Nicht heilig, sondern katholisch III

III. Überwindung der Blockaden

Die Defizite, die sich in der römisch-katholischen Kirche aufgehäuft haben, sind enorm. Sie lassen sich nicht kurzfristig durch taktische Umstellungen, auch nicht durch eine Weltsynode regeln. Zu ihrer Überwindung bedarf es tiefgreifender Strategien, die ein verengtes und verhärtetes Glaubensbewusstsein, die empathielose Mentalität unseres theologischen Denkens, die Struktur der kirchlichen Institutionen sowie viele als selbstverständlich geltende Traditionen ändern. Zur Ausrichtung dieses umfassenden Prozesses sind eine gut reflektierte Erinnerung an sowie ein gegenwartsorientierter Bezug auf Jesu Leben, Lehre und Geschick dringender denn je. Dabei sind die synoptischen Evangelien noch immer die besten Lehrmeister. In diesem Essay seien fünf massive Blockaden signalisiert.

11. Verdrängte Schuld

Die Verbrechen von Missbrauch, Vertuschung und Verharmlosung führen es exemplarisch vor: Zu den unverzichtbaren Voraussetzungen eines authentischen und überzeugenden Glaubens gehören die Erkenntnis von Versagen und Schuld, ihre öffentlich glaubwürdige Anerkennung (die Bedauern und Scham beinhaltet), ferner die Bereitschaft von einzelnen und Gemeinschaften, vorhaltlos und im Rahmen des Möglichen für ihre Folgen einzustehen und Schäden wiedergutzumachen. Das religiöse Wissen um diese Vollzüge und ihr Zusammenspiel ist nicht neu, aber im christlichen Alltag oft zur Routine verflacht. In der römisch-katholischen Kirche hat der heilende, existentiell aufrüttelnde Umgang mit Schuld schon lange kläglich versagt, weil Vergebungsprozesse automatisiert wurden. Die klerikale Rollenverteilung ist obsolet.

Stellvertretend für viele Lebensgebiete zeigen die Sexualverbrechen der vergangenen Jahre exemplarisch, wie hoch die Schuldenkonten der katholischen Kirche aufgelaufen sind. Gemeint sind das Versagen von Amtsträgern, vielen Gemeinden und einzelnen Personen. Die Epidemie der Missbrauchsverbrechen hat Glaubwürdigkeit und Existenz der Kirche(n) – zu Unrecht auch der vorbildlichen Seelsorgerinnen und Seelsorger –  schwer beschädigt.

Man muss kein religiöser oder gläubiger Mensch sein, um die Folgen dieser Verdrängung zu verstehen. Nach wie vor schreien die Gewalttaten in ihren leiblichen und seelischen Formen zum Himmel. Von welchem Übermaß an äußerer und innerer Gewalt die Kirche weltweit durchzogen ist, lässt sich kaum ermessen. Nach wie vor sind kirchliche Institutionen von einer männerbündischen Geheimhaltung und Intransparenz durchzogen, obwohl das Wort vom „Mühlstein um den Hals“ den abgrundtiefen Abscheu vor solchen Verbrechen schon in neutestamentlichen Zeiten beschwört. Doch kommt ihre wahre Verderbtheit nicht einfach durch isolierte Fehlhandlungen oder gewaltbesetzte Einzelbeziehungen zustande. Es reicht nämlich nicht, die Untaten in immer neuen Recherchen aufzuzählen. Vielmehr wird noch immer verschwiegen, psychologisch eingeordnet und relativiert, mit hochwürdigen und abstrakten Worten der nackte Schrecken umhüllt oder geistlich überhöht. Dabei müssten ihn Täter und Beobachter offen ansprechen, hinausschreien, in Fassungslosigkeit beklagen.

