Mündige Gemeinden – das Gebot der Stunde

Allmählich werde ich müde, die vielen Dokumente zu kommentieren, die uns mit schöner Regelmäßigkeit aus unseren bischöflichen Schreibstuben und aus Rom erreichen. Meist beginnen sie ermutigend und verständnisvoll, enden aber ergebnislos oder stabilisieren ein verknöchertes System. Bestätigt werden dann Pflichtzölibat und ein misogynes Ordinationsverbot (15.01.2020), man verbietet Nicht-Priester als Gemeindeleiter (29.06.2020) oder verweigert den Verzweifelten die Sakramente, die freiwillig in den Tod gehen (14.07.2020). In einem zwiespältigen Brief warnte der Papst vor zu vielen Reformen (20.06.2019) und seine letzte Sozialenzyklika lässt eine differenzierte Diskussion von Wirtschaftsfragen vermissen (04.10.2020). Die deutschen Bischöfe sind nach wie vor mit sich selbst und ihrer unseligen Vergangenheit beschäftigt und die reaktionären unter ihnen haben die alten Wege der Denunziation wiederentdeckt. Die ersten Dokumente des Synodalen Wegs zeigen zwar viel guten Willen, packen die Fragen aber nicht an der Wurzel an; zu eng sind die Reformerwartungen gespannt. Wie gelingt es, diesen Ring von Festungsmauern zu durchbrechen?

1. Epochaler Umbruch

Zwischen Hierarchie und Reformkräften (Zentralkomitee eingeschlossen) hat sich ein lähmender Mechanismus eingeschliffen. Faktisch legitimieren und stabilisieren sie einander. Dieses Spiel sorgt für einen respektvollen Ausgleich, von dem die Zweifelnden vor Ort nur wenig haben. Denn jetzt, da die Seelsorge zusammenbricht, brauchen wir keinen gut austarierten Kompromiss, sondern grundlegende Reformen. Die einzig kräftigen Impulse gehen noch von Maria 2.0 und den Missbrauchsgeschädigten aus. Sie zeigen, welche Konflikte uns noch bevorstehen und wo unsere Visionen zu suchen sind. Was aber vereitelt die unbestreitbaren Reformschritte so massiv?

Führen wir uns den Ernst der Lage vor Augen. Noch nie steckte die römisch-katholische Kirche des westlichen Kulturraums in einer vergleichbaren Krise; sie übertrifft bei weitem die Wirren der Reformation, auf die man nur halbherzig reagierte. Der Grund des aktuellen Zusammenbruchs liegt nicht im Streit um einen Glaubenssatz oder ein päpstliches Privileg, auch nicht im grassierenden Unglauben, den so viele beklagen. Er liegt vielmehr in einem tiefgreifenden kulturellen Umbruch, der auch die evangelischen Kirchen beutelt. Unsere Glaubensformeln und Gottesdefinitionen, die seit dem 4. Jahrhundert konstruiert wurden, haben ihre Überzeugungskraft verloren; in der Öffentlichkeit sind sie in Misskredit geraten oder ganz verstummt. Ganze Symbolwelten sind zusammengebrochen und lassen sich nur noch mühsam rekonstruieren.

Seit 100 Jahren suchen Fachleute aus Literatur, Philosophie und Theologie erfolglos neue Wege. Schlimmer noch, im katholischen Raum etablierte sich 1870 mit dem Unfehlbarkeitsdogma eine programmatische Gegenwartsverweigerung, für die spätere Entwicklung eine Katstrophe. Auch die propagierte Wende des 2. Vatikanum konnte den Niedergang nicht aufhalten, weil es ihrer Dogmen- und Institutionskritik an Konsequenz fehlte und sie auf halbem Wege stecken blieb. Selbst Papst Franziskus durchschaut das Ausmaß dieser Blockade nicht. Ideologische Pauschalvorwürfe von gestern durchziehen auch seine Gesellschaftskritik und neuere Veröffentlichungen bekräftigen den Verdacht: Sein Kirchen- und Glaubensbild hat mit Romano Guardini und Henri de Lubac die vorkonziliaren Grenzpfähle nicht überschritten. Mit gutem Grund hat er wiederholt betont, er stehe mit Josef Ratzinger in theologischem Einklang. Warum ist es bis heute nicht gelungen, aus diesen brüchigen Gattern auszubrechen? Obwohl er den Klerikalismus heftig kritisiert, hat er dessen spirituelle, nicht aber die institutionellen Grundlagen kritisch im Blick. Diese aber sind von Bedeutung.

