Hat die Institution Kirche im 21. Jahrhundert ausgedient?

Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: In unserem Kulturkreis stecken die christlichen Kirchen in einer tiefen Krise. Viele Buchtitel bezeugen es, die ich hier wahllos aufreihe: Geht Gott verloren? (F. Ringler), Ehe alles zu spät ist (E. Teufel), Missbrauchte Kirche (W.F. Rothe), Entmachtet diese Kirche – und gebt sie den Menschen zurück (M. Mesrian, L. Kötter), Die Täuschung (N. Lüdecke), Ihr macht uns die Kirche kaputt (D. Bogner), Die schuldigen Hirten (Th. Großbölting), Schweigen war gestern (L. Kötter, Heillose Macht (Th. Hanstein, H. Schönheit, P. Schönheit), Spiritueller Missbrauch (Doris Wagner), Ist Gott demokratisch? (O. Höffe), Ist die Kirche noch zu retten? (H. Küng), Gott ist aus der Kirche ausgetreten (H. D. Hüsch).

Seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs ist das Wort von der Zeitenwende in aller Munde. Diese Wortwahl von Olaf Scholz mag verständlich sein, doch hatte ich mir dieses Wort bislang für andere Zusammenhänge reserviert, so etwa die großen und höchst komplexen Wege von der Antike zum Mittelalter oder vom Mittelalter zur Neuzeit, von der Vor-moderne zur Moderne, von einer vor-industriellen zu einer industriellen Gesellschaft. Schon lange stehen die Kirchen in einer solchen epochalen Zeitenwende, vielleicht von der Moderne zu einer postmodern globalisierten Epoche, die jetzt vor Aller Augen offenkundig wird. Vergessen wir aber nicht: Die Historiker kennen darüber hinaus auch die große Zeitenwende, die sich an Christi Geburt orientiert, sodass mit dem Jahre Null das Christentum und damit die Epoche der wahren Religion begonnen hat. Diese Zeitenwende ist, wie ich hoffe, noch nicht an ihr Ende gekommen.

So gesehen können wir der Frage dieses Vortrags recht gelassen gegenübertreten und vor voreiligen Schlüssen warnen. „Hütet euch vor den falschen Propheten; sie kommen zu euch wie Schafe, in Wirklichkeit aber sind sie reißende Wölfe. An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.“ (Mt. 7, 15f) Schon der Weg von den ersten Frauen und Männern, die sich in der Nachfolge Jesu zusammenschlossen, bis hin zur wohlgeordneten Institution Kirche im 4. Jahrhundert war lang und ereignisreich. Vielleicht kommt es heute darauf an, diese Periode als eine eigene Periode zu entdecken.

Doch darauf komme ich später. Zunächst versuche ich, in aller Kürze die aktuelle Situation zu skizzieren (Teil I). Dann gehe ich auf die Schlüsselfrage ein, was wir eigentlich mit Säkularisierung meinen (Teil II). Daraufhin geht es um die gestellte Frage Ausgedient oder neu formiert? (Teil III), um schließlich kurz zu zeigen, was sich ändern muss (Teil IV).

I. Die aktuelle Situation

1.1 Zahlen

In unserem Kulturkreis, wir wissen es alle, steht es um die Institutionen der Kirche nicht gut. Dabei habe ich in erster Linie die römisch-katholische Kirche mit 21,6 Mio. Kirchenmitgliedern sowie die evangelischen Landeskirchen mit ihren 19,7 Mio. Angehörigen im Blick.[1] In diesem Jahr 2022 hat der kirchlich gebundene Bevölkerungsanteil der Bundesrepublik die Marke von 50% unterschritten und irgendwann sind staatspolitische Folgen zu erwarten. Vor allem wird die Abschaffung des staatlich organisierten Kirchensteuersystems die finanzielle Situation der Kirchen massiv schwächen; Staat und Kirche werden mehr gegenseitigen Abstand gewinnen. Die Trennung von Religion und Staat muss nicht die Ausmaße der französischen laïcité erreichen, aber manches Privileg wird verschwinden.

Noch wichtiger für die Zukunft mag sein: Der konfessionell verfasste Glaube hat seine Monopolstellung, also den Nimbus der alleinigen Wahrheit schon lange verloren, zumal andere christliche Denominationen und nichtchristliche Religionen in der zivilen Gesellschaft und in der Öffentlichkeit an Präsenz gewinnen. Schon jetzt leben unter uns etwa 5,5 Millionen Angehörige des Islam, das entspricht einem Bevölkerungsanteil von 6,5%. Mit uns leben etwa 0,3% Angehörige des Judentums (ca. 92.000), AnhängerInnen des Buddhismus und andere Religionen, die sich (noch) in einer Größenordnung von 0,1% bewegen.

1.2 Innerer Zusammenhalt

Die nachhaltigen Austritte aus den christlichen Kirchen, die wir seit Jahren erleben, sind kein aktuelles, auch kein typisch katholisches Phänomen, auch wenn gegenwärtig die katholischen Austritte besonders stark sind. Im Gegenteil, langfristig gesehen waren und sind die evangelischen Landeskirchen stärker betroffen. Wichtiger noch: Lediglich eine Minderheit der Austretenden benennt – auf katholischer wie auf evangelischer Seite – einen konkreten Anlass für den Kirchenaustritt (es sind 24% der vormaligen Protestanten und 37% der vormaligen Katholiken). Dabei zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang zum Alter: Jüngere Befragte nennen öfter konkrete Anlässe, doch ältere Befragte geben häufiger an, dass sie sich für diesen Schritt schon länger entschieden haben. Fast ein Fünftel unter ihnen nutzt eine sich ergebende „gute Gelegenheit“.

Das zeigt: Man kann die Austrittswellen nicht einfach auf die Missbrauchsskandale oder auf die goldene Badewanne von Tebartz-van Elst schieben. Auch reicht es nicht, auf die erwarteten Steuerersparnisse hinzuweisen. Wer nämlich aus finanziellen Gründen austritt, der hat schon zuvor eine innere Beziehung zur Sache verloren, um die es im Christentum geht. Es gibt offensichtlich tiefere Gründe und in der Tat erleben wir seit geraumer Zeit eine zwar schleichende, aber elementare, von innen kommende Entfremdung der Menschen von den Kirchen, umgekehrt aber auch der Kirchen von den Menschen.

Das bestätigen auch die Statistiken zu den katholischen Gottesdienstbesuchern in Deutschland von 1950 bis 2021. Im Jahr 1950 waren es noch 48%, 1980: 29%, 1990: 22%. Dann sinkt die Zahl noch schneller – 2010 auf 13% und 2016 auf 9%, 2020 schließlich auf 6% (vgl. Statista). Für 2021 werden 4.3% genannt. Die innere kirchliche Bindung wird von Jahr zu Jahr problematischer.

1.3 Prognose

Noch düsterer sehen die Prognosen aus: Die Anzahl von 23,3 Mio. katholischen Kirchenmitgliedern (2017) sinkt auf 18,18 Mio. im Jahr 2035 bzw. auf 12,2 Mio. im Jahr 2060, das ist ein Gesamtverlust von 48%. Die Mitglieder der evangelischen Landeskirchen werden im selben Zeitraum von 21,5 Mio. auf 10,5 Mio. schrumpfen, das bedeutet einen Verlust von 49%. Insgesamt ergibt das einen Rückgang von 44,8 Mio. auf 22,7 Mio., das sind nahezu 50%.

Zu fragen bleibt natürlich, welcher Verlass auf solche statistische Prognosen ist. Wie wir wissen, sind Prognosen oft gar nicht im Stande, künftige Faktoren und deren Auswirkungen angemessen zu erkennen. Es lässt sich nur sagen, dass kritischere Fachleute diese Standardprognose als recht optimistisch einstufen. U.a. weisen sie darauf hin: Spätestens seit der Jahrtausendwende lassen sich signifikant viele heiratswillige Christen nicht mehr kirchlich trauen und ihre Kinder nicht mehr taufen. Damit bricht ein wichtiger Stabilitätsfaktor der Mitgliederzahl weg. Freiwilligen- bzw. Erwachsenentaufen können diese Lücke nicht ausgleichen.