Doch die Kirchen unterliegen einem Intimitätszwang, der im traditionellen „Beichtgeheimnis“ eine geradezu normative Bedeutung erhielt. Was in den Beichtzimmern oder -stühlen besprochen wurde, war wie in Sarkophagen abgedunkelt, eingemauert, ausgegrenzt, das meiste von ihnen ohnehin vergessen. Diesen Mechanismen folgten Vertuschen, Verstecken und Verschweigen, das Hinhalten und Relativieren, schließlich das Einschalten von Anwälten und hinhaltenden Untersuchungen, das Spielen auf Zeit und das häufige Warten auf die Verjährung der Tat oder auf den Tod der Verbrecher, durch diese Manipulationen erst wird der stinkende Unrat zum giftigen und vergiftenden Erbe, das unsere Kirchen aufs Schwerste beschädigt (Katharina von Kellenbach  in Publik Forum 5/2024).

Im Anschluss an die (für die Kirchenraison übermächtige) Rechtfertigungslehre liegt der speziell kirchliche Grund für diese zusätzliche Vergiftung der Skandale darin, dass die Verfehlungen religiös verinnerlicht und spiritualisiert werden. Man verdrängt, dass es sich um brutal körperliche und konkrete Verletzungen, um zutiefst menschliche Demütigungen handelt, die an ganz bestimmen Orten und Zeiten geschehen, zu lebenslangen Erinnerungsstätten eines unaussprechlichen Grauens geworden sind. Man sieht darüber hinweg, dass sie sich immer zwischen gierigen und geschädigten, zwischen starken und schwachen Menschen ereignen. Doch in der kirchlichen Domestikation bleiben die Schmerzen und Demütigungen primär ein geistiger Prozess, eine ungreifbare „Sünde“, ein jenseitsbezogenes Geschehen, nämlich eine Verfehlung gegenüber dem Willen Gottes. Für Ratzingers Rechtsverständnis war pastoraler Missbrauch primär eine Schändung des Priestertums, nicht die einer Person. Was gilt gegenüber dieser Blasphemie noch der Schrei eines gequälten Kindes? Dass Gott aber vergibt, dies in jedem Fall, das wissen die klerikalen Herren schon vorher, sodass sich das Verbrechen auf einen Reparaturfall reduzieren lässt.

Doch diese Täuschung und Selbsttäuschung haben einen zutiefst korrupten Charakter. In ihnen verdampfen das offene Bekenntnis und die anspruchsvolle Wiedergutmachung zu nebensächlichen, ritualisierten Zugaben. Ebenso verschwindet das Wissen darum, dass eine Vergebung durch Gott Einsicht, Reue und Bekenntnis voraussetzt und Er nur mit ihnen, durch sie wirken kann. In den vergangenen Jahren hätten die bestürzenden Erfahrungen sowie das grauenhafte, nur andeutungsweise offengelegte Leid die Chance bieten können, alle Beschönigungen, erhabenen Sublimierungen und irrwitzigen Frömmeleien hinter sich zu lassen. Doch nichts davon ist geschehen: nichts an glaubwürdiger, greifbar gewordener Einsicht und Reue. Völlig unerschüttert, in stoischer und würdevoller Ruhe demonstrieren sie ihre Erschütterung; auch dies ist schon zum Ritual erstarrt. Nichts an unverstelltem Bekenntnis. Welcher dieser Sadisten ist den Geschädigten und ihren Angehörigen auch nur einem offen gegenübergetreten, um sich ihrer Wut und ihren Tränen auszuliefern? Solange es einer Kirche nicht gelingt, was etwa in Südafrika den „Wahrheitskommissionen“ gelang, hat sie als Zeugin der Wahrheit keine Existenzberechtigung mehr. Angesichts dieses Versagens gibt es keine Hoffnung auf eine Gesundung der Institution.

