Die Meldung hat die Bischöfe erschüttert, als ob man sie nicht vorhergesehen hätte. Im Jahr 2022 verzeichnete die römisch-katholische Kirche mehr als 530.000 Austritte und alles steht dafür, dass dieser Trend sich 2023 fortsetzen wird. Offensichtlich hatte man an ein Wunder geglaubt, denn gemäß bekanntem Hierarchenjargon zeigt sich Kardinal Marx über diese Information „zutiefst bewegt“: „Was kann ich tun?“, fragt er sich, „was ist meine Aufgabe? Was ist unsere Aufgabe, unser gemeinsames Wirken?“ Diese Reaktion des neben dem Kölner Kollegen ranghöchsten Katholiken scheint mir phantasie- und orientierungslos. Nach Bischofserfahrung von mehr als 20 Jahren, nach den endlos zermürbenden Auseinandersetzungen um Übergriffigkeit und Entwürdigung, priesterliche Missbrauchs- und bischöfliche Vertuschungsverbrechen fällt er auf alte Formeln zurück. Dagegen hätte er spätestens jetzt eine zielführende Reaktion formulieren müssen, die den Zerfall zur Kenntnis nimmt. Doch wiederum weicht er aus und hält sich das Kernproblem vom Leib. Wir fragen zurück: Was will er wirklich tun? Er hatte doch Zeit, darüber nachzudenken und die Lage zu erkunden. Warum geht er nicht auf die Forderungen ein, die schon seit Jahren zur Debatte stehen?
Erschreckender ist noch ein Trend, der sich inzwischen in vielen Diözesen abzeichnet: War da was?, fragt man sich. Sollten wir nicht endlich wieder zur alten Tagesordnung übergehen, uns vielleicht auf die Klimapolitik konzentrieren? In Freiburg spricht man von hervorragenden Maßnahmen, die inzwischen getroffen wurden. Geradezu weltfremd die Stimmen aus Rottenburg: In schwierigen Zeiten habe die Botschaft Jesu Christi schon immer neue Kraft gegeben. Neu werde, was verkrustet und abgestorben ist. Mit 40 „Profilstellen“ und einer neuen „Imagekampagne“ zeige man jetzt, wo die katholische Kirche in Württemberg „überall segensreich wirkt“. So gesehen sieht sich Rottenburg, wie in der Presse nachzulesen, „auf dem richtigen Weg“. Doch solch irritierende Ablenkungen werden keines der anstehenden Probleme lösen. Vielmehr werden sich die endlosen Nicht-Antworten und die schweren Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte nur noch verschärfen. Dabei lägen die Reaktionen so nahe.
1. Rücktritt aus eigener Initiative
Alle Bischöfe, die quälend lange in Schonung, Vertuschung und Verschweigen verwickelt sind, hätten nicht in Deckung gehen dürfen, sondern schon längst zurücktreten und die Untersuchung ihres verderblichen Handelns in unbefangene Hände legen müssen. Das hätte ihnen auf Nachfrage am ersten Tag schon jede deutsche Justiz-, Schul- oder Verwaltungsdirektion angeraten. Davon dürfte es keine Ausnahme geben und es reicht nicht, wenn mal wieder einer von den Tausenden Übeltätern in den Laienstand zurückversetzt und diese Tat als wichtiger Reinigungsakt präsentiert wird.
Absurd und zynisch war es zudem, sich in solchen Situationen auf einen höheren göttlichen Auftrag zu berufen, den Papst um Rücktritt zu bitten und ihm die Entscheidung zu überlassen. Jeder weitere Tag, der bis zu diesem Schritt ins Land ging, vergrößerte die Schande und ruinierte das Ansehen der herrschaftlich verfassten römisch-katholischen Kirche. Dabei hatte es auch keinen Zweck, sich einige Sündenböcke herauszupflücken, wie auch immer sie heißen mögen, denn das Versagen hatte und hat strukturell kollektive Ausmaße. Juristisch gesehen steht die Bischofsriege den „Laien“ (Frauen wie Männern) trotz individueller Ausnahmen und gut gemeinter Interventionen noch immer wie eine Phalanx gegenüber; der Synodale Weg hat es unter Beweis gestellt.