Natürlich sind diese ernüchternden Zahlen zu deuten und genauer auf ihre Folgen für die Zukunft der Kirchen hin zu befragen. Im Folgenden werde ich einen Zugang versuchen.

II. Säkularisierung

Ist das Christentum also zu einem Auslaufmodell geworden? Die Gesamtfrage ist entschieden komplexer, als es der erste Eindruck nahelegt, und wahrscheinlich wird sie noch von niemandem richtig durchschaut. Deshalb gehen auch die einschlägigen Darstellungen und Konzepte damit vorsichtig und hochdifferenziert um. Ich möchte das an Hand des Stichwortes „Säkularisierung“ verdeutlichen, das für die einen zum Zeichen des christlichen Untergangs, für die anderen zum großen Hoffnungszeichen für ein neues vitales Christentum geworden ist.

2.1 Ein komplexes Phänomen

Die außerkirchliche Debatte über den Rückgang der Religion war lange von der Säkularisierungsthese Max Webers (1864-1920) bestimmt. Sie lautete: Die Säkularisierung einer Gesellschaft, also die schwindende Bedeutung von Religion und Glauben in ihr, schreitet mit innerer Notwendigkeit im Maße ihrer wachsenden Individualisierung, Verwissenschaftlichung und Technisierung voran. Zudem ist die unumkehrbar. Eine verschwundene Religiosität kehrt nie mehr zurück, denn dieser Prozess entzaubert die individuelle und kollektive Welt- und Daseinserfahrung. Ist der Zauber durch die Macht von Wissenschaft und Technik einmal verschwunden, bleibt er für immer ferne. Max Weber wurde vielfach überprüft, bestätigt, differenziert. Doch seit etwa 30 Jahren wurden kritische Stimmen lauter und heute haben sie die Oberhand gewonnen. Ich nehme im Folgenden einige interessante Faktoren in den Blick, die bei der Gesamtentwicklung eine Rolle spielen.

Differenzierung
Soziologen verweisen auf die wachsende Differenzierung und Pluralisierung der Gesellschaft. Dabei verlieren die Religionen bzw. die Kirchen nicht einfach ihre Geltung, aber als weltanschauliche, kulturelle und moralische Gesellschaftsagenturen ihre Monopolstellung. Müssen Kirchen und Religionen aber Monopolstellungen behaupten? Die Großkirchen tun das nach wie vor, deshalb erfahren sie jede weltanschauliche Pluralisierung als einen unwiederbringlichen Verlust. Doch faktisch läuft die Entwicklung umgekehrt: Je mehr sich eine Religion bzw. Kirche heute als Wahrheits-, gar als Heilsmonopol begreift, umso mehr verliert sie in einer demokratische orientierten Gesellschaft an öffentlicher Bedeutung. Auch Kirchen müssen (und können) damit leben, dass sie nicht mehr die moralischen, die zivilen und kulturellen Werte eines Volkes von oben her bestimmen können. Dennoch erfahren kirchliche Kreise diesen Monopolverlust oft als Defizit, obwohl er sie von gesellschaftlichen Fesseln befreit.

Digitalisierung
Kultur- und Kommunikationstheoretiker erklären uns (was wir ohnehin schon wissen), dass die Möglichkeiten der Informations- und Unterhaltungstechnik massiv gewachsen, in ihrer Bedeutung geradezu aufgebläht sind. Rechner und Smartphone haben schon Einzug in die meisten Kinderzimmer gehalten, bestimmen die Tonlage der Wohnzimmer, unserer Betriebe und der Kultur. Unbestritten hat diese Entwicklung unsere Gesellschaft massiv verändert; ihre Oberflächenreize haben sich massiv intensiviert. Die Unterhaltungs-, Überwältigungs- und Ablenkungseffekte haben weit mehr zugenommen als ihr Tiefgang.

Der Umkehrschluss lautet: Die Kirchen haben zwar viele kulturelle, vielleicht auch staatsbürgerliche Wirkungsmöglichkeiten verloren. Diese sind in andere .Hände gelangt, doch bislang ist es den Kirchen nicht gelungen, ihr eigenes Thema zu finden, in dem sie kompetent oder mit-kompetent, wenn nicht gar unersetzlich sind. Wie viel Einfluss sie dabei verloren haben, zeigt die wachsende Bedeutung esoterischer, mystischer und asiatisch-religiöser Literatur und Elektronik Zu lange haben sich die Kirchen auf ihre traditionellen Vermittler verlassen, die vor allem in der traditionellen Liturgien, in einem alt eingesessenen Liedgut und in religiöser Musik beheimatet sind.

Das Außerordentliche bleibt
Religionswissenschaftler machen auf eine weitere Korrektur aufmerksam: Anders als Max Weber behauptet, lässt die Verwissenschaftlichung einer Gesellschaft das Außerordentliche, die Wunder des Lebens, nicht einfach verschwinden. Sie werden höchstens verlagert. Gott greift zwar nicht mehr ein, indem er Naturgesetze aufhebt, aber die Wunder des Alltags, die unerwarteten Glücksfälle, auch die unerklärlichen Unglücke bleiben und wollen begangen werden. Es sucht sich nur andere Ausdrucksformen. So bilden das Wunderbare und Rätselhafte, das Verborgene und Unerklärliche noch immer den Kern aller Religion und Religiosität und das Bewusstsein dafür ist in den vergangenen Jahren eher gewachsen. Der Grund der Säkularisierung ist also in der Religion bzw. in den Kirchen selbst zu suchen.

Kein weltweites Phänomen
Das spiegelt sich auch in der Tatsache, dass die Säkularisierung eben kein weltweites, sondern eher ein spezifisch west- und nordeuropäisches Phänomen ist. In asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern ist es nicht zu finden oder zeigt sich in anderen Formen. Nur bedingt vollzieht sie sich in Nordamerika, also in den USA und Kanada, wo die Religionen im Rahmen starker Marktmechanismen eher zersplittert sind, an politischer Bedeutung aber zugenommen haben. Zudem verweisen emanzipatorische Theologien (Politische Theologie, Befreiungstheologie, Schwarze Theologie, Feministische Theologie und kontextuelle Theologien) mit Vorzug auf die emanzipatorische Kraft und Bedeutung der Religion. Deshalb ist es viel sinnvoller, innerhalb der Religionen zwischen säkularisierungsanfälligen und säkularisierungsresistenten Elementen einer Religion zu unterscheiden, also die Frage zu stellen, wie kreativ sie mit einer neuen Welterfahrung umgehen.

Zwei damit einhergehende ehemalige Forschungsreihen über die Religiosität von Studierenden an meiner Universität Nijmegen haben diese Janusköpfigkeit der Religion bestätigt.
Im Rahmen der gängigen Säkularisierungsthese wurden Studierende nach ihrer Religiosität im Sinne einer kirchlichen Praxis befragt: Wie oft gehen Sie zur Kirche, zur Kommunion, zur Beichte? Begehen Sie besondere kirchliche Festtage? Sprechen Sie ein Abendgebet? Von Jahr zu Jahr wurden die Ergebnisse kleiner und die Säkularisierungstheoretiker konnten nur jubeln, denn die Population der Studierenden in Nijmegen säkularisierte sich in nachhaltiger Geschwindigkeit.
Doch ein zweites Forschungsprogramm stellte andere Fragen: Wie reagieren Sie beim Todesfall etwa Ihrer Eltern, von Freunden oder Nahestehenden? Suchen Sie bisweilen die Stille und gehen Ihnen religiöse Gedanken durch den Kopf, wenn es Ihnen weniger gut geht? Wie reagieren Sie auf schwere Enttäuschungen? Diese Ergebnisse sahen ganz anders aus: Die Studierenden hatten durchaus religiöse Gefühle, dachten sehr persönlich oder mit Nahestehenden über den Sinn des Lebens nach, zündeten vielleicht eine Kerze an.
Das Ergebnis war eindeutig: die kirchlich institutionalisierte Identität verflüchtige sich dramatisch, aber eine persönliche Religiosität, so vage und amorph sie sich auch zeigte, blieb bestehen. Damit war für die weitere Diskussion eine wichtige Unterscheidung gewonnen.

