Worte zur Corona-Krise 5: Im Griff der Natur

Liebe Freundinnen und Freunde,
Hilflose vor den Gesetzen des organischen Lebens!

In diesen Tagen entwickelt die Natur in Deutschland eine strahlende Pacht. Innerhalb weniger Tage legen sich die Büsche ein grünes Gewand zu und umgeben uns blau und rosa schimmernde Blumen. In den Gärten blühen Osterglocken und Tulpen auf, am Grab Hölderlins (Tübingen) etwa 900 an der Zahl.

Jetzt wäre die Zeit zu singen: „Geh‘ aus, mein Herz, und suche Freud …!“ Natürlich können wir zu zweit oder im Familienverband die Wohnung verlassen, doch rechte Freude kommt nicht auf, denn diese Natur, die unser Herz erfreut, hält uns zugleich im tödlichen Griff und sie wird uns auch noch auf unabsehbare Zeit in Atem halten, die lange vergessene und verdrängte Gefahr eines unscheinbaren und hinterhältigen Virus, das ganze Gesellschaften, die gesamte Menschheit in Angst hält und viele mit dem Tode bedroht. Da hilft es auch nicht, dass die Medien das Corona-Virus als lustige Kugel mit kecken Pilzchen und poppigen Farben darstellen und geradezu zum identitätsbildenden Logo verschiedener TV-Sender geworden ist. Diese Spaßkugel streut eine zynische Botschaft aus: Wir zerstören die Grundsicherheit, die Ihr für ein gutes Zusammenleben benötigt; niemand kann mir entkommen.

1. Macht sie euch untertan?

Reden wir beim Frühling und bei diesem Virus von derselben Natur? Gewiss, wer von Viren spricht, hat eine andere Wirklichkeit vor Augen als wer den Frühling unserer Gärten und Wälder besingt. „Natur“ ist ein schillerndes Wort. Meist wird es den menschlichen Leistungen gegenübergestellt, die wir mit Begriffen wie Kultur, Zivilisation und Technik umschreiben. Bis vor kurzem bedeuteten sie geradezu Naturbeherrschung, einen Herrschaftsakt über die Natur. Bis in die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts hinein galt dies auch lange als plausibel, denn wir Menschen hatten uns gegen ihre Bedrohungen – Tiere oder Unwetter, Erdbeben oder Überschwemmungen ‑ zu schützen und ihr Nahrung und Lebensräume abzuringen. Deshalb galt in christlichen Kulturräumen unbestritten das biblische Motto: „Füllet die Erde und macht sie euch untertan.“ (Gen 1,28).

In einer von Wissenschaft und Technik geprägten Moderne haben wir dieses Ziel erreicht. Effektiv traten sie in den Dienst der menschlichen Herrschaft. Inzwischen roden wir riesige Waldregionen, versiegeln die Erde mit Beton, stoßen nach Belieben Tunnel durch Gebirge und überwinden Täler mit gewaltigen Brücken, bewegen uns in wenigen Stunden von Kontinent zu Kontinent, richten uns ohne Zeitbegrenzung in Weltraumstationen ein und landen, wenn es denn sein muss, auf dem Mond. Die Weltraumsonde Voyager 1 ist nach fünf Jahren in den interstellaren Raum eingetreten, heute über 22 Milliarden km von der Sonne entfernt und sendet noch immer Messdaten. Wir haben die gesamte Erde mit dichten Kommunikationsnetzen überzogen, spektakuläre Ereignisse können wir in Jetztzeit erleben. Nicht erwähnt seien hier die ungeheuren naturwissenschaftlichen und medizinischen Fortschritte. Das Durchschnittsalter der Menschen steigt unaufhörlich. Selbst die Erforschung des Gehirns bringt täglich überraschende Fortschritte und vor allem: früher tödliche Krankheiten sind besiegbar geworden.

Die Übermacht der Menschheit über die Natur ist inzwischen so übermächtig, dass wir beginnen, sie zu unserem Nachteil zu verändern. Wir haben sie zur Ressource für unsere Bedürfnisse degradiert. Deshalb sind Klimaschutz und ein nachhaltiger Umgang mit ihr zur Überlebensfrage geworden. Wer nämlich die Erde vernichtet, vernichtet die Menschen mit ihr.