Dieser kollektive Rücktritt hätte zugleich ein hohes Maß an persönlicher Aufrichtigkeit erfordert. Von welchem Bischof oder kirchenleitenden Funktionsträger hat man je offen und konkret etwas gehört über seine Verstrickungen in Sachen Übergriffigkeit und Missbrauch, über seine lockeren und engeren Freundschaften und Kumpaneien mit Missbrauchstätern, über erfolglose Versuche, im persönlichen Gespräch etwas zu erreichen, über das alltägliche, allmählich wachsende Wegschauen, vielleicht auch über die eigenen mehr oder weniger subtilen Grenzüberschreitungen oder aufregenden Phantasien, das unausgesprochene Mitleid und Einverständnis mit bekannten Missständen, die Kooperation mit Mitwissenden in Pfarreien, Klöstern und Internaten, das Verschweigen von erzwungenen Abtreibungen und Erpressungen (in Pfarreien, Pfarrhäusern und Klöstern), die unverantwortliche Beicht-Absolution bei Verbrechern, deren Besserung nicht abzusehen und von denen keine Genugtuung zu erwarten war. Haben sie nicht die Bekenntnisse des hl. Augustinus gelesen, der in schonungsloser Offenheit über seine Vergangenheit spricht? Mir ist kein einziges Beispiel einer solch offenen Reaktion bekannt, die heilend hätte wirken können. Die früher hochgeschätzte Disziplin des Beichtgeheimnisses, zu deren Gültigkeit, bitteschön, auch die genugtuend tätige Buße gehört (drei Vaterunser reichen nicht), ist vielfach zu einer Taktik der Verbrechensvertröstung abgekippt. Was in Südafrika mit den Wahrheitskommissionen gelang und schreckliche Erinnerungen entgiften konnte, das sucht man in unserer Kirche der Übergriffe vergebens.
Wäre ein solcher Umschwung noch möglich? Werden uns wenigstens noch einige wenige Einblicke in diese Abgründe gewährt? Könnten sie sich wenigstens hier und da noch begegnen, das Gehör von verborgen Gedemütigten und die Offenheit bekehrter Sünder und Kollaborateure? Die Hoffnung darauf ist gering und die Schreckensmeldungen werden sich noch steigern. Doch uns sollte wenigstens klar sein, wo die aktuellen Katastrophen nicht nur ihren Ausgang nahmen, sondern sich auch zum unlösbaren öffentlichen Debakel verhärteten: in der Blindheit und Verstocktheit ausgerechnet derer, die sich einbildeten, sie stünden amtlich für die Sache Jesu ein, im heillosen Stolz der Herren, die sich bis heute eine besondere göttliche Sendung anmaßen. Zu spät ist es nämlich nie, wer aber immer noch meint, er arbeite unter dem besonderen Beistand des Hl. Geistes, ist zu einem solchen Schritt wohl unfähig, weil er die Dramatik immer noch nicht begriffen hat. Angesichts der vermeintlich erhabenen priesterlichen und bischöflichen Sendungen gerät ein Missbrauch schnell zum Betriebsunfall, der sich vernachlässigen lässt. Unter solchen Voraussetzungen ist keine Heilung möglich. Die Friedhöfe der namenlosen indigenen Kinder in Kanada werden zum universalen Symbol. Dann muss eben zusammenbrechen, was ohnehin schon angezählt ist.
2. Kraft zum Konflikt
Seit Jahrzehnten liegt über den Reformbewegungen ein undurchdringlicher Schleier. Bei jeder Gelegenheit hat man die werbenden Slogans des 2. Vatikanum gehört: Aggiornamento, Volk Gottes, Bedeutung der Charismen, Einsatz für die Armen, Zeichen der Zeit, Entdeckung der Welt, Kirche als Krankenlazarett und schließlich: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi.“ Wir hören diese Hoffnungsworte seit über 50 Jahren, in denen man die nie eingelösten Aufträge mit einer Wirklichkeitsbeschreibung verwechselte. Inzwischen sind sie unglaubwürdig geworden, weil großspurig und durch offizielles Kirchenhandeln entwertet, dies zum Leidwesen zahlloser Christinnen und Christen, unter ihnen zahllose Frauen und Männer, auch zahllose Priester und pastoral Engagierte, die sich abrackerten und immer noch abrackern, die vor Kindern, Jugendlichen, Frauen und Männern immer den Respekt wahrten, aber durch ihr aufrichtiges Handeln oft im Regen stehen blieben. Das Handeln des zögerlichen Paul VI., des autoritären Johannes Paul II., des von Angst zermürbten Benedikt XVI. ist uns allen bekannt. Sie haben die aktuellen Kirchenverhältnisse korrumpiert und in schwere Debakel geführt.