Bleibende Rituale
Diese Diskussion führte zu einem Gesprächsstand, der inzwischen zur binnentheologischen Standarddiskussion geworden ist. Die eine Gruppe verweist mit Recht darauf, dass sich in Westeuropa standardisierte Formen von Religiosität mehr und mehr verflüchtigen. Die andere Gruppe betont, auf Dauer verflüchtige sich alle Religiosität, wenn sie keine feste Form findet; reine Innerlichkeit verflüchtige sich zu reiner Befindlichkeit. Doch die Gegenfrage lautet, ob nicht eine neue verinnerliche Religiosität sich nicht verflüchtigt, sondern sich neue Forman der Frömmigkeit schafft. Das ist wohl auch der Grund dafür, dass bestimmte Formen der Religiosität, die man für überholt hielt, zurückkommen. Ich erinnere an die katholische Praxis des Rosenkranzes, an charismatische Elemente in evangelischen Gottesdiensten, auch an die Renaissance von Prozessionen, insbesondere des Jakobswegs nach Santiago de Compostela. Zu nennen ist auch die Praxis der „Jugendweihe“, die 1852 initiiert wurde, in der DDR ihre Blütezeit erlebte, nach 1989 aber alles andere als ausgestorben ist, sondern sich vielerorts mit christlichen Elementen verschwistert.

Die genannten Stichworte sind noch nicht systematisch verortet, sondern wie mit einem Kaleidoskop gestreut. Sie zeigen aber, dass die Frage nach wie vor in Bewegung ist und vielfältige Antworten hervorruft. Es besteht kein Grund für die Kirchen, weiterhin eine erstarrte Abwehrhaltung einzunehmen, sondern mit Neugier dem entgegenzusehen, was sich entwickelt.

2.2 Defizite der Kirchen

Es gilt also genauer nachzufragen: Was sind die konkreten Gründe für den dramatischen Relevanzverlust, wenn die Säkularisierung nicht mehr als Sündenbock dienen kann? Ich kann Ihnen keine unbestreitbaren Antworten geben, denn die wissenschaftliche Diskussion darüber ist relativ diffus. Doch ich gehe von einer grundsätzlichen These aus, für die viele Gründe sprechen. Seit den 1970er Jahren haben die Kirchen die Chancen für einen neuen Bedeutungsgewinn leichtfertig vertan. Leichtfertig nenne ich ihr Verhalten, weil es innerhalb wie außerhalb der Kirchen hinreichend Warnsignale und Reformvorschläge gab. Stattdessen haben sie sich zurückgezogen, in Erhaltungskämpfe verstrickt, den Besitzstand bewahrt, statt sich um ein neues Daseinsverständnis und um die neue Sprache der Gesellschaft zu kümmern.

Dafür sind die aktuellen Skandale von Missbrauch, Vertuschung und nur widerwilliger Wiedergutmachung nur ein eklatantes Beispiel, ein Symptom für tiefgreifende Missstände und eine dysfunktionale Haltung nicht nur der katholische Kirche, auch wenn gerade sie ihre systemischen Fehlentwicklungen noch immer verharmlost oder mit falschen Argumenten verteidigt. Der dramatische Bedeutungsverlust der Kirchen hängt m.E. mit folgenden fundamentalen Grundstrukturen zusammen:

Hoher Institutionalisierungsgrad
Im Vergleich zu anderen Religionen hat das Christentum (in allen seinen Ausprägungen) einen enorm hohen Grad an Institutionalisierung entwickelt. Er begann im 4./5. Jahrhundert und erreichte im 19. Jahrhundert seinen Höhepunkt. Die Kirchenmitgliedschaft ist exakt geregelt und kontrollierbar; streng theologisch gesehen ist ein Kirchenaustritt unmöglich. Genau geregelt sind Präsenz- und Teilnahmepflichten. Das sog. Territorialprinzip, demzufolge – mit Ausnahme der Orden und offiziell registrierten Kongregationen – alle Mitglieder einer Pfarrei zugeordnet sind, ermöglicht genaue Übersichten und erfordert hohe Identifikationsleistungen. Diese wurden zwar nicht immer erbracht, aber setzten die Betroffenen immer unter Druck. So war Christsein immer mit einem strammen Paket von offiziellen Pflichten und Lasten verbunden.

Hinzu kommt, dass sich seit dem Westfälischen Frieden von 1848 die Konfessionen im ständigen Wettstreit mit markanten Alleinstellungsmerkmalen versehen haben. Nach dem kanadischen Philosophen Charles Taylor leben diese Konfessionskirchen ihren Glauben nicht mehr wie selbstverständlich; die Gläubigen sind nicht mehr in ihre Kultur(en) eingebettet, wie das noch im Mittelalter der Fall war. Sie wurden vielmehr zu markern, die ihre Identität bewusst pflegen und wie eine Fahne vor sich hertragen. Jetzt glaubt man, um es mit J.B. Metz pointiert zu sagen, nicht mehr an Gott, sondern an seinen Glauben. Man feiert Fronleichnam, weil man katholisch ist und verzichtet auf die Vielzahl von Altarkerzen, weil man evangelisch ist. Man steigert sich so in Besonderheiten hinein, denen der Inhalt nicht mehr folgen kann. Den evangelischen Kirchenbesuch konnte man eher vernachlässigen, während der katholische Kirchenbesuch auch während der Woche erwartet wurde. Aus dieser Perspektive ist die wachsende Entkirchlichung der vergangenen Jahrzehnte keine überraschende Katastrophe, sondern eher der Rückschlag eines Pendels, das zu weit ausgeschlagen hatte. Wir erleben also den Rückbau einer autoritären Verkirchlichung, die sich zudem massiv auf staatliche Privilegien stützte.

Hochschwellige Ämterstruktur
Die klassischen Kirchen vor allem von katholischer Prägung, aber auch die lutherischen und reformierten Kirchen verfügen über eine erstaunlich hochschwellige Ämterstruktur. Die Aufgaben der AmtsträgerInnen sind hoch differenziert und bürokratisiert in Lehre, Leitung und sakral gottesdienstlichen Funktionen. Im katholischen Raum scheint die Figur des Priesters mit seinen sakramentalen Vollmachten alles andere zu überragen.

Ihnen entsprechen umgekehrt die Leistungen einer klaglosen Unterordnung und Verehrung. Lehre, Leitung, Rechtsetzung und Exekutive ruhen katholischerseits prinzipiell in einer Hand. Die Katholiken kennen die päpstliche (und gesamtbischöfliche) Unfehlbarkeit, aber auch die evangelische Gemeinde hat schweigend zu hören, wenn der Pastor predigt. Im katholischen Raum haben sich diese hochschwelligen Strukturen geradezu verselbständigt, sodass die Rede ist von einer Zweiständegesellschaft von „Priestern“ und „Laien“. Dies ruft massive Irritationen hervor, wie wir aktuell in der katholischen Kirche sehen.

Konstantinisches Erbe
Alle Großkirchen sind noch tief im Erbe einer Volkskirche verankert, die in der Konstantinischen Wende (mit dem Toleranzedikt von 325) grundgelegt wurde. Die kirchlichen Leitungsämter erhielten mit ihrem kaiserlichen Purpur eine hoheitliche Macht, die heute etwas verherrlichend „Vollmacht“ genannt wird. Damit übernahm die Kirche eine machtförmige Struktur, die prinzipiell von oben agierte, in Analogie zur staatlichen Macht handelte und alle Geschwisterlichkeit zurückdrängte. So erstaunt es nicht, dass diese Kirchen sich durch Jahrhunderte hin als Stabilisatorinnen gesellschaftlicher Verhältnisse begriffen und ihre Innenverhältnisse staatlichen Ordnungsprinzipien angeglichen haben. Bis heute ist ein konservatives staats- und gesellschaftserhaltendes Interesse die stille Begleiterin allen kirchlichen Handelns.

