Worte zur Corona-Krise 6: In Gottes Händen?

Freundinnen und Freunde,
Auf der Suche nach einem letzten Geheimnis!

Noch immer liefern uns Religionen umfassende und sehr wirksame Lebens- und Weltmodelle. Sie können – so jedenfalls ihre eigene Überzeugung – uns anleiten zu einem sinnvollen Umgang mit Unrecht, Katastrophen, Elend und Tod. Sie beeinflussen und prägen die übergroße Mehrheit der Menschen, gleich ob Frauen oder Männer, Jugendliche oder Kinder. Darunter sind Christen (2,25 Mrd.), Muslime (1,6 Mrd.), Hindus (1,1 Mrd.), Buddhisten (468 Mio.), Juden (17 Mio.) und andere Religionen (857 Mio.). Die mir vorliegende Statistik fügt 792 Mio. Menschen hinzu, die sich religionslos nennen. Natürlich sind solche Globalstatistiken immer umstritten, doch ihrer großen Linie ist zu trauen. Die Säkularisierungsprozesse, über die vor allem die christlichen Kirchen klagen, betreffen die Länder des westlichen Kulturraums, auch dort eher den aktiven Gottesdienstbesuch als innere Haltungen und Fragen.

1. Die Sprachen von Religion und des Corona-Virus

Insgesamt verliefen die religionsfeindlichen Großexperimente leninistischer und maoistischer Prägung erfolglos und neuere atheistische Intellektuellenprogramme stoßen mangels durchschlagender Überzeugungskraft schnell an ihre Grenzen. Ich erinnere an den brillanten englischen Evolutionsbiologen R. Dawkins, der vor 15 Jahren mit seiner Brights-Bewegung versuchte, einem „Neuen Atheismus“ evolutionsbiologisches Leben einzuhauchen (Der Gotteswahn 2006). Dieser messianische Wissenschaftsbote scheiterte daran, dass die Theologie, auf die er eindrosch, schon Jahrzehnte überholt war. Seine Adressaten hätte er zwar unter reaktionären und fundamentalistischen Glaubensvertretern finden können, doch diese lasen seine Bücher nicht.

Was sollen diese Bemerkungen angesichts der Corona-Krise? Schmerzlich fällt mir auf, dass bislang ein ermutigendes und orientierendes Wort christlicher oder muslimischer Institutionen ausgeblieben ist. Doch will ich hier nicht in die Bresche springen, gar angesichts der gegenwärtigen Krise einen Beweis für religiöse Wahrheiten liefern. Solche Wahrheitsbeweise führen ohnehin in die Irre. Zudem wird das Corona-Virus dem Fortbestand der Religionen wohl nicht schaden; vielleicht wird es sie verändern. Nach meinem Dafürhalten ist das Leiden gerade nicht der Fels des Atheismus, wie G. Büchner erklärt. Es ist allenfalls der Fels einer Religions- und Kirchenkritik, die sich an Gottes wohletabliertem Bodenpersonal abarbeitet und lieber vertröstet, statt Empathie, Solidarität und unerschöpfliche Mithilfe zu aktivieren. „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.“ (Mt 7,16)

Umso unbefangener können wir dort, wo es notwendig ist, kritisch mit unseren Religionen umgehen und die Religionsvertreter sollten die Schwachpunkte besprechen, die die Pandemie ans Licht bringt. Ich beschränke mich hier auf die monotheistischen Religionen, vor allem auf Judentum, Christentum und Islam, die ihre Hoffnung auf den Einen Gott setzen, der die Welt erschaffen hat und in Händen hält. Inzwischen sind es aber eine Welt, ein Leben und ein Mensch, die von den Naturwissenschaften erforscht werden. Deren ungestümer und handlungsbereiter Erkenntnisdrang hat ein imposantes Wissensgebäude errichtet, das viele als ein Konkurrenzunternehmen zur Religion erfahren. Schließlich stellt auch die Wissenschaft die Frage, was Welt, Mensch und Natur letztlich zusammenhält, und sie haben manche religiöse Zwischenbehauptung schon widerlegt.