Was aber haben die Bischöfe sowie die VertreterInnen unseres Verbandskatholismus getan? Wer aufmüpfig war, wurde vergessen und abgestraft, der Rationalismus und der Unkirchlichkeit verdächtigt. Wer sich dagegen auf kluge, unverbindliche und oft verschleiernde Formeln verstand, galt als beliebt und machte Karriere. Zahllose Vorschläge, Initiativen und Aktionen verliefen im Sand, weil man sie totschwieg und verachtete. Zum Nachteil einer aufrichtigen und konfliktbereiten Wahrheitssuche wurden Freundlichkeit, Gehorsam und offizielle Loyalität zu kirchlichen Tugenden, zu trügerischen Scheintugenden.
Die Folgen waren auf Deutschlands „synodalem Weg“ zu sehen. Grandios versagte er gegenüber dem unbiblischen, absolut unjesuanischen, geradezu widerchristlichen Absolutismus, der spätestens im 19. Jahrhundert das römische Kirchensystem überrollte, dem man auch nicht im Ansatz hätte zustimmen dürfen. Man hätte schon vom Fiasko beim „Gesprächsprozess“ (2011-2015) lernen können. Doch in antrainierter Konfliktscheu kamen die Reformwilligen auch dieses Mal nicht über eine zaghafte Symptomkritik hinaus; den Bischöfen wurde eine Sperrminorität eingeräumt. Bei jeder Formulierung schielten die Redaktionskomitees auf die mögliche Reaktion der Bischöfe. Dabei folgte man der Linie, die der Orientierungstext Auf dem Weg der Umkehr und der Erneuerung offiziell vorgegeben hatte. Sorgfältig blendet er jede Konfliktmöglichkeit aus, inszeniert etwa die notwendige kontinuierliche Auseinandersetzung um Schrift und Tradition (die seit bald 2000 Jahren zu Konflikten führte), wie einen Kinderreigen, der um blühende Bäume tanzt. Kritisch formuliert: Offensichtlich dachte der Synodale Weg nicht daran, den vorgegebenen Rechts- und Lehransprüchen der Hierarchie auch nur in kleinen Details mit klar aufklärenden Argumenten zu widerstehen. Die erstaunliche Strategie des Synodalen Weges war es, ihre eigenen Konzeptionen freundlich zu präsentieren, ohne sich mit den bestehenden Kontroversen auseinanderzusetzen.
Wie nur konnte dieser Weg auf eine Wende hoffen? Warum wurden die Kontroversen nicht konkret diskutiert, begründet oder widerlegt? Warum wich man einer jeden Konfrontation aus? Wie konnte man auf Lösungen hoffen, indem die Gegenpositionen einfach ausgeklammert wurden? Hat man nicht vorhergesehen, dass sich jedes verschwiegene Problem umso hartnäckiger zurückmeldet, wenn es zum Schwur kommt? Eine Kirchengemeinschaft, und sei sie noch so fortschrittlich, die den offenen Diskurs nicht furchtlos initiiert, setzt den Abschied vor jeder Erneuerung schon voraus. So werden sich diese Strukturen nicht ändern, auch wenn sie zu katastrophalen Zuständen führen.
3. Der Theologie auf den Grund gehen
Das Debakel der Unternehmungen verlangt einen Neubeginn, der auf einer tieferen Ebene ansetzt. Er kann sich weder auf menschenrechtliche und moralische Forderungen noch auf bloße Strukturreformen beschränken, sondern hat nach deren Sinn und Begründung im christlichen Orientierungsrahmen zu fragen. Langfristig unterscheidet sich der Relevanzverlust der evangelischen Kirchen nicht grundlegend von der katholischen Situation. Die Erneuerung muss also hinter den konfessionell unterschiedlichen Strukturen, nämlich in der (gemeinsamen) Praxis und Präsentation des christlichen Glaubens beginnen.
