25 Jahre Erklärung des Weltparlaments der Religionen Was hat sie bewirkt – wie ist sie fortzuschreiben im Blick auf Europa?

Es mag sich zynisch anhören: Bis zum Jahr 1989 herrscht in den weltpolitischen Verhältnissen der nördlichen Halbkugel noch Ordnung. Westmächte und Ostblock waren eindeutige Zuweisungen; der Kalte Krieg sorgte innerhalb der beiden Machtsphären für Disziplin. Doch in den 1980er Jahren beginnt die Sowjetunion zu zerfallen. Im März 1985 erreicht Michail Gorbatschow den Gipfel der Macht, mit Glasnost (Transparenz) und Perestroika (Umbau) leitet er das Ende des Kalten Krieges ein, was ihm letztlich seine eigene Macht kostet. Am 25. Oktober 1989 gibt Gorbatschow den Satellitenstaaten Russlands die Erlaubnis, ihre inneren Angelegenheiten selbst zu regeln. Am 9. November fällt die Berliner Mauer, in den kommenden Monaten bricht der Ostblock endgültig auseinander. Es beginnt eine neue weltpolitische Epoche, deren Folgen damals niemand absehen kann.

* * *

Gliederung

I.       Entstehung des Weltethos: Der neue Kontext
I/1           Ende des West-Ostkonflikts
I/2           Die Erklärung von Chicago
I/3           Der neue gesellschaftspolitische Kontext
I/4           Die Vorarbeiten von Hans Küng
I/5           „Projekt Weltethos“ (1990)
I/5.1               Kein explizit religiöses Projekt
I/5.2               Kein ethischer Minimalismus
I/5.3               Keine Welteinheit, sondern Weltfrieden

II.       Entfaltung: Die Arbeitsgebiete
II/1          Weltreligionen und Weltanschauungen im Weltgeschehen
II/1.1              Moralisches Weltbewusstsein
II/1.2              Präsenz der Weltreligionen
II/1.3              Kooperationen
II/2          Politik und Ökonomie
II/3          Schule und Bildung
II/4          Ökologie
II/5          Flexible Offenheit
II/6          Weltethos international

III.      Aktuell: Dringender denn je
III/1         Zukunftsorientierte Zivilgesellschaft
III/2         Friedensfähige Religionen
III/3         Realorientiertes Wertebewusstsein
III/4         Sanierung religiöser und kirchlicher Kulturen                                      27

IV.    Zukunft: Erreichbare Ziele?
IV/1         Eine unerreichbare Vision
IV/1.1          Ganzheitlicher Prozess
IV/1.2          Geschichtliche Dynamik
IV/1.3          Kontrafaktische Ausrichtung
IV/1.4          Kulturelle Bedingtheit
IV/1.5          Säkular-religiöse Doppelstruktur
IV/2        Das Bewusstsein ist gewachsen
IV/3        Ein Netzwerk mit Ankerpunkten
IV/4        Weltethos-Gemeinden stehen noch aus

Schluss:          Europa als weltethisches Laboratorium

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I.        Entstehung des Weltethos: Der neue Kontext

Mit dem Ende des Ost-Westkonflikts zerfällt zugleich die Macht zweier Großideologien, nennen wir sie mit den gängigen, wenn auch ungenauen Schlagworten: Kommunismus und Kapitalismus, der sich gerne „freier Westen“ nennt. Dabei ist unbestritten: Der zerfallende Kommunismus hat nur noch wenig mit den Idealen von Karl Marx, gar mit seinem Kommunistischen Manifest zu tun. In der ehemaligen Sowjetunion und dessen Satellitenstaaten war er zu einer brutalen Parteidiktatur degeneriert. Freiheit und Wohlstand der Individuen spielen in ihm keine Rolle mehr. Unbestritten ist aber auch: Das kapitalistische Wirtschaftssystem des Westens erfüllt trotz seiner ökonomischen Überlegenheit in seinen vielfältigen Konkretisierungen nicht unbedingt die Ideale einer wirklich freiheitlichen, sozial gerechten und demokratisch legitimierten Gesellschaftsordnung. Doch trotz zahlreicher gesellschaftlicher Unruhen in den westlichen Staaten ist im gegenseitigen Streit der weltpolitischen Blöcke für weitere Differenzierungen kaum Platz.

I/1     Ende des West-Ostkonflikts

Jetzt löst sich die lähmende Fixierung auf diese globale Alternative auf. Die bislang kommunistisch organisierten Länder suchen nach neuer Orientierung und bald zeigt sich, dass auch die demokratisch organisierten Länder neue Orientierungen brauchten. Wie können wir ein wirklich globales Wirtschaftssystem neu gestalten und die oft verarmten, wirtschaftlich vernachlässigten Staaten der südlichen Hemisphäre in die neue Dynamik mit einbeziehen? Sollen die USA und der Dollar jetzt wirklich der ungehemmt regierende Hegemon des gesamten Weltsystems werden? Wie gehen wir mit den Gefahren eines ungehemmten wirtschaftlichen Wachstums um? Gibt es in Sachen sozialer Gerechtigkeit nicht einen weltweiten Nachholbedarf, nachdem die „soziale Marktwirtschaft“ der alten Bundesrepublik seinen Glanz verloren hat?

Können sich die zahlreichen internen Kritiker des Westens und des Ostens zu neuen und einflussreichen Bewegungen formieren? Wie gestalten wir jetzt, da die alten Zwänge verschwunden sind, einen Weltfrieden ohne Rüstungsspiralen, wie eine Ökonomie mit wirklich menschenfreundlichen Zielvorgaben? Können Fortschritt und Produktionssteigerung die Fetische einer neuen Weltzukunft bleiben? Wie beziehen wir die „unterentwickelten“ Länder in den erhofften gemeinsamen Wohlstand ein? Auf globaler Ebene entstehen neue Utopien und neue Konfliktmodelle. An zwei Veröffentlichungen lässt sich zeigen, wie tiefgreifend sich das Szenario der Fragen und Erwartungen, auch der Ängste geändert hat.

Als großer Utopist erweist sich 1989/1992 der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, der das Ende der Geschichte anbrechen sieht.[1] Sein Buch ist anspruchsvoll geschrieben und greift weit in die philosophische, auch idealistische Tradition Europas zurück, aber sein Ergebnis ist erstaunlich einfach: Jetzt, da die kommunistischen Systeme implodiert sind, hat sich die liberale, marktwirtschaftlich begleitete Demokratie als das endgültige Gesellschaftssystem der Zukunft erwiesen. Zwar hat es seine Ziele noch nicht erreicht, es wird aber keine fundamentalen Machtkämpfe, Revolutionen oder Polarisierungen mehr geben. In diesem Sinn hört die Geschichte als der Schauplatz von Umbrüchen und Revolutionen auf. Uns erwartet buchstäblich der Himmel auf Erden. Beim großen Austausch der Güter wird die Menschheit funktionieren wie eine große Stadt, deren Tore für die unendlichen Warenströme immer offen sind, vergleichbar der Friedensstadt Jerusalem, zu der alle Völker kommen werden, ganz so wie es Jesaja 60 beschreibt.

„Die Menschheit wird dann nicht wie tausend verschiedene Triebe erscheinen, die zu ebenso vielen Blumen erblühen, sondern wie ein Wagentreck, der über eine lange Straße verteilt ist. Einige Wagen fahren schnell und zielstrebig in die Stadt ein, während andere in der Wüste ein Lager aufgeschlagen haben oder in den Wagenspuren auf dem letzten Gebirgspass steckengeblieben sind. Manche Wagen werden von Indianern angegriffen und bleiben brennend am Wegrand zurück. Einige Wagenlenker sind durch die Schlacht verwirrt und schlagen vorübergehend eine falsche Richtung ein, wieder andere sind müde von der Reise und wollen an Ort und Stelle ein festes Lager errichten. Manche fahren auf Nebenstrecken, aber sie müssen feststellen, dass über das letzte Gebirge nur eine einzige Passstraße führt. Die große Mehrheit der Wagen nähert sich jedoch langsam der Stadt, und die meisten erreichen sie auch. Die Wagen gleichen einander: Sie sind zwar unterschiedlich bemalt und aus unterschiedlichen Materialien gebaut, aber sie alle haben vier Räder, werden von Pferden gezogen und transportieren eine Familie, die hofft und betet, dass ihr auf der Reise kein Unglück widerfahren möge. Aus der Tatsache, dass die Situation der Wagen offensichtlich verschieden ist, wird man dann nicht mehr schließen, dass die Menschen auf den Wagen grundsätzlich und für immer verschieden sind, sondern nur, dass sie sich an unterschiedlichen Punkten des Weges befinden. … [Nach Alexandre Kojève] werden schließlich so viele Wagen in die Stadt einfahren, dass jeder vernünftige Beobachter zugeben muss, dass es immer nur eine einzige Reise und nur ein einziges Ziel gegeben hat.“ (S. 445f)

Fukuyama versieht seine Gedanken in einem Essay des Jahres 1989 mit einem Fragezeichen: Das Ende der Geschichte? Als 1992 sein ausgearbeitetes Buch erscheint, ist das Fragezeichen verschwunden; der Titel wird zu einer klaren Behauptung. Doch bald wird diese große Verheißung entkräftet werden, denn die politischen Entwicklungen widerlegen alle Hoffnungen. Die Konfliktlinien werden nicht geglättet, sondern schroffer und unübersichtlicher denn je.

Im Gegenzug veröffentlicht der amerikanische Politologe Samuel Huntington 1993 in Foreign Affairs eine aufsehenerregende Gegenthese, die ebenfalls mit einem Fragezeichen verstehen ist: Konflikt der Kulturen? Auch er unterschlägt im gleichnamigen Buch, das dann 1996 erscheint, das Fragezeichen; auch sein mögliches Schreckensszenario wird für ihn zur These.[2] Für das kommende 21. Jahrhundert sagt er nach den großen ideologischen Konflikten des 20. Jahrhunderts erneut ein Jahrhundert mit Blut und Tränen voraus. Jetzt werden sich die Aggressionen entlang der Grenzen der großen Kultur- und Religionsräume entladen, von denen Huntington insgesamt acht diagnostiziert, umschrieben mit den Stichworten Westen, Lateinamerika, Orthodoxie, Islam, Konfuzianismus, Hinduismus, Japan und Afrika.[3] Der Widerspruch gegen diese Konzeption war enorm. Zum Teil hat Huntington schon jetzt recht behalten, denn inzwischen bringen viele der genannten Großräume – notfalls auch mit Mitteln der Gewalt ‑ ihren eigenen Einfluss zur Geltung und in der Regel sind es nationale, ethnische oder soziale Interessen, die ihre Religionen missbrauchen. So haben die Religionen wieder eine eigenständige politische Bedeutung erlangt. Doch zum Teil gilt Huntington auch als widerlegt, denn selbst die Vielzahl der Attentate, die seit der Jahrhundertwende in westlichen Ländern im Namen Allahs ausgeführt wurden, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Hauptfront dieser Gewaltexplosion zwischen dem sunnitischen und schiitischen Islam verläuft.[4]

Huntington ist auch unter einem weiteren Gesichtspunkt ernst zu nehmen. Der Ost-Westkonflikt des vergangenen Jahrhunderts ermöglichte noch eine einfache bipolare Weltsicht. Die Konfliktherde und Konfliktstrategien blieben überschaubar, aber man verlor den Rest der Welt aus dem Blick. An ihre Stelle tritt jetzt eine polyzentrische Weltordnung mit oft komplizierten Fronten, die kaum mehr berechenbar sind. Zugleich hat sich gezeigt: Es reicht nicht mehr, sich naiv auf ein liberales Modell des globalen Interessausgleichs zu verlassen, als ob eine unsichtbare Hand alle Beziehungen ordnen könnte. Im Gegenteil, neue Konfliktherde brechen auf, traditionelle Bündnisse lösen sich auf und immer mehr Atomstaaten entstehen. Unter den herrschenden Umständen besteht keinerlei Aussicht auf ein gerechteres, vertrauenswürdiges Weltsystem, von einer globalen Solidarität mit den Armen und Verelendeten ist nichts zu spüren. So gewinnt die Frage immer schärfere Konturen: Wie können wir zu neuen Orientierungen, wenigsten zu neuen Zielsetzungen kommen, die dieser komplexen Situation Rechnung tragen?

I/2     Die Erklärung von Chicago

In dieser Situation des Umbruchs formuliert Hans Küng seine ersten ordnungspolitischen Gedanken. Es geht ihm um keine Ethik im fachspezifischen Wortsinn, aber er ist schon lange auf der Suche nach einem Orientierungswissen, das zu den neu aufgebrochenen Sinn- und Weltfragen einen Zugang eröffnet; schließlich war das in der Vergangenheit eine wichtige, leider vergessene Funktion der Weltreligionen. Seit Beginn der 1980er Jahre beschäftigt er sich mit ihnen intensiv, ackert sich mit seinem Arbeitsteam durch Berge von Literatur und erweitert damit kontinuierlich seinen weltpolitischen, weltorientierenden Horizont. Die neuen Fragen hat er sich nicht immer selbst gesucht. Zu Schlüsselstationen werden für ihn ein Symposion der UNESCO (1989) in Paris und ein Vortrag vor dem World Economic Forum (1990) in Davos.