Die genannten Religionen gründen auf einer mutigen, aber auch waghalsigen Überzeugung. Sie präsentieren „Gott“ als eine Person, dessen Abbild wir Menschen sind, als ein Ich mit Verstand und Willen, zu Handlungen und Entscheidungen befähigt. Diese göttliche und all-überlegene Person hat die Wirklichkeit geschaffen und nach seinem Willen geordnet. Eine alles besiegende Liebe und Allmacht zeichnen diese Person aus, ein unbändiger Wille zur (notfalls strafenden) Gerechtigkeit, auch wenn er dieser erst nach vielen Niederlagen zum Sieg verhelfen wird. Einst wird dieser Sieg endgültig und unerschütterlich sein, jetzt schon ist er in seiner Erhabenheit zu erkennen. Schon als Kind beeindruckte mich der Psalmvers, den Haydn später so wunderbar vertont hat: „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes und seiner Hände Werk zeigt an das Firmament.“

Covid-19 spricht eine andere Sprache. Dieses Virus kündet keine erhabene Naturherrlichkeit, sondern ein weltweites Verderben. Es lässt sich nicht auf ungezügeltes Leben, Kriege oder Gewalttaten zurückführen, vielmehr lief schlicht ein unbeherrschbar chaotisches System aus dem Ruder, das uns gerade nicht mit Sinnerfahrungen, sondern mit einem Tsunami der Sinnlosigkeit überzieht. Die Erfahrungen, die es auslöst, sind durch und durch destruktiv. Da lässt sich nicht mehr behaupten, Gott schicke wie bei Pharao die Plagen, um zur Rettung später das Rote Meer zu spalten.

2. Lehren aus der großen Pestepidemie

Anlass zu Zweifeln bot schon die große Pestepidemie des 13. Jahrhunderts. Schon sie hatte, wie mir eine Historikerin berichtet, auch religiöse Konsequenzen. Angesichts der 25 Millionen Toten hielt schon damals die Theodizeefrage nicht mehr stand, denn als gerechte Sündenstrafe war das nicht mehr zu verstehen. In der Folge wich man diesem grausamen Gottesbild aus, indem man sich zum Himmel Ersatzwege schuf. Der Glaube erhielt institutionskritische Züge und die persönliche Vertrauensfrage rückte in den Mittelpunkt. Doch auch die Marien- und die Heiligenverehrung blühten auf; über ihre „Vorzimmer“ (so die rührende Vorstellung) war zu Gott vielleicht ein besserer Zugang zu finden. Schließlich lösten die europaweiten Pesterfahrungen einen Reliquienhandel von unvorstellbaren Ausmaßen mit all seiner Magie aus; es begann eine Reliquienverehrung, die die römisch-katholische Kirche im Prinzip noch heute in Ehren hält.

Dadurch entstand in der Kirche langfristig eine explosive Situation, die 250 Jahre später in der Reformation ihr geschichtsträchtiges Ventil erhielt. Jetzt stand M. Luther für eine verinnerlichte, institutionskritische und anti-magische Glaubenshaltung; die sich am Vertrauen auf Gott orientierte. Dennoch konnte auch er den Schrecken vor einem zwiespältigen, eben auch gewaltförmigen Gottesbild nie wirklich überwinden. Bleibendes Motiv seiner beängstigenden Vorstellungen war die bleibende Überzeugung von Gottes Allmacht, die man nach menschlichen Maßstäben auslegte und allenfalls etwas milderte, indem man mit Augustinus hilflos – auch er von Gottesängsten geplagt – zwischen dem Willen und der Zulassung Gottes unterschied.

Doch mit dem Beginn der Neuzeit und den aufkommenden Wissenschaften begann ein für den christlichen Glauben schwieriger Lernprozess, der immer noch schwelt. Wir erinnern uns: Zu Beginn des 16. Jahrhunderts rückte die Erde aus dem Zentrum des Kosmos. I. Newton formulierte 1684 als erster die autonomen Bewegungsgesetze der Natur, die durch A. Einstein eine grundlegende Vertiefung erfuhren. Ch. Darwin trat 1858 mit seiner Evolutionstheorie an die Öffentlichkeit, die inzwischen bis zu einer Evolutionstheorie des gesamten Kosmos erweitert ist. Vielleicht lernen es jetzt noch die Letzten: Gott greift gerade nicht in die Naturgesetze ein. Sogar die biblischen Schöpfungsberichte sind längst als genial erzählende Darstellungen entschlüsselt und gerade deshalb (nicht wegen naturwissenschaftlicher Beschreibungen) geschätzt. Dennoch gilt in fundamentalistischen Kreisen Europas und der USA die Evolutionstheorie noch immer als die große Verfälschung und Demütigung des christlichen Glaubens und die Klügeren unter ihnen versuchen, wenigstens noch einen Masterplan (intelligent design) des Ganzen als Gottes Werk zu retten. Man kann es vielen Natur- und Humanwissenschaftlern nicht übelnehmen, wenn sie Glauben und Religion in das prekäre Licht einer ewig gestrigen Welterklärung rücken und die Hypothese „Gott“ nicht mehr nötig haben.