12. Gestörte Kommunikation

Wie jede Gemeinschaft lebt auch die Kirche von der Kommunikation nach innen und nach außen. Sie beginnt mit Blicken und Gesten, setzt sich mit Auftritten und Inszenierungen fort, verfestigt sich in Positionen und Strukturen, verortet sich in Kulturen, kollektiven Erzählungen und Biographien, verbindet wie ein dichtes Netz alles mit allem, schafft und steuert die Zusammenhänge. Dieses umfassende „Sprachgeschehen“ ist die entscheidende „Stellschraube“, welche – nach Bewältigung der Schuld – auch die Prozesse der Erneuerung in Gang setzt. Doch leider ist der römisch-katholische Gesprächsraum von formalen und inhaltlichen Tabus durchsetzt. Redewillige werden zu Bittstellern degradiert, innovative Geister als Unruhestifter abgestempelt. Der deutschen Bischofskonferenz etwa gelingt es über Monate nicht, bei vatikanischen Instanzen einen Gesprächstermin zu erhalten. Autoritäre Warnungen, Verfügungen und Verbote werden sachfremd über den Nuntius abgewickelt. Macht-Worte lösen die Wort-Macht ab, obwohl Jesus nur mit Wortmacht überzeugte. Ein solches intransparentes Kommunikationssystem lässt Misstrauen, Verschwörungstheorien und Denunziantentum entstehen. Unliebsame Gruppen und Ideen werden dämonisiert. Offener Ungehorsam ist die Folge, doch man nimmt verdeckte Kirchenspaltungen in Kauf.

Deshalb muss der katholischen Kirche ihr kommunikatives Versagen bewusst werden, andernfalls verliert sie in unserem Kulturkreis den letzten Kredit. Der römische Versuch, auf der römischen Synodenversammlung im September 2023 für wenigstens einige Stunden eine Atmosphäre des Dialogs zu simulieren, zeigte nur, in welch fremder, überholter und weltferner Welt sich die katholischen Dialogregeln bewegen.  Neben der Schuldverdrängung bildet die Kommunikationsstörung die zweite übergreifende Barriere, die Prozesse der Erneuerung blockiert.

13. Verkrampfter Konfessionalismus

Seit der Reformation haben sich die westlichen Kirchen zuinnerst gewandelt. Sie folgten dem ständigen Druck, sich von den Konkurrenzkirchen immer klarer zu unterscheiden. Hier wie dort entsteht eine neue, deutlich erkennbare, geradezu objektiv fassbare Identität, sodass im Verlauf von fünf Jahrhunderten in Lehre und Struktur klar erkennbare Marker entstehen (Charles Taylor). Wer signifikant von ihnen abwich, wurde zum Außenseiter, wenn nicht gar mit Sanktionen belegt. Die Liste dieser Sanktionsopfer ist lang. Inzwischen hat diese Profilierungssucht (nicht nur im katholischen Raum) dramatische Züge angenommen; in Anlehnung an politische Gruppierungen könnte man sie fast „identitär“ nennen. Die offiziellen Definitionen des päpstlichen Primats und der päpstlichen Unfehlbarkeit von 1870 können als Höhepunkte dieser konfessionellen Engführung und Verkrampfung gelten. So blieb nach dem 2. Vatikanum auch das interkonfessionelle Gespräch an entscheidenden Schnittstellen blockiert. Die verhärteten inhaltlichen Kontroverspunkte – vom Kirchenbild und der Sakramentenlehre bis hin zur Sexualmoral – sind allgemein bekannt. Wichtiger als allgemein angenommen ist der katholisch-kirchliche Anspruch auf eine authentische Interpretation der Heiligen Schrift.[1]

Hinzu kommt ein schleichender Prozess, der bei Johannes Paul II. und Benedikt XVI. einen Höhepunkt erreichte. Es lenkte massiv von inhaltlichen Auseinandersetzungen ab und stellte kirchliche Ordnungsfragen samt ihren Autoritätsargumenten in den Mittelpunkt, so z. B das Ordinationsverbot von Frauen sowie die Verurteilung homosexueller Handlungen. Pauschalthesen zu kirchlichem Gehorsam werden propagiert. Doch man erreicht das Gegenteil, in der Öffentlichkeit wird die amtliche Kirchenautorität zum Popanz.