Inzwischen steht die Welt voll im Umbruch und als wolle Küng damals schon die Thesen von Huntington konterkarieren, entwickelt er seine Grundthese: „Kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden“. Diese These beinhaltet für Küng nicht einfach eine negative Erwartungshaltung: Es gibt keinen Weltfrieden, weil die Religionen miteinander im Streit liegen. Vielmehr traut Küng den Weltreligionen jetzt zu, dass sie gemeinsam eine friedenschaffende Dynamik entwickeln können, wenn sie nur aufeinander hören, sich gegenseitig korrigieren lassen und sich ihrer weltpolitischen Verantwortung bewusst werden. Seit dem Erscheinen eines kleinen Büchleins, das Küngs erste Vorträge versammelt, ist der Titel in der Welt, der später zum Markennamen wird: „Projekt Weltethos“ (1990).[5]

Im Jahre 1993 tritt dann der große Glücksfall ein. In Chicago trifft sich das Parlament der Weltreligionen, das sich nach 1893 aus Anlass der 100-Jahr-Feier erneut konstituiert. Damals kamen 45 Religionen zusammen, um den Geist der Völkerverständigung zu dokumentieren, die sich damals noch unter kolonialistischen Vorzeichen zu zeigen hatten. Jetzt erkennen die Organisatoren unter neuen Vorzeichen die Aufgabe der Stunde. Die Epoche des Kolonialismus ist endgültig abgelaufen und die Religionen stehen einer Welt gegenüber, die ihre Gesamtorientierung verloren hat. Vor einem verdunkelten Welthorizont verdichtet sich die Frage: Wie können wir aus unseren religiösen Quellen heraus die Zukunft der Welt gestalten?

Natürlich schafft das auch neue Herausforderungen; denn jetzt reicht es nicht mehr, dass sich die Religionen von ihrer sympathischsten oder tiefsinnigsten Seite präsentieren, also in einem edlen Wettstreit ihre Qualitäten beweisen. Sie sind schlicht und einfach gefragt, ob sie für eine gerechte und befriedende Weltordnung eine tragfähige Basis bieten können. Hans Küng wird gebeten, eine gemeinsame Erklärung der Religionen vorzubereiten, die auf die neue Weltsituation reagiert. Dieser Auftrag kostet eine höchst intensive Vorarbeit. Küng organisiert sie in Zusammenarbeit mit einem interreligiösen Team von erfahrenen Fachleuten. Eine ganze Flut von Vorfragen ist abzuklären: Was ist Religion überhaupt? Was kennzeichnet die geistige Weltsituation der Gegenwart? In welchem Sinn verstehen wir uns alle als gleichwertige Religionen, die zu einer Stimme fähig sind? In welche Form ist eine solche Erklärung zu gießen, wenn sich die Religionen, die aus verschiedensten Kulturräumen stammen, darin wiederkennen sollen? Auf welchem Weg lassen sich unter den Religionen überhaupt gemeinsame und tragfähige Optionen herausarbeiten?

Das Ergebnis dieser Sisyphusarbeit ist bekannt. Die Erklärung der Weltreligionen, die am 4. September 1993 verabschiedet wird, arbeitet vier grundlegende ethische Weisungen heraus, die in allen Religionen zu finden sind:

(1) Gewaltlosigkeit und Ehrfurcht vor dem Leben,
(2) Solidarität und gerechte Wirtschaftsordnung,
(3) Wahrhaftigkeit und Toleranz,
(4) Gleichberechtigung und Partnerschaft.[6]

Wie sich bald herausstellte, lagen alle diese Postulate in der Luft, sind also nicht ein billiges Exzerpt aus den Zehn Geboten. Aber man musste diese Gemeinsamkeit eben entdecken. Zum ersten Mal wurde klargestellt, dass diese Weisungen von allen Weltreligionen genannt und legitimiert sind. Gleichwohl wurde angesichts ihrer unterschiedlichen Auslegungen klar: Sie alle sind von zwei Prinzipien her zu verstehen, die ihrerseits eng miteinander verschwistert sind. Das sind (1) die Goldene Regel, die ebenfalls in allen Weltreligionen einen Ort hat[7] und (2) das Prinzip der Humanität, das die Kernintention in abstrakterer Form zur Sprache bringt.

Noch ein weiterer Gesichtspunkt, der von Anfang an zu intensiven Diskussionen geführt hat, ist wichtig. Im Rahmen der Religionen gehen diese Weisungen und Prinzipien weit über den Rang ethischer Verpflichtungen hinaus. Sie erwachsen alle aus einer religiösen Spiritualität und wollen verinnerlicht sein, zielen also auf grundlegende Haltungen und führen zu kulturellen Gestaltungsprinzipien, die sich in Gebet und Meditation, Ausbildung, Erziehung und Aszese einüben lassen. Aus diesem Grund spricht Küng nicht von einer Ethik, sondern von einem Ethos als einer Gesamthaltung, die Verhaltensregeln, Normen, Verpflichtungen und innere Haltungen ineinander integriert. Im Rahmen einer gewachsenen Tradition entwickeln sie eine Kultur der Lebensbejahung und Recht-Schaffenheit, einer wahrhaftigen Authentizität und verlässlicher Verhältnisse, in denen sich Mann und Frau, Kinder und Erwachsene, Schwächere und Stärkere, Kranke und Gesunde, Junge und Alte aufeinander verlassen können.

I/3     Der neue gesellschaftspolitische Kontext

Oft wird nach den Gründen für den unerwarteten Erfolg des Projekts Weltethos (PWE) gefragt. Mehreres kommt zusammen, das heute noch relevant ist.

(1) Durch seinen konsequenten, biblisch und theologisch untermauerten Widerspruch gegen römisch-katholische Fundamentalpositionen hat sich Küng in der Öffentlichkeit einen hohen Vertrauensvorschuss erarbeitet. Zugleich hat er sich auch in den evangelischen Kirchen eine hohe Reputation erarbeitet.
(2) Nach der großen weltpolitischen Wende von 1989 standen globale politische Orientierungsfragen neu zur Diskussion. Wer Antworten anbot, fand durchaus Gehör, sofern diese nicht von oben herab im Namen einer höheren Instanz diktiert und dekretiert wurden. Angesichts der gegenwärtigen Frage mussten sie nur bedenkenswert und plausibel sein.

Denn darum geht es jetzt: Wie gestalten wir das ökonomische und globale Zusammenleben neu? Welche Grundsatzregeln können und sollen für eine zukunftsfähige globale Politik gelten? Nach welchen Maßstäben sollen wir die kommenden Generationen für eine friedensfähige Zukunft heranbilden?

Neu an diesen Fragestellungen ist der Schulterschluss zwischen einer konkreten Welt- und einer existentiell-gesellschaftlichen Tiefenebene, der die Suche nach Werten als ganzheitliche Aufgabe ins Blickfeld rückt. Der neue politische Kontext erschöpft sich nicht mehr in Partei-, Interessen- oder Blockpolitik, sondern hat sich im besten Sinn des Wortes zu einer „Sinn- und Werte-Politik“ erweitert. Dies eröffnet den Religionen im Westen (falls sie dies verstehen) zusätzlich die Chance, den schon zur Gewohnheit gewordenen Bruch zwischen Religion und Säkularität zu überbrücken. Es ist ein untrügliches Gütezeichen des PWE, dass es den Frommen oft zu weltlich und den Weltlichen meist zu fromm daherkommt. Welchen Paradigmenwechsel das PWE für die Annäherung an die Religionen bedeutet, ist noch kaum ins allgemeine Bewusstsein gerückt. Doch darüber später.

I/4     Die Vorarbeiten von Hans Küng

Umgekehrt sollten wir auch nicht der Täuschung verfallen, das PWE sei völlig unvorbereitet in die Diskussion, sozusagen als die Epiphanie aus einem anderen Stern vom Himmel gefallen. Stellvertretend für eine breite Entwicklung lässt sich dies an den Vorarbeiten von Hans Küng verdeutlichen. Entgegen der reinen Behauptung, Religion sei für Mensch und Menschheit von Bedeutung, hat sich Küng schon immer für deren konkreten Erweis und seine konkreten Folgerungen interessiert.

Dies zeigt schon beim Start seiner theologischen Karriere seine Suche nach einer handfesten ökumenischen Brücke zwischen den Konfessionen (Rechtfertigung, 1957). Zum Konzilsbeginn (1962) lässt er konkrete Vorschläge folgen, die bis heute noch nicht eingelöst sind (Konzil und Wiedervereinigung, 1960), und sein 1967 folgendes Grundlagenwerk Die Kirche liest sich noch heute wie die konkrete To-do-Liste von überfälligen Reformverlangen. Mit unbestechlichem Blick dekonstruiert er in den 1970er Jahren das Dogma von der päpstlichen Unfehlbarkeit (Unfehlbar? 1970) sowie die metaphysischen, biblisch kritikwürdigen Beigaben des traditionellen Christusglaubens (Christ sein, 1974) und arbeitet die neuzeitliche Gottesfrage für eine zeitgemäße Verkündigung auf (Existiert Gott? 1978). Sein Eintreten für seine Überzeugungen führt 1979/80 zum offiziellen Bruch mit dem kirchlichen Lehramt.

Seit den 1980er Jahren erarbeitet er sich in mehreren Büchern und unzähligen persönlichen Begegnungen ein konkretes Wissen über die Weltreligionen und vertieft dieses neue Wissen in umfassenden Monographien zu Judentum (1991), Christentum (1994) und Islam (2004) sowie in seinem Filmprojekt Spurensuche (1999). Inzwischen kann Küng als kompetenter Interpret und Gesprächspartner aller Weltreligionen gelten. Im selben Atemzug beschäftigte er sich mit relevanten gesellschaftspolitischen und ethischen Fragen. Kurz; unermüdlich suchte er gangbare Brücken zwischen religiösen Utopien und empirischer Wirklichkeit. So hat er sich seit 1957 gegenüber den metaphysischen und oft selbstherrlichen Vorgaben der katholischen Dogmatik Schritt um Schritt eine kritische Position aufgebaut.

Nach der Wende von 1989 kann Küng sich in aller Ruhe auf die historischen, politischen und religionswissenschaftlichen Impulse einlassen, die sich in der neuen Gegenwart stellen. Schließlich bleibt er auch immer im Gespräch mit Vertretern der Befreiungstheologie und der Politischen Theologie, mit Literatur und Kunst. Er nimmt die Anfragen der feministischen und kontextuellen Theologien durchaus ernst. So stößt er bei den Zeitgenossen, die als Politiker, Wirtschaftler oder Pädagogen Welt und Religion zusammenbringen wollen, immer auf ein spontanes Interesse. Je mehr sich die römisch-katholischen Kirchenleitungen und deren Hoftheologen auf reaktionäre Positionen zurückziehen, umso mehr traut es ihm eine interessierte Öffentlichkeit zu, die unverzichtbare Botschaft von Religion und Religionen in einer Gesellschaft zu vermitteln, die als säkularisiert gilt und deshalb zu Unrecht von den Kirchen abgeschrieben wurde.

Drei Faktoren kommen also zusammen, die Küng in den 1990er Jahren in der Öffentlichkeit ein hohes Gehör verschaffen:
– Die Glaubwürdigkeit eines Theologen, der um seiner Überzeugungen willen massive Diskriminierungen von Seiten seiner Kirche ertrug,
– ein intensives Wissen um die Weltreligionen, das er sich in einem Zeitraum von über zehn Jahren systematisch erarbeitet hat, und
– eine tiefe Vertrautheit mit den klassischen Brückenfragen zwischen Religion und Welt, die sich aus seinem ständigen Umgang mit globalen gesellschaftlichen und kulturellen Zukunftsfragen ergaben.

I/5     „Projekt Weltethos“ (1990)

Wie schon gesagt: Der Buchtitel „Projekt Weltethos“ wird bald zu einem Markenzeichen. Küng und seine Mitarbeiter bauen seine Grundlegungen aus und sichern ihm damit bis heute einen hohen Erkennungswert. Dies ist umso wichtiger, als weltethische Anliegen einen hohen Anklag finden, der Begriff sich aber auch für viele Sonderinteressen ausbeuten lässt. Umso wichtiger sind einige Kennzeichen, mit denen Küng das spezifische Konzept seiner Weltethosidee absichert:

 

I/5.1    Kein explizit religiöses Projekt

Auf den ersten Blick mag diese Aussage erstaunen. Ist das PWE nicht das Ergebnis einer intensiven interreligiösen Auseinandersetzung? Gewiss, aber es greift den Kern der Religionen genau an dem Punkt auf, an dem sie Welt-, Gesellschafts-, Werte- und Friedensarbeit leisten, ihren spezifischen, besonders erkenntlichen Innenraum also überschreiten. Diese innere Überschreitung (man könnte von einer Transzendenz zur Welt hin sprechen) zeichnet eine jede lebensfähige Religion aus.

Diese Transzendenz lässt sich an der Goldenen Regel zeigen: Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut ihr ihnen ebenso. Das ist ein durch und durch weltliches, zutiefst menschliches Prinzip, das sich im Grunde auch ohne religiöse Motivationen verstehen lässt. Im Rahmen moderner Menschenrechtsdebatten lässt es sich auch als Humanitätsprinzip verstehen: Mensch und Menschheit sind nie als Mittel, sondern immer als Zweck zu behandeln. Die unter Ethikern ausgetragene Streitfrage, welches der beiden Prinzipien den Vorzug verdient, ist für unsere Frage irrelevant. Die Goldene Regel bezieht sich auf den jeweils konkreten Einzelfall; das Humanitätsprinzip auf die abstrakt-universale Wesensbestimmung des Menschen.

