Vom Ungeist theologischer Rechthaberei

Schon am Tag seines Erscheinens erfuhr der Beitrag des Altpapstes so viel empörten Widerspruch, dass sich eine weitere Reaktion zu Inhalt und Qualität kaum lohnt. Statt sich zu ärgern, könnte man sich stellvertretend auch schämen über den Zerfall eines Geistes, der uns in den besten Jahren wenigstens noch in Atem hielt, denn sein Konservatismus und seine Intransigenz hatten noch einiges Niveau. Unverhüllt erscheinen jetzt die Abgründe einer erschreckenden Denkstruktur, voll von archaischer Vereinfachung, unverdautem Ressentiment und destruktiver Polarisierung, das ganze inszeniert zu einer Selbstverteidigung um jeden Preis nach dem Motto: „Haltet den Dieb!“

Doch dieser Preis ist unerträglich hoch und Ratzingers Kommentar zum Dauerskandal hätte vielleicht keinen einzigen Kommentar verdient, stieße er nicht auf offene Ohren. Erneut rührt er den Bodensatz einer eintrübenden Nostalgie auf, die es unter uns immer noch gibt. Er verkoppelt eine fest geronnene, in die Vergangenheit zementierte Sicht von Religion mit der Sünden- und Sexualphobie des vergangenen Jahrhunderts. Leider gibt es noch die vermieften Mitkatholiken, die gerne in diesem stickigen und weltfernen Gehäuse von vorgestern leben und sich über ihre Mitmenschen erhaben fühlen.

Ratzingers Vorstöße wirkten schon immer stark auf Versauerte und Verunsicherte, denen ihre eigene Identität abhanden gekommen ist. Dazu gehören auch solche, für die das große Wort der Kirche eingeschrumpft ist auf die unausgesprochenen Perversionen eines Männerbundes, der unter Wojtyłas und Ratzingers Kirchenregime Urständ feierte. Wir kennen sie recht gut, diese bündischen Gesetze mit ihrem autoritären Fanatismus, ihrer verdrängten Erotik und Sexualphobie, ihrem elitären Selbstbewusstsein und ihrem Trieb zu einer Selbstdarstellung, die uns nicht mehr beeindruckt.

Wir wissen auch, dass diese Bünde umso brutaler um sich schlagen, je mehr sie unter Kritik geraten und sich bedroht fühlen. Ausgerechnet Papst Franziskus hat die Aufmerksamkeit auf das Phänomen des Klerikalismus gerichtet; das konnte dem Ex-Papst nicht gefallen. Also tritt er zu dessen Verteidigung an, was ihm zugleich zur Selbstverteidigung gerät. Die Felle schwimmen ihm davon und er greift zu erstaunlichen Mitteln. Ich greife hier sechs Punkte heraus.

1. Blickverengung
Der Ex-Papst projiziert die Bewegung der deutschen 68er auf die Weltkirche. Damals sei die sexuelle Gewaltepidemie katholischer Kleriker grundgelegt worden. Doch frage ich mich, wie Ratzinger dann die sexuellen Gewalttaten vor dieser Zeit und außerhalb Deutschlands erklärt: Wurden die Kardinäle Groer (Wien), Pell (Sidney), Barbarin (Lyon), McCarrick (Washington), wurde der päpstlich geförderte Frauenschänder und Polygamist Marcial Marciel (Mexico), wurden die ungezählten irischen, französischen, nord- und lateinamerikanischen Missetäter von den 68ern verdorben? Haben die 68er das Foto von Prof. Wojtyla in kurzen Hosen mit seiner Freundin vor dem gemeinsamen Zelt initiiert oder gar gefälscht? Schon diese Blickverengung zeugt von einem unerträglichen Realitätsverlust.

2. Sexualphobie
Bei einem 92-Jährigen verwundert es nicht, dass er verstärkt auf Erinnerungen aus seiner ersten Lebenshälfte zurückgreift. Umso bezeichnender ist die Auswahl der Schrecken, an die er sich erinnert. Dabei müssen das Thema Sex und dessen Bekämpfung zu traumatischen Erlebnissen geführt haben. So garniert Ratzinger seinen Rückblick
‑ mit dem betulich aufklärenden Film Helga von Oswald Kolle, dessen Wirkung er maßlos überschätzt,
‑ mit dem Plakat von zwei sich umarmenden „völlig nackten Personen“, die er in Regensburg am Karfreitag[!] 1970 erblickte,
‑ mit „Menschenmassen“ vor einem „großen Kino“, über deren Erwartungen Ratzinger sich wohl seine prüde-lüsternen Gedanken machte,
‑ mit der Behauptung, ein Bischof habe seinen Seminaristen „Pornofilme“ gezeigt.
Was das alles mit der sexuellen Gewalt von Priestern zu tun haben soll, bleibt sein Geheimnis. Für das Sexualverhalten, so seine Pauschalbehauptung, habe man keine Normen mehr zugelassen. Dabei übersieht er geflissentlich, wie hoffnungslos die Kirche damals bei der Entwicklung überzeugender Normen versagte.