Griechische Lehrprodukte
Seit dem 4. Jahrhundert hat dieses macht- und ordnungspolitische Denken auch die offizielle Lehre der (ost- und weströmischen) Kirchen durchdrungen. Sie hatten sich damals schon vom biblischen Denkstil entfernt und griechisch-philosophische Denkformen (etwa eines Platon oder Aristoteles) übernommen. Bedenklicher noch: Interne fachtheologische Lehrstreitigkeiten, die zu oft komplizierten Formeln führen, gingen jetzt in die elementaren Glaubensbekenntnisse ein, als ob normale ChristInnen hochgebildete TheologInnen wären. Bis heute stehen die christliche Lehre von Jesus Christus[2] und vom dreifaltigen Gott[3] tief in dieser Tradition. Aus der ursprünglichen Erzählung der christlichen Botschaft in den (synoptischen) Evangelien ist ein zeitloses, genau definiertes und logisch bis in letzte Feinheiten austariertes Lehrsystem geworden. Als Musterbeispiel kann das „große“ Glaubensbekenntnis gelten, das 451 festgelegt wurde und von dem Jesus wohl nichts verstanden hätte.[4] Diese Lehre ist so zeitlos konzipiert, logisch und begrifflich so austariert, vor allem rechtlich so einklagbar, wie es eben die damaligen kaiserlichen Herrschaftsstrukturen verlangten, um die Einheit des römisch-byzantinischen Reichs zu wahren. Ich kann mich nur wundern, dass sich dieses Machtkonstrukt bis heute durchgehalten hat.

Kontrollinstrument und Misstrauenskultur
Erschwerend kommt hinzu, dass mit dem beginnenden 5. Jahrhundert die kirchliche Anthropologie zum Lenkungs- und Kontrollinstrument unmündiger Subjekte ausgebildet wurde. Die Erbsündenlehre, eine von Leibdistanz getränkte Erfindung Augustins, hat den Menschen zum geborenen Sünder degradiert, womit er die paulinische Rechtfertigungslehre überzogen hat. Leider hat der neuzeitliche katholisch-evangelische Rechtfertigungsstreit genau dieses Sündenbewusstsein nicht entschärft, sondern nach allen Seiten hin intensiviert. Bis heute herrscht in den großen Konfessionen ein tiefes, durch und durch unbiblisches Misstrauen gegenüber allen Freiheitsimpulsen, die oft dem „Zeitgeist“ zugeschrieben werden. Faktisch wurde dieses dunkle Menschenbild mit seiner schwarzen Pädagogik zur geistigen Basis für das vielfache entwürdigende Handeln der Kirchen an Menschen.[5] Man denke an Kreuzzüge und Ketzerjagden, Hexenverfolgungen, eine Sympathie für autoritäre Staatssysteme sowie an die bekannte geistige und körperliche Übergriffigkeit, dies alles unter Berufung auf einen autoritären Gott und den hoheitlichen „Pantokrator“ (Allherrscher), der gekommen ist, um für unsere Sünden zu sühnen und die Kirche dazu legitimiert, die Menschen zu züchtigen, da sie ohnehin nichts sind als Sünde (so Augustinus).

Bis heute gibt es in den Großkirchen eine Kultur des Misstrauens gegenüber menschlicher Mündigkeit. Ich weiß, auch innerhalb der Kirchen wird dieses Misstrauen zugleich bekämpft; wer liebt nicht das Wort von der „Freiheit der Kinder Gottes“. Doch ausgerottet ist es noch lange nicht, vielmehr bleibt es in unbewusster und diffuser, meist verdrängter Weise präsent: in liturgischen Gebeten, Kirchenliedern, Bachpassionen und in den Gebeten um Verzeihung für die Sünden der Welt. In der Schrift ist von dieser Sündenmentalität nichts zu finden.[6] So kann ich nachvollziehen, dass die Mehrheit der Betroffenen sich mit einem diffusen Gefühl der Unbehaglichkeit vom Acker macht.

2.3 Amorphe und anonyme Gläubigkeit

Gibt es zum kirchlichen Glaubensmodell jedoch außerkirchliche Alternativen? Angebote gibt es zuhauf, man rufe nur das Stichwort Esoterik auf. Doch keines von ihnen hat bislang den Eindruck der Beliebigkeit überwinden können. Selbst der prominente Anspruch des kämpferischen Atheismus mit seiner langen intellektuellen Tradition hat sich abgeschliffen und selbst führende Köpfe zogen sich inzwischen auf die Position eines Agnostizismus zurück. Gesamtgesellschaftlich leben wir in einer Epoche der lähmenden, amorphen und anonymen Unentschlossenheit. Man hält die Botschaft der Kirchen nicht unbedingt für falsch, vermutet dahinter oft etwas Bedenkenswertes. Aber man weiß nicht mehr, was man zu ihr sagen soll. Sprache und Argumente scheinen zu versagen, in einen unentwirrbaren Nebel zu stoßen. Dafür gibt es mehrere Gründe; ich nenne hier nur zwei:

Diskrepanz zwischen Realität und Glaubenswelt
Wer von uns sich der christlichen Tradition noch irgendwie verpflichtet weiß, erfährt in aller Regel eine Diskrepanz zwischen seiner eigenen profanen Lebenspraxis und der christlichen Erlebniswelt mit ihrem eigenen Darstellungskosmos in Sprache und Liturgie. Man kann sich mit den gelehrten Inhalten nicht mehr aktiv identifizieren, weil man sie nicht mehr richtig verstehen kann, möchte sich aber auch nicht ausdrücklich distanzieren. So wird die offizielle christliche Tradition großenteils verschwiegen oder verdrängt, obwohl sie unbewusst anwesend ist. Das macht uns sprachlos, oft ohnmächtig und gibt ein amorphes Gefühl der Unsicherheit. Die tiefenpsychologischen Wirkungen der klassischen kirchlichen Tradition können verheerend sein. Von Jesu befreienden Impulsen ist unter neuzeitlichen und postmodernen Verhältnissen nicht viel übriggeblieben.

Schein einer Faktenwelt
Ein zweiter Grund liegt in einer Verflachung dessen, was Glauben eigentlich meint. Glauben bedeutet für viele noch (in guter kirchenamtlicher Tradition), dass die Lehre der Kirche für wahr gehalten, wörtlich akzeptiert wird, man sich ihr gehorsam unterwirft. Die Kirche hat ihre Mitglieder zumal in der Neuzeit darauf trainiert, ihre christliche Sprach- und Glaubenstradition (mit ihren Gebeten, Bekenntnissen und Glaubensaussagen, Bildern und hoffenden Phantasien) eins zu eins als eine Faktenwirklichkeit zu verstehen. Natürlich konnten religiös engagierte Menschen auch anderes lernen, dass der Glaube nämlich von einem grundlebenden Gottes- und Weltvertrauen lebt. Hat sich dieses Bewusstsein aber durchgesetzt?

Die Distanz zu den empirischen Wissenschaften ist nach wie vor groß, als ob die Bibel ein naturwissenschaftlich beschreibendes Buch wäre. Innere oder grenzüberschreitende Glaubenswelten wie Himmel und Hölle, Engel, Seele, Paradies und Sündenfall, Gnade oder Gott gelten für viele ChristInnen nach wie vor als real existierende Gegen-stände und Gegen-Welten, die der Naturwissenschaft Paroli bieten müssen. Sobald sich diese real existierenden Vorstellungen aber (etwa in der Pubertät) auflösen, sie also den Härtetest der Naturwissenschaften nicht mehr bestehen, bricht das gesamte Glaubensgebäude als vermeintliche Kinderwelt zusammen. Der Schöpfungsbericht wird zu einem Märchen, mit dem man nichts mehr anfangen kann. Von Gott bleibt (nach Feuerbach) nur noch eine seelische Projektion übrig, die sich bei psychischer Gesundheit von alleine auflöst.