Das PWE ist also ein human orientiertes, zutiefst humanistisches Projekt. Es ermutigt zu einem Verhalten, das von gegenseitigem Respekt, von Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Wertschätzung in der Partnerschaft geprägt ist. Streng genommen setzt es keinen ausdrücklich religiösen Glauben voraus. Aber faktisch verdankt das PWE seine Entdeckung, seine großen Visionen und seine allgegenwärtigen Motivationen in erster Linie den Weltreligionen. Sie alle haben kraftvolle und umfassende Visionen von einer gerechten und in sich versöhnten Menschheit entwickelt. Kennzeichnend für diesen Humanismus ist der Begriff des „säkularen Christen“ (Robert Habeck), der sich ausdrücklich zu den großen Werten des Christentums bekennt, obwohl er sich von seiner Kirche und deren Glaubenslehre entfernt hat. Man könnte dies ein post-kirchliches Paradigma von Christsein nennen. Verweisen ließe sich auch auf „religionshybride“ Bewegungen, die in post-traditionalen Kontexten zu verorten sind.[8]

Aus dieser Perspektive lässt sich auch begreifen, dass und warum dieser ethische Kern von Religion und Religionen keinerlei Berührungsängste mit der Moderne haben muss. Das PWE entwickelt eine durchaus zeitgemäße, zukunftsoffene, politisch höchst relevante Programmatik. Dabei zeigt sich: Die tiefe Entfremdung der Religion von der Gegenwart, die wir in der Gegenwart erleben, hat nicht unbedingt Gründe, die religiös nachvollziehbar sind. Das PWE bietet einen exemplarischen Weg, um diese Entfremdung von der Welt zu überwinden.

I/5.2    Kein ethischer Minimalismus

Weniger wohlwollende Stimmen haben die ethischen Weisungen (Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Partnerschaft, seit 2018 auch Bewahrung der Erde) als den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ der Weltreligionen, also als ein minimales Band relativiert, das sie eben noch zusammenhält. Diese Kritiker übersehen drei wichtige Gesichtspunkte zugleich:

Zum einen sind die Weisungen und das sie justierende Grundprinzip der Humanität höchst anspruchsvoll. Sie decken die Grundverfassung von Mensch und Gesellschaft in ihrer ganzen Breite ab. Von ihrer Beobachtung hängt nicht nur die Qualität, sondern sogar die Möglichkeit eines menschlichen Zusammenlebens und seiner gemeinsamen Zukunft ab. Zur Debatte steht also nicht eine minimale Gemeinsamkeit, sondern die Zentralbedingung für Frieden und Versöhnung. Sie ist nicht einfach pragmatischer Art, wohl aber ist sie im Medium der menschlicher Alltagspraxis (also „praktologisch“) zu ermitteln.

Zum zweiten beschränkt sich das PWE gerade nicht auf den dürren Katalog einiger ethischer Verpflichtungen, die notgedrungen zu akzeptieren und mit Strafen zu sanktionieren sind. Vielmehr signalisiert es die Gesamthaltung und die umfassende Bindungskraft der Werte sowie eine Spiritualität, die unsere Identität und unser Zusammenleben ermöglichen und ihr einen schöpferischen, zukunftsoffenen Charakter verleihen. Die vier Weisungen sind ja keine eigenständigen Einzelgebote, sondern die Ausfaltungen der einen umfassenden Zuwendung zu Mitmensch und Welt. Sie spiegeln nur die Fundamentaldimensionen der menschlichen Existenz (einheitlicher Lebensprozess, Leiblichkeit, Kommunikation und ein Leben in Gemeinschaft).

Zum dritten entwickelt das PWE keinen analytischen, sondern einen ganzheitlichen Ansatz, weil es in ganzheitlich und global verfassten Religionen verankert ist. Im letzten Abschnitt der Weltethoserklärung heißt es: „Unsere Erde kann nicht zum Besseren verändert werden, ohne dass das Bewusstsein des Einzelnen geändert wird. Wir plädieren für einen individuellen und kollektiven Bewusstseinswandel, für ein Erwecken unserer spirituellen Kräfte durch Reflexion, Meditation, Gebet und positives Denken, für eine Umkehr der Herzen.“

Zum vierten ist durchaus verständlich, dass dieser Ansatz von Seiten einer traditionellen Theologie kritische Rückfragen provoziert; das hängt daran, dass sich die traditionellen Religionen im Laufe der Jahrhunderte immer intensiver auf ihre eigene Tradition fixiert haben. Doch recht verstanden darf eine aktuell relevante Religion die zeitgegebenen Zukunftsperspektiven von Menschheit und Welt nicht abblenden; vielmehr muss sie konsequent gegen ihre traditionelle Egozentrik und gefällige Selbstdarstellung angehen. Nicht wer „Herr, Herr“ sagt, geht ins Himmelreich ein, sondern wer den Willen des Vaters tut. Eine jede überzeugende Theorie muss die Folge einer angestrebten bzw. gelebten Praxis sein, also muss sie sich auch von ihrem konkreten Verhalten her beurteilen lassen. Diese Erkenntnis haben die christliche Theologie und Kirchenlehre lange vernachlässigt.

I/5.3    Keine Welteinheit, sondern Weltfrieden

Wie die Geschichte des PWE zeigt, ist es nicht die Folge einer abstrakten Gedankenübung, sondern aus der Not geboren. Es stellt die Frage nach der Chance von Welt und Menschheit, zu überleben und in Frieden zu leben. Dies ist nur möglich, wenn die Religionen und ihre „Wahrheiten“ nicht weiterhin in den jeweils geschlossenen Räumen von unterschiedlichen, oft widersprüchlichen Lebenswelten leben. Zugleich ist diese Erkenntnis nicht ideologisch zu überhöhen. Das heißt: Religionen (und Weltanschauungen) können und sollen ihr kulturell überzeugendes Antlitz nur bewahren, wenn sie weiterhin ihre kulturelle Identität bewahren. Aus dem Frieden zwischen den Religionen darf keine Einheitsreligion, aus dem Frieden der Welt keine monolithische Welteinheit werden. Umso wichtiger ist es, dass die Weltreligionen (und Weltanschauungen) auf den einen, alle verbindenden Kosmos von Grundhaltungen achten, ihn aber auf je eigene Weise verwirklichen. Gleich, ob man sie primär als Normen, Werte oder Ziele, als Grundhaltungen, Tugenden oder Spiritualität, als Menschenrechte, Menschenpflichten oder Menschheitsverantwortung beschreibt, in jedem Fall finden sie in der Utopie des einen, in Gerechtigkeit versöhnten Weltfriedens ihr Maß. Dieser Frieden kann vor Ort mit dem Schaffen von Gerechtigkeit und Versöhnung beginnen. Mehr noch, in ihren spirituellen und ethischen Handlungsanweisungen sowie in ihrer Kraft, Gemeinschaften zu bilden, führen die Weltreligionen immer zurück an den Punkt, an dem sich Werte und utopische Ziele herausbilden, also an dem Punkt, an dem ein Ethos aus einem Prozess entsteht, selbst ein elementarer Prozess ist, das ist die verbindliche Begegnung von ich und Du, von mir und uns, von Menschen und ihrer Welt. Da wird ein elementarer Frieden möglich, der mit der Annäherung an unsere Sehnsucht beginnt, dem empfangenden Schaffen von Gerechtigkeit und Frieden beginnen kann.

II.      Entfaltung: Die Arbeitsgebiete

Die Erklärung zum WE von 1993 fand in den USA und in Europa weitgehende Beachtung. Doch danach wäre sie wohl aus dem Bewusstsein der damals Engagierten wieder verschwunden und vom nächsten interreligiösen Event verdrängt worden, hätten Küng und seine Mitarbeiter sie nicht zum Ausgangspunkt einer intensiven Projektentwicklung gemacht, um die vielfältigen Potenzen herauszuarbeiten, die der Text beinhaltet. Nach der unerwartet ermöglichten Gründung der Stiftung Weltethos im Jahre 1995 ließ sich das Projekt langfristig stabilisieren und zielgerichtet ausbauen.

Hinzu kam ein günstiger Zeitpunkt: Dieser interreligiöse Friedenstext stand am Beginn einer Epoche, die angesichts der anstehenden Katastrophen nach neuen Antworten und einer weltpolitischen Neuorientierung geradezu schreit. In sechs Punkten möchte ich die Arbeitsfelder nennen, in denen sich das PWE entfalten und dieses gesellschaftspolitische Vakuum füllen konnte.[9]

II/1    Weltreligionen und Weltanschauungen im Weltgeschehen

II/1.1  Moralisches Weltbewusstsein

Ich habe schon darauf hingewiesen: Nach dem Zusammenbruch des großen Ost-West-Konflikts liegen Fragen der weltpolitischen Neuorientierung in der Luft und die Präsenz der Weltreligionen wird gestärkt. Jetzt lassen sie sich nicht mehr relativieren als die Veranstaltungen von exotischen, ansonsten hilflosen Weltverbesserern, sondern werden wieder erkannt als unverzichtbare kulturelle Identitätsbildnerinnen und als moralische Agenturen, die in ihren Gemeinschaften ein zukunftsfähiges Verhalten einüben und stabilisieren. Schon seit Jahrtausenden haben sie die Verantwortung für ein moralisches Weltbewusstsein übernommen. Deshalb sind sie auch als politische Faktoren ernst zu nehmen.

Viele Vertreter des christlichen Glaubens, ihre konservativen Vertreter zumal, hegen dazu noch immer vornehme Distanz: Sie leugnen keineswegs, dass aus ihrer religiösen Weltinterpretation moralische Regeln etwa der Nächstenliebe, der Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit folgen. Doch noch immer gehen sie davon aus, dass dieser Ethik eine Lehre von Gott, Mensch und dessen Heil vorangehen müsse. Was gibt es Wichtigeres, so ihr Ausgangspunkt, als die Kenntnis der eigenen Glaubensgeheimnisse? Setzt ein guter Dialog mit anderen Religionen nicht zuvor eine genaue Kenntnis der eigenen Glaubenslehre voraus? Muss ein Dialog, der vorschnell auf die Erfahrungen und Wünsche der Dialogpartner eingeht, nicht zu einer „Diktatur des Relativismus“ (J. Ratzinger) führen, in dem alle Gewissheit zerbröselt?

Wer in den Dialog mit anderen Religionen eintreten will, sollte natürlich in seiner eigenen verwurzelt sein. Doch die aufgeworfenen Fragen zeigen auch, welch tiefgreifenden Umschwung das PWE einleitet, hin zu einem elementaren Glaubensverständnis, das unmittelbar aus der Zuwendung zu Mensch und Gesellschaft lebt. Es sucht eben nicht mehr metaphysikverträumt erst nach dem Wesen einer Religion, um dann Folgerungen zu ziehen, vielmehr beginnt es mit dem Gestaltungswillen der Religionen, ihrem Menschen- und Gesellschaftsbild. In erster Linie interessieren nicht ihre (unterschiedlichen) Theorien, sondern ihr primäres (erstaunlich einhelliges) Praxismodell, also die Zielvorgaben, die sie für den Lebensraum der Menschen zu bieten hat. Genau das verstehen sie als Gottes Willen, aus dem sich alle Fragen nach seinem „Wesen“ und nach dem „Wesen“ der Menschen ableiten. Ohne ihre aktive Beziehung zur Welt versinkt eine jede Religion in beliebige Spekulationen.

II/1.2  Präsenz der Weltreligionen

Das Interesse an Weltreligionen muss deshalb mit einer soliden Basiskenntnis ihrer Handlungsoptionen beginnen, die jeweils das (kulturbedingte) Gottes- bzw. Götter-, Welt- und Menschenbild entschlüsseln und justieren. Auch in den Religionswissenschaften ist dies bislang kaum geschehen. Deshalb blieb unser Religionswissen hängen in den zahllosen Klischees von intellektuell unbedarften, wenn nicht gar primitiven Vielgöttersystemen, von einem vernunftfeindlichen und gewalttätigen Fanatismus, von einem gottlosen Buddhismus, dessen Ziel das reine Nichts sei, oder von den chinesischen „Strömungen“, denen kein religiöser Rang zukomme. So wird in der Regel durch die Überfülle religionswissenschaftlicher Detailinformationen der Zugang zu den Kernintentionen fremder Religionen verstellt. Nach dem Urteil mancher Erzieherin weiß manches Kita-Kind von anderen Religionen mehr als anspruchsvolle Intellektuelle, denn das Kita-Kind erlebt das religiöse Verhalten der anders-religiösen Kita-Kinder ohne intellektuell verselbständigten Überbau. Im Kontext dieser religiösen Alltagspraxis kann von anderen Religionen nicht genug Basiswissen zur Verfügung gestellt werden, und dies ist heute leichter denn je.

Deshalb stößt die von der WE-Stiftung erarbeitete Wanderausstellung „Weltreligionen – Weltfrieden – Weltethos“ auf hohes Interesse; sie bietet ein Basiswissen über die Weltreligionen, das von deren ethischen Kernansprüchen geleitet wird. Auf insgesamt 15 übersichtlichen Schautafeln präsentiert sie 8 Weltreligionen (Hinduismus, Religionen Chinas, Buddhismus, Judentum, Christentum, Islam, Sikhismus und Bahaitum) und zeigt ihren weltethischen Konsens auf. Allein 2017 wurde sie an 68 Orten, darunter an 18 Schulen gezeigt; 2018 kommen zu einer vergleichbaren Anzahl zwei Ausstellungen in Luxemburg (s. Schlussteil) und eine Ausstellung in Toronto (Kanada) hinzu. Die Ausstellung ist in deutscher, englischer und italienischer Sprache erhältlich.