Im Gegenzug entwirft er über die „Revolution von 1968“ ein wahrheitswidriges Schreckensszenario mit völliger sexueller Freiheit, der Akzeptanz der Pädophilie, Gewaltbereitschaft, seelischem Zusammenbruch, von Sexfilmen, die in Flugzeugen zu Gewalttätigkeit führten sowie zu Auswüchsen in der Kleidung, gegen die Schulleiter einschreiten mussten, weil diese ein Klima des Lernens zerstörten. Wenn, so Ratzingers fragwürdige Folgerung, sogar ein Geschlechtsverkehr öffentlich gezeigt wird, ist schließlich alles erlaubt. Doch er kommt aus der Generation, die mit enormem Einsatz Hildegard Knefs Film Die Sünderin (1951) skandalisierte, in dem für einige Sekunden eine nackte Frau (und dies vornehmlich von hinten) zu sehen war. Später hat er nichts hinzugelernt.

Dann, so seine weitere vermeintliche Schreckensmeldung, lebten in einem Seminar angehende Priester und Pastoralreferenten zusammen und nahmen an gemeinsamen Mahlzeiten teil. Man stelle sich vor, neben den Seminaristen aßen am selben Tisch auch „verheiratete Pastoralreferenten zum Teil mit Frau und Kind und vereinzelt Pastoralreferenten mit ihren Freundinnen“. Wirksam ergänzt der diese Phobie vor Frauen durch eine Klage über „homosexuelle Clubs“, die es in den Seminaren gegeben habe. Natürlich wird auch die Akzeptanz von Homophilie behauptet und unbestreitbar ist für ihn, dass unter solchen Umständen die Zahl der Priesterberufe dramatisch sinken musste. Geflissentlich übersieht er, dass jetzt endlich der Weg zu einem offenen und angemessen verantwortlichen Umgang mit eigener und fremder Sexualität möglich wurde.

3. Rechthaberei
Der ungewohnte Begriff „Garantismus“ ist zwar in gesellschaftstheoretischen Erörterungen zu finden, doch Ratzinger gibt ihm im Rahmen des Kirchenrechts eine ganz eigene Definition: „Es mussten vor allen Dingen die Rechte der Angeklagten garantiert werden und dies bis zu einem Punkt hin, der faktisch überhaupt eine Verurteilung ausschloss.“ Dass bischöfliche und kuriale Entscheidungen auch falsch sein könnten, eine Berufung also möglich sein muss, für solche Ideen der Appellation hat Ratzinger keinen Sinn. Dies kann bei seinem autoritären Weltbild nur die Schwächung hierarchischer, also gottgegebener Vollmacht bedeuten. Diesen Mangel will er mit einem Schritt beheben, dessen Logik den Lesern wohl kaum einleuchtet: Ab 2001 zieht er alle Fälle sexueller Gewalt an die Glaubenskongregation, also an seine eigene Behörde, und aus diesem Grund schafft er für klerikale Sexualdelikte die Kategorie Schwere Delikte gegen den Glauben. Sexueller Missbrauch, so seine Argumentation, habe wesentlich mit dem Glauben zu tun. Auf dieses Hilfsargument wird noch einzugehen sein.