Ich höre den Widerspruch der Eifrigen unter uns, denn alle, die sich ernstlich mit diesen Problemen beschäftigen, könnten das schon seit Jahrzehnten besser wissen. Der kreative, symbolisch immer offene Charakter der Glaubenssprache ist hinreichend bekannt. Die Literaturwissenschaft weiß, dass die Sprache auch verborgene, wirklichkeitssprengende, geradezu unaussprechliche Wirklichkeiten zur Darstellung bringen kann. Doch innerhalb der Kirchenmauern ist dafür noch kein starkes Sensorium entstanden, weshalb auch ein solches Sprachbewusstsein vor vielen Kirchenschwellen haltmacht. In Rom werden noch heute Exorzisten ausgebildet, als säßen leibhaftige Dämonen in menschlichen Leibern. Der feingeistige Benedikt XVI. hat tatkräftig dafür gesorgt.

Antike Metaphysik und Mythen als Welterklärung
Mit der spätantiken Kirche (4.-8. Jh.) kam nicht nur ein überkomplexes Glaubensbekenntnis zu uns, wurden nicht nur Platon und Aristoteles, die Stoa und ein saftiger Anteil Leibdistanz zu uns transportiert, sondern eben auch das gesamte Weltbild, in dem diese Epoche lebte. Wie schon gesagt: Die offizielle Lehr- und Glaubenstradition der Kirchen ist noch immer von der antiken Metaphysik eines Platon und Aristoteles sowie der Stoa geprägt und das Mittelalter hat daran nicht viel geändert. Rudolf Bultmann hat den sensiblen Punkt schon vor 75 Jahren eindrücklich dargelegt und einen anderen Umgang mit mythischen Weltbildern verlangt. Da gab es – nach biblischem Vorbild – neben der Erde eine Über- und eine Unterwelt. Die Erde war keine 7000 Jahre alt, natürlich der Mittelpunkt der Welt und Gott griff nach Belieben in den Gang ihrer Natur ein. Im Inneren des Menschen tobten die Schlachten von guten und dämonischen Geistern, Besessenheit nicht ausgeschlossen.

Solche Welterklärungen haben ihre kulturelle Präsenz schon lange verloren, werden auch in den Kirchen kaum mehr offensiv vorgetragen. Aber man setzt sich mit ihnen eben nicht hinreichend auseinander, wagt es nicht, sie offen zu kritisieren. Wundergeschichten und Jungfrauengeburt bleiben mythenkritisch unkommentiert. Also bleiben die alten Vorstellungswelten noch unbewusst aktiv und höchst wirksam, obwohl sie im Alltag keinerlei Resonanz mehr finden. So leben viele ChristInnen mit ihrer Religion noch in einer Sonderwelt, die in ihrem Alltag keine Erdung mehr findet. Unmerklich schafft diese dauernde Reibung Irritationen. Sie frustriert und zermürbt, schafft unnötig ein schlechtes Gewissen und erzeugt bei den Kindern oft katastrophale Wirkungen. Solange die Kirchen diese Reibung mit einer säkular orientierten Gesellschaft nicht aktiv aufarbeiten und der alten Metaphysik in aller Form, wenn auch gut reflektiert, den Abschied geben, werden sich immer mehr Menschen von diesen Großinstitutionen abwenden.

2.4 Folgerungen

Die Gesamtlage ist hochkomplex. Bei meinen Ausführungen wurde Ihnen klar, dass ich immer wieder nur angedeutet, nur Richtungen signalisiert und mögliche Folgerungen genannt habe. Deshalb können meine Schlüsse auch nur einen allgemeinen Charakter haben. Mit diesem Vorbehalt im Rücken wage ich dennoch eine globale Folgerung: Die kirchlichen Großinstitutionen Mittel- und Westeuropas haben in ihrer aktuellen Form keine Zukunft mehr.

Sie werden nicht einfach verschwinden, dazu sind sie zu stark im Humus unserer Kultur verwurzelt. Aber sie werden sich aufspalten und gegenseitig lähmen. Die Hüter der traditionellen Identität werden sich auf identitäre Schrumpfformen zurückziehen.[7] Die gesellschaftspolitischen Wirkungen eines fundamentalistischen Christentums sind in den USA schon heute verheerend. Allerdings ist auch eine Gegenentwicklung zu erwarten. Denn die Zukunftsoffenen, wirklich Vertrauenden unter den Glaubenden werden sich zu kleineren und übersichtlichen, wenn auch vernetzten Gemeinschaften zusammenschließen. Sie werden politisch vielleicht schwächer und stiller sein, kulturell und gesellschaftlich aber einflussreicher und präsenter werden; sie können ihren Glauben neu zur Sprache und den Geist ihres Ursprungs wieder zum Tragen bringen. Der Staat wird sich als ihr freundlich gesonnener Partner eher zurückziehen, auf kommunaler und sozialer Ebene, vor Ort also, werden sie dennoch aktiver sein. Sie werden die vielschichtigen Säkularisierungsprozesse nicht mehr als Glaubensverlust, sondern – im Sinne der jesuanischen Reich-Gottes-Botschaft – als wachsende Solidarität mit Gesellschaft und Welt sowie mit deren großen Aufgaben wahrnehmen. Sie werden die angestammten narzisstischen, d.h. konservativen und selbstverliebten Neigungen konsequent überwinden.

Die geistigen und geistlichen Werkzeuge liegen dafür schon lange bereit. Ich erinnere nur an das dramatisch revolutionäre Jesusbild, das die historische kritische Exegese in den vergangenen Jahrzehnten neu erarbeitet hat. Es gibt das berühmte Wort des französischen Exegeten Alfred Loisy: „Jesus verkündete das Reich Gottes, doch gekommen ist die Kirche.“ Man hat dieses Wort lange als eine ironische Bemerkung kolportier. Doch Loisy hatte recht: Jesus wollte keine Kirche gründen, schon gar nicht im Sinn der konstantinischen Wende. Er kannte seine späteren Hoheitstitel nicht und suchte nicht seinen Tod, schon gar nicht einen Sühnetod, hätte auch von der Erbsünde nichts verstanden. Durch sein Handeln und seine Zuwendung zu den Verlorenen ließ er vielmehr das durch und durch säkulare, weil human orientierte Reich der Gerechtigkeit beginnen.

III. Ausgedient oder neu formiert?

Fragen wir vor diesem Hintergrund erneut: Hat die Institution Kirche im 21. Jahrhundert ausgedient? Ja, das aktuelle Paradigma der in Deutschland existierenden Kirchen (konkret: der römisch-katholischen Kirche sowie der evangelischen Landeskirchen) hat ausgedient. Dabei denke ich in erster Linie an ihre staatlich abgesicherte gesellschaftliche Position sowie an die Ansprüche, die sie daraus ableitet. In zweiter Linie denke ich an ihre internen Lehr- und Autoritätsstrukturen, die selbstzerstörerische Züge aufweisen. Die Zukunftsprognosen sind, wie wir gesehen haben, entsprechend.