 Meist sind die glanzvoll klerikalen Karrieren unserer Bischöfe und Kardinäle in eine hochkirchliche, aus Vorrechten und Privilegien stabilisierte Denkwelt eingebunden. Sie kennen kaum andere Erfahrungen und ihr Lebensstil fördert nicht gerade ihre Begegnung mit normalen Menschen. Hingegen bleiben die Nichtkleriker*innen meist von den hochgezüchteten innerkirchlichen Diskursen ausgeschlossen. Sie argumentieren nach den Regeln der Menschlichkeit und der Menschenrechte, wie man an vielen Debatten erkennen kann. Der Bruch zwischen beiden Erfahrungs- und Lebenswelten ist enorm. Unsere Pfarrer, die die Last der offiziellen Seelsorge tragen, sind zwischen Pflicht und Neigung oft hin- und hergerissen; zahlreiche Konflikte werden auf ihren Rücken ausgetragen.

Meines Erachtens besteht die Hauptblockade darin, dass sich unsere Gemeinschaften und Gemeinden dem offiziell definierten Glaubenskanon noch immer beugen, um eine pastorale Totalkatastrophe zu vermeiden. Dabei ist auch viel Gewohnheit im Spiel, denn nie haben wir (die Deutschen zumal) ein ungebundenes Identitätsbewusstsein entwickelt; wir wissen uns noch immer unseren Bischöfen und ihren Kesslerhüten verpflichtet.

Die Öffentlichkeit hat für diesen Identitätsmangel ein gutes Gespür. Sie identifiziert die Kirche nicht nach dem, was vor Ort in konkreten Gemeinschaften geschieht, sondern immer nach dem, was Papst und Bischöfe sagen und anordnen. Zu diesem Verschweigen leisten die Bischöfe ihren fragwürdigen Beitrag. Wir hören von ihnen, wie viele Gregorius-Orden verteilt werden und welche Bischöfe Geburtstag feiern, welchen Pastoralplan sie entwickeln und wie oft sie nach Rom reisen. Das Eigenleben der einzelnen Gemeinden (auf staatlicher Ebene der unverzichtbaren Zivilgesellschaft vergleichbar), ihr täglicher enormer Einsatz bei der Integration von Flüchtenden, ihre Leistungen im Pflege- und sozialen Dienst, ihre zahllosen Gesprächs- und Selbsthilfegruppen, Impulse zur Überwindung von Notlagen und Konflikten, all das wird kaum zur Kenntnis genommen. Oder hat ein Ordinariat schon je ausgerechnet, wie viel unbezahlte Stunden eine Zugehfrau im kirchlichen Dienst investiert?

2. Neue Gemeinden

Wir sollten dies ändern, indem wir selbständige, autonome, im Namen des christlichen Glaubens selbständige Gemeinschaften und Gemeinden etablieren. Gemäß bester katholischer Lehre sind wir – sobald sich eine Diskrepanz auftut ‑ erst unseren christlichen Überzeugungen, erst dann der kirchlichen Hierarchie verpflichtet. Wir sollen Gott mehr gehorchen als den Menschen (Apg 5,29). Das bequeme Spiel, in dem wir mutigen Kritikern zujubeln, uns selbst aber vom Streit zurückziehen, sollte vorbei sein: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Bleibt daher fest und lasst euch nicht von neuem ein Joch auferlegen, das euch knechtet.“ (Gal 5,1)

Anders gesagt: christliche Gemeinschaften und Gemeinden bilden den authentischen Quellpunkt christlicher Erfahrung und christlicher Praxis, auch in der Auseinandersetzung um die Wahrheit des Glaubens. So gesehen sind sie autonom, sofern sie gemäß ihrem christlichen und sorgfältig informierten Gewissen handeln. Sie sind zu selbstverantwortetem Handeln aufgerufen und zu eigenen Entscheidungen in Glaubensfragen ermächtigt. Ich sehe es als ein Gebot der Stunde, dass unsere Gemeinden diese Freiheit endlich wahrnehmen.

Nicht alle stimmen dieser These zu. Oft höre ich, die Züge seien schon abgefahren, die Gemeinden ausgedörrt und überaltert. Aus mehreren Gründen kann mich dieses Argument der Resignation nicht überzeugen.

(2.1) Blicken wir auf die klassischen Pfarrgemeinden. Viele mögen die vergangenen Jahre nicht unbeschädigt überstanden haben, andere konnten dem Druck der neuen gemeinschaftsfeindlichen Mega-Gemeinden nicht widerstehen. Ich schaue auf die widerständigen (Rest)-Gemeinden, die es auch noch gibt: durchaus aktive Gemeinden. Sie können sich auch dann zu einem Neuaufbruch entschließen, wenn sie scheinbar von einer Megagemeinde verschluckt sind. Im Prinzip bedürfen sie für ihr deutendes, belehrendes, soziales und gottesdienstliches Handeln keiner bischöflichen Legitimation. Selbst das so oft beschworene „Weiheamt“ bezeichnet nur eine sekundäre Funktion, die sich aus dem Neuen Testament nicht begründen lässt.