Doch mit dieser Generalaktion rührt er an den wohl wundesten Punkt seiner kurialen Amtsführung. Ab 2001 verschwinden Tausende von Missbrauchsdelikten in einem römischen Archiv. Zugleich werden die Ortsbischöfe, die ihre Akten nach Rom schicken, zu strengstem Stillschweigen verdonnert, dies unter der Strafe der Exkommunikation. Ratzingers Behörde tut nichts. Aber statt jetzt endlich zu dieser Vertuschung von Tausenden von Vergehen zu stehen, erklärt er, diese Aufgabe habe die Kräfte der Glaubenskongregation überfordert, dies vor allem, weil man aus Gründen des „Garantismus“ auch eine Appellationsinstanz einrichten musste. Soll man lachen oder weinen? Der Ex-Papst will recht behalten und entzieht sich schließlich der Verantwortung mit der eleganten, aber nichtssagenden Bemerkung, Papst Franziskus habe weitere Reformen vorgenommen. Hat er vergessen, dass ihn die neu aufkochenden Skandale in vielen Ländern dazu zwangen? Dieser Versuch, sein strafwürdiges Generalversagen kleinzureden, ist nicht akzeptabel. Ich hoffe nur, dass die innerkirchliche Öffentlichkeit dieser Fehldeutung nicht auf den Leim geht.

4. Reaktionäre Theologie
Ob Ratzingers Rechthaberei psychologisch zu erklären ist, sei hier dahingestellt. Interessant für das Verständnis seines Textes Briefes hier sind seine theologischen Hintergründe. Nicht alle, die hier mitlesen, mögen diese Frage spannend finden, deshalb in aller Kürze nur dies: Wer bei der Meinung blieb, in allen für sie wichtigen Entscheidungen würden die Kirchenleitungen vom Heiligen Geiste gesteuert, musste den Einschnitt des 2. Vaticanums natürlich herunterspielen. Zu ihnen gehört spätestens seit 1968 Joseph Ratzinger, dies seit seiner Kooperation mit dem Wojtyła-Papst in wachsender, geradezu maßloser Intensität. So muss er die Aufbrüche der 1960er Jahre vorbehaltlos als Niedergang deuten und in diesem Text tut er es exzessiv. In seltener Unverfrorenheit wirft er sich zum wahren Gegenpol einer zerfallenden Theologie auf. Global spricht er vom „Zusammenbruch der katholischen Moraltheologie“. Er geißelt die „Kölner Erklärung“ (1989) als Aufschrei gegen das Lehramt, kritisiert in ungehöriger Weise den Moraltheologen Bruno Schüller SJ (1925-2007) und rechtfertigt die Enzyklika Veritatis splendor (1993) als Bollwerk gegen ein simples „der Zweck heiligt die Mittel“, was wiederum einer Verunglimpfung gleichkommt. Er spricht dieser kritisierten Moraltheologie genau das „moralische Minimum“ ab, für dessen Neuentdeckung sie sich unaufhörlich einsetzte. Amüsieren könnte man sich noch über Ratzingers Klage, in „nicht wenigen Seminaren“ hätte man Leser seiner Bücher „als nicht geeignet zum Priestertum angesehen“; dies passierte ausgerechnet dem theologischen Oberzensor zahlloser anderer theologischer Bücher. Den weniger amüsanten Tiefpunkt erreicht sein Schreiben mit den Ausführungen zum Moraltheologen Franz Böckle (1921-1991) der gegen Veritatis splendor ein Buch habe schreiben wollen. Ich zitiere den empörenden Satz des Großinquisitors: „Der gütige Gott hat ihm die Ausführung dieses Entschlusses erspart; Böckle starb am 8. Juli 1991.“ Wer in so primitiver Weise Gott zum Bundesgenossen seiner Überzeugungen degradiert, hat jedes Recht auf weiteres Gehör verspielt. Glaubt der Ex-Papst wirklich, dieser Rechthabergott habe ihm selbst zum Segen der Kirche ein längeres Leben geschenkt und den Papstkritiker bestraft?