Doch genauer besehen sind diese Kirchen noch immer hochdifferenzierte, gegebenenfalls äußerst flexible Gebilde, wahre Künstlerinnen des Überlebens. Schon während der Französischen Revolution galt ihr Ende als besiegelt und im Kabinett Bismarcks wurden Wetten über ihr Lebensende abgeschlossen. Die russische Orthodoxie überlebte den brutalst möglichen Atheismus und Polen gilt als Musterbeispiel für die Kunst, schwierigste Zeiten mit Bravour zu überleben. Deshalb möchte ich die mir gestellte Frage, allen schlechten Prognosen zum Trotz, nicht mit einem simplen Ja oder Nein beantworten, dies aus mehreren Gründen:

3.1 Die Hartnäckigkeit von Religion

 Weltweite Verbreitung
Die klassischen Großkirchen (Katholizismus, Protestantismus und Orthodoxie) sind weltweit verbreitet. Gleiches gilt für viele Charismatische bzw. Freikirchen und die sog. Unabhängigen Kirchen. Sollten die Kirchen in unserem Kulturraum ausgedient haben, sagt dies für andere Kulturräume wenig aus. Ich gehe noch einen Schritt weiter und behaupte, dass die Kernsubstanz des christlichen Glaubens unwiderruflich in das kulturelle Welterbe eingegangen ist. In diesem Gesamtgefüge können christliche Glaubensgemeinschaften nicht einfach verschwinden.

Im Rahmen der Zivilgesellschaft
Auch in Deutschland werden die Kirchen nicht einfach verschwinden, weil wir in einer hochdifferenzierten und pluralisierten Gesellschaft leben. Zwar werden sie, wie gesagt, ihren starken kulturellen Einfluss verlieren, doch finden sie immer wieder Nischen, vielleicht wichtige Inseln des Überlebens und Räume eines neuen Wirkens. Wenn eine Restgruppe der Kirche, oder sagen wir: wenn eine Kirche in einem anderen Paradigma ihre neue Situation akzeptiert und im Sinne der Jesuserinnerung kreativ interpretiert, kann sie sich neu in den Dienst von Mitmenschen, der Ausgeschlossenen zumal, und in den Dienst einer gewaltfreien Gesellschaft stellen. Soziologisch formuliert: Sie wird als Teil der Zivilgesellschaft innerhalb ihres Rahmens agieren.

Dazu gehören auch (1) eine konsequente Kooperation mit anderen Religionen und (2) anderen human orientierten Kräften sowie (3) eine ungleich größere Selbständigkeit der Gemeinschaften vor Ort, etwa auf kommunaler Ebene, dies wiederum setzt eine (4) demokratische Organisation voraus.

Paradigmenwechsel der Religionen
Kirchen- und Religionsgeschichte zeigen ferner, dass das Christentum und andere Weltreligionen über eine enorme innere Wandlungskraft und eine epochale Fähigkeit zur Anpassung verfügen; Hans Küng hat dieses Phänomen unter dem Begriff des Paradigmenwechsels analysiert sowie an Judentum, Christentum und Islam demonstriert. Ich halte einen solchen Paradigmenwechsel auch in den Kirchen Westeuropas für unausweichlich. Ob sich die aktuellen Kirchenleitungen über seinen solchen Wechsel freuen, weiß ich nicht, sie können ihn aber nicht verhindern. Möglicherweise müssen sie einen hohen Preis bezahlen.

Indische Religionen als Beispiel
Ein Grund für die Zählebigkeit der christlichen Kirchen und Gemeinschaften liegt in der Tatsache, dass Weltreligionen nicht einfach verschwinden, sondern zur Not tiefgreifende Metamorphosen eingehen. Ein Musterbeispiel sind für mich die Religionen Indiens (die man in der Regel als „Hinduismus“ zusammenfasst), die vor 3.500 Jahren begonnen haben. Sie erfuhren enorme Wandlungen und strahlen dennoch eine starke, ursprungsbezogene, aber höchst flexible Identität aus. Sie integrieren eine radikale, in gewissem Sinn monotheistische und mystische Verinnerlichung und Vergeistigung, andererseits ergehen sie sich in einer ungezügelten Sinnlichkeit und Göttervielfalt, die in anderen Kulturen Ihresgleichen sucht. Flüsse und Tiere sind von Heiligkeit geradezu durchtränkt. Dennoch bleibt das Göttliche das absolut Jenseitige, dem ich mich nur in konsequentester Konzentration nähern kann. Zugleich hält diese religiöse Vielfalt die enorme Spannung zum Buddhismus aus, der sich – in Reaktion auf die indischen Religionen – der Nennung eines Gottesnamens überhaupt versagt.

Offensicht liegt der Grund für diese enorme Anpassungskraft in einem unstillbaren religiösen Bedürfnis von Menschen und Gemeinschaften nach einer religiösen Grunderfahrung, gleich wie sie auch erfahren wird. Etwas platt formuliert: Würden heute die aktuellen Religionen verschwinden, würden morgen neue Religionen entstehen. Der Tübinger Jugendpsychiater Gunther Koslinski drückte es so aus: „Niemand muss glauben, aber keiner kommt drum herum.“ Wenn die großen Religionen verschwinden, werden beliebige Quasi- oder Pseudoreligionen erstarken, die jetzt schon ihre  Wurzeln geschlagen haben. Ich vermute, dass es die Geschichte Jesu mit ihnen jederzeit aufnehmen könnte.

3.2 Der weltliche Umgang mit Kontingenz

Sozialkapital
Hinter der Zählebigkeit von Religionen steckt auch eine wichtige Erkenntnis der Religionssoziologie und –psychologie: Eine jede Gesellschaft lebt aus einem Überschuss an Werte-, Sinn- und Unsinn-Erfahrungen, an ethischen Apellen und Zumutungen. Diese müssen dargestellt und begangen, gemeinsam oder individuell verarbeitet werden. Der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde erklärt in einem Aufsatz zum säkularisierten demokratischen Staat: Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“[8] Wie aber geht er damit um? Genau diese Antwort will Böckenförde offen lassen. Der Staat selbst muss sie finden und im Gespräch mit seiner Gesellschaft aushandeln. Inzwischen hat sich die These von Böckenförde auch konkretisiert. Es geht ja nicht um eine abstrakt theoretische Antwort, schon gar nicht um ein offiziell verfügtes Christentum, sondern um eine „gesellschaftserhaltende“ Praxis, die auch von Religionen und mit Hilfe ihrer Sensoren zu finden ist.

 Im Blick auf diese Praxis haben Religionssoziologen den Begriff des Sozialkapitals geprägt, das neben anderen Gruppierungen der zivilen Gesellschaft auch von Religionen entwickelt werden kann. Zu diesem Sozialkapital gehören Vertrauen, Normen, gegenseitige Unterstützung und informelle Beziehungen in einer Gesellschaft, die ein koordiniertes Verhalten der Mitglieder ermöglichen. Hartmut Rosa kommt dadurch zur (etwas einfachen) These Demokratie brauche Religion.[9]

 Doch daraus lassen sich für eine Religion keine Rechte, allenfalls staats- und gesellschaftspolitische Erwartungen ableiten und es wäre genauer zu untersuchen, wie ein elementares Vertrauen, wirksame Normen und gegenseitige Solidarität von Grund auf entstehen können.[10] Auf keinen Fall lassen sie sich mit Hilfe von Pflichtübungen herstellen, und seien sie noch so religiös. Auch lassen sie sich nicht objektivieren. Sie wollen aber irgendwo erkundet, erprobt und vorgelebt, intellektuell verarbeitet, symbolisch vergegenwärtigt, in zweckfeien Handlungen begangen und im Alltag realisiert werden. Noch einmal: Das sind keine speziell religiösen, aber es sind urmenschliche Erfahrungen die auch im religiösen Raum zu Hause sind. Dies ist vielleicht der entscheidende Grund dafür, dass Religionen und Religiosität immer schon auch eine weltliche, säkulare Dimension bedienen und aus ihr leben.

Säkulare Dimension
Religionssoziologen sagen uns heute: Religionen versuchen, das Jenseitige aktiv ins Diesseitige hereinzuholen. Das schafft eine endlose Spannung zwischen dem Verfügbaren und einer unverfügbaren Realität. Religionen weichen dieser Wirklichkeit gerne in dem Maße aus, als ihre Institutionen erstarken und sich selbst mit Prunk und hoher Liturgie als das Jenseitige präsentieren. Das könnte auch erklären, warum die aktuellen Kirchen sich im Laufe der Neuzeit immer mehr über der Welt eingerichtet haben.

