In der Angstfalle

Der Vorwurf des Fundamentalismus ist schnell gemacht. Aber welche Religion ist frei davon?

„Die Zeit ist aus den Fugen.“ Seit dem 7. Januar, dem Tag der Pariser Attentate, denke ich immer an diese Zeile aus dem „Hamlet“ von Shakespeare. Bis dahin registrierte ich, letztlich gefasst, die Schreckensberichte aus dem Irak, aus Syrien, Afghanistan oder Pakistan. Die New Yorker Anschläge von 9/11, zweifellos ein Höhepunkt terroristischer Gewalt, schienen ein singuläres Ereignis zu sein. Morde in Madrid (2004) und London (2005), selbst die Grausamkeiten in Nigeria nahm ich in der Hoffnung hin, dass sich solche Taten nicht wiederholen. Doch Paris hat uns nun näher an politische Abgründe geführt. Unsicherheit, Angst und Wut greifen in vielen Ländern der Welt um sich. Die Millionenauflage des Satireblatts „Charlie Hebdo“ steigert unsere Solidarität mit den Mordopfern – und zugleich die Wut in arabischen Ländern. Und dann die Demonstrationen der „Pegida“ in Dresden ‑ eine politische Krise von innen trifft auf Bedrohungen von außen.

Das Gemisch von Brandauslösern und -beschleunigern kultureller, politischer und psychologischer Art ist hochexplosiv. Islamismus und Fundamentalismus erscheinen uns wie die zwei Seiten derselben Medaille. Aber genau das ist ein gefährlicher Irrtum, denn ihre Wurzeln sind unterschiedlich: Der Islamismus hat viel mit tatsächlicher Unterdrückung zu tun. Er erwächst aus der profanen Geschichte von Niederlagen und erlittener Gewalt, von politischer Missachtung und einem als Hilfe verbrämten Imperialismus. Afghanistan und Irak sind deutliche Beispiele. Wer lässt sich schon gern zur „Achse des Bösen“ zählen? Der Fundamentalismus hingegen lebt aus religiösen Tiefenschichten: Es geht (im amerikanischen Protestantismus gut zu beobachten) um die Rückbesinnung auf den ursprünglichen Glauben, die Abwehr von Pluralismus, keineswegs vor allem darum, Gewalt zu legitimieren. Fundamentalismus gehört zur Geschichte aller Religionen, der monotheistischen zumal, also des Judentums, Christentums, des Islam.

Man kann ruhig zugeben: Auch der friedfertige Islam hat eine Gewaltgeschichte und unterhält zum Koran ein fundamentalistisches Verhältnis, denn dort sind geschichts- und kulturkritische Auslegungen verpönt. Noch heute bestrafen die Saudis einen Islamkritiker mit 1000 Stockhieben und steinigt in Pakistan ein Vater seine sexuell selbstbestimmte Tochter straflos zu Tode. Auf kritische Autoren werden Kopfgelder ausgesetzt. Mit solchen skandalösen Rechtsgrundsätzen und Praktiken identifizieren sich Terroristen und Selbstmordattentäter. Im Nahen Osten macht die Gewalt auch vor den muslimischen Geschwistern nicht halt. Ich kann da nur Abscheu empfinden.

Doch die christlichen Gewaltspuren sind damit nicht vergessen. Wer die arabische Selbstzerfleischung heute anprangert, tut gut daran, sich der europäischen im Dreißigjährigen Krieg zu erinnern. Drakonische Strafen gegen Islambeleidiger und unbotmäßige Frauen haben ihre Entsprechung in den christlichen Scheiterhaufen der Vergangenheit und im inquisitorischen Geist derer, die in der Bibel ‑ bis heute ‑ den Buchstaben statt des Geistes suchen. Die Kirchen jubelten im 18. Jahrhundert der Aufklärung nicht gerade zu, und wer die Gewalttaten weniger Muslime als typisch islamisch diffamiert, hat der Behauptung wenig entgegenzusetzen, der Nationalsozialismus sei die Ausgeburt einer christlich begründeten Menschenverachtung.

Es ist unverzichtbar, Selbstkritik zu üben. Das allein reicht allerdings nicht, wenn es folgenlos bleibt. Politiker sollten sich auf die Frage konzentrieren, wie sie bei Gewaltausbrüchen zur Deeskalation beitragen können. Zugleich ist aber der eigene Fundamentalismus zu entlarven, denn er vergiftet jede Annäherung. Der eigene Fundamentalismus verführt dazu, auch im Islam vor allem die gewaltbereite, politisch-religiöse Ideologie zu sehen. Da wird die Welt zur überdimensionalen Bühne des internationalen Terrorismus, Deutschland zur Spielwiese von Salafisten, da werden die Moscheen zum Schonraum für „Hassprediger“ wie Pierre Vogel. Dass Islamisten viel Wut äußern und Hass freisetzen, lässt sich nicht leugnen. Doch woher kommen sie, und warum lassen sich junge Menschen aus dem EU-Raum dazu verführen?