II/1.3  Kooperationen

Zusätzlich wurde ein intensives Netzwerk zwischen human‑ und friedensethisch orientierten Weltanschauungen aufgebaut, auch wenn sie sich nicht als religiöse Institutionen verstehen. Einen hohen Stellenwert nimmt dabei die Begegnung von Menschen aus verschiedenen Kulturen, die Integration von Immigranten, insbesondere von jungen Menschen ein, die sich bei uns eine Zukunft aufbauen wollen. Vor Ort wie auf überregionalen Ebenen ist die Zusammenarbeit ausschließlich an ihren sachlichen Zielen zu messen. Diese konkrete Begegnungsarbeit ist von höchster Bedeutung und hat neben der klassischen Bildungsarbeit zunehmend an Bedeutung gewonnen. Es erwies sich als wichtig, durch Handeln zu lernen, also nicht bei abstrakten Programmen stehen zu bleiben, sondern diese konkret anzupacken bzw. mögliche Lösungen zu entwickeln und einzuüben.

Hier einige Beispiele aus den Tätigkeitsberichten 2017 und 2018, die folgende Aktivitäten nennen:
– Extremismus und Fundamentalismus in den abrahamitischen Religionen,
– Abrahamitisches Symposium,
– Friedensgebet der Religionen,
– Organisation von Begegnungen mit dem Islam,
– ein Kurs zu Wertevermittlung und Gewaltprävention im Sport,
– das Kooperationsprojekt: Sächsischer Verband für Jugendarbeit und Jugendweihe – Kloster Helfta – Stiftung Weltethos.

In Zusammenarbeit mit Ministerien der Landes Baden-Württemberg wurden entwickelt und werden durchgeführt:
– Räte der Religionen in Baden-Württemberg,‘- Interkulturelles Werteprojekt an beruflichen Schulen,
– ein Kurs zur Gewaltprävention ‚„Du bist gefragt!“,
– das Aktionsprogramm Demokratie für Azubis: „Läuft bei Dir?!“

II/2    Politik und Ökonomie

Neben den intensiven Angeboten zum allgemeinen Studium der Weltreligionen (von reich besuchten Vorlesungsreihen bis hin zu vielen Einzelvorträgen) bildet die soeben beschriebene kontinuierliche Beschäftigung mit dem Religionsdialog und der konkreten interreligiösen Begegnung vor Ort seit 25 Jahren den Grundton und die Grundinspiration der WE-Arbeit. Hier zeigt sich die praxisbezogene Stärke des Programms. Alle Religionen und alle ihre Anhänger leben in konkreten Lebensverhältnissen, die uns heute als gemeinsames Schicksal verbinden und an deren Veränderung zu arbeiten ist. Religionen sind nicht geboren, um sich in Selbstbeschäftigung zu erschöpfen. Genauer gesagt: Diese Egozentrik und narzisstische Selbstpräsentation sowie die autistische Konzentration auf eine selbstgeschaffene Binnenordnung bilden gerade das Grundproblem der Religionen, aus dem sie zu befreien sind. Im öffentlichen Bewusstsein ist dieses Problem inzwischen stärker denn je.

Ich nenne als erstes Schlüsseldatum den 11. September 2001. An diesem Tag blicken Menschen weltweit voll Schrecken auf ihre Bildschirme. Zwei vollbesetzte Passagierflugzeuge rasen, von Terroristen gelenkt, in die Twin Towers von Manhattan und bringen sie zum Einsturz. Dieser Großanschlag wird zum Symbolhalter und Vorbild für ungezählte Terroranschläge in westlichen, aber auch in afrikanischen und arabischen Ländern. Zur Debatte stehen seitdem nicht nur das Verhältnis von Religion und Gewalt, sondern auch die öffentliche Rolle von Religion, ihr Beitrag zu Krieg und Frieden überhaupt. Wenige Wochen später erklärt Jürgen Habermas, der früher das Ende der Religion vorhergesagt hatte, in der Gesellschaft habe die Religion eine unverzichtbare Funktion und in demokratischen Gesellschaften das Recht auf Gehör. Pflicht der Religion sei es jedoch, sich verständlich auszudrücken. Genau diese Bedingung nimmt das PWE ernst. Es entschlüsselt die Religionen von ihrer politischen Weltverantwortung her und bezieht politisch verantwortlich denkende Weltanschauungen in diesen Prozess ein.

– 1997 legt das Inter Action Council (ein 1983 gegründeter Zusammenschluss von ehemaligen Inhabern höchster Staatsämter, zu denen u.a. Jimmy Carter, Helmut Schmidt und Richard von Weizsäcker gehörten) der UNO eine Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten vor.
– 1999 verabschiedet das Parlament der Weltreligionen in Kapstadt einen Aufruf an unsere führenden Institutionen, der die Erklärung von 1993 konkretisiert. [10]
– 2001 erscheint in Kooperation mit Kofi Annan das Buch Brücken in die Zukunft; in diesem Buch wird das Modell einer gewaltfrei und demokratisch agierenden Weltregierung entwickelt.
– Nicht zu vergessen ist die grundlegende Publikation von Hans Küng Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft (1997), einschlägige Veröffentlichungen von Karl-Josef Kuschel sowie die jährlich in Tübingen stattfindenden Weltethosreden.[11]

Ich füge als zweites Schlüsseldatum die Weltfinanzkrise 2008 hinzu, jene „Kernschmelze des Weltkapitals“ (Spiegel), die zahllose Menschen in den finanziellen Ruin und ganze Staaten (die USA eingeschlossen) an den Rand des Abgrunds treibt. Inzwischen ist die Vorgeschichte dieses Crashs in ihren entscheidenden Punkten bekannt. Sie erklärt sich aus einer Abfolge von Leichtsinn und verantwortungslosem Handeln. Seitdem darf der Grundantrieb des Neoliberalismus ungestraft Gier und Habgier genannt werden. Auch hier stellt sich die Frage nach einer universal tragenden Moral und nach den Institutionen, die für deren Einhaltung sorgen können. Dass die konkreten Lösungsvorschläge komplex sind, ist unbestritten. Die WE-Stiftung legt Wert darauf, dass die ethischen Kernprobleme thematisiert und nachhaltig diskutiert werden.

Die Stiftung, insbesondere Küng, greift auch diese Thematik verschiedentlich in programmatischer Weise auf.
– Küngs voraussehendes Buch von 1997 ist schon genannt.
– 2010 erscheint Anständig wirtschaften. Warum Ökonomie Moral braucht.
– Nach einer 20jährigen Vorgeschichte verabschieden Vertreter der WE-Stiftung zusammen mit führenden Wirtschaftsvertretern ein Manifest für ein globales Wirtschaftsethos.
– Schließlich gelingt es 2012, an der Tübinger Universität ein Weltethos-Institut zu gründen, das auf wissenschaftlichem Niveau wirtschaftsethische Fragen bearbeitet, für eine entsprechende Ausbildung sorgt und für Manager Kurse anbietet.

II/3    Schule und Bildung

Von Anfang an legt die WE-Stiftung besonderen Nachdruck auf den pädagogischen Aspekt der WE-Thematik. Denn es ist unbestritten: Wenn in den gegenwärtigen Kulturräumen und ihren Gesellschaften ein zeitgemäßes und ganzheitliches Wertebewusstsein entstehen soll, müssen Kinder, Jugendliche und Heranwachsende, also Menschen in der Ausbildung dafür gewonnen werden. Die WE-Thematik eignet sich nicht nur hervorragend für den Religions- und Ethikunterricht, sondern auch für Fächer wie Gesellschaftslehre, Deutsch, Fremdsprachen und Kunst. Wichtig ist, dass die WE-Thematik über den Unterricht hinaus im Schulleben verankert wird. Dies setzen sich einige WE-Schulen zum Ziel.

– Im Jahr 2017 hat die Stiftung insgesamt 234, im Jahr 2018 über 170 Bildungsveranstaltungen für interessierte, u.a. christliche und interreligiös arbeitende Gruppen organisiert.[12]
– Bis Ende 2017 gab es 14 zertifizierte Weltethos-Schulen und zahlreiche andere Schulen, in denen bestimmte Lehrer sich in ihrem Unterricht der Idee des WE verschrieben haben. Im Jahr 2018 kamen 6 weitere Schulen hinzu und 10 weitere Schulen standen wegen herausragender Aktivitäten mit der Stiftung in Kontakt. Alle diese Schulen sind und bleiben mit der Stiftung in Tübingen vernetzt.
– Die Stiftung bietet Unterrichtsmaterialen an, die regelmäßig überarbeitet werden sollen.
– In Kooperation mit dem Land Baden-Württemberg werden umfassendere Projekte systematisch entwickelt und auf ihre Tauglichkeit getestet (vgl. II/1.3).

II/4    Ökologie

Natürlich sind Fragen der Ökologie und des Klimas, also der Bewahrung der Schöpfung, von Anfang an präsent, doch gewinnen sie im Laufe der vergangenen Jahre inzwischen eine neue Bedeutung. Schließlich bedeuten sie kein isoliertes Desiderat, sondern sind mit den Fragen des Lebensschutzes und der sozialen Gerechtigkeit engstes verknüpft; es geht auch um einen Lebensrespekt und eine Gerechtigkeit, die wir kommenden Generationen schulden. Darauf hat das Parlament der Weltreligionen auf seinem Kongress vom November 2018 in Toronto reagiert. In aller Form hat es (u.a. unter Beteiligung der Stiftung WE) den vier Weisungen der Erklärung zum Weltethos eine fünfte Weisung hinzugefügt. Sie lautet:

 Wir alle haben die Verantwortung, unsere Einwirkung auf die Erde so weit wie möglich zu verringern, Lebewesen und die Umwelt nicht wie Sachen zum persönlichen Gebrauch und Vergnügen zu behandeln und die Auswirkungen unseres Handelns auf die kommenden Generationen zu bedenken.
Ein achtsamer und kluger Ressourcengebrauch basiert auf einem fairen Konsumverhalten und berücksichtigt die Grenzen dessen, was Ökosysteme aushalten können.
Überall wo die rücksichtslose Herrschaft der Menschen über die Erde und andere Lebewesen propagiert wird, die Misshandlung der Umwelt toleriert wird und die Entwicklung die Grenzen des Verträglichen überschreitet, haben wir die Pflicht, unsere Stimme zu erheben, unser praktisches Handeln zu ändern und unseren Lebensstil bescheidener zu gestalten.

Diese Erweiterung ist für die programmatische Konsequenz und Klarheit des PWE wichtig. An der praktischen Arbeit wird sich nicht viel ändern, da Fragen der Ökologie, der Nachhaltigkeit und des Respekts vor der Schöpfung immer schon mit verhandelt werden; das ergibt sich aus dem ganzheitlichen Charakter, auf den die Programmbildung von Anfang an Wert legt. Zusätzliche Erweiterungen sind im Augenblick nicht in Sicht, können aber prinzipiell auch nicht ausgeschlossen werden. Dabei kommt es immer darauf an, die Grundkonturen der Kernforderungen nicht in der uferlosen Vielfalt von möglichen weiteren Differenzierungen zu verwischen.

 II/5    Flexible Offenheit

Das PWE versteht sich als flexiblen, für neue Ideen, Fragestellungen und Inspirationen immer offenen Prozess. Diese Offenheit gilt auch für die weiteren Arbeitsgebiete, die das Projekt im Laufe der Jahrzehnte entwickelt hat. Dazu gehören die Konfrontation des Rechts mit dem WE ebenso wie das Nachdenken über Kultur, Sport und Musik, denn prinzipiell durchdringen die Anforderungen eines angemessenen Ethos alle Lebensbereiche von Mensch und Gesellschaft.

‑ Küng setzt sich immer wieder (z.T. in Kooperation mit Walter Jens) mit Musikern und Schriftstellern auseinander.
‑ Karl-Josef Kuschel (inzwischen Präsident der Hesse Gesellschaft) erwirbt sich im jahrzehntelangen Gespräch zwischen Theologie, WE und Literatur eine hohe Bekanntheit und Kompetenz.
– Küng konzipiert eine Art Oratorium zur Thematik des WE, das vom englischen Komponisten Jonathan Harvey (1939-2012) komponiert und – neben Aufführungen in Birmingham und London ‑ 2011 von den Berliner Philharmonikern uraufgeführt wird.
– Adrian Oswalt komponiert in Kooperation mit PWE einen interkulturellen Zyklus von Texten: 12 mal Frieden. Das Werk wird am 21. September 2018 in Tübingen aufgeführt.
– Verena und Klaus Rothaupt komponieren das Interkulturelle Singspiel Abrahams Kinder (https://www.strube.de)
– Die schon genannte, von der Regierung nachhaltig geförderte Kooperation mit dem Land Baden-Württemberg ist von paradigmatischer Bedeutung, weil sie den Blick für neue gesellschaftsrelevante Themen öffnet und die öffentliche Verantwortung unterstreicht, die das PWE wahrnehmen kann.

II/6    Weltethos international

Bei der internationalen Ausrichtung des WE sind der thematische und der rein organisatorische Aspekt zu unterscheiden.

Natürlich ist die thematische Ausrichtung der Arbeit ohne ständige internationale Bezüge nicht denkbar; faktisch sind sie auch immer – von den USA bis nach Indien und China ‑ präsent. Eines der Anliegen besteht ja darin, die Fragen zu Ethik, Zukunftsgestaltung und spiritueller Haltung aus den oft provinziellen Grenzen von Einzelkirchen, Einzelkonfessionen, religiösen Einzelräumen oder Einzelstaaten herauszuholen. Ein zukunftsfähiges Ethos muss seine globalen Dimensionen immer kritisch bedenken und nachjustieren, also auf umfassende Gesamtentwicklungen, Debatten und aufsteigende Gefahren achten. Das gilt für gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen ebenso wie für die Optionen von Wissenschaften und Religionen.

