Der Ex-Papst kartet nach – Welche Rechnung will er begleichen?

Höfische Sitten im Schattenvatikan, die komplizierter nicht sein könnten. Ein Ex-Papst nimmt „in liebenswürdiger Weise“ die Einladung zur Diskussion eines offiziellen Vatikanischen Papiers auf, das sich im Dez. 2015 zum Verhältnis von Christentum und Judentum zu äußern geruhte. Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt. (Röm 11,29)[1] Cardinal[sic!] Koch „durfte“ den geheimnisvollen Herrn besuchen und dessen schriftliches Diskussionsergebnis in Empfang nehmen, um es „eingehend“ zu studieren und später um die Veröffentlichung dieses Dokuments zu bitten. Der Herr Cardinal, Präsident der Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum, ist „dankbar“ dafür, dass er den Ex-Papst „überzeugen konnte, dazu seine Zustimmung zu geben.“ Offensichtlich hat dieser Aufwand seine Wirkung erzielt, denn trotz gegenteiliger Versprechen kann sich der schweigende und betende Mönch Ratzinger mal wieder quasi offiziell äußern; das Wort des ämterlosen Pensionisten wird seine Wirkung gewiss nicht verfehlen.

Wer hinter die kurialen Vorhänge blickt, muss zur Überzeugung kommen: Der Ex-Papst war mit der letzten Verlautbarung zum Judentum wohl nicht glücklich. Man kann dieses ungute Gefühl verstehen. Zwar übernimmt das Dokument die seit 1965 (Nostra Aetate, Nr. 4) bekannten Standards. Jesus war Jude, die Kirche ist aus dem Judentum hervorgegangen, das seine Berufung durch Gott nie verloren hat. So gibt es heute zwei legitime Weisen, die Schriften Israels zu lesen. Zugleich wird aus christlicher Sicht keiner der bestehenden Widersprüche aufgelöst: „Dass die Juden Anteil an Gottes Geheimnis haben, steht theologisch außer Frage, doch wie dieses ohne explizites Christusbekenntnis möglich sein kann, ist und bleibt ein abgrundtiefes Geheimnis Gottes.“ (Nr. 36)

Trägt Ratzinger zur Erhellung dieses Geheimnisses bei? Die ersten Reaktionen sind bemerkenswert: Aus den Worten des auch unter Christen hoch angesehenen Rabbiners W. Homolka[2] sprechen Entsetzen und Enttäuschung: Mit althergebrachten Argumenten werde wieder das Gruselkabinett Hochmuts und Überlegenheitsdenkens eröffnet. Der katholische Theologe G. M. Hoff[3] macht dieses Denken wieder anschlussfähig an den Antisemitismus. Nur der romtreue, in manchen kirchlichen Kommissionen beheimatete Th. Söding, Mitherausgeber des hochkonservativen Blattes Communio, versteht die ganze Aufregung nicht. Ratzinger habe nur der innerkirchlichen Klärung einiger Fragen dienen wollen[4].

Ich verstehe durchaus die Reaktion der Schnelleser, die sich mit der bloßen Lektüre des Titels begnügen, denn wenn das Titelmotto Gottes Gnade und Berufung ohne Reue (Röm 11,29) gilt, was will man dagegen sagen?[5] Doch wer den Artikel sich Absatz für Absatz zu Gemüte führt, spürt bald, wie vergiftet diese Zusage ist. Schon eine globale Rekonstruktion der postpäpstlichen Gedankenführung macht das deutlich. Ich versuche dies in groben Zügen, zeichne also kurz die Gedankenführung nach. An Hand von fünf für ihn zentralen Gesichtspunkten zeichne ich nach, wie der Ex-Papst gegenüber dem Judentum seinen bleibenden, in keiner Weise geläuterten christlichen Universalanspruch durchzusetzen versucht.

Fünf für Ratzinger zentrale Aspekte

Zunächst verweist Ratzinger auf die offene Dialektik zwischen Kulttreue und Kultkritik [1], die zumal die prophetischen Schriften Israels durchzieht. „Schlachtopfer willst du nicht, … an Brandopfern hast du kein Gefallen. Das Opfer, das dir gefällt, ist ein zerknirschter Geist.“ (Ps 51,18f). Doch einen Vers später heißt es: „Bau die Mauern Jerusalems wieder auf! Dann hast du Freude an rechten Opfern.“ (51,20f). Man weiß, dass diese Spannung eine jede reformwillige Religionspraxis durchzieht und selbst in der Rechtfertigungslehre noch nachklingt. Doch für Ratzinger ist diese Parallele überholt; für ihn ist sie in der Ganzhingabe Jesu im Opfer des Kreuzes ein für allemal gelöst.

Dann erwähnt Ratzinger die Beobachtung der Kultgesetze [2], etwa des Sabbatgebots, der Beschneidung, der Speisegebote und Reinheitsvorschriften. Bis heute mögen sie für die Identität des Judentums wichtig sein, so Ratzingers Urteil, doch für ein universal gültiges Christentum war die Aufhebung dieser Gesetze unerlässlich.