So hat in den vergangenen Jahren das ökumenische Gespräch kaum Fortschritte gebracht. Den evangelischen Kirchen wird nach wie vor die Würde einer „Kirche“ aberkannt. Der blinde ökumenische Fleck verhindert eine zukunftsfähige Entwicklung. Ich erinnere an das magisch-mythische Bild von der katholischen Eucharistie, die enorme Dominanz des katholischen Kirchenrechts und die überzogene Bedeutung von römischen Vorgaben. Reformatorische Anliegen traten wieder in den Hintergrund, etwa die zentrale Rolle des biblischen Wortes oder die Hoffnung darauf, dass sich Gott uns bedingungslos zuwendet, die konsequente Entmythisierung von Kirche, Ämtern und Sakramenten, sowie die Überzeugung, dass es zur Erlangung des Heils keiner Priesterkaste bedarf. Die Frage nach der „Kontinuität“ des Glaubens (J. Ratzinger) wurde erneut zu einem Menetekel, das die Suche nach dem gegenwärtigen Reich Gottes blockiert.

Solange wir die evangelischen Kirchen mit ihren klassischen Anliegen nicht als Partnerinnen akzeptieren, bleiben wir im Sumpf stecken, der in den vergangenen Jahren offenbar geworden ist. Diese Kritik wirkt umso mehr, als zahllose Gemeinden und Gruppen ökumenisch engstens zusammenarbeiten und konfessionelle Unterschiede an der Basis massiv in den Hintergrund treten. Doch diese Initiativen bleiben offiziell unter Beobachtung. Notfalls werden sie gerügt oder zur Selbstkorrektur gezwungen. Das ist eine geradezu paradoxe Entwicklung, welche die katholische Kirche in neue Widersprüche treibt und die Hürden wiederum nach oben schiebt.

14. Imperialer Monismus

Die globalen Vernetzungen der Gegenwart haben auch zu intensiven Begegnungen zwischen den Religionen geführt. Sie lernen einander neu kennen, kommen mit ihren Wertesystemen und Heilsvorstellungen in gegenseitigen Kontakt. Dies erweitert auch die eigenen kulturellen, religiösen und kirchlichen Horizonte. Doch bislang haben diese vielfältigen Zusammenschlüsse und Aufbrüche den offiziellen katholischen Umgang mit den nichtchristlichen Religionen kaum verändert, obwohl wir uns schon seit den 1940er Jahren in einer Phase intensiven Kennenlernens befinden. Vergebens sucht man nachhaltige Auswirkungen auf das binnenkatholische Denken. Von inhaltlichen Auseinandersetzungen, die in die Breite wirken, sowie von interreligiösen Inspirationen ist kaum die Rede. Innerkatholisch wird diese Mangelsituation nicht einmal als Defizit erfahren.

Dieser erstaunliche Mangel an interreligiösem Interesse findet eine Schlüsselerklärung im imperialen Monismus der christlichen Religion. Seit dem 4. Jahrhundert schreibt sie sich eine absolute Bedeutung zu, die alle anderen Religionen überragt. Schließlich ist ihr Gründer als einziger mit Gott „gleichwesentlich“. Deshalb sind alle anderen Religionen defizitär, mit ihnen ist kein Dialog auf gleicher Augenhöhe möglich (Ratzinger). Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass auch die reformatorischen Kirchen an einem dramatischen Relevanzverlust leiden. Offensichtlich bedarf es einer gemeinsamen Sanierung, die mit einer Revision der offiziellen Christuslehre beginnt.[2] Die Kirchen werden nur zukunftsfähig, wenn sie sich einen neuen Zugang zum Schriftzeugnis verschaffen, der von den spätantiken Glaubensformen nicht mehr verstellt ist.

