Die Angst vor den Relativierern – Zur Ratzingerbiographie von Peter Seewald

„Auch mir ist vor Kurzem der zweite Herzschrittmacher eingepflanzt worden; möge der Herr selber die Schritte des Herzens besser lenken, als es eine Maschine kann.“ (S. 759).

Vielleicht war es nur ungeschickt gewählt, denn vom so schreibfreudigen emeritierten Papst hätte man sicher ein besseres Zitat finden können. Vielleicht aber fand er es sehr treffend, Peter Seewald, Ratzinger-Verehrer von Beruf, der mit seinen 1150 Seiten ein Mammut-Werk vorlegt. Aber keine Angst, man hat es bemerkenswert schnell gelesen. Man muss nur die ellenlangen Passagen überschlagen, die zur Erkenntnisgewinnung der dargestellten Person nichts beitragen, seien es das Lob der bayrischen Heimat, die Beschreibung des wenig stilvollen Ratzinger-Hauses in Pentling oder des klapprigen Aufzugs im Apostolischen Palast, der Briefwechsel mit Esther Betz oder die ellenlangen Passagen von Ratzinger-Texten, die der Autor besser kurz analysiert als umständlich zitiert hätte. Zur schlimmsten Untugend des Buches gehört das simple und simplifizierende Freund-Schema, die alles weitere Denken überflüssig macht. Auch dies durchschaut man schnell, weil sich die Kritiken, Herabsetzungen und Halbwahrheiten zu oft wiederholen. Wer dem Professor, Glaubensbelehrer oder Papst widerspricht, kann nichts Gutes im Schilde führen.

Dabei ist der recherchefreudige Autor blendend in den Lebens- und Schaffensdaten seines Helden zuhause. In 74 Kapiteln und einem Epilog erfahren wir wirklich alles und manche mögen es mit Neugier lesen, wenn sie die Kirche noch als die unbefleckte Braut Christi oder als den Mond verstehen, der alles Licht von der überirdischen Sonne erhält. Denn wie in einer erhabenen, nicht undramatischen Legende fließen die Ereignisse dahin von der Geburt über Kindheit, Ausbildung und Priesterweihe, zur Promotion und holprigen Habilitation, dann die Stufenleiter hinauf über das Bischofsamt, das Kardinalsamt und die Leitung der Glaubenskongregation, bis hin zum Papsttum und folgenschweren Rücktritt. Ratzinger war nicht mehr zu übersehen. In Seewalds (und Ratzingers) Terminologie heißt das: Gottes Vorsehung hat ihn ein Leben lang geführt.

Ich anerkenne den unendlichen Sammlerfleiß des Autors und rechne ihm die Sympathien für seinen Helden nicht negativ an. Das ist sein gutes Recht. Doch von Kapitel zu Kapitel drängen sich auch die Probleme dieser Schreibart auf:

(1) Oberflächlich und distanzlos:
Diese Biographie ist oberflächlich und distanzlos geschrieben. Natürlich versteht sich Seewald nicht als oberflächlicher Autor. Ihn interessieren auch weiterführende Fragen, aber er durchdringt sie nicht. Deshalb reichen seine Ergebnisse nie weiter, als Ratzinger es selbst formuliert. Daraus ergibt sich das Gefühl, dass die Erzählung – trotz ihrer bisweilen hochspannenden Inhalte – additiv vor sich dahin plätschert: Mal geschieht dies, mal das; es kommt zu Widerständen, über die sich Seewald empört, dann folgt eine Bestätigung, die Ratzinger wieder zum Recht verhilft. Doch auch die Beschreibung der Ratzingerkritik wird kaum analysiert, sondern erschöpft sich in seitenlangen Zitaten.

Diese Oberflächlichkeit ergibt sich aus der distanzlosen Methode des Autors. Was Ratzinger, der geniale Denker und Rhetor, von sich gibt, stimmt ohnehin; und andere Möglichkeiten oder konkurrierende Kontexte geraten überhaupt nicht in den Blick. Mehr noch, in den zahlreichen Interviews mit dem Helden übernimmt der Autor auch Ratzingers Selbstinterpretationen, gleich ob sie inhaltlicher, psychologischer oder politischer Art sind.