Konkret bedeutet das den überfälligen Abschied von einem fundamentalistischen Schrift- und einem magischen Dogmenverständnis zugleich, da sich beide an eindeutigen und rechtswirksamen Folgen orientieren, deshalb immer schon autoritär wirken und heteronome Verhältnisse schaffen. Dogmen sind eben keine überzeitlichen Wahrheiten an sich, sondern unterliegen ebenfalls den vielfältigen und komplexen Grenzen kontextueller (d.h. kultureller, historischer, sozialer, patriarchaler, spiritueller und kultureller) Art. Über ihnen stehen als entscheidende Richtzeichen immer schon die narrativen, prophetischen und weisheitlichen Sprachformen der Schrift (vgl. H. Halbfas).
Solange etwa die Jesuserzählungen nicht zum entschiedenen Leitfaden kirchlicher Verkündigung und kirchlichen Handelns werden, zum „obersten Richter“ (Luther) selbst der großen Konzilien und Glaubensbekenntnisse, wird sich der Relevanzverlust der Kirchen dramatisch fortsetzen. Denn dann wird die Glaubensgewissheit nach wie vor von den inneren Widersprüchen der Kirchen zerrieben, das hoch entwickelte gesellschaftliche Sensorium für Sinnfragen frustriert. Die ehemals leitenden antiken und mittelalterlichen Glaubensformen sind von unserer Gegenwart her neu zu verstehen und es gibt zu denken, dass Benedikt XVI. im bayrischen Wir-sind-wir-Gefühl ausgerechnet diese Bewegung als gefährliche „Enthellenisierung“ brandmarkte. Neues können im gegenseitigen Austausch nur Glaubensgemeinschaften entdecken, die ihre inneren Auseinandersetzungen im Geist des offenen Dialogs führen und ihre autoritär amtlichen Vorgaben überwinden.
4. Das zwiespältiges Erbe aufarbeiten
Eine Reform, die heute ihren Namen verdient, muss zwei besonders bedrückende Epochen aufarbeiten, die uns gegenwärtiger denn je sind. Da ist zum einen die konfessionell zerrissene Neuzeit, die mit der Reformation begonnen und bis heute noch keine Lösung gefunden hat. Kernprobleme werden noch immer kontrovers diskutiert und es wäre unaufrichtig, heute von einer ökumenischen Versöhnung zu sprechen. Übereinstimmungen erscheinen als nichtssagende Formeln. Die römisch-katholische Kirche erkennt die Kirchen der Reformation ebenso wenig an wie deren kirchliche Ämter und eucharistische Praxis. Frauen bleiben von den römischen „Weiheämtern“ ausgeschlossen. Rom beansprucht nach wie vor einen unbedingten Rechtsprimat, eine päpstliche, bischöfliche und gesamtkirchliche Unfehlbarkeit sowie die exklusive Siebenzahl der Sakramente. Wo sind die An- und die Vorsätze des Konzils geblieben? Die Geschichte der ökumenischen Annäherung seit 1965 geriet eher zum Erweis einer unversöhnlichen Rechthaberei als der wirklichen Annäherung. Der nur halb gelungene Versuch, sich über die Rechtfertigungsfrage zu einigen, dokumentiert diese Unfähigkeit zu einem gemeinsamen Glauben, obwohl dazu weit konkretere einvernehmliche Entwürfe vorliegen und weithin bekannt sind. Solange diese Ökumene in ihren klassischen Streitfragen misslingt, wird auch keine weitergehende Erneuerung möglich und kein Relevanzverlust zu stoppen sein.
Da ist zum andern die dramatische nachkonziliare Entwicklung innerhalb der römisch-katholischen Kirche seit dem 2. Vatikanum (1962-1965). Rom und die bischöflichen Kirchenleitungen haben damals die Zeichen der Zeit gerade nicht erkannt, sondern mehr und mehr verworfen, als verderblichen „Zeitgeist“ diskriminiert. Die an sich schon zwiespältigen, von Kompromissen überladenen Botschaften des Konzils wurden erneut in autoritäre, romhörige und fundamentalistische Leitrahmen gepresst, inspirierende Aufbrüche hart sanktioniert. Johannes Paul II. und Benedikt XVI. wurden zum Fanal eines vorgestrigen, scholastisch verhärteten Kirchenregimes, das niemand mehr verstand.