Davon ist die organisatorische Struktur zu unterscheiden. Zwar wird die Erklärung zum WE, wie schon angedeutet, 1993 vom Parlament der Weltreligionen verabschiedet, aber die in Tübingen ansässige Stiftung des PWE agiert nie als eine Filiale dieses Parlaments, sondern als eine unbedingt eigenständige, von Hans Küng und seinem Team entwickelte Institution. Zwischen seinen großen Kongressen (2018 mit 8300 Teilnehmern) ist das Parlament, wenn man so will, eine schlafende Institution.

Vor diesem Hintergrund ist nie eine ständig aktive internationale Organisation beabsichtigt. Stattdessen entsteht ein internationales Netzwerk von prinzipiell eigenständigen WE-Organisationen; unter ihnen spielt die Tübinger Stiftung kraft ihrer Gründerfigur Küng als Ideengeberin und Influencerin eine Schlüsselrolle. Die Stiftungen anderer Länder stehen mit ihr in einem ständigen, unterschiedlich intensiven Austausch. Nicht eigens genannt sind Initiativen, die den WE-Gedanken in eigenständiger Weise weiterentwickelt haben. Ebensowenig kommen hier Institutionen zur Sprache, die sich von der Tübinger Stiftung inspirieren oder ausdrücklich beraten lassen. Offensichtlich bietet das WE auch für andere Erneuerungsprozesse ein zukunftsfähiges Modell an.

– Der Jahresbericht 2018 bietet nähere Informationen zu den Aktivitäten der Stiftung Weltethos Schweiz, der Initiative Weltethos Österreich, dem Innsbrucker Forum.
– Abgesehen von einer Institution in Hongkong arbeitet im asiatischen Raum (von der Robert Bosch Stiftung unterstützt) die indische Srihari Global School, die sich in einem dynamischen Aufbau pädagogischer Projekte (von Unterrichtsgestaltung und Lehrerausbildung) befindet und sich eines wachsenden Interesses erfreut.
Weitere kooperierende Schwesterinstitutionen arbeiten in Slowenien und Bosnien-Herzegowina, in Kolumbien und Mexiko.
Eine interessante Zusammenarbeit hat sich mit dem staatlichen luxemburgischen Lehrerbildungsinstitut IFEN ergeben. Darüber wird im Schlussteil Näheres berichtet.

 III.    Aktuell: Dringender denn je

Was hat die Erklärung zum WE mit ihrem Alter von 25 Jahren bewirkt, so die mir gestellte Frage. Ich bin nicht imstande, darauf eine schlüssige, wissenschaftlich begründete Antwort zu geben. Auch wüsste ich nicht, dass die Tübinger WE-Stiftung solche Rezeptionsprozesse (nach welchen Kriterien auch immer) systematisch prüft und aufarbeitet. Salopp gesagt: Die Stiftung hat Wichtigeres zu tun. Sie ist von eingeworbenen Projektgeldern abhängig, arbeitet also zahlreiche Projekte auf Vertragsbasis ab, greift oft auf ehrenamtlich mitarbeitende Sympathisanten zurück und lebt von den Zuwendungen einiger wohlwollender Gönnerinnen und Gönner, denen die gesellschaftspolitische Relevanz der Stiftungsarbeit am Herzen liegt. Doch zugleich lebt die vielfältige und vielschichtige Arbeit auch von der intensiven Zustimmung, die sie erfährt.

Angesichts dieser Voraussetzungen kann ich auf die Frage nur hermeneutisch antworten. Ich beobachte die vitale Dynamik der Institution, ihre Sensibilität für gesellschaftliche Entwicklungen, ihre Reaktionen auf Fremdenfeindlichkeit und eine viel zu träge Interreligiosität sowie auf die Begeisterungsfähigkeit junger Menschen, auch ihre Begeisterung, für eine Arbeit, die (vorläufig) keinen Stillstand zulässt. Ich beobachte, welche Chancen sich die Großkirchen entgehen lassen, die immer noch auf binnenkirchliche Probleme gefesselt sind, blind für die Tatsache, dass ihre Zukunft außerhalb liegt.

Schließlich entdecke ich regelmäßig die unerwarteten Tiefenstrukturen, die ein weltoffener Blick auf dieses ganzheitliche Konzept eröffnet, gleich ob es ausdrücklich religiös oder einfach human motiviert ist. In seine kontinuierliche Fortentwicklung sind viele Reaktionen von Interessierten und Fachbesprechungen, auch die geheimen Anleihen eingegangen, die andere Multiplikatoren – bis hin zum Vatikan – bei diesem Unternehmen genommen haben. Die Pionierfunktion des PW ist unbestreitbar, auch wenn nicht jeder es zugeben möchte.

Nach meiner eigenen und nach Anderer Erfahrung ist die Programmatik nach wie vor aktuell, jetzt vielfältiger und weit differenzierter als am Beginn und jedes weitere Referat, jeder neue Text und jede neue Begegnung verändert die Horizonte um ein kleines Stück. Das Projekt arbeitet sich nach wie vor ab an Grundfragen von Gesellschaft und globalem Zusammenleben, deren Bearbeitung und Beantwortung dringender denn je ist. Einige Aspekte seien hier genannt.

 III/1  Zukunftsorientierte Zivilgesellschaft

Nach dem Zusammenbruch des metaphysischen Weltbildes im 19. Jahrhundert können wir eine spannende Abfolge von weltanschaulichen Entwürfen erleben. Die Romantik versucht, die ganze Weltgeschichte in eine große, immer voranschreitende Kontinuität von Geist und Geschichte, zugleich in einen unwiderruflichen Prozess des Fortschritts zu tauchen. Doch spätestens 1918 bricht dieser Optimismus zusammen und existentialistische Entwürfe beherrschen das Feld. Es geht um Freiheit und Entscheidung, die Eigentlichkeit der Person und um die unbeschädigte Zukunft des menschlichen Individuums im ideologischen Streit mit dem Kollektiv. Zukunftsoffenheit flammt nach 1945 wieder auf, versackt aber bald in der Faszination des materiellen Fortschritts. Dennoch streitet man sich immer noch um die Zukunft von Mensch und Welt. Seit den 1990er Jahren tritt schließlich ein Prozess der großen Verzettelung und Ermüdung ein. Wir verlieren uns, verirren uns aus lauter Angst vor neuen Ideologien und zerstreuen uns in einer Vielfalt von Weltentwürfen, in denen die Zukunft keine prominente Rolle mehr spielt.

Um es in der klassisch theologischen Sprache auszudrücken: Wir haben den Sinn für Prophetien und Heilserwartungen verloren, gleich ob sie formuliert werden in religiösem oder in philosophischem Gewand. Die Menschheit stellt die Frage nach ihrer Zukunft nur noch pragmatisch und im Blick auf vorläufige Lösungen. Ich sehe im PWE den großen prophetischen Impuls, wieder nach der globalen Zukunft einer in Frieden versöhnten Menschheit zu fragen und Modelle zu ihrer Verwirklichung zu entwickeln.

Deshalb leitet es auch dazu an, nach den entscheidenden zukunftsorientierten Tätigkeitsfeldern zu suchen und sie auf allen relevanten Gebieten des menschlichen und gesellschaftlichen Handelns aufzuspüren, seien es (ich wiederhole) Erziehung, Schule oder Bildung, Religion oder Politik, Wirtschaft oder Recht, Kultur oder Sport. Sie alle sind an der Frage nach einer globalen und dauerhaften Zukunft auszurichten. Das heißt konkret: gemeinsame Ziele benennen, in der Öffentlichkeit konfrontativ zur Sprache zu bringen, ihre Verbindlichkeit einzufordern und ihre Bedeutung im Praxistext zu erkunden.

So gesehen mündet alles Bemühen des PWE in der Vision einer in Gerechtigkeit versöhnten Gesellschaft, in der Kooperation mit den wichtigen Menschheitsdokumenten (etwa dem Menschenrechtskatalog der UNO und der EU), auch mit den großen ethischen Menschheitsentwürfen, sei es im Sinne Kants oder im Sinne der prophetischen Religionen. Fukuyama griff in seiner Vision vom Ende der Geschichte auf das große Bild der Völkerwallfahrt in die große Stadt des Friedens zurück. Aufgabe aller für die Zukunft engagierten Menschen ist es, dieses prophetische Bild wieder in den Raum zurückzurufen, in dem Religionen und Menschheit eine menschenfreundliche und gerechte, gegen Verrat und Gewalt resistente Zukunft aufbauen.

III/2  Friedensfähige Religionen

Mehr denn je gelten die Religionen als Quellen der Gewalt, als Brutstätten des Fanatismus und als Orte, an denen Menschen eine unbeugsame, zur Not auf Konflikt gebürstete und zu Fanatismus neigende Identität ausbilden können. Dieser Aspekt spielt in der Arbeit der WE eine wichtige Rolle.

Natürlich unterstützt diese Behauptung auf weite Strecken hin ein einseitiges Bild. Zugleich aber gilt, dass sich Religionen immer wieder für Gewalt missbrauchen lassen. Vielen von uns sind dafür die Jugoslawienkriege (1991-2001) noch in schrecklicher Erinnerung, als sich muslimische, orthodoxe und katholische Mitbürger zu tödlichen Feinden auseinanderdividieren ließen. Ich erinnere auch an das Szenario, das Huntington entwickelt hat und daran, dass eine gedankenlose Religiosität schon immer hirnlose Gewalt produzierte. Angesichts der Weltsituation geht das so nicht weiter; mit Nachdruck sind alle Weltreligionen regelmäßig an ihre gemeinsame Weltverantwortung zu erinnern.

Als Beispiel nenne ich den „islamischen Fundamentalismus“. Wie können wir gegen ihn angehen? Nicht, indem wir bestimmte Religionen verbieten oder von außen zu korrigieren versuchen, sondern indem wir das Friedenspotential der Religionen aus ihrer eigenen Mitte heraus stärken. In christlich engagierten Kreisen ist vor dem Hintergrund der eigenen Gewaltgeschichte eine Wende eingetreten und die WE-Erklärung kann zeigen, zu welchen versöhnenden, friedensfähigen und friedenswilligen Ergebnissen solche Begegnungen führen können. Diese Arbeit muss täglich neu geschehen, weil auch Religionen im Alltag immer wieder in ihre alten Konfliktsituationen zurückfallen, ihre eigenen hohen Ansprüche vergessen. Gegen dieses Vergessen kämpft das PWE an.

Zugleich ist als Beispiel auf den säkularen Raum der Bundesrepublik Deutschland zu verweisen, in der rechtsextreme Kreise Gewalt gegen Andersdenkende und bestimmte ethnische Gruppen propagieren, zur Verrohung der Sprache beitragen, den politischen Mord legitimieren, ihre Hassparolen in die Schulen hineintragen und selbst im rechten politischen Spektrum des Bundestags auf stilles Wohlwollen stoßen, wie die Ereignisse von Chemnitz (Aug./Sept. 2018) zeigen. Hier ist das Friedenspotential der Zivilgesellschaft im selben Sinne zu stärken. Möglicherweise verdient dieses Problemfeld eine eigene Projektarbeit (vgl. II/1.2).

Dazu gehört es, dass wir uns mit den religiösen Inhalten der verschiedenen Religionen ebenso kontinuierlich beschäftigen wie mit weltanschaulichen und politischen Strömungen, sie vergleichen und von ihrer Gemeinsamkeit lernen. In unserer Epoche ist das Gespräch mit dem Islam und den Muslimen besonders wichtig und nimmt beim WE einen großen Raum ein. Dazu gehört, wie schon ausgeführt, dass wir uns nicht im Stile repetitionsfähiger Katechismen auf einige Kernaussagen zu Gott und Heil beschränken. Diese Reduktion auf das „Wesen“ der Lehre kann nur zu inhaltsleeren Fragen führen wie: Wer ist Allah? Wer ist der Gott Jesu Christi? Deshalb ist es wichtig, in allen Religionen Mystik und Spiritualität, die Kunst der Meditation und des Betens zu rehabilitieren, zugleich in Solidarität gemeinsame Aufgaben entdecken, damit wir sehen, was uns gemeinsam betrifft. Der bewusst gestärkte Glaube an die konkrete Fähigkeit der Religionen zu Respekt, gegenseitiger Versöhnung und zum Frieden ist die erste Stufe zu einem interreligiösen, das heißt zugleich: zu einem gesellschaftpolitischen Frieden der Welt.

Allerdings hat diese Friedensfähigkeit eine wichtige Voraussetzung, denn Frieden ist kein abstrakter Zustand, nicht das schlichte Ergebnis eines vornehmen Willensakts. Frieden muss gelebt, im Alltag verwirklicht sein und die inneren Haltungen von Menschen und Gesellschaften durchdringen. Dies gilt in gleichem Maße für die Religionen. Sie sind nicht das Ergebnis eines hehren Willensaktes oder Glaubensentschlusses. Denn Religionen gehen den Individuen voraus. Es sind ganzheitliche kulturelle Systeme, die alle Dimensionen von Mensch und Kultur durchdringen. Was sich ausdrücklich als Religion, in seinen Glaubenssätzen, Riten und Gebeten, in seiner Poesie und seinen Festkalendern präsentiert, ist nur der glanzvolle Überbau eines umfassenden Lebenssystems.

Deshalb lassen sich Religionen mit Eisbergen vergleichen, von denen sich 90 Prozent unter Wasser, auf der Ebene der alltäglichen Beziehungen und Verhaltensweisen abspielen. Diese 90 Prozent werden im modernen Religionsverständnis vergessen und solange sie vergessen sind, lässt sich die Wirklichkeitskraft von Religionen nicht ermessen. Das Geheimnis der Wirklichkeit ist ja immer gegenwärtig; wir leben ja in ihr. Dazu gehören auch sein schöpferisch-transzendierender und sein angstvoll-begrenzender Charakter. Deshalb gilt es, die gegenseitige Entfremdung von Religion und Gesellschaft zu korrigieren; das PWE entwickelt seine Analysen nicht aus dogmatischen Theorien, sondern aus den gelebten Werten, Haltungen und der Spiritualitätsformen von real existierenden Weltanschauungen und Religionen.