Statt unvermittelt auf das Wirken dieser Prediger zu starren, sollten wir uns an das Phänomen des „Kinderkreuzzugs“ von 1212 erinnern, als sich Tausende von jungen, besitz- und hoffnungslosen Menschen (fälschlicherweise „Kinder“ genannt) zu ihrer plan- und ziellosen Wallfahrt nach Jerusalem aufmachten. Da schöpfte eine ort- und zukunftslose Jugend aus religiösen Quellen Gemeinschaftsgefühl und maßlose Begeisterung. Aller Frust richtete sich schon damals gegen das muslimische System. Offensichtlich stand und steht der christliche Fundamentalismus dem Islamismus in nichts nach.

Obwohl sich das Christentum als Religion der Nächstenliebe definiert und der Islam als Religion der Barmherzigkeit und Hingabe, versagen in ihren Krisen die Kräfte der Selbstkritik. Warum? Nicht in den Religionen, sondern in den Menschen liegen die Wurzeln des Fundamentalismus. Bei den Menschen, die ihren Glauben nicht ganz in ihr Leben lassen. Christentum und Islam versagen nämlich immer dann, wenn ihre Gläubigen den Dialog blockieren, es also nicht wagen, sich mit Kopf und Herz anderen Überzeugungen zu stellen. Er beginnt als Haltung, als Selbstgerechtigkeit und Empathiemangel, lange bevor er in monströse Handlungen und Bewegungen auswuchert. Schon wer im Herzen Mitmenschen verachtet, gilt als Totschläger (1. Johannes 3,15). Christen wie Muslime waren und sind konstant überfordert. Wir Christen haben unsere Glaubensüberzeugungen zur Rechthaberei pervertiert. Wie entlastend wirkt es da, wenn wir diese Fehlhaltung auf den Islam projizieren und in ihm die Bruchstellen entdecken konnten, an denen unser eigenes Glauben krankt. Bis heute ist in den Kirchen der Siegeszug der Aufklärung noch nicht verdaut. Der Pluralismus verunsichert viele Christen noch immer zutiefst. Die meisten Anzeigen gegen „Charlie Hebdo“ kamen bislang aus katholischen Kreisen. Es ist die Angst vor anderen Überzeugungen und Kulturen, seien sie säkular oder religiös, die sich zu Misstrauen verfestigt hat. So sehen uns jedenfalls unsere Kritiker. Zu Recht?

Wer auf die Angst um die eigene Identität fixiert ist, wird blind für die Angst der anderen, der von uns geängstigten und verletzten Verlierer. Über ihre Scham und deren soziale und politische Folgen haben wir noch nicht ausreichend nachgedacht. Noch immer sind zu viele Christen auf sich selbst, auf ihr Seelenheil fixiert. Der einst explosive Rechtfertigungsgedanke Martin Luthers ‑ Gott hat uns befreit ‑ verkümmerte zu einer wehleidig ichbezogenen Gottessuche, statt uns zur leidenschaftlichen Bejahung anderer zu befreien.

In dieser religiösen Mangelsituation dreht sich die Gewaltspirale ungehemmt weiter. Das Spiel um die Karikaturen in „Charlie Hebdo“ zeigt es. Für den Westen gelten sie, unabhängig von Inhalt und Qualität, als Krönung demokratischer Freiheit. Dass sie die Betroffenen verletzen, wurde in diesem Rausch der Selbstbestätigung verdrängt. Die Verletzungen gingen ursprünglich von den „Überlegenen“, den „Aufgeklärten“ aus. Selbst in der Losung „Je suis Charlie“ liegt etwas Unaufgeklärtes und Selbstgerechtes. Von Empathie und wirklicher Verständnissuche ist vorläufig keine Rede. So symbolisiert dieser Karikaturenstreit für beide Seiten das Rad der Demütigungen, das sich unermüdlich dreht.

Wie kommen wir weiter? Wir sollten alle kulturellen, politischen, psychologischen und pädagogischen Strategien endlich mit leidenschaftlichen Gesprächen und Begegnungen untermauern, in denen offen und auf Augenhöhe über Versagen und Möglichkeiten beider Seiten gestritten wird. Ein wichtiges Thema dabei: die Gefahr des Fundamentalismus in der eigenen Religion. Und auch die religiösen Gefühle stehen zur Debatte.

Kirchenleitungen und Gemeinden, Bildungshäuser und Theologen sollten die Ersten sein, die sich auf diesen Weg der Verständigung stürzen und auch die vielen bestehenden Projekte in die Öffentlichkeit tragen.

Chrismon 03/2015, 48f.

Letzte Änderung: 21. September 2017