Einen Tiefpunkt, von dem sich Deutschlands katholische Kirche nie mehr erholte, bildete das „Gemeinsame Kanzelwort der deutschen Bischöfe“ vom 7. Januar 1980, das in Würzburg von allen residierenden Bischöfen Deutschlands unterzeichnet wurde und H. Küngs epochemachenden Gesamtentwurf mit harter und überheblicher Geste verwarf, indem es sich allen Argumenten verschloss und keine der von ihm gestellten Fragen beantwortete. Gemäß ihrem unbegrenzten Lehranspruch bestanden sie darauf, dass „wir uns auf die verbindliche Aussage der Kirche[!] … mit letzter Gewissheit verlassen können“. In ihrem Eigensinn ignorierten sie jedoch Küngs entscheidende Frage, was denn diese verbindliche Aussage beinhalte, welche Wahrheitskriterien für die Bischöfe gelten und welche Rolle der Schrift und der Gegenwart in der Verkündigung zukommt.
Diese Generalverurteilung, die der römischen Gesamtstrategie entsprach, wurde zum Startsignal für ein Großreinemachen von immensem Ausmaß, das man resigniert zur Kenntnis nahm. Verurteilt wurden zahlreiche namhafte und weniger bekannte Theologinnen und Theologen auf der ganzen Welt. Befreiungstheologie und feministische sowie andere kontextuelle Theologien fielen in Ungnade. Hochkonservative und romtreue Säkulargemeinschaften wurden in kindlichem Gehorsam herangezüchtet. Sanktioniert wurde eine unübersehbare Anzahl von Seelsorgern und Seelsorgerinnen (darunter hoch engagierter Nonnen) nicht nur in Europa, sondern auch in Afrika und Lateinamerika. Einen wortlosen und demütigenden Abschied bescherten die Kirchenleitungen den vielen Priestern, deren gottgewollter Lebensweg keinen bischofsgenehmen Platz mehr fand. Der Bannstrahl aus Rom und vielen Bischofspalästen traf Lehrende und Erziehende in Schulen und Kitas, aber auch in sozialen Einrichtungen, weil ihr Lebensstil bei den hohen Herren Anstoß erregte. In der Außenperspektive herrschte jetzt eine gottgewollte Ordnung, aus der Innenperspektive war die Kirchengemeinschaft (beschränken wir uns auf Deutschland) bald von zahllosen Demütigungen, Verletzungen, brutalen Zurückweisungen und hochmütigen Eingriffen zerfressen. Der innere Frieden war und ist bis heute nachhaltig zerstört.
Für bald kirchenleitende Theologen wie W. Kasper, K. Lehmann und J. Ratzinger war die Diskussion seit 1980 beendet, in gute Bahnen gelenkt und sie konnten sich bald als Eminenzen und Heiligkeit bestätigt fühlen. Doch ein unbefangenes und kreatives Gespräch über eine menschenfreundliche Kirchenstruktur, über gewinnende Ämter, die Anerkennung von Frauen und eine humane Sexualmoral waren bis 2013 aufs Schärfste blockiert, höchstens mit vagen Formulierungen übertüncht. Die katastrophalen Folgen wurden allmählich bekannt. Diese hoch differenzierte und allgegenwärtige Landschaft von inneren Zerstörungen, zerschlagenen Chancen und verhöhntem Glaubensengagement wird im Augenblick durch die Fixierung auf die Missbrauchskatastrophen nur verdeckt.
Ich kenne den Widerspruch von vielen voranstrebenden und kirchenloyalen Insidern. Es widerstrebt ihnen, die alte schmutzige Wäsche zu waschen, deren Menge nicht abzusehen ist. Sollten wir nicht unbeschwerte in die Zukunft blicken? Doch wer von kollektiven Gedächtnissen in Familien und Gemeinschaften etwas versteht, weiß auch, dass die ungewaschene Wäsche in den tiefen Gewölben stinkt und modert, ihre toxische Wirkung täglich verstärkt. Wir wissen um die Bischöfe (nennen wir nur G. M. Hanke, St. Oster, R. Voderholzer oder R. M. Woelki), die heute noch genauso handeln würden wie damals. Deshalb ist ihnen auch heute noch offen und offensiv zu widersprechen, denn zu schnellen und eleganten Preisen sowie mit perfekten Inszenierungen ist eine Erneuerung nicht zu haben. Zuerst sind die überschweren Lasten abzutragen.