III/3  Realorientiertes Wertebewusstsein

Noch einmal stoße ich mich am grassierenden Realitätsmangel der Weltreligionen (und ihrer Theologien). Sie reden von Wahrheit, begreifen sie aber ausschließlich als göttliche Offenbarung. Im Laufe der Epochen haben wir die Frage vergessen, wie viel Wahrheit uns unsere Begegnung mit Mensch, Gesellschaft und Welt bietet. Wir beschwören religiöse, z. B. christliche Werte, lassen aber zu, dass sie sich in luftleere Höhen verflüchtigen. Wir bemühen eine religiöse Spiritualität ohne darüber nachzudenken, in welcher Lebenswelt sie zur Praxis wird, von welcher Leidenschaft sie getragen wird und welche Wirklichkeit sie hier und jetzt gestaltet.

Vermutlich beruht die besondere Wirkung des PWE nicht in der Tatsache, dass es die vier bzw. fünf Grundwerte scharf akzentuiert und herausarbeitet, sondern darin, dass es diese Werte in größtmöglicher Klarheit mit einer Welt konfrontiert, die ihnen widerspricht. Auch sehe ich die Spitze dieser Konfrontation nicht in der Tatsache, dass der gesamten Menschheit hier ein kleines und umfassendes Regelwerk vorgelegt wird. Zur Konfrontation führt die Tatsache, dass diesen Werten im Namen menschlicher Humanität eine ganzheitliche Bedeutung zuerkannt wird.

Dabei bildet es keine religiöse Ergänzung säkularer Überlegungen, auch keine säkulare Weiterführung religiöser Ausgangspunkte. Es fordert vielmehr eine Integration der beiden Sinnwelten. Sie fließen in der schlichten Frage nach dem Glück von Mensch und Menschheit zusammen. Das PWE will die umstrittenen Werte im Namen einer befriedeten Menschheit so konkret und plausibel wie möglich verhandeln. Deshalb werden die Hintergründe von Mensch und Gesellschaft ganzheitlich und in einer letzten Verbindlichkeit benannt, um daraus für Politik, Wirtschaft und öffentliches Leben die Konsequenzen zu ziehen. Wer einmal sieht, wie interessiert, nüchtern und problembewusst schon Kinder über diese Thematik reden können, versteht vielleicht, was gemeint ist. Die Wirkung des WE liegt in einer unkomplizierten, ebenso wenig frömmelnden wie überreflektierten Direktheit, in der schon Kinder Fragen des Menschheitsethos ansprechen können: Wie sollen wir hier und jetzt handeln, wenn alles gut werden soll?

III/4   Sanierung religiöser und kirchlicher Kulturen

Das PWE orientiert sich, wie oben dargelegt, an der kritischen Leitfrage nach den Lebensregeln einer zukunftsfähigen Menschheit. Diese Leitfrage schließt kritische Nachfragen nach den Weltreligionen ein, ohne deren Friedenswillen und einvernehmlichen Dialog kein Weltfrieden möglich ist. Angesichts einer säkularisierten Gesellschaft stoßen wir dabei auf ein besonderes Problem. In der ständigen Auseinandersetzung mit ihr gerät vor allem das Christentum des Westens in einen Prozess wachsender Weltferne und Derealisierung. Vergleicht man es mit der Denk- und Sprachwelt des WE, fällt der Unterschied schnell in die Augen: Schon die Erklärung zum WE verweist an vielen Punkten in einer geradezu peniblen Ausführlichkeit auf die dramatische Weltsituation sowie ihre gesellschaftspolitischen, sozialen und moralischen Perversionen. Einigermaßen wache Leser/innen können den Folgerungen für ein angemessenes Verhalten und für eine weltnahe Frömmigkeit mühelos folgen, denn sie ergeben sich, pointiert ausgedrückt, aus einer je persönlichen, tief verankerten Welterfahrung. Nötig sind kein auferlegter Glaubensgehorsam und keine anspruchsvollen theologischen Spekulationen, vielmehr reicht eine von Empathie getragene Einsicht in die tieferen Zusammenhänge von Welt und Gesellschaft. Allerdings sind auch die Grundgedanken des PWE in den Weltreligionen verwurzelt. So legt sich die Folgerung nahe: Recht verstanden brauchen auch die religiösen Kernbotschaften keine besondere Autorität oder ein besseres Wissen. Sie müssen von innen her überzeugen und sind an der Frage zu messen, ob sie den Menschen eine sachgemäße Weltinterpretation bieten und zu einer zukunftsfähigen Lebenspraxis anleiten.

In Wirklichkeit befinden sich die religiösen (in der Regel christlichen) Institutionen unserer Gesellschaft in einem desolaten Zustand. Auf den wachsenden Schwund ihrer Mitglieder haben sie keine Antwort, obwohl sie dafür Verantwortung tragen. Die katastrophale Entwicklung erklärt sich in hohem Maße aus der wachsenden Dissonanz zwischen Gesellschaft und Kirchen sowie aus deren verschärftem Rückzug in eine ferne, mit Spekulationen überzogene Über-Welt, also einem wachsenden Weltverlust, der dann als Religionsverlust der Gesellschaft gedeutet wird. Aus dieser Weltferne erklärt sich auch, warum die etablierten Großkirchen, ihre ökumenischen Beziehungen eingeschlossen, trotz existentiellen Ernstes und trotz treuesten Glaubensgehorsams an einer inneren Auszehrung leiden. Von der inspirierenden Kraft des WE erwarte ich mir für die religiösen Institutionen unseres Kulturraums fünf gewichtige Vorteile.

(1) Religionen und Christentum haben im westlichen Kulturraum ihre visionären Impulse verloren; dadurch wurden sie zu profil- und kraftlosen Institutionen. Das PWE hingegen kann für sie einen neuen visionären Rahmen schaffen. Innerhalb dieses Rahmens lassen sich für das Zusammenleben (im unmittelbaren, regionalen und globalen Lebensraum) kurz- und langfristige Ziele formulieren, die anschaulich, gesellschaftspolitisch relevant sind und Gemeinschaften über religiöse Grenzen hin verbinden. Das macht Religionen und Christentum wieder sprach- und erlebnisfähig.

(2) Das PWE schafft für Religionen und Christentum einen bislang unbekannten gemeinsamen und verbindenden Welthorizont. Die großen Sinn- und Lebensfragen können miteinander verschmelzen und die Überlegenheitssyndrome vor allem der monotheistischen Traditionen sowie ihre Berührungsängste mit der „Welt“ überwunden werden.

(3) Die Schlüsselfragen des PWE können zu einer hilfreichen und zugleich überfälligen Neuinterpretation zumal von Christentum und Islam führen, die sich bislang von dogmatischen Glaubenslehren, von abstrakten Wesensaussagen zu Gott, Welt und Mensch sowie von autoritären Strukturen leiten lassen. Religionen wollen nicht belehren, sondern in eine Lebenspraxis einführen, die von Menschlichkeit inspiriert ist. „An ihren Früchten werde ihr sie erkennen.“

(4) Umgekehrt kann seine Rückkoppelung mit einer erneuerten religiösen Praxis das WE vor einer pragmatischen Aushöhlung schützen. Normen, Haltungen und Werte erschöpfen sich nicht in bloßen Verhaltensregeln, sondern sind in einem verbindlichen Lebensengagement verankert, führen zu kulturellen Ausgestaltungen, erreichen spirituelle Tiefen und zielen schließlich auf eine „Umkehr der Herzen“ (vgl. I/2; I/5.2)

(5) So kann die Entdeckung des WE durch religiöse Institutionen (z.B. durch christliche Gemeinden) zu einer säkularen Öffnung von Sprachen und Symbolen führen und ein neues säkulares Weltgespräch ermöglichen. Die Spaltung zwischen säkularen und religiösen Kulturen lässt sich überwinden, die Idee des WE wird zum Signal eines neuen religiösen Paradigmas. Säkularisierung bedeutet ja keinen Glaubensverlust, sondern wehrt sich gegen die autoritäre und oft nostalgische Verengung unserer Weltinterpretationen. Dagegen kann der Denkstil des PWE dazu verhelfen, eine zerfallende religiöse Kultur zu sanieren und damit dem Zerfall eines zukunftsfähigen Zusammenlebens entgegenzuwirken. Es ist an der Zeit, auch diese Funktion des WE ins öffentliche Bewusstsein zu rücken und religiöse Gemeinschaften damit vertraut zu machen.

IV.    Zukunft: Erreichbare Ziele?

IV/1  Eine unerreichbare Vision

Aus religiöser, aber auch aus rein weltanschaulicher Perspektive hat sich das PWE Übermenschliches vorgenommen, obwohl es nichts Übermenschliches leisten kann. Es propagiert eine Vision, die sich prinzipiell nicht einlösen lässt. Doch spätestens seit Ernst Blochs Theologie der Hoffnung wissen wir, dass alle Kulturen und die gesamte Menschheit von solchen Visionen leben, die sie in Gang halten und vor einer dumpfen Resignation bewahren. Diese Visionen sind in allen Weltreligionen zu Hause, auch wenn die „prophetischen“ Religionen (Judentum, Christentum und Islam) den utopischen Charakter allen religiösen Denkens deutlicher als andere herausstellen. Sie fehlen weder in den chinesischen Weisheitsströmen noch in den Religionen Indiens. Doch bleiben diese Visionen unerreichbar, weil sie immer das Ende bzw. die Vollendung des Weltganzen anzeigen und weil dieses Ende unter den Bedingungen unserer Welt nie erreicht werden kann. Für dieses Paradox gibt es mehrere Gründe.

IV/1.1 Ganzheitlicher Prozess

Die Vision des PWE hat keine Ideologie im Sinne der theoretischen Weltentwürfe des 19./20. Jahrhunderts, sondern eine umfassende Dynamik. Sie differenziert sich gemäß der menschlichen Lebenswirklichkeit, also sehr unterschiedlich aus. So kommt dies etwa in der Goldenen Regel zum Ausdruck, die sich auf keine festen Inhalte fixiert. Von Anfang an ist aber klar: Diese Utopie aktiviert ein höchst differenziertes Geflecht von Beziehungen und Interessen, von Personalität und Gemeinschaft, Spontaneität und Reflexion. Eigeninitiative und gemeinsame Absprachen sind nie vorhersehbar, ebenso wenig Liebe und Abgrenzung, das Geflecht von materiellen und geistigen, medialen und sozialen Interessen. Diese Komplexität lässt sich nie als fertiges Produkt, sondern nur als offener Prozess begreifen. Die präsentierte, im Leben vielleicht vorweggenommene Vision beschreibt die Sehnsucht, die diese Religionen in allem Leben diagnostizieren.

IV/1.2 Geschichtliche Dynamik

Deshalb hebt dieses Utopische die Geschichte gerade nicht auf, bringt sie auch nicht zu ihrem Ende. Leider hat sich dieses Missverständnis tief in das christliche Glaubensverständnis eingenistet; in seiner platonischen Verfremdung beschäftigt es sich ständig mit einem übergeschichtlichen Jenseits, der Überwindung der Zeit und einem Gottesbild, das über unser Leben ein Endurteil spricht.

Doch in Wirklichkeit will diese Vision die Menschheitsgeschichte nicht beengen, sondern aktivieren und dynamisieren. Geschichtliche Dynamik ist immer neu und unberechenbar. Sie wiederholt sich nie, sodass eine in Frieden und Gerechtigkeit versöhnte Gesellschaft nie wirklich konstruierbar ist. Umgekehrt gehen die großen Weltutopien alle davon aus, dass sich Versöhnung und Gerechtigkeit jetzt schon ereignen können. Jesuanisch gesagt: Das Reich Gottes kann hier und jetzt beginnen, obwohl von einer Großstruktur noch nichts zu sehen ist. Solche Unerreichbarkeit verdammt uns also nicht zu Resignation, sondern zu täglich neuen Initiativen. Beginn und Erfüllung sind immer schon möglich. Abstrakt gesehen gibt es zwar keine Wahrheit im Falschen (Benjamin, Adorno), im konkreten Leben aber im Falschen schon Wahrheit, in Hassverhältnissen Liebe, in der Zerstörung gegenseitigen Respekt. Dies ist der wahre Charakter einer geschichtlichen Dynamik, die die Religionen aktivieren.

IV/1.3 Kontrafaktische Ausrichtung

Konkret heißt das allerdings: Ein jeder Ansatz im Sine des Ethos kämpft gegen die konkrete Wirklichkeit an und kann sich seines Sieges nie sicher sein. Im Gegenteil, jeder Appell zum Respekt vor dem Leben fordert die Gegenkräfte heraus, die um ihre Niederlage fürchten. Gegen jeden Impuls der Gerechtigkeit formieren sich die Kräfte des Unrechts. Die apokalyptischen Visionen etwa der „Geheimen Offenbarung“ aktivieren nicht einfach die schlimmsten Gewaltphantasien, sondern stellen ein Spiel reaktionärer Vernichtung dar, dessen Zeugen wir in der Politik der Mächtigen werden. Den Endkampf können wir weder in unserer Vorstellung noch in philosophischen Konstrukten vorwegnehmen. Erst recht sollten wir nicht versuchen, ihn herbeizuzwingen oder zu überwinden. Genau dies ist das ungelöste Geheimnis des Satzes der Bergpredigt, wir sollen dem Bösen nicht widerstehen (Mt 5,39). Umso wichtiger ist es, in aller Nüchternheit das eigene Leben in dieses Kräftefeld einzuordnen. Dennoch steckt in dieser Vision ein Glaube an den Sieg des Guten, das stärker ist als der Tod. Das PWE versucht, diese Überzeugung in menschliches Handeln umzusetzen.