(2) Monologischer Resonanzraum:
So entsteht ein geschlossener Kosmos, der sich gegen alle Fragen immunisiert. Man räsoniert innerhalb der Blase oder bleibt ausgeschlossen. Diese Biographie konstruiert einen in sich stimmigen, nach außen hin unangreifbaren Resonanzraum. Nirgendwo wird ein Anhaltspunkt dafür erwogen, dass Ratzinger sich getäuscht hätte oder man einen Sachverhalt auch anders sehen kann. Mit konstanter Penetranz werden Kritiker (gleich ob Presseorgane oder Personen) mit disqualifizierenden Bemerkungen belegt (sie sind böswillig, geltungssüchtig, einfach kirchenkritisch, glaubensfeindlich oder unkundig). Ratzinger hingegen ist der Bescheidene und Zurückhaltende, der als in sich Ruhender falsch verstanden wird und sich höchstens schwer tut, anderen zu widerstehen. Angesichts der außenpolitischen und innerkirchlichen, in jedem Fall internationalen Katastrophen, die sich während seines Pontifikats abspielen, sind immer andere die Versager oder illoyalen Übeltäter. Gerne wird der Papst zum Missverstandenen und Leidenden, dessen Gutmütigkeit man hintergeht.

Auch seine eindeutigen Missgriffe und Fehlhandlungen werden noch zurechtgebogen, seien es die Regenburger Rede, die peinliche Versöhnung mit den Piusbrüdern, die fragwürdige Annäherung an die Anglikaner oder das unverantwortliche Verhalten Benedikts gegenüber des hässlichen Tsunamis von Missbrauch und Vertuschung. Als Generalverteidiger tauchen bekannte Gestalten aus dem rechten Lager auf: H.U. von Balthasar und Henri de Lubac (dem selbst das Konzil zu fortschrittlich war), Robert Spaemann oder Manfred Lütz, der bekennende Ratzinger-Fan Freddy Derwahl und einige Ratzingerschüler. Genau auf dieser Linie wird auch der Erfolg dieser Biographie liegen: Um sie wird sich ein Kreis von entschlossenen Benedikt-Verteidigern formieren, während sich den kritischer Denkenden der Zugang zu diesem Verehrungsbuch verschließt. Angesichts der allgemeinen kulturellen Polarisierungen im westlichen Kulturkreis ist diese Entwicklung erschreckend, aber nicht unbekannt.

(3) Durch Widerspruch definiert:
Ungewollt vermindert dieses Verfahren auch Bedeutung und Glaubwürdigkeit des ehemaligen Papstes, denn Seewald übernimmt, ohne darum zu wissen, auch die Schwächen seines Helden, die oft indirekt, aber klar zum Vorschein kommen: sein Bedürfnis nach Anerkennung, das Schielen auf bedeutende Leistungen von Kollegen und die Frage, wer auf dem Konzil oder anderswo die wichtigsten Reden entworfen oder gehalten hat. Wenn man Seewalds treuherzige Ausführungen für bare Münze nimmt, definiert sich der Theologe Ratzinger massiv aus seinem Gegensatz zu theologischen Rivalen. So gesehen ist Küngs Einfluss auf Ratzinger noch größer als ich je zu denken wagte, worauf ich als Küng-Schüler geradezu stolz sein kann. Nach dem Wojtyła-Papst wird im ganzen Buch kein Dritter so oft genannt wie Hans Küng. Doch ausgerechnet bei der Besprechung von Ratzingers Christologie (auf dem Papstthron geschrieben), in der sich viele Passagen aus den späten 1960er Jahren wiederfinden, werden der exegetische und der Küngsche Widerpart abgeblendet. Was an dieser Arbeit mit ihrem überholten exegetischen Forschungsstand soll „so gewaltig“ sein? (S. 1072) Die Mängel des päpstlichen Werks, die in zahlreichen Reaktionen besprochen wurden, müssten das Superlob der päpstlichen Genialität eigentlich einschränken.