Ich nenne diesen Monismus imperial, weil der genannte Absolutheitsanspruch eng mit dem Herrschaftsanspruch des byzantinischen Kaisers verwoben ist. Der wahre Gottessohn ist zugleich Herrscher von Gottes Schöpfung. Deshalb erhebt der christliche Glaube einen universalen Anspruch, der den gesamten Kosmos umfasst, gleich ob man ihn als physikalisch-naturalen, als sozialen oder als politischen Raum versteht. In unserer Gegenwart erhielt diese Polarität zwischen normsetzender Kirche und Welt eine besondere Brisanz, denn unsere Gesellschaft hat sich von religiös-institutionellen Ansprüchen in hohem Maße emanzipiert. Wir sprechen von „Säkularisierung“, einem Prozess also, den kirchliche Institutionen mit Glaubensverlust und Gottesferne identifizieren, – zu Unrecht denn die Botschaft Jesu legt einen anderen Zusammenhang nahe.

Die Botschaft Jesu lebt intensiv von Impulsen, die gemeinhin als säkular gelten, religiös aber höchst fruchtbar sind. Zwar ist und bleibt der Gott Israels für die Botschaft Jesu der entscheidende Garant und Träger aller Hoffnung, doch seine Heilsvision lässt sich mit säkularen Begriffen beschreiben, mit menschlichen Kontrast- und Tiefenerfahrungen: Angst und Erfüllung, Suchen und Finden, Krankheit und Gesundung, Trennung und Versöhnung, Weinen und Lachen, einem (durchaus irdischen) Wissen um Schuld und Vergebung, der unerwarteten Gegenwart von Rettung. Solchen weltlichen Ereignissen und Durchbrüchen ist schon immer ein Jenseits eingeschrieben, wenn es auch in Erzählungen und Metaphern verborgen bleibt.

Demgegenüber sind die aktuellen Reformdebatten auf vorläufige Institutionen ausgerichtet; sie zerreiben sich an institutionellen Fragen. Entscheidend hingegen ist der Horizont des Gottesreichs, das der Weltgemeinschaft Frieden und Versöhnung bringt. Umso erstaunlicher ist die Angst der Kirche von einer säkularisierten Kultur, als ob diese den christlichen Glauben zerstören könnte. Zugegeben, kirchliche Reformprojekte sind hochkomplexe Unternehmungen, wo also beginnen? Aus rein organisatorischer Perspektive ist die Lage nicht mehr zu steuern.[3] Hatte J. Ratzinger also recht, als er vor einer „Diktatur des Relativismus“ warnte, bevor der Kirchenapparat seinen Händen entglitt?

Doch an diesem Punkt konvergiert der Perspektivwechsel, in dem der imperiale Monismus scheitert und sich die große Chance zum Loslassen und einer vorbehaltlosen Suche eröffnet. Jesu Botschaft ist ja nicht verschwunden, denn letztlich geht es nicht um die Kirche, sondern um das Wohl der Menschheit. Es bedarf also einer Bekehrung, der weit über kirchenimmanente Reformen hinausgreift. Unser Probleme liegt nicht im Relevanzverlust der Kirche, sondern in ihrem Narzissmus, wie Franziskus es nennt, in ihren politischen Macht- und Geltungsansprüchen, die sie noch immer korrumpieren. Die Bemühungen um Erneuerung bringen uns nur weiter, wenn sie endlich in die große jesuanische Vision eingeordnet werden, die lautet: „Dein Reich komme“. Es geht um eine Vision, die den Frieden in keinem Jenseits, in keinen geheiligten Ämtern und in keinen Sakramenten, sondern unter den Menschen mit ihren nie berechenbaren Lebensvollzügen entdeckt. „Der Sabbat ist für die Menschen da“, sagt Jesus im Markusevangelium, und das Johannesevangelium hat den Bericht vom Abendmahl durch den von der Fußwaschung ersetzt, damit also gezeigt, wofür das Abendmahl steht. Die Kirchen und ihre Ämter sind auf ihr jesuanisches Ziel hin zu funktionalisieren, die priesterlichen Vollzüge zu entmythisieren, die altehrwürdigen Lehrformeln zu enttabuisieren, die Glaubensbotschaft kontextuell und ideologiekritisch zu rekonstruieren.