IV/1.4 Kulturelle Bedingtheit

Hinzu kommt ein Gesichtspunkt, der in abstrakten theologischen Überlegungen, auch in der westlichen Philosophie lange Zeit vergessen wurde. Wir mögen unser Denken so grundsätzlich und so global wie möglich ausrichten, es bleibt immer in den Netzen unserer konkreten Kultur gefangen. Auch das PWE lässt sich genau in die Zeit und in den kulturellen Ort einordnen, an dem es formuliert wurde und reflektiert wird. Dennoch können wir uns über kulturelle Grenzen hinaus verständigen. Diese Verständigung lässt sich aber nie erzwingen. Nur ein Dialog schafft im Prozess des aktiven Gebens und Nehmens die Offenheit, die eigenen Bedingungen zu überschreiten. Vor diesem Hintergrund können die kulturellen, sozialen und genderbedingten Grenzen zum Zeichen dafür werden, dass auch jedes erreichte Ziel im Sinne einer befriedeten Menschheit immer ein Geschenk, nicht die erzwingbare Folge unseres Handelns ist.

IV/1.5 Säkular-religiöse Doppelstruktur

In der gegenwärtigen Epoche konkretisiert sich diese Spannung von Unerreichbarkeit und erwartetem Gelingen in der Doppelstruktur eines säkularen und eines religiösen Kosmos. Die ausdrücklich religiösen Welten stellen in aller Offenheit unsere Sehnsucht und unseren Willen zur unbedingten Wahrheit und Endgültigkeit dar. Religionen gleichen in diesem Sinn den weiß glänzenden, über die Meeresspiegel ragenden und souverän dahin schwimmenden Eisbergen, denen die alltäglichen Wellen und Stürme nur wenig anhaben können.

In der säkularen Welt tobt hingegen der Alltag. Aus sich heraus ist er unfähig, die Grenze des Meeresspiegels zu übersteigen; er bleibt dem eingrenzenden Spiel von Kräften und Gegenkräften ausgesetzt. Der große Irrtum der Gegenwart besteht in der Idee, man könne beide Welten angemessen unterscheiden. Denn ein Eisberg kann seine enorme Wucht nur entfalten, indem er zugleich aus dem Meeresspiegel herausragt; er kann nicht untergehen. Doch seine glänzende, das Meer überragende Oberfläche verdankt ihre Pracht aber nur der Tatsache, dass sie von den restlichen 90 Prozent getragen wird. Säkulare Welt und ihre religiösen Phänomene sind nur zu verstehen in ihrem Zusammenhang, in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und aus ihrer Dichte heraus, die sie kompakt zusammenhält. Wer in der Religion nur ein leichtes, über dem Wasser dahin schwimmendes Luftgebilde erkennt, könnte Schiffbruch erleiden wie die Titanic, der die unterirdische Wucht dieses Luftphänomens zum Verhängnis wurde.

IV/2  Das Bewusstsein ist gewachsen

Allerdings hat die Gefahr dieses gefährlichen Missverständnisses abgenommen. Wer die innere Dynamik unserer Welt verstehen will, wird nicht mehr die Fernrohre vergessen wie jene Matrosen, die auf der Titanic nach den Eisbergen Ausschau halten sollten. Dafür leistet die Tübinger Arbeit, von den gesellschaftspolitischen Entwicklungen unterstützt, einen wichtigen Beitrag. Existenz und Bedeutung der Weltreligionen und human orientierte Weltanschauungen sind uns bekannter denn je. Wir kennen z. B. die Lehrinhalte und Lebensregeln des Islam oder des Buddhismus recht gut. Auch wissen wir genauer als früher um die Gefahren, die von Religionen ausgehen können. Religionen sind inzwischen als politische und moralische Akteure ersten Ranges anerkannt. Zugleich ist auch der westlichen Öffentlichkeit klarer geworden denn je: Unsere Welt ist angewiesen auf ein neues gemeinsames Orientierungswissen, das einerseits die globale Welt in ihrer Gesamtheit im Blick hat, andererseits wirksam vor Ort eingeübt werden kann.

 IV/3  Ein Netzwerk mit Ankerpunkten

Wie ist die Erklärung von 1993 heute fortzuschreiben? Inzwischen ist die Thematik des WE an vielen Studienorten präsent. Doch ausgerechnet von theologischer Seite werden die klassischen Vorbehalte laut: der Religionsbegriff werde verflacht und moralisiert, die Unterschiede zwischen den Religionen würden eingeebnet, in Tübingen werde bloße Aufklärung betrieben, die „moralische Aufrüstung“ von Caux wieder zum Leben erweckt. Aus dem Munde von Fachvertretern und Institutionen, die ansonsten den Fragen der globalen Weltbedrohung eher ausweichen, ist diese Kritik wenig überzeugend. So gerieten etwa die ökumenischen Großveranstaltungen des Jahres 2017 eher zu nostalgischen Unternehmungen, die vieles beschönigten, statt etwas zu verändern.[13]

Andererseits gibt es zahlreiche Initiativen, die das globale Zukunftsproblem auf ihre Weise erkennen. Das Interesse an Judentum und Islam, an einer konstruktiven Begegnung mit Angehörigen anderer Religionen sowie an der Integration von Immigranten aus anderen Kulturkreisen ist stark gestiegen.[14]

Im Rahmen dieser breiten Entwicklung, die ganz im Sinne des WE voranschreitet, lässt sich dessen aktuelle Arbeitsstruktur genauer erklären. Die Weltethosidee wurde ja nicht von einem genialen Einzelkämpfer einfach aus dem Boden gestampft, sondern entstand aus zahllosen Begegnungen und Gesprächen mit Religionsvertretern, Politikern, Soziologen und anderen Wissenschaftlern. Sie begann aus einer Intuition, in die viele Erfahrungen und parallele Entwicklungen eingeflossen sind. Die intensive weltethische Kreativität, die sich in Tübingen seit 1990 beobachten lässt, verdankt sich zwar einer eindeutigen Führerschaft, konnte aber nur auf dem Humus eines sachlich interessierten und engagierten Umfeldes weitergedeihen. Die Arbeit der Tübinger und anderer Stiftungen zeichnet sich nicht nur durch ein hervorragendes Konzept, sondern auch durch eine vielschichtige Teilnahme aus.

Die Interaktionen zwischen Initiativen und deren Ausführung verlaufen auf komplexen Wegen der Rezeption, der Partizipation und der Multiplikation. Schon wer den einen oder anderen Teilaspekt besser versteht und aktiv daran mitarbeitet (etwa die Kenntnis einer Religion, das Schicksal der Migranten, die Gefahren der aktuellen Weltpolitik oder Fragen der Ökologie), nähert sich unmerklich dem Konzept des WE an. Wer aus eigener Erfahrung an diesem komplex-elementaren Projekt mitarbeiten will, muss nicht alle Denk- und Handlungsschritte reproduzieren können. Unter Umständen reicht es, den ethischen Grundimpuls soweit nachzuvollziehen, dass ihn die Kinder einer Grundschulklasse nachvollziehen können, ohne sich in Fragen der Gewaltprävention auszukennen. Je nach Intensität des Zugangs schließen die Forderungen und Diskursebenen einander ein. So baue ich darauf, dass die zahllosen Publikationen, Veranstaltungen und Zeitungsnotizen im Berührungskreis des WE geradezu täglich ihre Wirkungen erzielen. Menschen erfahren, dass hier Wichtiges und Lohnenswertes geschieht.

So laufen auch die Aktivitäten der WE-Stiftung mehrschichtig ab.
– In ihr und in ihrem Umfeld sind die Protagonisten zu finden, die ursprüngliches Wissen erarbeiten und verfügbar machen. Zu nennen sind seit Jahrzehnten schon Hans Küng, Gründer und noch immer Galionsfigur der WE-Bewegung, aber auch Karl-Josef Kuschel mit seinem Trialog-Projekt, seinen bahnbrechenden Arbeiten zum Verhältnis von Bibel und Koran, von Literatur und Religionen sowie zur Arbeit von zahlreichen Vorkämpfern der Interreligiosität und Ökumene.[15] Hinzu kommen Stephan Schlensog, Autor eines Standardwerks zum Hinduismus, sowie Markus Weingardt, Autor zur Thematik Religion und Gewalt sowie die Mitglieder des Weltethos-Instituts, allen voran sein Gründungsdirektor Claus Dierksmeier und sein aktueller Nachfolger Ulrich Hemel.
– Wie bei allen komplexen Zielsetzungen wären auf der Ebene konkreter Projektarbeit die Aufgaben nicht ohne ein eingespieltes Team von hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu leisten. Es sind neben dem Generalsekretär und einer Büroleiterin die Leiterinnen und Leiter der Bereiche WE und: Gesellschaft, Interreligiöser Dialog, Pädagogik, Soziale Innovation, und Frieden. Ohne eine präzise Koordination der Funktionen. Viele ihrer Aufgaben werden in den Jahresberichten näher beschrieben.
– Unverzichtbar für das Tagesgeschäft sind auch die freien Mitarbeiter der Stiftung. Sie halten Vorträge, organisieren Veranstaltungen und Begegnungen und tragen Sorge für das Gleichgewicht der Gesamtkonzeption. zusammen mit dem hauptamtlichen Team sammeln auch konkrete Erfahrungen, die sich regelmäßig erweitern und in neuen Netzwerken umsetzen lassen. Sie bilden die entscheidende Schnittstelle nach außen.

– An wen ist ihre Arbeit adressiert? Die öffentlichen Adressaten der Stiftungsarbeit, ihrer Veranstaltungen, Projektarbeiten oder punktuellen Impulse lassen sich nicht mehr genau definieren. Einerseits sind es die normal Interessierten, die diesen Veranstaltungen aus reinem Wissens- und Bildungsinteresse folgen. Andererseits sind es die Vielen, die in sozialen und interreligiösen Bezügen arbeiten und einen sachkundigen Austausch suchen. Zugleich ist davon auszugehen, dass ein Großteil der Teilnehmer – etwa in Kirchengemeinden – aus lokalpolitischen oder privaten Erfahrungen heraus besondere Kontakte suchen. Es sind also Multiplikatoren zweiter Ordnung.

Wichtiger für Arbeit und Erfolgserwartung der Stiftung sind die Übergänge, in denen Hörende zu Engagierten werden. Aus Rezipienten können qualifizierte Partizipanten und neue Multiplikatoren werden. Langfristig kann sich das Anliegen des PWE nur dann durchsetzen, wenn dieser vielschichtige Prozess gelingt, in dem die Basis selbst von Multiplikatoren durchsetzt ist. Nachdem das Konzept des WE in einer ersten Phase stabile und widerstandsfähige Konturen erreicht hat, beginnt jetzt eine zweite Phase. In ihr muss das WE ein Netzwerk von Ankerpunkten entwickeln, sodass sich das Projekt in der Zivilgesellschaft (in Vereinen, Arbeitskreisen und entschlossenen pressure groups) verorten und die täglichen Impulse der Basis aufnehmen kann.

Dafür gibt es noch einen weiteren Grund, der für die künftige Ausgestaltung des Programms wichtig werden könnte. Viele Einzelgruppen und Gemeinschaften, bisweilen zivilgesellschaftlich organisiert, sind oft der offiziellen Diskussion und dem Gewirr analytisch drapierter Diskussionen voraus; intuitiv haben sie schon lange erfasst, worauf es ankommt. Man kann das an dem selbstverständlichen Engagement ermessen, das große Teile der Bevölkerung nach der Migrationswelle von 2015 („Flüchtlingskrise“ genannt) bewiesen haben. Es hat sich aber als schwierig erwiesen, diesen Einsatz stabil zu halten. Es gilt nur noch, diesem spontanen Engagement eine Führerschaft und eine Instanz zu verleihen, die das ethische Bewusstsein wachhält, zu politischen Veränderungen hin vermittelt und konkrete Maßnahmen formuliert, die auch in schwierigen Situationen weiterhilft. Meines Erachtens sind die Grundlagen des PWE und seine prinzipiellen Folgerungen hinreichend geklärt. Jetzt ist dafür zu sorgen, dass seine Impulse von neuen Generationen angesichts neuer Herausforderungen übernommen werden. Im Schlussteil folgen noch einige Bemerkungen zur Tatsache, dass auch zwischen den geklärten Zielen und zielführenden Maßnahmen immer neu zu vermitteln ist.

IV/4  Weltethos-Gemeinden stehen noch aus

Die Akzeptanz des WE erklärt sich maßgeblich aus der Neuentdeckung von Mensch, Gesellschaft und Welt aus einer ganzheitlich ethischen Perspektive. Die vier bzw. fünf Weisungen und die beiden leitenden Prinzipien führen von den Religionen und human orientierten Weltanschauungen unmittelbar in den Bereich der Empirie und der Gebiete, die der Gestaltung durch Menschen offenstehen. Aus diesem Ansatz konnte das PWE in den vergangenen 25 Jahren eine intensive säkulare Dynamik entwickeln. Sektor um Sektor des menschlichen Lebens wurde zum Gegenstand kritischer Analysen. Politiker, Ökonomen und Vertreter der Wissenschaft unterstützten gerne die Einzelprojekte durch ihr Engagement. Nach wie vor präsentiert die Website, wie schon gesagt, als seine zentralen Arbeitsgebiete Religion und Politik, Wirtschaft und Recht, Schule und Bildung sowie Kultur und Sport. Ein Kranz von konkreten Arbeiten legt sich um diese Kernarbeit. Sie beschäftigen sich mit politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, mit Literaten, Musikern, naturwissenschaftlichen Konzepten und weltanschaulichen Entwürfen zur Zukunft und Gestaltung der Welt.