2. Ein Teil von ihr

Doch über Nacht ließ die Corona-Krise dieses Leitmotiv unseres neuen Handelns in den Hintergrund treten, denn unversehens tritt uns diese „Natur“ in Gestalt eines Virus wieder machtvoll und bedrohlich gegenüber. Wie das Corona-Virus zeigt, stehen wir nicht über ihr, vielmehr sind wir ein Teil von ihr, in unseren existentiellen Grundlagen von ihr abhängig, hilflos; ihre vollkommene Beherrschung war bloßer Schein. Ausgerechnet eine tödliche und unaufhaltsam voranschreitende Infektion, die zunächst wie eine Grippe aussah, überrollt uns. Für die Wissenschaftsgläubigen unter uns ist das besonders demütigend, galten doch die großen Pocken- und Pestseuchen bislang als Zeichen eines unaufgeklärten Mittelalters bzw. einer vorwissenschaftlichen Medizin, die sich in der Anwendung einiger Heilkräuter erschöpfte. Inzwischen haben wir über die Wirkmechanismen viraler Infektionen genaueste Erkenntnisse, und doch überrollt uns jetzt unvorbereitet eine aktuelle Pandemie.

So sind wir wie in vergangenen Geschichtsperioden um nackte Selbstrettung bemüht, weil die Natur uns nicht gegenübersteht, sondern in uns lebt. Wir sind ein Stück von ihr und ihren Lebensgesetzen ausgeliefert. So legt es sich nahe, in diesen Tagen uns der Natur in neuer Bescheidenheit anzunähern, über sie zu meditieren und uns darüber klar zu werden, wie tief wir in sie verankert sind. Da gibt es nicht nur die mechanischen Naturgesetze, die unseren Alltag bestimmen und mit denen wir vernünftig umgehen können. Auch wird das organische Leben nicht nur durch hochkomplizierte Informationsprozesse, Hormone und Botenstoffe gesteuert, von denen die Qualität einer jeden Stunde abhängt. Jeder lebende Mensch trägt in sich eine höchst individuelle Ausführung seiner gesamten Evolutionsgeschichte. In uns allen vollzieht sich ein hochkomplizierter Kosmos, ein unüberschaubares System von abhängigen, aber jeweils individuellen Lebenselementen, den Chromosomen, die unser Erbe weitertragen, einen Schatz von individuellen Erfahrungen, die uns bestimmen, von selbständigen oder halb-autonomen Lebewesen, die unsere Körperorgane, unsere Haut, den Rachen oder unseren Darm zu Billionen bevölkern und ein organisches Überleben überhaupt ermöglichen. Dazu gehören die Viren, die sich an menschliche Zellen anlagern und mit ihnen Symbiosen eingehen.

Diese hochkomplexen Interaktionen verlaufen wunderbar, solange sie organisches Gleichgewicht instand halten, das sich Jahrzehnte lang erhält. Wir sind ihrem Zerstörungswerk aber ausgeliefert, sobald auch nur ein Teilungsprozess, ein Bazillus oder ein Virus aus dem Ruder läuft, uns krank macht oder den Tod bringt.

An diesem Punkt schlägt das Staunen über diese ausgeklügelte Kooperation in nackten Schrecken um. Erinnerungen an frühere tödliche Epidemien sind überliefert. Möglicherweise beschleunigte eine Pandemie im 6. Jahrhundert den Untergang des weströmischen Reichs. Mit ihren vermutlich 25 Millionen Toten blieb die Pestwelle des Schwarzen Todes (1347-51) ebenso in Erinnerung wie zahlreiche andere Pestwellen, die unsere Lebensräume immer wieder heimsuchen. Doch trotz gefährlicher Epidemien seit rund hundert Jahren (Spanische Grippe 1918/20, Hongkong-Grippe 1968, SARS- und MERS-Epidemie 2002/03 bzw. 2012, Schweinegrippe 2009/10, Ebola-Fieber 2018) wähnten wir uns dank eines hochmodernen Gesundheitssystems sicher. Bislang wurden nur Schwellenländer oder medizinisch vernachlässigte Staaten betroffen. So bestärkte uns jede dieser Infektionswellen in unserer Unverwundbarkeit, obwohl die Fachwelt es besser wusste.