Ich gebe zu, dass dieses Projekt einen gefahrvollen Reformweg einfordert. Denn nicht einzelne Inhalte sollen sich ändern, sondern der gesamte Modus ihrer Verwirklichung. Dies aber führt zur aktuellen Kernfrage schlechthin: Bedarf es bei diesen Zielen überhaupt noch einer Religion?

15. Säkularisierungsangst

Niemand kann diese Frage zwingend beantworten. Natürlich lässt sich auf dem Papier das Ideal eines gelingenden Zusammenlebens entwerfen, dafür gibt es in der Neuzeit hervorragende Beispiele genug. Doch das rational durchreflektierte und ethisch korrekte Ideal eines geglückten Lebens oder Zusammenlebens reicht nicht aus, um eine in Frieden versöhnte Menschheit wirklich zu schaffen. Religionen hingegen haben starke performative Wirkungen. Sie schaffen Identität, feiern und begehen Sinnerfahrung, bringen Menschen und Gemeinschaften zu sich selbst, bringen diese schließlich in einen umfassenden Zusammenhang, der seine Teile transzendiert. In ihren Symbol- und Imaginationsfeldern können sie Trost und Hoffnung schaffen, Alltag und Gewohnheit, Lethargie und Funktionalität überschreiten.

Hier ist nicht der Ort, umfassend auf die (asymmetrischen) Phänomene von Religion und Säkularisierung einzugehen. Trotz ihrer tiefen Ambivalenz und trotz der Gefahr von Fanatismus fungieren die Weltreligionen noch immer als die entscheidenden Sinnspender und entgegen allen Unkenrufen sieht auch das Christentum, weltweit gesehen, einer wachsenden Anhängerschaft entgegen. Deshalb ist nicht mit Max Weber zu fragen, warum die Moderne mit ihren Effekten der Entzauberung zum Bedeutungsverlust einer Religion führt. Die Frage muss lauten: Warum erleiden die christlichen Kirchen ausgerechnet in ihrem angestammten Kulturraum einen massiven Niedergang? Denn in unserem Kulturkreis schwinden nicht Religion und Religiosität, vielmehr verlieren die institutionalisierten Kirchen (ihre Gottesdienste, Verkündigung, Lehre, sowie ihr öffentliches Ansehen) dramatisch an Bedeutung. Damit gehen zwar auch biblische, spezifisch christliche sowie allgemein religiöse Überzeugungen verloren, doch dieser Niedergang gilt gerade nicht für die moralische und religiöse Sensibilität vieler Menschen, nicht für ihr Bewusstsein für übergreifende und sinngebende Aspekte des Lebens. Je stärker sich die Kirche aus der Öffentlichkeit verschwinden muss, umso intensiver zeigt sich ein überraschend neues Interesse an religiösen Grundfragen und Grundhaltungen, so diffus diese bisweilen auch erscheinen.[4]

Rückzug an Orte der Stille und Meditation haben Konjunktur, unsere nicht auslotbare Identität und unverfügbare Zukunft werden nachhaltig thematisiert. Ursprung und Ziel von Menschheit und Welt sind Gegenstand leidenschaftlicher Diskussionen. Viele junge Menschen geben sich in den Schulen mit bloßer Wissensvermittlung nicht mehr zufrieden. Auf ein wachsendes Echo stoßen spirituelle und mystische, vielleicht fernöstliche, psychologisch oder parapsychologisch aufbereitete Wege der Selbst- und Welterkundung. Es hat den Anschein, dass der erzwungene Rückzug der Kirchen zu einer geistigen Lücke geführt hat, die bedauerlicherweise von anderen Anbietern ausgeglichen wird. Wenn die Kirchenleitungen diese Emanzipation von ihrer Institution als „Glaubensverlust“ diskriminieren, lenken sie von ihrem eigenen Versagen ab. Sie übersehen, dass die großen Religionen immer schon Freiräume geschaffen haben für ein weltimmanentes Denken und Gestalten sowie eine autonome Weisheit und Weltkenntnis. Sinn und Legitimität von Religion wurden damit nicht geleugnet.