(2.2) In vielen resignierten und ausgebluteten Gemeinden gibt es immer noch aktive Gruppen, Hausgemeinden oder andere Gemeinschaften, nennen wir sie Initiativgruppen. Sie haben die Zeichen der Zeit erkannt und können sich dazu ermächtigt wissen, vor Ort zum Ausgangspunkt einer neuen, ihrem Gewissen folgenden Gemeinschaft zu werden. Es gibt zahllose solcher Gruppierungen, die sich in Wohnungen oder Versammlungsräumen treffen, als Frauen, als Geflüchtete oder Traumatisierte ihre Identität suchen sowie ohne alle Aggressivität und Bitterkeit in Erinnerung an Jesus von Nazareth ihren eigenen Weg suchen. Schauen Sie mal in die Niederlande, die eine Vielzahl solcher Gruppen kennt. Auf die Frage: „Warum habt Ihr Euch von Eurem Bischof getrennt?“ antworten sie lakonisch: „Nicht wir haben uns von ihm, er hat sich von uns getrennt.“

(2.3) An vielen Orten sind neue, überörtliche Pioniergruppen zu finden, die sich – oft ökumenisch orientiert – ganz entschieden für eine zukunftsfähige Kirche engagieren. Nach außen schreiben sie sich oft nur eine sachlich begrenzte Funktion zu; sie lesen die Schrift oder betätigen sich sozial. Sofern sie sich umfassend an der Sache des Christlichen orientieren, sind sie kirchlich schlicht ernst zu nehmen. Ihre Größe spielt dabei keine Rolle. Man sollte nicht glauben, in Korinth, Ephesus oder Philippi hätten etablierte Großgemeinden existiert.

(2.4) Schließlich kennen wir viele überregionale Gemeinschaften, die sich schon immer ein besonderes christliches Engagement auf ihre Fahnen geschrieben hatten, sich aber aus dem normalen Leben eines Bistums ausgliederten. Ich zögere, sie kirchliche Gemeinden zu nennen und vergleiche sie eher mit kirchlichen Orden, Kongregationen oder Säkularinstituten, die in der Geschichte des Christentums von alters her eine hohe Achtung genossen. Dazu lässt sich ruhig der Bund Neudeutschland zählen. Auch sie haben eine christliche Würde, die nicht von bischöflicher Anerkennung abhängig ist. Sie haben ihr eigenes Charisma, das nicht am bischöflichen Wohlwollen, sondern an den Früchten zu messen ist, die sie für die Gesamtkirche ihres Landes erbringen.

3. Neue Spiritualität

Natürlich werden Bischöfe und Papsttum dadurch nicht überflüssig. Im Gegenteil, je vielfältiger die Basis wird, umso wichtiger sind die Strukturen, die zwischen diesen Gemeinden einen effektiven Konsens und eine handlungsfähige Einheit organisieren. Uns sollte nur bewusst sein: Wie in einer Demokratie sind auch die Regeln dieser Einheit – auf der Basis einer Verfassung ‑ durch die Basis delegiert. Kein Bischof, bei dessen Wahl die Stimmen seiner Pfarrgemeinden übergangen wurden, hat Anspruch auf Autorität. Umso wichtiger ist es, über die Fundamente der Gemeinde-Autonomie gemäß dem Zeugnis der Schrift nachzudenken. Ich beschränke mich hier auf drei Hinweise.

(3.1) Natürlich birgt der Gedanke einer autonomen Gemeinschaft, die sich kraft eigenen Wissens und Gewissens auf die christliche Botschaft beruft, gewaltige Gefahren in sich. Als abschreckendes Beispiel lässt sich die „Integrierte Gemeinde“ nennen. Wie aktuelle Berichte zeigen, hat sie sich über andere Gemeinschaften erhoben, einzelne Mitglieder manipuliert, deren Identität zerstört, eine traumatisierende Macht über ihre Seelen ausgeübt. Einen vergleichbaren massiven (spirituellen und sexuellen) Missbrauch hat Doris Wagner in der „Geistlichen Familie. Das Werk“ erfahren und beschrieben. In beiden Fällen haben sich einzelne Gemeinschaften den Anschein einer besonderen kirchlichen Würde erworben, indem sie untertänig mit hierarchischen Kreisen (u.a. mit Josef Ratzinger) intensive Kontakte pflegten. Dementsprechend sind sie der Versuchung vieler Hierarchen und ihres Kirchenbildes erlegen: Sie wollten Macht über die Seelen gewinnen und sie kontrollieren.