3. Grenzen der Naturwissenschaft

Zu erwarten ist, dass die Corona-Krise die Auswege aus dieser verqueren Situation beschleunigt, denn es ist ein Skandal, dass sich christliche und muslimische Kreise noch immer dem wissenschaftlichen Wissenskosmos versagen, zwischen Wissenschaften und Glaube Gegensätze konstruieren und sich dazu auf ein eigenes „höheres“ Wissen berufen. Zudem ist es unerträglich, wenn etwa kirchliche Amtsträger noch immer behaupten, eine sakramental geweihte Hostie könne die Infektion nicht weitertragen oder die von Maria beschützten Tauchbäder in Lourdes müssten offen bleiben. Dasselbe gilt für mönchische Kreise in der Ukraine ebenso wie für jüdisch konservative Gruppen in Jerusalem. Sie alle erliegen dem Trugschluss eines Gottes, der für sie eigene Regeln geschaffen habe bzw. die allgemein wirksamen außer Kraft setzt. Im Grunde treiben sie Schindluder mit den tiefsten Gefühlen der Menschen, um ihren eigenen Einfluss aufrecht zu erhalten. Mal wieder zeigt sich (dies auch zur Warnung der Glaubenden unter uns), wie schnell religiöse Begeisterung in einen Fanatismus umschlagen kann, der sich über die Wirklichkeit stellt. Maßstab auch eines jeden Gottesglaubens sind Liebe und Solidarität zu den Mitmenschen.

Umgekehrt zeigt die aktuelle Krise, wie schnell auch die Naturwissenschaften an die Grenzen ihrer Wahrheitssuche geraten. Mit bewundernswerter Bescheidenheit erklären uns die Virologen und Epidemiologen nahezu täglich, was sie noch nicht wissen; genau dies macht sie glaubwürdig. Da ihre Fragen aber in seltener Direktheit das Leben und den Tod von uns Menschen berühren, wächst ihrem Verhalten geradezu eine religiöse Bedeutung zu; sie werden zu Hütern des Lebens.

4. Annäherung

Natürlich erwarten wir von keinem Mediziner religiöse Auskünfte, doch wie auch andere Wissenschaften rühren sie an eine Grenze, so wie sich in der Sixtinischen Kapelle die Zeigefinger Adams und des ihn erschaffenden Gottes berühren, aber so, dass sie die je eigenen Lebensräume respektieren. Nur hat sich die Symbolik umgekehrt. Jetzt sind es die Menschen, die sich an die göttlichen Geheimnisse des Lebens herantasten, ohne darüber verfügen zu können. Vielleicht sind Kosmologie und Evolutionsbiologie überhaupt an ihre Leistungsgrenzen gestoßen. Sie haben ihre Theorien vom singulären oder rhythmisch wiederholten Urbeginn, den ersten Strings oder Quantenfluktuationen, von positiver und negativer Materie, von der Ein- oder Vielzahl der Kosmen entwickelt. Vielleicht gelingt ihnen noch die eine Urformel der Wirklichkeit. Doch es scheint, als wolle dies nie restlos gelingen. Das spräche nicht gegen sie, wohl aber gegen den Gedanken, die Naturwissenschaften könnten die Welträtsel endgültig lösen. So versuchen auch Naturwissenschaftler immer wieder, sich selbst zu begrenzen, also einen Schritt „hinter“ ihre empirisch verfügbare Wirklichkeit zu setzen, um die transzendenzlose Selbstbegrenzung des Materiellen auf sich selbst zu überwinden. F. und Ch. Mann dachten über die Einheit von Geist und Materie nach, der hoch renommierte Kernphysiker H. P. Dürr über die Liebe als die Urquelle des Kosmos. M. Planck erkannte schon vor nahezu 100 Jahren einen intelligenten Geist als Urgrund aller Materie. Von östlicher Mystik inspirierte Theologen wie T. de Chardin, H. M. Enomija-Lassalle, B. Griffiths, R. Panikkar und andere griffen den Ball willig auf. Der Atomphysiker und Philosoph C. F. von Weizsäcker erlebte 1969 am Grab eines indischen Weisen den großen Durchbruch seiner Wahrnehmung. Im Flug durchstieß er die Schichten der Wirklichkeit wie Zwiebelschalen: „Du – Ich – Ja. Tränen der Seligkeit. Seligkeit ohne Tränen“ (Der Garten des Menschlichen).