Weitgehend unbekannt waren allerdings die massiven Abstoßreaktionen, welche die römisch-katholische Kirche ausgerechnet in der Neuzeit entwickelt und kontinuierlich radikalisiert hat. Sie reagierte zunehmend intolerant, argumentierte ungeschichtlich, buchstäblich weltfern, geradezu totalitär. Beliebige Wissensbereiche wurden schlicht dem offiziellen Urteil der Kirche unterworfen; „Anti-Modernismus“ war eine offizielle Kampfparole, die Evolutionstheorie wurde verdammt. Noch heute werden Frauen beim Zugang zu kirchlichen Ämtern diskriminiert, Gendertheorien ohne jede Differenzierung und in banalster Weise verurteilt.[5] Noch heute präsentiert sich das offizielle Lehramt mit seinem vermeintlich höheren „Offenbarungswissen“ als belehrend überlegene Instanz. Diese unguten Entwicklungen haben sich tief in das kollektive Gedächtnis der westlichen Kultur eingeschrieben. Deshalb tritt heute allenthalben ein instinktives Misstrauen gegenüber diesen kirchlichen Ideologien zutage, nicht aber eine Distanz zu den Grundfragen menschlicher Existenz. Dementsprechend kommt die gängige Kirchensprache von ihren neuzeitlichen Klerikalismen nicht los.

Warum aber wirkt diese Schwächung der Kirchen ausgerechnet im westeuropäischen Kulturraum so massiv? In keinem anderen Kulturraum spielten kirchliche Macht- und Geltungsmonopole eine so aufdringliche Rolle. Noch immer sind staatskirchliche Kooperationen (Kirchensteuersystem, Finanzierung von kirchlichen Institutionen, Lehr- und Leitungsämtern) ungeschmälert in Kraft und in kirchlichen Einrichtungen sind Betroffene unerbittlichen Regelungen zu kirchlichem Wohlverhalten ausgesetzt. Dies gilt gleichermaßen für die katholischen Diözesen wie die evangelischen Landeskirchen mit ihrer starken obrigkeitsorientierten Tradition.

Diesen ungünstigen Bedingungen sind die Kirchen umso wehrloser ausgeliefert, als sie den „Zeitgeist“ noch immer als Bedrohung wahrnehmen, statt sich endlich auf das messianische Kontrastprogramm einzulassen. Nach wie vor versteht sich die katholische Kirche als Wegbereiterin eines jenseitigen Heils, während Jesus sich als Prophet eines diesseitigen Heils, nicht als Vertröster auf jenseitige Hoffnungen zeigte. Deshalb bricht seine göttliche Zeit an, sobald wir unsere Sinne für Gottes verborgene Gegenwart in unserem weltgesättigten Kontext schärfen. Die Menschwerdung der Menschen kann hier und jetzt beginnen, während der Kirche, die auf ihre Privilegien starrt, kaum mehr Schonräume bleiben. Vor den besprochenen Hintergründen muss sie sich einer radikalen Gesamtrevision ihrer Bekenntnisformeln, ihrer Herrschaftsansprüche sowie ihrer Zielsetzung stellen.

Fazit: Eine Gesamtrevision wirft uns letztlich auf die jesuanische Botschaft zurück. Genau sie öffnet die Augen für die säkulare Welt der Orientierungslosen. Sie sagt eine messianische Hermeneutik der Welt- und Menschennähe sowie der solidarischen Weltöffnung an. Gottes Reich beginnt dort, wo Menschen einander in Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnungsbereitschaft begegnen. Es geht also um die jesuanische Strategie, welche die tiefsten Heilserwartungen der Menschheit ernstnimmt und uns keinen religiösen Vorurteilen mehr ausliefert. Diese Revision unseres Wertesystems kann zu einer prophetischen Ideologiekritik und zur neuen Grundlegung unserer Grundhaltungen und Prioritäten führen.