Bei dieser explosiven Expansion der Einzelthemen könnte man den Ausgangspunkt der Grundidee vergessen. Nach wie vor bildet die Begegnung mit den Weltreligionen die Wiege des WE. Aus ihnen kommen die zentralen Inspirationen und nach wie vor gehört deren Erneuerung zu den Kernerwartungen des umfassenden Projekts. Auch sollte nicht vergessen werden: Das Ethos der Religionen hat die Enge ethischer Normen im Sinne von Kant schon immer gesprengt. Zum WE gehört, wie nachdrücklich ausgeführt, die Aktivierung eines persönlichen Engagements und spiritueller Kräfte.

Aus diesem Grund bleibt es unverzichtbar, dass das WE Religionen in interreligiösen Begegnungen thematisiert und sich beispielsweise in christlichen Gemeinden etabliert. Das können etwa regelmäßige Begegnungen mit Muslimen oder Arbeitsgruppen sein, die sich mit weltethischen Themen beschäftigen. Eine Gemeinde kann erklären, dass sie sich diesem WE verpflichtet weiß und sich von ihm inspirieren lassen will in ihrem Zeugnis, ihrer Diakonie und in ihrer Liturgie. Ähnlich wie es jetzt schon Weltethosschulen gibt, kann es christliche Gemeinden geben, die sich dem WE verpflichtet wissen. Langfristig können solche Gemeinden zu Trägern einer Bewegung werden, von der grundlegende Initiativen ausgehen für eine ökumenisch christliche Frömmigkeit, ein ökumenisch christliches Handeln, für ein weltoffenes Glaubenszeugnis und für Gottesdienste, die nahe bei den Menschen sind und die traditionellen Grenzen zwischen einer religiösen und einer zeitgemäßen Sprache überwinden.

In diesem Zusammenhang ist die evangelisch-lutherische Kirchengemeinde Blankenese zu nennen, in der der WE-Gedanke seit Jahren schon lebt. Präsent ist er in Vorträgen und zahlreichen Aktionen, in schulischer und interkultureller Arbeit, im Konfirmandenunterricht, in einer WE-Gruppe sowie in vielen Predigten. Dort ließe sich zeigen, wie die Impulse des WE das kirchliche und theologische Denken einer ganzen Gemeinde langfristig prägen, inspirieren und mit neuen theologischen Ansätzen eine Symbiose eingehen können. Das PWE könnte zu einem neuen christlichen Paradigma entwickelt werden.

Schluss: Europa als weltethisches Laboratorium

Dass die WE-Stiftung, in Tübingen angesiedelt, zu europäischen Institutionen immer wieder Beziehungen aufnimmt oder um Rat gefragt wird, bedarf keiner besonderen Begründung. Auch hier gilt es zunächst, fundamentale Informations- und Bewusstseinsarbeit zu leisten, um Multiplikatoren zu gewinnen und mögliche Ankerpunkte zu installieren.

Ein besonders interessanter Fall ist die Tätigkeit in Luxemburg. Im Rahmen des staatlich neu eingeführten Schulfachs „Leben und Gesellschaft“ durchliefen insgesamt 2000 Grundschullehrer eine WE-Schulung von jeweils einer Woche. In der Stadt Luxemburg wurde eine Weltethosschule etabliert, im deutschsprachigen Ostbelgien unter maßgeblicher Beteiligung der Stiftung ein Tisch der Religionen eingerichtet, der nach wie vor von Tübingen aus begleitet wird. Im Europäischen Gerichtshof Luxemburgwurde die Wanderausstellung ebenso gezeigt wie im Europäischen Rat in Straßburg.

Angesichts des breiten Zugangs, den das PWE immer zur gesamten Welt, zu allen Weltreligionen sowie zum globalen Wirtschafts- und Politiksystem im Auge hat, wirkt Europa, so kompliziert es im Einzelnen auch sei, wie ein überschaubarer kleiner Kontinent. Dennoch ist nicht zu übersehen, wie exzellent sich dieser Problemkontinent, der uns naturgemäß täglich auf die Pelle rückt, als ein weltethisches Laboratorium eignet. Wie im Brennglas wiederholen sich hier die globalen Weltkonflikte zwischen armen und reichen Ländern, zwischen unterschiedlichen Religionen und Kulturen, zwischen industrialisierten und agrarischen Regionen, zwischen Norden und Süden, zwischen liberalen und „illiberalen“ Demokratien, zwischen Weltoffenheit und Fremdenhass. Das PWE hätte hinreichend Grund, nahezu täglich Stellung zu beziehen. Eine Aufzählung der Konfliktthemen reicht aus, die täglich unsere Zeitungen und die digitalen Medien füllen.

Ich nenne die sozialen Spannungen, von denen alle europäischen Länder getrieben werden, täglicher Streit über den Umgang mit Migranten, ihre Rettung aus dem Mittelmeer, ihre Aufnahme und Unterbringung in europäischen Ländern, die Problematik der Rüstungsindustrie und ihres Waffenexports, die politische, wirtschaftliche und fiskalische Solidarität zwischen den einzelnen Ländern, eine interreligiöse und interkulturelle Toleranz, eine menschenfreundliche Kultur- und Bildungspolitik, die Verhältnisbestimmung von nationalen und gesamteuropäischen Interessen, die Akzeptanz von Rechtsstaat und Demokratie sowie die Überwindung der Korruption, die Diskrepanz zwischen Europa als einem funktionierendem Wirtschafts- und eine wirksamen, friedenssichernden Wertesystem.

Unser weltethisches Engagement gibt wahrscheinlich auf jedes der genannten Probleme eine Antwort: Natürlich geht es um mitmenschliche und soziale Verantwortung, um politische und wirtschaftliche Solidarität, die Überwindung einer egoistischen Machtpolitik und jeder Korruption, um Toleranz und die Anerkennung humaner Werte.

Doch wir lesen auch, wie schwierig es ist, diese Ziele in angemessene Maßnahmen umzusetzen, also den Überstieg vom ethischen Willen in die komplizierte Wirklichkeit von Politik und Ökonomie zu schaffen. Im vorliegenden Beitrag wurden die Ziele vielfach thematisiert. Bei einer genaueren Lektüre von Küngs weltethischen Schriften wird deutlich, wie intensiv er die Probleme der religiösen, politischen und wirtschaftlichen, auch rechtlichen Umsetzung thematisiert hat. Der weitaus größere Teil seiner Texte diskutiert nicht die weltethischen Ziele an sich, sondern ihre Durchsetzung in einer von Egoismus durchsetzten Politik, in einer neoliberal orientierten Wirtschaft sowie in Rechtssystemen, deren Schutzfunktion bewusster auf die Maßstäbe eines globalen Ethos hin zu gestalten sind.[16]

So misslich die ständig virulenten innereuropäischen Spannungen auch sein mögen, der Überzeugungskraft des WE schaden sie nicht. Schließlich lebt es von Anfang an aus Konflikterfahrungen und von der Suche nach einem zeitgemäßen Orientierungswissen, das hilft, auch in ausweglosen Situationen nicht aufzugeben. Das WE vertritt ja kein neues Meinungsmonopol, sondern greift uralte Erfahrungen auf, die ein menschenwürdiges Zusammenleben ermöglichen. Europa weiß besser denn je, dass eine solche Vision für eine gemeinsame Zukunft unverzichtbar ist. Die Erklärung zum WE hat diese Erfahrung vor 25 Jahren so formuliert:

Mit Weltethos meinen wir keine neue Weltideologie, auch keine einheitliche Weltreligion jenseits aller bestehenden Religionen, erst recht nicht die Herrschaft einer Religion über die anderen. Mit Weltethos meinen wir einen Grundkonsens bezüglich bestehender verbindender Werte, unverrückbarer Maßstäbe und persönlicher Grundhaltungen. Ohne einen Grundkonsens im Ethos droht jeder Gemeinschaft früher oder später das Chaos oder eine Diktatur, und einzelne Menschen werden verzweifeln.

Der Hinweis, dass das WE keine Herrschaft einer Religion über andere Religionen (oder Weltanschauungen) zulässt, hat zumal im „christlichen“ Europa seine Gründe, wo ein christliches Überlegenheitsgefühl immer noch zu Hause ist. Ebenso wenig sollten sich künftige Verteidiger des WE einzelnen Religionen überlegen fühlen, denn das WE betont ohne jeden Monopolanspruch nur urmenschliche Erfahrungen, die seit unvordenklichen Zeiten in den maßgeblichen Religionen aufgegriffen wurden. Genau diese Bescheidenheit kann und muss die zukunftsfähige Stärke des PWE sein. Es will nur an ein Wissen erinnern, das schon immer gegenwärtig ist.

Anmerkungen

[1] Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992.

[2] Samuel Huntington, Kampf der Kulturen [Clash of Civilisations]. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München/Wien 1996.

[3] Die religiös identifizierten Kulturräume sind: [1] Westen (mit Westeuropa, Nordamerika, Australien und Neuseeland), [2] Lateinamerikanischer Raum, [3] Raum der Orthodoxie (Russland, Großteil Osteuropas, Griechenland, Bulgarien und Rumänien), [4] Raum des Islam (Nordafrika, Mittlerer Osten, Türkei, Pakistan, Indonesien, Aserbaidschan, Bangladesch und Albanien), [5] Raum des Konfuzianismus (China, Korea und Vietnam), [6] hinduistischer Raum (Indien, Nepal, Bhutan und Malediven), [7] Japan und [8] Afrika.

[4] Zur Beurteilung des genannten Buchs: Josef Joffe, Der Prophet der brillant danebengriff, in: DIE ZEIT 2017/1, S. 43. Eine Aufzählung der weltweiten Attentate findet sich in:  https://www.verfassungsschutz.de/de/arbeitsfelder/af-islamismus-und-islamistischer-terrorismus/zahlen-und-fakten-islamismus/zuf-is-uebersicht-ausgewaehlter-islamistisch-terroristischer-anschlaege.

[5] Die Werke von Hans Küng werden jeweils nur in Kurzform kenntlich gemacht. Die genaueren bibliographischen Angaben sind über die Website der Stiftung WE (www.weltethos.org) zu ermitteln. Ferner wird auf die Sämtlichen Werke von Hans Küng (Herder-Verlag) verwiesen, die nahezu vollständig erschienen sind.

[6] Im Jahr 2018 wird die Bewahrung der Erde als fünfte Weisung hinzugefügt (s.u. II/4).

[7] Die unserem Kulturkreis geläufigste Formulierung der Goldenen Regel lautet: „Alles, was Ihr wollt, dass Euch die Menschen tun, das tut auch Ihr ihnen ebenso“ (Mt 7,12). In der Form eines gängigen Sprichworts lautet sie: „Was du nicht willst, dass man Dir tu, das füg‘ auch keinem andern zu!“

[8] P. Berger u.a. (Hg.), Religionshybride. Religion in posttraditionalen Kontexten, Hamburg 2013.

[9] Bisweilen wird der Text durch konkrete Hinweise auf die aktuellen Tätigkeiten der WE-Stiftung unterbrochen. Umfassendere Auskünfte sind in der ausführlichen Website www.weltethos.org zu finden, auf der auch die jährlichen Tätigkeitsberichte heruntergeladen werden können. Auf Verlangen können sie Interessenten auch zugesandt werden, solange der Vorrat reicht.

[10] Angesprochen werden Religion und Spiritualität; Regierungen; Landwirtschaft, Arbeit, Industrie und Handel; Erziehung; Künste und Medien: Naturwissenschaft und Medizin, Internationale zwischenstaatliche Organisationen sowie die Organisationen der Zivilgesellschaft.

[11] Inzwischen wurden sie bestritten von Tony Blair, Mary Robinson, Kofi Annan, Horst Köhler, Shirin Ebadi, Jacques Rogge, Helmut Schmidt, Desmond Tutu, Stephen Green, Claus Dierksmeier, Paul Kirchhoff, Winfried Kretschmann, Heinrich Bedford-Strohm.

[12] Bei konkreten Informationen beziehe ich mich je nach Inhalt auf die Jahresberichte 2017 und 2018.

[13] H. Häring, in: https://www.hjhaering.de/weltethos-die-reformation-des-21-jahrhunderts/

[14] Damit sei die Bedeutung vergleichbarer Zukunftsentwürfe nicht ausgeschlossen. Zu nennen sind das Projekt Compassion von J. B. Metz und befreiungstheologische Ansätze, ganz abgesehen von vielen Impulsen, die von Papst Franziskus ausgehen, allerdings auf erbitterten Widerstand vieler Kollegen im kurialen oder bischöflichen Amt stoßen. In den USA treibt Len Swidler das Projekt auf seine Weise voran. Wertvolle Arbeit leistet ferner die Eugen-Biser-Stiftung (München). Projekte der interkulturellen bzw. interreligiösen Begegnung haben sich in zahllosen Kommunen bzw. christlichen Gemeinden etabliert. Zur Verhältnisbestimmung des PWE zu vergleichbaren Konzepten s. H. Häring, Barmherzigkeit im interreligiösen Dialog, in: Stimmen der Zeit, 4/2018, 245-259,

[15] Die Bibliographie seiner Arbeiten sowie der übrigen Genannten ist ebenfalls zu finden unter: www.weltethos.org

[16] Die einschlägigen Publikationen von Küng werden wohl 2020 im 20. Band seiner Sämtlichen Werke erscheinen.