Das sind epochale Erweiterungen unseres Horizonts. Wenn es nämlich eines Beweises für den Sinn und die spezifische Wahrheit von Religion bedarf, dann liegt er nicht in der Religion selbst; denn jede Religion, die ganz bei sich ist, beansprucht nur, ein Tieferes abzubilden, zu feiern und ihm eine heilsame Wirklichkeit zu verleihen; nennen wir es ein letztes Geheimnis. Im 19. Jahrhundert hat sich die übergreifende Frage nach dem Sinn von Welt, Leben und Mensch herausgebildet. Sie versteckt nicht einfach die Gottesfrage, sondern versucht, von traditionellen Vorstellungen Abstand zu gewinnen: Wie erklären wir die Tatsache, dass Wirklichkeit und Leben nicht einfach Nichts sind, sondern gut und schön sein können? Wo kommen wir her und wo gehen wir hin? Wie können wir mit den Lebensgrenzen, mit Krankheit und Tod umgehen? Deshalb tadle ich niemanden, der/die mir sagt, dafür habe er keinen „Gott“ nötig, vielleicht lebt in ihm nur ein fatal autoritäres Gottesbild, das er zu Recht ablehnt. Ich weiß nur, dass es zum Umgang mit diesen Fragen (die die Pandemie wieder wachruft) eines großen Ernstes, des Respektes, der Empathie und gelebter Solidarität bedarf, und kann den Skeptikern nur versprechen, dass die Weltreligionen (recht verstanden) für diese Grenzerfahrungen hilfreiche Formen der Leidenschaft und des Feierns, der Nüchternheit und des Trauerns anbieten. Das sind keine rational-analytischen, sondern menschlich-ganzheitliche Reaktionen.

5. Universum des Herzens

Vielleicht führt der aktuelle Virusschock die Suchenden aller Couleur näher zusammen. Von Seiten der christlichen Religion kann ich nur eine heilsame Verunsicherung gutheißen. Schon lange wissen wir, dass das Bild vom persönlich handelnden und zudem allmächtigen Gott seine Grenzen hat. Natürlich vertrauen Christen einem Gott, der Gerechtigkeit fordert und Liebe erweist; er ruft uns beim Namen und ist uns nahe. Doch „Gott“ ist, wie H. Küng schon 1978 ausführte, „mehr als Person“. Die Bibel kennt auch andere Bilder: Er ist auch Geist, Feuer, Sturm und sanfter Windhauch, Lebensenergie und tiefe Stille. Unglücke entziffert er gerade nicht mit plausiblen Erklärungen, sondern mutet uns zu, unsere Verzweiflung durchzustehen. Schon immer hat eine negative Theologie die Glaubenslehre ebenso begleitet wie mystische Gotteserfahrungen; in jedem positiven Glaubenssatz steckt auch die Erkenntnis, dass er in vieler Hinsicht zu negieren ist, und der Mystik war schon immer klar, dass sich Gott nie verstehen, sondern allenfalls intuitiv, in Faszination und Schrecken erfahren lässt.

Übrigens gilt das auch für Judentum und Islam. Nach muslimischer Überzeugung hat Gott 100 Namen. 99 werden genannt und beschrieben, der hundertste aber bleibt für immer geheim. Auch die Corona-Krise wirft Fragen auf, die von keiner Religion zu beantworten sind. Paul Tillich umschrieb „Gott“ einmal als „das, was mich unbedingt angeht“. Wer oder was das ist, haben wir selbst herauszufinden. Damit sind die klassischen monotheistischen Gottesbilder nicht aufgehoben, aber stark relativiert. Religionen bieten keine philosophische Definitionen, sondern deutungsoffene Symbole.