Doch wir haben uns getäuscht. Wir lebten in einem überwältigenden Sicherheitsgefühl, das der besiegten Natur nur wenig schuldet. Als Naturschutz gilt schon, wenn ich im Jahr nur einmal statt zweimal in den Urlaub fliege. Jetzt meldet sich dieses unglaublich komplexe und labile Fließgleichgewicht, das wir Leben nennen, zurück. Es ist ohnehin darauf programmiert, irgendwann in sich zusammenzubrechen. Sein Weiterleben trägt es nicht in sich, sondern in seiner Fähigkeit, sich fortzupflanzen, und das Großunternehmen Kultur lässt sich nur als die menschliche Reaktion auf diese Grenzerfahrung verstehen. Jahrhunderte lang ergänzte sie die vergängliche Welt mit ins Unendliche gesteigerten Idealen. Bisweilen hat sie unsere Lebenstriebe, etwa die Sexualität, jene Brennkammer neuen Lebens, als Brutstätte des Verderbens tabuisiert. Tödliche Infektionen wurden als Strafe Gottes interpretiert, die die Erde in der Gestalt von Krieg, Gewalt und Hungersnot überfallen. Judentum, Christentum und Islam teilten diese Auffassung.

Seit dem Siegeszug der Naturwissenschaften hat sich dieses Verhalten geändert. Sie rückten der Natur rational zu Leibe, destillierten aus dem Gesamtgeschehen einzelne Kausalketten heraus und formalisierten sie zu einem berechenbaren System von „Naturgesetzen“. Doch auch sie können oft nicht auf übergreifende, geradezu mythische Deutungen verzichten. So wurde die Evolution zur alles erklärenden, quasigöttlichen Leitkategorie, die im Prinzip alles – Gestalt und Verhalten, Aggressionen und Empathie erklären kann.

3. Die Demütigung

Trotz aller Hoffnungen wurden weder die Genese des Menschen noch erst recht die Baupläne der einzelnen Menschen berechenbar oder vorhersagbar. Es besteht noch immer eine merkwürdige Diskrepanz zwischen einerseits den naturwissenschaftlich arbeitenden Sachkennern, die sich in der Regel durch eine große Bescheidenheit auszeichnen, und andererseits einem allgemeinen, von Selbst- und Siegesbewusstsein trotzenden Bewusstsein. Während die Sachkenner/innen nur zu gut um die Fragen wissen, die sich mit jeder neuen Erkenntnis vermehren, wiegt sich das allgemeine Bewusstsein noch immer in der Gewissheit, im Prinzip hätten wir die Natur (unsere eigene organische Natur eingeschlossen). Es brauche nur noch etwas Zeit, bis wir das Lebensalter noch weiter hinausschieben und neu auftauchende Krankheiten, Krebs und Demenz eingeschlossen, in den Griff bekommen, sogar die psychischen Unwägbarkeiten bei wachsenden neurologischen Kenntnisständen regulieren.

Deshalb gibt es auch jetzt zwei Möglichkeiten, auf diese Demütigung der gesamten Menschheit durch den Corona-Virus zu reagieren. Die eine zeigt sich in einer kämpferisch-trotzigen Kriegsansage: Wir üben eine Zeitlang Selbstdisziplin und die Virologie treibt ihre Forschungsarbeit voran, bis wir diese Menschheitsgeißel in der Stunde Null besiegen. Wir zeigen unserer Natur, dass wir sie zu beherrschen wissen. An sich ist gegen diesen Siegeswillen nichts zu sagen. Doch wir würden uns erneut in unserem Siegeswahn verrennen, wenn wir nicht eine neue Bescheidenheit lernten. Gleich, ob und wie wir diese Infektionswelle besiegen, wir wissen nicht, wann die nächste kommt: Die nächste Infektionswelle, die nächste Atom- oder eine Klimakatastrophe, die wir nicht mehr beherrschen können.

Religionen, auch die christliche Religion hat in früheren Jahrhunderten gemäß ihren weltanschaulichen Voraussetzungen reagiert. Natürlich griff man damals schon auf die Heilkräfte der Natur zurück und erkannte den Sinn der Quarantäne. Aber dies richtete nicht viel aus. Gott aber konnte nach Belieben die Geschichte der Menschen steuern und in die Gesetze der Natur eingreifen; meine Großmutter zündete während eines Gewitters noch eine Kerze an, als die Häuser schon von Blitzableitern geschützt waren. Dazu war der Kosmos zwischen Himmel und Erde voll von Dämonen, die im Sinne von Gottes Willen agierten, der auch Strafen verfügte und Böses zuließ. Pestepidemien wurden so zu einer der bevorzugten Ruten, mit denen Gott auf die Bosheit der Menschen reagierte. Dies konnte die Situation der Gestraften nur noch verschlimmern, denn oft galten sie als die von Gott Gestraften, ihre Verjagung aus den Städten und Dörfern als göttlich legitimierter Strafvollzug, den man allenfalls mit Bußübungen, Gebet, die Anrufung spezialisierter Pestheiliger, des Sebastian, Rochus und anderer (etwa 20 an der Zahl) oder durch Gelübde beenden konnte.