(3.2) Deshalb ist streng darauf zu achten, dass diese neue Autonomie nicht erneut in einen vor-modernen Autoritarismus verfällt. Die neue Autonomie setzt eine umfassende spirituelle Bekehrung voraus. Sie erfordert eine Spiritualität des gegenseitigen Respekts, der gelebten Geschwisterlichkeit und einer vorbehaltlosen Partizipation, den Geist einer ungeschmälerten Synodalität, wie ihn die Alte Kirche kannte, nicht der halbierten, die heute angepriesen wird. Die neue Autonomie will sich nicht die bisherige Macht der Bischöfe unter den Nagel reißen, sondern deren unchristliche Machtpraxis entlarven, als irrelevant auf sich beruhen lassen. Wir werden keine Paläste stürmen, sie werden uns aber nicht mehr beeindrucken. Wir legen es auf keine spektakulären Loyalitätsbrüche an, gehen bedacht und mit Klugheit vor, werden die alten Loyalitäten aber unterlaufen. Wir zerreißen keine alten Gemeinden, konfrontieren sie aber mit neuen Formen des Zusammenlebens. Wir begegnen dem Herrschergehabe von Stab und Mitra mit würdiger Distanz und dem Adelsgehabe von Bischofswappen und Wappensprüchen mit sanfter Ironie. Wir können des Todes und der Auferstehung des Herrn auch ohne Weihevollmacht gedenken. So verabschieden wir entschieden das mittelalterliche Kirchenkonzept, das Rom seit den Gregorianischen Reformen (11./12. Jh.) nicht mehr als souveränen Leib Christi geachtet, sondern zu einem klerikal manipulierten System degradiert hat.

(3.3) Auch eine autonome Gemeinde kann nicht willkürlich verfahren. Autonomie besagt weder Anarchie noch Monokratie, wie wahre Freiheit auch weder Willkür und gesetzeslosen Solipsismus bedeutet. Das Handeln einer jeden Gemeinde muss grundsätzlich öffentlich und kontrollierbar werden. Sie bleibt dem Einverständnis mit ihren Schwestergemeinden verpflichtet, steht also in keinem kommunikations- und rechtsfreien Raum. Im Gegenteil, gemäß dem Modell einer von unten aufgebauten Partizipation wird uns ein glaubwürdiges Zeugnis besser gelingen als unter den Voraussetzungen einer römisch gesteuerten Monokratie. Denn langfristig kann auch eine starke Spiritualität die dogmatisch und juridisch einzementierten Grundpfeiler einer Weltkirche nicht verflüssigen. Ihnen muss endlich der Mythos des Gottgewollten und Unfehlbaren entzogen werden.

4. Meine Vision

Reformen, die diesen Namen verdienen, müssen von einer Vision getragen sein, die vorgegebene Grenzen nachhaltig verlegt und vor Ort von einer breiten Schicht getragen wird. Unsere bisherigen Visionen standen sich selbst im Weg, weil sie immer in hierarchische Vorgaben verstrickt waren. Wir sehnten uns nach Erneuerung, zugleich aber nach dem Segen von Bischöfen und Papst. Beides ist nicht zugleich zu haben. Mir schwebt eine Vision vor, die sich nicht mehr von hierarchischen Machtsystemen kontrollieren und abwürgen lässt. Sie muss aus dem Dialog zwischen Jesusgeschichte und Gegenwart erwachsen und ich glaube an Gemeinschaften, die diesen Dialog vor Ort, in der Lebenswelt der mit uns lebenden Menschen aufnehmen.

Dafür sehe ich innerhalb kirchlicher Gemeinschaften und an ihrem Rand viele Ansätze. Oft sind sie unscheinbar, noch zu zaghaft, noch kaum vernetzt und oft verschwiegen. Wir können noch nicht vorhersagen, was daraus wird. Doch ich traue diesen Gemeinschaften zu, dass sie die christliche Botschaft so ursprünglich wie möglich aufgreifen und sie in unserer aktuellen Lebenswirklichkeit so elementar wie nötig ins Gespräch bringen. Wir betreiben keine Kirchenspaltung, aber lassen uns auch nicht vom Glanz des Purpurs korrumpieren. Wir wollen Sauerteig, keine Spaltpilze sein. Wir bleiben der jesuanischen Botschaft treu, auch wenn Bischöfe uns tadeln oder sich von uns trennen sollten.

(Erschienen im Rundbrief des ND Region Aachen-Niederrhein, Nr.2/2020)