(4) Vorgestrige Metaphysik:
Aus diesen Gründen wird Ratzingers kirchen- und weltpolitische Bedeutung stark überschätzt. Nicht als ob Ratzinger, der ehemalige Papst, nicht ein gescheiter Kopf, ein eleganter Sprachbeherrscher und ein Mann mit einem breiten philosophischen und theologischen Wissen wäre. Doch Seewald übersieht, dass Ratzinger/Benedikt keine neue Theologie entwickelte, sondern verbissen an seiner altkirchlich-metaphysischen Denkwelt festhielt, ‑ einem Verstehenskosmos, der sich gerade nicht auf Jesus zurückführen lässt. Seewald verkennt nicht nur diesen Geburtsfehler von Ratzingers Christustheorie, sondern auch die starke konfessionelle Engführung, der sie durchgängig unterliegt.

(5) Massive Überforderung:
Kaum reflektiert und von Seewald völlig vernachlässigt sind Ratzingers Reibungspunkte zwischen Theologie und Kirchenleitung, also zwischen dem Theologen und dem Oberhaupt der Kirche. Sein überzogener Ehrgeiz, zum Theologen auf dem Papstthron zu werden, hat ihn überfordert. Zur Debatte stehen ja nicht nur die offenkundige Unfähigkeit Ratzingers, die gewiss komplizierte Institutionen von Kurie und Weltkirche zu leiten, oder sein offenkundiges Desinteresse an einem durchdachten Verwaltungshandeln (wie kann man sich denn als Papst regelmäßig zum Bücherschreiben zurückziehen!), sondern auch an den Auswirkungen, die sein theologisches Denken direkt auf seine Kirchenleitung hatte.

Ganz offensichtlich hängen die meisten Konflikte, die für ihn unerwartet ausgebrochen sind, mit den Defiziten seines theologischen Kirchenbildes zusammen, das er 2000 in Dominus Iesus, diesem von Überlegenheit und Intoleranz geprägten Dokument, zu Papier brachte. Die unglückseligen Auswirkungen dieses autoritären und absolutistischen Denkens wirken noch heute in den massiven Widerständen nach, die Papst Franziskus im Vatikan durchzustehen hat. Dieser Punkt zeigt deutlicher als andere, dass Seewald die inneren Zusammenhänge von Ratzingers Denken nicht nachvollzogen hat. Diese Nachlässigkeit im Papstteil, der deutlich weniger durchdacht ist als die anderen, scheint mir unverzeihlich.

(6) Verhärteter Dualismus:
Die von Seewald rekonstruierte Ratzinger-Theologie enthüllt einen früh angelegten Dualismus, der sich im Laufe der Jahre nach seinen Bonaventura-Studien immer deutlicher durchsetzt. Die Welt wird glaubens- und gottlos, deshalb auch orientierungslos und Ratzinger tritt auf als der prophetische Künder dieses wachsenden Unheils; das Wort von der „Gotteskrise“ (J.B. Metz) wird ihm wichtig. So weit so gut, aber wie setzt er sich mit dieser Frage konkret auseinander? In jeder seiner Denkphasen muss erstaunen, wie viele Theologen der Prophet Ratzinger mit in die Tonne der Irrenden wirft, eingeschlossen der narrative bzw. interreligiöse Ansatz von Küng, seine Unfehlbarkeitskritik, die Politische Theologie aus Münster, die Befreiungstheologie, feministische und kontextuelle Theologien sowie moraltheologische Konzepte, insbesondere zur Sexualmoral. Unbarmherzig lang ist auch die Liste der unter ihm sanktionierten Theologen sowie solcher, die in der Sozial- und Seelsorgearbeit tätig sind. Das gelähmte Schweigen der Dissidenten verdichtet sich zum großen Schrei, innerhalb der Kirche haben sich Barrieren aus Angst und Sanktionen aufgebaut.

Ich nenne das Ratzingers Dualismus zweiten Grades, der die Projektion gegenüber einer gottlosen Welt ins Kircheninnere verdoppelt. Was ist der Grund für diese desaströse Entwicklung, für die Seewald keinen Blick hat, weil er kritiklos seinem Lehrmeister folgt?