Seien wir froh, dass Zeit des Aberglaubens hinter uns liegt. Was aber blieb uns stattdessen? Die kollektive Erinnerung hat die Zuflucht zu Naturwissenschaften und Medizin, also Medikamenten und eine strikte Hygiene an diese Stelle gesetzt. Doch sie alle haben ihre Grenzen. Gewiss, wir vertrauen unserer Selbstdisziplin, die uns einen gesunden Lebensstil ermöglicht, unserer Medizin und Pharmakologie, unserer Kenntnis des organischen Lebens und der Natur überhaupt. Sie aber sind nie gegen Enttäuschungen gefeit und diese Lücke wird in aller Regel verdrängt. Das Ideal der Naturbeherrschung kann ebenso wenig als Ersatz dienen wie eine romantische Naturverehrung.

Was also gilt? Weder unbedingte Naturbeherrschung noch grenzenlose Naturverehrung sind die Lösung. Vielmehr geht es um ein grundlegendes Vertrauen, das sich des Reichtums bewusst wird, den uns die Natur bietet und aus dem wie täglich leben und ein erfülltes Leben führen können: Farben, Düfte und Musik, das sinnliche Vergnügen der Begegnung und die lustvolle Umarmung sowie das Wissen um die Bedeutung dieser Verankerung: Aus dem Jungbrunnen dieser Reize lebt unsere gesamte Erfahrungswelt; ein jedes Kind kann nur durch körperliche Erfahrungen des Angenommenseins zu einem glücklichen Menschen werden.

4. Vertrauen und Respekt

Doch dazu gehört auch – Kriterium der menschlichen Reife – die nüchterne Gegenerfahrung: die Gesetze und umfassenden Ereignisse dieser Natur sind von uns nicht steuerbar. Für uns bereit halten sie auch Krankheit und Tod, den unbesiegbaren Krebs und unvorhersehbare Unglücksfälle, geologische und klimatische Katastrophen, Tsunamis und Erdbeben. Obwohl die Naturgesetze globalen streng berechenbaren Strukturen und Prozessen folgen, bieten sie nur statistische Regeln. Die Sinnregeln, die wir überall entdecken und erstellen, werden vom unvorhersehbaren Einzelereignis, dem genauen Wachstum eines Baumes oder der individuellen Charakterstruktur von Einzelnen durchbrochen: wir sprechen von glücklichen oder unglücklichen Zufällen, die Wissenschaft von chaotischen Systemen.

Ein spektakulärer, äußerst bedrohlicher Zu- oder Unfall ist das Virus COVID 19. Es hat eine Pandemie ausgelöst. Was ist zu ihm zu sagen? Der Philosoph Paul Ricoeur entdeckte sozusagen die Ur-Erzählung einer solchen Epidemie. Er untersuchte den Mythos von Ödipus, dessen Herrschaft in der griechischen Stadt Theben eine unbezwingbare Pest auslöst. Als Grund kommen schließlich die tragischen, aber schweren Verfehlungen ihres Königs Ödipus zutage, der (ohne es zu wissen) seinen Vater tötet, seine Mutter heiratet und mit ihr Kinder zeugt. Der Sündenbock ist gefunden und erst als seine Verbrechen gesühnt sind, wird der Pestbann gelöst. Damit wird eine bekannte, aber unselige Reaktion beschrieben. Das angeborene Gerechtigkeitsgefühl der Menschen fordert, dass jedes Unglück seine Ursache hat und oft verortete man sie in Menschen, die sich nicht wehren konnten, gleich ob es missbildete Menschen, vermeintliche Hexen oder verachtete Juden waren. Dieses Sündenbockdenken drang auch in die christliche Tradition ein. Für viele sind die aktuellen Unglücksbringer Islamisten oder Flüchtende, die Linken, Homosexuellen oder andere, die sich den allgemeinen Normen nicht anpassten. Im christlichen Raum wurde der Tod zum Sold der Sünde, anders gesagt: Hätten Adam und Eva nicht gesündigt, hätte kein Mensch sterben müssen.