So ließen sie die Welt in gewissem Sinne im Stich. Die evangelische Tradition kennt die Losung der sola gratia („allein durch Gnade“). In unserer säkularisierten Gesellschaft führte sie immer mehr zu einer besserwisserischen, erhabenen Innerlichkeit. In der katholischen Theologie erstarkte im 19. Jahrhundert hingegen der Begriff der „Übernatur“. Er erweckt den Eindruck, Gott und die Kirche seien nicht in, sondern über der Welt zu Hause, sodass mustergültige KatholikInnen jetzt schon ein überirdisches Leben führen. Sobald sich eine Religion jedoch als Gegensatz zur verderblichen Welt, also zum überweltlich erhabenen Phänomen definiert, verliert sie langfristig ihre natürlichen Ressourcen. Sie wird kraftlos, denn weltliche Werte und Sinnerfahrungen werden nur noch halbherzig übernommen.

Wie Eisberge, so tief
Religionen sind ja wie Eisberge. 90% ihres Volumens befinden sich immer unter Wasser, nur 10% ragen heraus und werden überhaupt als Eisberge erkennbar. Ebenso sind 90% einer Religion eine Welt-Wirklichkeit, die im profanen Alltag anonym mit-schwimmt und von ihm mit-geformt wird; Hans Küng spricht von impliziter Religion. Nur auf ihrem Rücken kann sich ein kleiner Anteil dieser Wirklichkeit zur expliziten Religion erheben. Er lässt sich nicht aus sich heraus erklären, sondern allenfalls in beliebiger „Dichtheit“ von unten her beschreiben; die Religion an sich gibt es nicht. [11] Es gibt sie nur in unterschiedlichsten Formen, die kulturell bestimmt sind. Diesem Tatbestand hat die christliche Religion seit dem 4. Jahrhundert aus einem Überlegenheitsbewusstsein heraus nachhaltigen, oft erbitterten Widerstand geleistet.

Jetzt, nach über eineinhalb Jahrtausenden, bricht im alten Europa dieser Widerstand im Zug der weltweiten Globalisierung zusammen und es ist Zeit, dass das Christentum seine innere Verwandtschaft mit anderen Religionen sowie mit human orientierten Weltanschauungen anerkennt. Sie sind ja – unter Wasser, um im Bild des Eisbergs zu bleiben – Bundesgenossinnen, die ebenfalls aus der Wahrheit zu leben versuchen.

IV. Was sich ändern muss

Ich rechne also mit einer tiefgreifenden und vielschichtigen Metamorphose der christlichen Kirchen, vergleichbar der tiefgreifenden Metamorphose der „abendländischen Kultur“, die schon seit Jahrzehnten im Gang ist. Ihre Kennzeichen werden sein:

4.1 Abschied von der Vormoderne

 Ursprungsgeschichte Jesu
Verlust aller hoheitlichen Funktionen und aller hoheitlichen Ansprüche. Die Bibel wird nicht zum göttlichen Informationssystem überhöht, sondern als (hohe und zeitgebundene) Literatur von Weltrang respektiert, gehört und umgesetzt. Alle Regelungen lassen sich funktional an der Suche nach Menschlichkeit und an der Ursprungsgeschichte Jesu messen. Der christliche Glaube lässt sich als Nachfolge Jesu identifizieren, wird also nicht mehr auf die enormen Überbauten ihrer „geheiligten“ Traditionen fixiert.

Intensive Gemeinschaftspraxis
Die konkrete Strukturierung und Gestaltung christlicher Gemeinschaften ist nicht nach autoritären oder archaischen Mustern festzulegen. Im Zentrum wird eine intensive Gemeinschaftspraxis stehen, die die Grenzen und Überschreitungen, die Geschenke und Einbrüche, die Übergänge und Katastrophen des Lebens begeht. Sie steht allen Suchenden offen und widersetzt sich konsequent den naheliegenden Tendenzen zur Selbstabschließung. Narzissmus wird als ihr gefährlichster Feind erkannt.

Dynamische Netzwerke
Christliche Gemeinschaften treten innerhalb der zivilen Gesellschaften als dynamische Netzwerke und mit ihnen auf. Sie beanspruchen keine Sonderrechte, setzen sich vornehmlich für soziale und human orientierte Belange ein und nehmen die Kontingenzerfahrungen der Menschen (vom individuellen Tod bis zur beschämenden Armut) ernst. Ihr Bekenntnis nimmt im Sinn der Evangelien eine narrative Grundgestalt an.

4.2 Strategien der Solidarität

Geschwisterlichkeit
Die erneuerten christlichen Gemeinschaften bleiben international, eventuell ihm Rahmen ihrer Denominationen, nach geschwisterlich-demokratischen Prinzipien aufeinander bezogen. Autoritäre Beziehungen werden nach Möglichkeit vermieden.

Interreligiosität
Der Austausch mit anderen Religionen spielt im Handeln und Feiern eine zentrale, gesellschaftlich unverzichtbare Rolle. Gemeinsamkeiten werden erarbeitet und weitergeführt. Dies geschieht im Rahmen offener Prozesse und im Rückgriff auf schon bestehende Initiativen. Man denke an Religions for Peace, die Konferenz(en), Tische und Gärten der Religionen oder an das Projekt Weltethos. Solche Initiativen entfalten Ihre Wirkung nicht durch erhabene Geltungsansprüche, sondern durch überzeugende Inhalte und gegenseitige Inspiration.

Zivile Religion
Je nach Anlass, Bedürfnis und öffentlicher Wertschätzung sind religiöse Gemeinschaften bei besonderen Anlässen zur Gestaltung öffentlicher religiöser Veranstaltungen bereit. Dienstleister für sinnvolle religiöse „Zwecke“ zu sein, verletzt nicht die Würde einer Religion. Es gilt das Modell der zivilen Religion, die in den USA, auch in England und anderen Ländern stark ausgeprägt ist. Zudem verweist Detlef Pollack auf ein merkwürdiges Phänomen: Je mehr in Deutschland die Kirchen an öffentlichem Einfluss verlieren, umso mehr gewinnen in der säkularen Öffentlichkeit Sinnfragen an Interesse. Darauf weisen auch die massive Moralisierung in den Medien sowie Intensivierung von Inklusions-, Gender- und Gerechtigkeitsfragen in den öffentlichen Medien hin. So bleibt den Religionen eine Fülle öffentlicher Arbeit.

Innere Auseinandersetzung
Der unvermeidliche institutionelle Wandel der uns bekannten Kirchen wird die intensiven Auseinandersetzungen um Wesen und Identität von Kirche noch steigern. Umso wichtiger ist es, dass die Kirchen endlich ihre internen und gegenseitigen Konflikte aufgreifen, aber auch relativieren. Das peinliche Schauspiel muss aufhören, das sich im Augenblick etwa die deutsche Kirche und der Vatikan leisten. Es kommt nicht auf Glaubensbekenntnisse und die Macht der Institutionen an, sondern auf das konkreten Verhalten von Kirchen und Religionen, denen sich auch das Christentum vorbehaltlos stellen muss: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“ (Mt 7.16).

Zum Schluss: Wie zeigt sich das Wesen einer Religion?

Bislang sind die aktuellen christlichen Theologien vorrangig von konfessionellen bzw. denominationalen, also von bestimmten kulturellen oder kontextuellen Interessen bestimmt. Deshalb konzentrieren sie sich vornehmlich auf kirchliche Bekenntnisse und Lehren, spezielle Gottesbilder oder Heilserwartungen, kirchliche Strukturen und moralische Standards. Vergleichbares gilt für andere Religionen, insbesondere die „Weltreligionen“, deren Identität aus diesen Bekenntnissen abgeleitet wird.

