiften, kritiksüchtig und mit nichts zufrieden sind“. Auch kritische Theologen haben keine guten Karten. Sie sind, wie man oft hört, unkirchlich oder viel zu liberal. Weiterlesen

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit“

Paulus und das Weltethos

1. Können die Gedanken des Paulus zur Grundlegung einer Weltethik beitragen? Warum ist dies der Fall?

Das Projekt Weltethos ist im strengen Sinne kein religiöses, sondern ein säkulares Projekt, denn es richtet sich an alle Kulturen, an alle Völker und an alle Menschen guten Willens. Doch von Anfang an spielen die Weltreligionen in diesem Projekt eine hervorragende Rolle Weiterlesen

Auch Himmelsstürmer können irren

Unter Gläubigen hat das Buch des bekannten englischen Evolutionsbiologen Aufsehen erregt und für Unruhe gesorgt. Angekündigt wurde es als „furiose Streitschrift wider die Religion“. In Wirklichkeit kämpft es gegen ein primitives Gottesbild, das jeder augeklärte Christ hinter sich gelassen hat. Dies lässt sich im Vergleich mit Hans Küngs „Der Anfang aller Dinge“ zeigen. Weiterlesen

Hiob und die Theodizee: Systematisch-theologische Perspektiven

In der Neuzeit wurde die Theodizee entwickelt; es war eine philosophische, nüchtern abwägende Denkoperation, in der das Leiden von Menschen als Kalkül neben anderen Faktoren im Weltgeschehen eingesetzt, aber nicht als unerträgliche Erfahrung ernst genommen wurde. Deshalb kann es als ein Glücksfall gelten, dass  die Hiobfrage in den vergangenen Jahrzehnten das Theodizeeproblem gesteuert und teilweise ersetzt hat. Weiterlesen

Gehalten von Gott – engagiert für die Menschen – Eine Rückschau auf Hans Küng „Christ sein“

30 Jahre nach seinem Erscheinen (2006) ist „Christ sein“ von Hans Küng immer noch ein hoch umstrittenes theologisches Buch. Sein Ziel war es, die klassisch-metaphysische Christuslehre historisch zu verantworten, so vom Kopf auf die Füße zu stellen und Interessierten verständlich zu machen, worum es in der Lebenspraxis Jesus geht.
Weiterlesen

Glücklicher Zufall oder dunkles Geschick? – Vom Mut zur eigenen Erfahrung

Zufall, Fügung, Vorsehung, benau besehen sind das recht subjektive Begriffe. Sie qualifizieren oft alltägliche, aber auch besondere Ereignisse religiös oder säkular, mit philosophischen oder naturwissenschaftlichen Konnotationen. In biblischen Texten herrscht meistens der Gesichtspunkt eines sorgenden Gottes vor, doch auch sie kann die Erfahrung von Sinnlosigkeit nicht leugnen. Weiterlesen

Der Mensch vor dem absoluten Geheimnis, oder: Wie überzeugend beantwortet K. Rahner die Frage nach Gott?

Über den deutschen Sprachraum hinaus kann Karl Rahner als einer der einflussreichsten römisch-katholischen Theologen des 20. Jahrhunderts gelten. Er versteht Gott als absolutes Geheimnis. Doch als Geheimnis sieht er ebenso den Menschen, dessen Idee sich in Jesus Christus konkretisiert hat. Der Artikel stellt die These auf: Die geniale Konzeption Rahners, die die Geschichte Jesu vernachlässigt und Kant gegen dessen Absichten interpretiert, ist einem überholten westlichen Überlegenheitsdenken verpflichtet. Weiterlesen

Zur Aktualität der Negativen Theologie

Die Negative Theologie ist nicht nur in der christlichen Theologie, sondern auch in anderen Religionen zu Hause. Doch ist sie in jeder Epoche neu zu erarbeiten, denn die Erfahrung der Gottesferne zeigt sich in immer neuen Weisen. Heute ist zu fragen: Ist Gott nicht deshalb wirklichkeitsfern geworden, weil schon unserer Sprache die Wirklichkeit abhanden gekommen ist. Weiterlesen

Der Satanspakt der Neuzeit – Zu einem Roman von Harry Mulisch

Einleitung: Von der Gegenwart erzählen

Der biblische Glaube lebt aus Erfahrungen, die in Geschichten erzählt, weitergegeben und immer neu angeeignet werden. Diese Geschichten ersetzen die persönliche Wegsuche nicht, aber sie sind wie ein Netz über den Abgrund menschlicher Beliebigkeit gespannt, sie geben Orientierung. Spätere Generationen tragen ihre eigenen Erfahrungen in dieses Netzwerk ein. Weiterlesen

Ijob in unserer Zeit – Zum Problem des Leidens in der Welt

Selbstkritische Bescheidenheit

Ijob gibt es nicht nur im Alten Testament, und Leiden ist keine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Nicht nur Israel hat sich der zu verhandelnden Frage gestellt, vielmehr wurzelt die Ijobsgeschichte in einer anderen Kultur[1]. Und wir sollten nicht versuchen, auch noch den Rekord der Leidensmaximierung für uns zu verbuchen. Daß das Christentum die angemessenste aller Lösungen biete, ist zudem vielen Zeitgenossen zweifelhaft geworden. Weiterlesen

Das Böse der Welt – Als Frage nach Gottes Ohnmacht und Macht

Mit der Katastrophe von Auschwitz ist die klassische Verteidigung von Gottes Güte gegenüber dem Übel der Welt zusammengebrochen. Theologie und Philosophie sitzen seitdem in einem Boot und ohne Rückgriff auf die Praxis reichen ihre Theorien nicht mehr aus. Weiterlesen