In meiner Kindheit sang ich noch zur Erinnerung an die Pest in meinem Heimatdorf, wie Gott sein Volk „mit herben Geißelstreichen“ züchtigte und den Tod diese Geißel über das Land schwingen ließ. Das beeindruckte mich sehr. Doch die Aufklärung hatte schon für Abhilfe gesorgt; allmählich verlor unser Gottesbild seine archaischen Züge. Zwar war Gott nicht mehr der wütende Rächer, vielmehr wurde jetzt die Natur zur Rächerin fehlerhaften Verhaltens. Jetzt war sie es, die Krankheiten, Erdbeben, Hungersnöte und schwere Sturmfluten schickt.

Auch heute hat diese Deutung wieder etwas Verlockendes. Auffallend viele verbinden die aktuelle Pandemie mit Vorwürfen gegen unser gewaltsames Naturverhältnis. Seien wir ehrlich, diese Pandemie hat nichts mit der Ausbeutung unserer Natur zu tun. Doch die Lehre, die wir aus den Ereignissen ziehen sollten, reicht viel tiefer. Sie lässt uns über die Bejahung der Natur nachdenken, die schließlich unsere Existenz trägt. Verbundenheit mit ihr heißt Verbundenheit mit uns selbst, auch im Ja zum Risiko, das jedes Leben in sich trägt. Die Natur ist uns zugetan, wir leben und bewegen uns in ihr. In unserem Alltag können wir ihr vertrauen; die Menschheit lebt in ihr vielleicht schon 6 Millionen Jahre. Dennoch ist dieses Vertrauen von einem tiefen Respekt getragen, der unseren Sinnerfahrungen eingeimpft ist, auch die Gotteserfahrung unserer religiösen Mitmenschen prägt. Es gibt ebenso wenig den „lieben Gott“ wie die einfach beseligende Natur. Zu diesem Naturvertrauen gehört auch, dass wir uns nicht in eine idyllische Vertrauensseligkeit einlullen lassen.

5. Weg ins Offene

Leonardo Boff, der große Nestor lateinamerikanischer Theologie, hat schon 2009 ‑ also sechs Jahre vor Papst Franziskus ‑ ein theologisches Grundlagenwerk für ein neues Naturverhältnis geschaffen und sich vor wenigen Tagen neu dazu geäußert. Er weist neu darauf hin, dass wir nicht als Individuen, sondern als Menschen in Beziehungen geboren sind, voneinander abhängig, füreinander verantwortlich und schließlich mit der Tiefe eines Selbst ausgestattet, in dem wir dazu fähig sind, unsere großen Sehnsüchte und Träume aufzuspüren und zu pflegen. Aus der gegenwärtigen schockierenden Naturerfahrung erwartet Boff eine „biozentrierte, durch neue emotionale Allianzen gestärkte Welt“.

Wir gehen – auch das gehört zu unserer Natur ‑ in der aktuellen Phase der Geduld, der Selbstdisziplin und der gesellschaftlichen Brüche verschiedene Wege. Viele führen ihre Familien durch hohe Belastungsproben, ängstigen sich vor dem Verlust ihrer materiellen Existenz und nicht wenige sind mit dem Tod von Angehörigen oder ihrer eigenen Todesgefahr konfrontiert. Gleich, ob wir diese Phase in einem ausdrücklich religiösen Bezugsrahmen erleben oder nicht, wir müssen (und dürfen) alle zur Kenntnis nehmen, das das Ende unseres Lebens immer auch einen Eingang in den Schoß der Natur bedeutet. Aus dieser Tiefenerfahrung heraus verstehe ich auch das breite Echo, das in den vergangenen Wochen das allabendlich gesungene Abendlied von Matthias Claudius vielerorts gefunden hat: Der Mond ist aufgegangen. Mich persönlich beschäftigt, dem aktuellen Orientierungsverlust angemessen, das kurze, schwer zu ergründende Gedicht von Paul Celan:

FADENSONNEN
über der grauschwarzen Ödnis.
Ein baum-
hoher Gedanke
greift sich den Lichtton: es sind
noch Lieder zu singen jenseits
der Menschen.

Letzte Änderung: 9. Mai 2020