(7) Missverständnis Säkularisierung:
Wie P. Seewald wohl unwissend entlarvt, hat Ratzinger es nie gelernt, angemessen mit dem Gottesbegriff umzugehen. Das zu Beginn zitierte Wort vom Herzschrittmacher entlarvt Ratzingers Problem einer ständigen Doppeldeutigkeit. Seine Welt, im Herzschrittmacher symbolisiert, steht zu Gott in Konkurrenz. Er kann sich Säkularisierung nur als Gottesverlust vorstellen, nicht als eine angemessene Metamorphose von Gottesglauben und Religiosität, in der die Rede von Gott selbst einem Wandel unterliegt, weil er nicht mehr als überirdisches und allmächtig eingreifendes Wesen gedacht werden kann. Es könnte ja sein, dass der massive Glaubensverlust der katholischen Kirche von der Kirche selbst und nicht von böswilligen Ungläubigen verursacht ist. Angesichts dieser Möglichkeit wäre es zumindest eine Frage wert, ob Ratzinger nicht im Laufe seines Lebens einer wachsenden Verhärtung, einem unchristlichen Fundamentalismus erlag.

(8) Die Weltsicht des Vaters:
Dies führt mich zu einem letzten Aspekt, den zu denken ich mir bislang verboten habe, den Seewald aber nahelegt, denn in zahlreichen Passagen verwechselt er Ratzingers Theologie mit seiner Psychologie. Damit stößt er ein gravierendes Problem an. Statt über Sachwahrheiten nachzudenken, erläutert er Ratzingers Gemüts- und Motivlage. Prägend für den kleinen Joseph waren zum einen der Dualismus zwischen dem Nationalsozialismus und der katholischen Kirche, zum andern sein einflussreicher Vater, der mit dem Sohn oft zusammen war und ihm diesen Dualismus zum Lebensprinzip formte. Offensichtlich hat sich dieser Dualismus gehalten. Ein Leben lang blieb die Institution Kirche für ihn der nie schwankende Fels, die bösen Mächte hingegen waren draußen angesiedelt und wiederholten sich unter wechselnden Gestalten, gleich ob dies die Unruhestifter der 68er Jahre, die allgegenwärtige Sexualität, die zentrifugalen Kräfte des wachsenden Wohlstands, die tödliche Macht des Kommunismus oder die Diktatur eines säkularen Relativismus waren. So blieb die Weltsicht des ordnungsliebenden Vaters bis heute in Kraft; der erwachsene und weltweit bekannte Kirchenmann, nach wie vor seinem Bayern verbunden, hat sich davon nie gelöst.

(9) Was zu tun wäre:
Der amerikanische Vatikanist John L. Allen Jr. hat im Jahr 2000 ein magistrales Buch geschrieben über Cardinal Ratzinger. The Vatican‘s Enforcer of the Faith (New York). Darin steht ein bemerkenswertes Kapitel zu Ratzingers Jugendjahren. Es beleuchtet u.a. dessen Unwissen bzw. Blindheit gegenüber dem katholischen Versagen während der Nazizeit, sein völlig unreflektiertes Verhältnis zu seinem Großonkel Georg, der judenfeindliche Bücher schrieb, und einen Vergleich mit Bernhard Häring, dessen Kriegserfahrungen in Russland ihn am unerschütterlichen Vertrauen in die Institution Kirche zweifeln ließen. Dieses unangenehme Kapitel wird in der deutschen Übersetzung von 2002 kommentarlos unterschlagen; Seewald muss davon wissen (S. 519f). Man fragt sich, wie viel weiteres Diskussionsmaterial unser eifriger Rechercheur unter den Teppich kehrte. Eigentlich müsste er aus dem allgemein zugänglichen gegenläufigen Material ein Anti-Manuskript von vergleichbarer Länge erstellen. Dann erst könnte die wirkliche Arbeit beginnen: eine Biographie, nur halb so lang wie die vorliegende, die aus dem Für und Wider eine wirklich kritische Darstellung erarbeitet. Erst so könnte ein rational und methodisch schlüssiges Ratzingerbild entstehen. Denn vergessen wir nicht, langfristig kann die jetzt vorliegende Lebensbeschreibung dem Ansehen des Verehrten nur schaden.

Das Buch:
Peter Seewald, Benedikt XVI., Ein Leben, Droemer Verlag München 2020, ISBN 978-3-426-27692-1, 1150 Seiten

Die Rezension ist verfasst für die Initiative Kirche für unten (IKvu) und einsehbar unter www.ikvu.de.