5. Vergessen der Opfer
Es gibt noch einen weiteren Grund dafür, dem missglückten ex-päpstlichen Text jede Autorität abzusprechen. Was inzwischen sogar die meisten Bischöfe lernten, hat Ratzinger noch immer nicht verstanden. In dieser Selbstverteidigung interessieren ihn die Opfer noch immer nicht. Damit sei nicht vergessen, dass er in seiner Amtszeit Opfer anhörte und mit ihnen sprach. Doch eine bleibende Wirkung haben diese Begegnungen nicht hinterlassen. Zwar kommt an einer Stelle eine Frau zu Wort, die ihm von ihren Missbrauchserfahrungen erzählte. Dabei geht es aber nicht um die Demütigungen, die sie erfuhr, sondern um den blasphemischen Charakter der vom Vergewaltiger ausgesprochenen Worte: „Das ist mein Leib, der für dich hingegeben wird“ sowie um das Verhältnis dieser Frau zur Eucharistie. Mehr hat der Erfinder eines neuen Rechtstitels nicht zu sagen. Dieser benennt, wie schon gesagt, Delikte gegen den Glauben und der genauere Zusammenhang zeigt: nicht die Zerstörung menschlicher Integrität und ganzer Menschenleben, sondern die Schändung des Priester- oder Beichtsakraments standen und stehen für ihn im Mittelpunkt seiner Sorgen. Dieses Denken ist auf die sexuelle Reinheit, die moralische Körperdistanz, die sakramental definierte Heiligkeit von Priestern, auf die Heiligkeit der Eucharistiefeier fixiert. Bis heute hat das Kirchenrecht keinen systematischen Ort, der die Verletzung von Menschenrechten thematisiert. Der Rechtstitel Verletzung der Menschenwürde kam dem Papst nie in den Sinn. Die wiederholten Vorschläge, im Kirchenrecht ein menschenfreundliches Grundgesetz zu etablieren, wurden konsequent blockiert. Dies interessiert den Ex-Papst auch heute noch nicht, er kümmert sich nicht um das Schicksal der Betroffenen, sondern um die Würde der Sakramente. Dieser Gegensatz ist unerträglich.

6. Ein destruktiver Glaube
Im dritten und letzten Teil seines Schreibens spricht Ratzinger von der Abwesenheit Gottes und dem Verlust des Glaubens, die den moralischen Niedergang der Kirche (die Pädophilie von Priestern eingeschlossen) ermöglichten. Niemand möchte diesen frommen Worten einfach widersprechen, höchstens dies eine hinzufügen: In ihrer Allgemeinheit sind diese Ausführungen nichtssagend, in ihren Folgen unverbindlich und in ihrer Kirchennähe, vorsichtig gesagt, höchst missverständlich. Wer die Abwesenheit Gottes mit dem Sterben der römisch katholischen Kirche identifiziert, hat zudem nicht begriffen, welches Schindluder diese selbstgerechte Institution mit der Glaubenssehnsucht von Menschen getrieben hat. Er hat auch noch nicht begriffen, in welchem Ausmaß Vertreter dieser Kirche im Namen Gottes Menschenleben zerstörten, die danach allein gelassen und der Hölle ihrer Qualen ausgesetzt blieben.

In dieser von Selbstlob und Fremdverachtung getragener Selbstverteidigung wird ein Gott präsentiert, der sich gerade nicht um gequälte und innerliche zerstörte Menschen, sondern um eine selbstgewisse Hierarchie kümmert. Ratzinger ist nicht der einzige, der in diesen Tagen dazu aufruft, sich um einen erneuerten Gottesglauben zu kümmern statt sich in Kirchenkritik zu erschöpfen. Ihnen allen sei gesagt: Mit einem Gott, dem der äußere Ruhm seiner Kirche wichtiger ist als die Heilung von Menschen, möchten ich und viele andere nichts zu tun haben. Da nützen auch schöne Worte von Romano Guardini nichts, ebenso wenig Ratzingers Drohung mit einem Teufel, der alles madig mache, der alle „Gerechtigkeit als Schein“ entlarven“ wolle, die „ganze Schöpfung schlechtrede“.

Wieder verunglimpft er damit seine Kritiker und sollte sich überlegen, wie viele und wie vieles er im Namen der Kirche selbst schon schlechtgeredet hat. Zu welchen Schlüssen er in Sachen Satan dabei kommt, muss er mit sich selbst ausmachen, denn in der vergangenen Woche war es nicht der Satan, sondern der Ex-Papst, der die Sache des Glaubens massiv verdüstert hat. Indem er, der immer Weißgewandete, das Böse beschimpft und sich als den Guten stilisiert, betreibt er eine rabenschwarze Theologie, die von misstrauisch bösen Projektionen getrieben wird und sich auf Gott beruft, um vom Menschen abzulenken. Wer entdecken will, welchen Geistes der Glaube an Gott nicht sein sollte, studiere dieses toxische, von Ressentiments erfüllte Dokument. Dass ausgerechnet Kardinal Müller es als intelligent empfiehlt, bestätigt nur die Bedenken, die empörte Kritikerinnen und Kritiker äußern.

(Der Text von Ratzinger wurde am 11.04.19 im Klerusblatt veröffentlicht und ist über das Internet zugänglich.)

 

Letzte Änderung: 16. Januar 2020