Ich vermute, dass wir auch an diesem Punkt vor einem tiefgreifenden Paradigmenwechsel stehen. Hans Küng hat ihn in seinem Weltethos-Programm instinktiv vorweggenommen. In seinen Religionsstudien beließ er es nicht bei den Glaubenslehren, die für ständige Auseinandersetzungen und Rechthaberei sorgen, sondern stellte die ethischen und spirituellen Gestaltungs- und Verhaltensziele der Religionen ins Zentrum.

Dieser Zugang führte zu einem höchst erstaunlichen Ergebnis: Die letzte Zielsetzung der kulturell und historisch so unterschiedlichen Religionen ist überwältigend. Im Kern aller großen Religionen und human orientierten Weltanschauungen steht offensichtlich die Goldene Regel, säkular ausgedrückt: das Ideal der Menschlichkeit. Dieses wird in einzelnen Kernhaltungen präzisiert, die den grundlegenden Lebensstrukturen der Menschen entsprechen: Hochachtung vor dem Leben, Eifer für Gerechtigkeit, aktive Wahrhaftigkeit, gegenseitige Partnerschaft sowie ein sorgsamer Umgang mit der Erde und ihrer Natur.

Wird dabei Gott, die zentrale Bezugsgröße aller Religionen, nicht vergessen? Dies gerade nicht, denn wer Mensch, Gesellschaft und Erde vorbehaltlos bejaht werden, dann wird in theologischer Interpretation das Göttliche in Mitmensch und Welt bejaht. Dem Gebot der Gottesliebe ist das säkulare Gebot der Menschenliebe gleich. Diese Gleichsetzung könnte zur maßgeblichen Maxime einer jeden künftigen Religionserkundung werden.

Hat die Kirche im 21. Jahrhundert also ausgedient? So schnell nicht. Immerhin haben wir schon ein Fünftel des Jahrhunderts hinter uns. Aber langfristig, ich wiederhole es, haben die Kirchen in ihrer klassischen europäischen Gestalt ausgedient. Sie müssen ihre privilegierte Situation im Staatsgefüge aufgeben, damit auch ihre öffentlichen Relevanzansprüche, das aktuelle Kirchensteuersystem sowie ihren Anspruch auf Staatsleistungen, wie sie sich umgekehrt dem staatlichen Rechtssystem vorbehaltlos unterwerfen müssen.

Was aber konkret aus den real existierenden Kirchen wird, das konkret zu benennen, überschreitet meine Fähigkeiten und meine Phantasie. Bleiben werden aber die Fragen nach Sinn, Sinnverlust und Sinnerfüllung, nach Herkunft und Zukunft sowie das Bedürfnis, die überragenden Sinnerfahrungen gemeinsam zu begehen und zu feiern.

Grundlagenliteratur:

Peter L. Berger, Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz, Frankfurt 1970;
Gert Pickel, Religionssoziologie. Eine Einführung in zentrale Themenbereiche, Wiesbaden 2011;
Detlef Pollack, Gergely Rosta, Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt 22022;
Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1999;
– Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Suhrkamp, Berlin 2017,

Anmerkungen

[1] Nicht berücksichtigt sind: Evangelische Freikirchen (294.000), Orthodoxe Kirchen (3.176.000), andere christliche Kirchen (377.000), andere christl. Gemeinschaften (210.000). [evang. Methodistische Kirche (6.500.000)]

[2] Den Kern dieser Christologie bildet die sog. Zwei-Naturen-Lehre: Jesus Christus ist eine Person in zwei Naturen, einer göttlichen und einer menschlichen. Wie sich diese beiden Größen zueinander verhalten, ist zwar bis heute noch nicht abschließend geklärt, muss aber als Glaubenssatz bekannt werden.

[3] Den Kern dieser Lehre bildet die Dreifaltigkeitslehre: Gott ist ein Wesen in drei Personen (Vater, Sohn und Geist). Ihr genaues gegenseitiges Verhältnis ist bis heute noch nicht geklärt. Dazu gehört etwa die Frage, ob  der Sohn aus dem Vater durch den Heiligen Geist oder aus dem Vater und dem Heiligen Geist hervorgeht. Über den Begriff der göttlichen Person wurden noch in den vergangenen Jahren kluge Abhandlungen geschrieben, z.B. über die innergöttlichen Personen als „substierende Beziehung“ (Thomas von Aquin). Was aber soll das sein, eine in sich existierende Beziehung und wie soll ich mir Jesus von Nazareth als solche vorstellen?

[4] Man versuchte z.B. die christologischen Passagen dieses Glaubensbekenntnisses Wort für Wort zu verstehen und wirklich nachzuvollziehen: „Und an den einen Herrn Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, aus dem Vater geboren vor aller Zeit, Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater; durch ihn ist alles geschaffen …“

[5] Hermann Häring, Ein beschädigtes Menschenbild, in: Christ in der Gegenwart, 49/2022, S. 3f.

[6] Unübertrefflich karikiert Thomas Mann dieses verselbständigte Sündenbewusstsein in Buddenbrooks (1901): „Ich bin ein rechtes Rabenaas,/ Ein wahrer Sündenkrüppel./ Der seine Sünden in sich fraß,/ Als wie der Rost den Zwippel./ Ach Herr, so nimm mich Hund beim Ohr,/ Wirf mir den Gnadenknochen vor/ Und nimm mich Sündenlümmel/ In deinen Gnadenhimmel!“

[7] Man kann sie heute schon erleben. Als katholischer Theologe verweise ich (stellvertretend für andere) auf das Opus Dei, die weltweit verbreitete Piusbruderschaft und die berüchtigte Kongregation der Legionäre Christi. Sie und viele andere werden von Rom aktiv gefördert. Doris Wagner hat die repressiven Verhältnisse der Kongregation Das Werk aus eigener Erfahrung analysiert.

[8] Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in; Recht, Staat, Freiheit, 2006, 112f.

[9] Harmut Rosa, Demokratie braucht Religion. Mit einem Vorwort von Gregor Gisy, München 2022.

[10] Das Projekt Weltethos zielte genau auf weltweit akzeptierte, lebensfördernden und lebensnotwendige Grundwerte und Normen ab, die es u.a. in den Weltreligionen als gemeinsamen Schatz erschließt.

[11] Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt 1987/94.

Gliederung des Textes:

I. Die aktuelle Situation

1.1 Zahlen
1.2 Innerer Zusammenhalt
1.3 Prognose

II. Säkularisierung

2.1 Ein komplexes Phänomen:
Differenzierung – Digitalisierung – Das Außerordentliche bleibt – Kein weltweites Phänomen – Bleibende Rituale
2.2 Defizite der Kirchen:
Hoher Institutionalisierungsgrad – Hochschwellige Ämterstruktur – Konstantinisches Erbe – Griechische Lehrprodukte – Kontrollinstrument und Misstrauenskultur
2.3 Amorphe und anonyme Gläubigkeit:
Diskrepanz zwischen Realität und Glaubenswelt – Schein einer Faktenwelt – Antike Metaphysik und Mythen als Welterklärung
2.4 Folgerungen

III. Ausgedient oder neu formiert?

3.1 Die Hartnäckigkeit von Religion:
Weltweite Verbreitung – Im Rahmen der Zivilgesellschaft – Paradigmenwechsel der Religionen – Indische Religionen als Beispiel
3.2 Der weltliche Umgang mit Kontingenz:
Sozialkapital – Säkulare Dimension – Wie Eisberge, so tief

 IV. Was sich ändern muss

4.1 Abschied von der Vormoderne:
Ursprungsgeschichte Jesu -Intensive Gemeinschaftspraxis – Dynamische Netzwerke
4.2 Strategien der Solidarität: Geschwisterlichkeit – Interreligiosität – Zivile Religion – Innere Auseinandersetzung

 Zum Schluss: Wie zeigt sich das Wesen einer Religion?

Grundlagenliteratur

Der Text geht auf einen Vortrag beim Studium Generale der Univ. Stuttgart am 30.11.2022 zurück. Die statistischen Darstellungen konnten nicht wiedergegeben werden.