Zum Schluss III

Wie aber lässt sich der Abschied von einem absolutistischen Glaubensverständnis in die Wege leiten? Soviel ist klar: Wer im Geiste Jesu handeln will, kann die Wahrheit nicht mehr von oben dekretieren, sondern muss sich den Inspirationen von unten stellen. Deshalb muss Rom zunächst auf Ansprüche und Rechte verzichten und auf die Stimmen der Gedemütigten und Rechtlosen hören. Wer sich dann auf das Ideal einer beteiligungsfreudigen Synodalität einlassen will, kann nicht mit den eigenen Vorurteilen beginnen.

Auf dem Grabmal Papst Hadrians VI. in Santa Maria dell‘ Anima (Rom) steht das oft zitierte Wort: „Wie viel hängt davon ab, in welche Zeiten auch des besten Mannes Wirken fällt!“ Es hatte im Blick auf jenen Papst wohl eine entschuldigende Sinnspitze. Auf unsere Zeit angewendet liegt jedoch eine andere Deutung nahe: „Wie viel kann der entschlossene Einsatz reformorientierter Frauen und Männer bewirken, wenn er in eine so günstige, aufnahmebereite und religiös suchende Zeit fällt!“

(H. Häring, 21.04.2023, mit Dank für die Korrekturen
von Günther Doliwa und Walter Lange)

Anmerkungen

[1] Noch im Jahr 2005 scheiterte zwischen der katholischen und den evangelischen Kirchen das Vorhaben, die bisherige „Einheitsübersetzung“ der Bibel gemeinsam zu überarbeiten.

[2] Vgl. dazu das „Göttinger Manifest 2024“, veröffentlicht vom „Netzwerk Reform des Christentums“, u.a. abgedruckt in Publik Forum 8/2024, S 17. Vgl. ferner:  Günter R. Eisele, Beharrungssünden, veränderte Weltsicht und Brückenschläge in die Zukunft. 26 Thesen zum Abbruch, Umbruch und Aufbruch des christlichen Glaubens und der Kirche, Dt. Pfarrerblatt 3/2024, 1-8.

[3] Zu denken ist an Konzilien, Synoden, Bischofskonferenzen oder außerordentliche Projekte wie etwa der „Synodale Weg“, ferner an Reformen in Strukturen und Kirchenrecht, in Verkündigung und Lehre, an einer Annäherung an die orthodoxen Kirchen oder an die Kirchen der Reformation. Die vormalige Glaubenskongregation sucht unter dem Titel Dikasterium für Glauben nach ihrer unrühmlichen Geschichte seit 1542 einen neuen Stil und eine konstruktive Aufgabenstellung zu finden.

[4] Zur hochkomplexen Diskussion um Bedeutung, Deutung und Zukunft der Säkularisierung s. die Arbeiten von Detlef Pollack.

[5] Mit dem Regierungsantritt von Papst Franziskus bestand die Hoffnung, dass die Epoche autoritärer Lehrdoktrinen überwunden sei. Deshalb bedeutet das jüngste römische Dokument des Glaubens-Dikasteriums über die Würde des Menschen (Dignitas infinita, 25.03.2024) eine herbe Enttäuschung. Zwar geht es den würdeverletzenden Umständen sorgfältig nach (Armut, Krieg, Migration, Menschenhandel, sexueller Missbrauch, Gewalt gegen Frauen). Dann aber werden Aspekte behandelt, die einer differenzierteren Betrachtung bedürften, so etwa Leihmutterschaft, Euthanasie und assistierter Suizid sowie Geschlechtsumwandlung. Doch die Gender-Theorie (die es als solche nicht gibt) wird generalisierend und ohne jeden Beleg verurteilt. Sie wird mit dem überheblichen und unbewiesenen Verdacht belegt, sie wolle alle Menschen gleichmachen. Ferner schreibe sie angeblich vor, wir sollten so über uns selbst verfügen, sodass wir uns selbst zu Gott machen und „in Konkurrenz zu dem wahren Gott der Liebe“ treten. Solche überheblichen Behauptungen und Unterstellungen bedeuten einen Rückfall in die alten Zeiten, in denen man die Wissenschaft mit Hochmut verachtet hat.