5. Mit einer neuen Kirchenwirklichkeit rechnen
Untergangsszenarien sind in, doch schon zu Bismarcks Zeiten hat man erfolglos über den Untergang der katholischen Kirche gewettet. Könnte es angesichts der Unheilsgeschichten soweit sein? Natürlich nicht. Diese Kirche ist weltweit verbreitet, kann also immer wieder Ressourcen finden und in ihren Kontexten, Kulturen und Orientierungen endlose Variationen finden. Glaubensgemeinschaften können sich neu miteinander verzweigen und wie Stauden oder Pilz-Myzele unzerstörbare Rhizome bilden, also sich ohne zentrale Stammwurzeln am Leben halten. Schließlich sind heute schon Kirchen in sich höchst vielfältig. Sie kennen Gottesdienste und soziale Aktivitäten, spirituelle Besinnung und politische Visionen, deuten die Welt und schaffen Orientierung und Hoffnung, engagieren sich in Erziehung und Ausbildung, ereignen sich in persönlichen Gesprächen und solidarischen Gesten. Im römisch-katholischen Raum neu ist aber die Erkenntnis: Dies alles kann sehr gut auch ohne monokratische Hierarchien gedeihen.
Wer sich also auf starke Strukturen konzentriert und von oben her denkt, sieht im aktuellen Prozess ein mühseliges Sterben, eine Entkirchlichung, gar eine Entchristlichung der Gesellschaft. Wer hingegen auf die christliche Botschaft, zumal auf die Botschaft Jesu achtet, kann sich darüber freuen, dass diese weit stärker ist als ihre offiziellen Repräsentanten. Unter den gegenwärtigen Umständen bieten viele Kirchenaustritte für den christlichen Glauben eine Chance.
Möglicherweise leiten sie die Selbstheilung einer autoritär gegängelten, vermännlichten Verkündigung und Praxis ein und die Hierarchien sind gefragt, ob sie diese Entwicklung als ein Todesurteil oder ebenfalls als Chance begreifen. Schon jetzt erfahren viele Enttäuschte ihren „Kirchenaustritt“ als die innere Befreiung zu einem geläuterten Glauben und schon jetzt ziehen auch die etablierten Kirchen daraus ihren Vorteil, denn viele der „Ausgetretenen“ arbeiten im christlichen Geist weiter, oft auch in vorgegebenen Strukturen. Eine Heilung kann geschehen, sobald der offizielle Autoritätsdruck gebrochen ist, weil zahllose Frauen und Männer in der Seelsorge ohne Rechtfertigungszwang, also befreiter handeln, weil Gottesdienst- und Eucharistiefeiern auch ohne Amtsträger geschehen können.
Jetzt schon treffen sich allüberall Gruppen in privaten Räumen, während dort drüben die Kirchenglocken läuten. Beerdigungen finden im christlichen Geiste statt, während der Pfarrherr von sieben Gemeinden seine Statistiken nachrechnet. Viele Priester, Frauen und Männer im pastoralen Dienst können jetzt ohne Kontrolle wirken. Menschen werden vielleicht von einer geschiedenen Frau oder einem laisierten Priester im Glauben gestärkt. Gebet, Meditation und gegenseitiger Trost, all dies findet neue Orte, die nicht mehr klerikal vorgegeben sind. So verlagert sich Kirche unbemerkt in freiere Räume und die Botschaft wird in neuer Weise zum Sauerteig unserer Kultur. Solange die Bischöfe diese Entwicklung als Bedrohung interpretieren, haben sie von der Wahrheit Jesu nur wenig begriffen. Damit verlieren die intensiven Reformbemühungen um eine erneuerte Kirche nicht ihren Sinn, aber ihnen wächst immer mehr ein doppelter Boden zu.
In den Niederlanden war es in den 1980er Jahren Brauch, die Bischöfe zu jedem Reformtreffen herzlich einzuladen; sie mussten sich nur dem offenen Wort, also dem freien Geist der Zusammenkunft stellen. So wurde im Verweigerungsfall wenigstens klar, dass sich dem Gespräch nicht das störrische Volk, sondern die Hierarchie versagte. Wenn heute die Freiheit der Kinder Gottes eine neue Chance erhält, wird die christliche Botschaft auch wieder an gesellschaftlicher Relevanz gewinnen. Daran habe ich keine Zweifel. Wir wollen keine Kirchen zerstören, doch wie das Te Deum es sagt, hoffen wir nicht auf eine hierarchische Kirche, sondern auf Gott: Auf Dich, Herr, setze ich meine Hoffnung.