Die wachsende Kritik an unseren dogmatisch eingespurten und kontrollieren Gottesbildern bietet eine neue Chance, weil sie auch die etablierten Weltreligionen zu neuer Bescheidenheit und Orientierung zwingt. Die Ortlosen, die durch die Wüste irren, sind die wahren Frommen. Deshalb frage ich schon lange niemanden mehr, ob sie/er an einen Gott glaubt. Es genügt, sich ernsthaft und verantwortlich unserer bedrohten Wirklichkeit zu stellen und deren Erfahrungen nach bestem Gewissen zur Sprache zu bringen.

Doch ist dies nicht die einzige Folgerung, die wir jetzt ziehen sollten. Mit der Globalisierung des Zusammenlebens sind auch die Weltreligionen zusammengerückt. Zumal jüngere Leute setzen sich mit östlichen Religionen, etwa dem Buddhismus, verschiedensten Formen östlicher Meditation oder den uralten heiligen Schriften Indiens auseinander. Diese leiten dazu an, die Wahrheit im Inneren, dem Universum des menschlichen Herzens, in der unvermittelten Wahrnehmung der Gegenwart, im nicht aussagbaren und tragenden Grund unseres Selbst zu suchen. Dort findet eine ganz andere Begegnung mit Leben und Tod statt. Diese Wege suchen das alles tragende Geheimnis nicht über oder hinter aller Wirklichkeit, sondern in ihr, der eigenen Leere und Stille und einer letzten Harmonie, von der die Kundigen zu sprechen wissen.

Natürlich sollen nicht alle Europäer Buddhisten werden, schon gar nicht ihre christlichen Wurzeln ausreißen oder sich einem hinduistischen Guru anschließen. Sie könnten aber auch als Suchende und in der Christusnachfolge ihr Leben so ausrichten, dass sie ihre Hoffnungen und Todessängste nicht mehr wissenschaftlich zu regulieren versuchen oder hinter der Analyse von Ursachen und Wirkungen verstecken, um angesichts der aktuellen Pandemie in Panik auszubrechen, weil alle persönlichen Vorhersagen scheitern. Wir könnten ja auch lernen, den Tod nicht als das Ende oder den Übergang in eine andere Welt zu begreifen, sondern als Vollendung und Eingang in die Wahrheit oder letzte Harmonie. Allerdings ist das keine zwingende Erkenntnis, sondern ‑ wie alle ganzheitlichen und religiösen Zugänge ‑ ein Wirklichkeitsangebot. Auf diese Erfahrungswege aufmerksam geworden, werden wir uns vielleicht mit neuem Ernst fragen, ob und wie wir nicht doch einem sinnvollen, nie endenden Ende entgegengehen, das sich jetzt schon in allen Enttäuschungen verbirgt. Die Dichterin Nelly Sachs hat es im Chor der unsichtbaren Dinge so zur Sprache gebracht:

Klagemauer Nacht!
Eingegraben in dir sind die Psalmen des Schweigens.
Die Fußspuren, die sich füllten mit Tod
Wie reifende Äpfel
Haben bei dir nach Hause gefunden.
Die Tränen, die dein schwarzes Moos feuchten
Werden schon eingesammelt.

Denn der Engel mit den Körben
Für die unsichtbaren Dinge ist gekommen.
O die Blicke der auseinandergerissenen Liebenden
Die Himmelschaffenden, die Weltengebärenden
Wie werden sie sanft für die Ewigkeit gepflückt
Und gedeckt mit dem Schlaf des gemordeten Kindes,
In dessen warmem Dunkel
Die Sehnsüchte neuer Herrlichkeiten keimen.

Im Geheimnis eines Seufzers
Kann das ungesungene Lied des Friedens keimen.

Klagemauer Nacht,
Von dem Blitze eines Gebetes kannst du zertrümmert werden
Und alle, die Gott verschlafen haben
Wachen hinter deinen stürzenden Mauern
Zu ihm auf.