Vergleichbares gilt für Recht und Moral [3], die im Doppelgebot der Nächstenliebe ihre Mitte finden und in jeder Epoche einer neuen Auslegung bedürfen. Das Christentum hat sie nicht abgeschafft, aber in Jesus ‑ dem neuen Moses, der unsere Schuld getragen hat ‑ vertieft und ebenfalls universalisiert. Auch dieser Aspekt erfährt im Christentum eine qualitative Erneuerung, zumal die Frage nach der Schuld und seiner Überwindung in neuer Weise beantwortet wird: „Der alles Leid und alle Schuld der Welt in sich aufnehmende menschgewordene Sohn Gottes ist nun diese Überwindung. Mit seinem Tod in der Taufe verbunden zu sein, bedeutet für die Christen, das Geborgensein in der verzeihenden Liebe Gottes.“ (391)

Damit laufen die weiteren Vergleiche zu auf die Frage nach der Messianität Jesu [4]. Kein Wunder, meint Ratzinger, dass sich der Messias in den Schriften Israels (noch) nicht zeigen kann, denn sie sind durch und durch auf Hoffnung angelegt. Beispielhaft ist für Ratzinger der Weg der beiden Jünger nach Emmaus, denen Jesus die Schriften Israels neu auslegt (Lk 24, 13-33). Jetzt wird der Schatten (umbra), der die Zeit Israels begleitet hat, gelichtet. Die Christen treten in die Zeit des Bildes (imago) ein, in ihr erscheint uns Gott durch die gekreuzigte Liebe Christi. Ratzingers Folgerung, in weniger gewählten Worten wiedergegeben: Nur Christen können im Lichte Christi den inneren Sinn der messianischen Geschichte verstehen, die mit dem Judentum faktisch, aber unerkannt begonnen hat. Die ganze Macht und der Reichtum von Israels messianischen Erwartungen, das ganze, in Jahrtausenden gestählte Potential von Hoffnung, Enttäuschung und immer neuer Hoffnung versinkt angesichts des messianischen Jesus ins Nichts.

Bleibt noch der Aspekt der Landverheißung [5], die von Anfang an zu Israels großen Bundesverheißungen, Hoffnungen und Enttäuschungen gehört und die nach der existenzbedrohenden Katastrophe der Schoah eine letzte existentielle Virulenz erhielt. Auch darüber sieht Ratzinger großräumig hinweg, denn die Zeit der „Zerstreuung“ bedeutet das große Angebot an die Welt, den Gedanken des Monotheismus zu verbreiten. „In dieser Situation erschien der jüdische Gott, der eben die Urmacht alles Seins darstellte, wie sie die Philosophie gefunden hatte, zugleich als religiöse Kraft, die diesen Menschen anredet und in der der Mensch dem Göttlichen begegnen kann.“ So ist die „Diaspora nicht bloß und nicht primär ein Zustand der Strafe, sondern bedeutet eine der Sendung“.

Die Überlegungen lassen sich zunächst ohne dramatische Ergebnisse addieren. Der Ton wird nie unfreundlich oder aggressiv, obwohl manche reaktionäre Attitüde irritiert. So besteht der Autor z.B. auf dem Begriff des „Alten Testaments“, obwohl er doch die beständige göttliche Zusage an Israel akzeptiert. Unbeirrt besteht er auf seinen früheren hochspekulativen Überlegungen zur Christologie, auch wenn sie intensiven exegetischen und systematischen Widerspruch erfahren haben. Der Theologe im Papstgewand erweckt noch immer den Eindruck, seine Positionen seien durch Jahrhunderte gewachsen und in sich unerschütterlich, obwohl das christlich-jüdische Gespräch gerade nach 1945 zu nachhaltigen Umschichtungen führte. Schwer verständlich ist auch das Pathos, mit dem er die Worte von Johannes Paul II. (17.11.1980 in Mainz) hervorhebt, Gottes Bund mit Israel bleibe bestehen und werde nie ungültig. Diese Überzeugung gehörte doch schon zu den selbstverständlichen katholischen Lehrüberzeugungen der 1960er Jahre (z. B. Hans Küng, Die Kirche, 1967), auch wenn sie noch nicht in höhere Ränge durchgedrungen waren oder aus ihnen verbannt waren.[6]

Destruktive Dynamik

Was also ist in diesen Ausführungen die wirklich neue Botschaft des ehemaligen Papstes? Man mag antworten: Es gibt sie nicht. Der alte Papst wiederholt seine früheren Standardthesen und beschwört die alten Diskussionen neu herauf. Er präsentiert eine durch und durch traditionelle, metaphysisch und augustinisch profilierte Lehre von Jesus Christus. In seinen drei Jesusbüchern (2006, 2009, 2012) hat er sie detailliert ausgearbeitet und mit antimodernen Schutzschilden umgeben, präsentiert als Gegengift gegen eine historisch-kritische Schriftinterpretation und den vermeintlichen Glaubensverfall der Gegenwart, der auch von einem zu irenischen Religionsdialog befördert wird. Leitlinie seines Gesprächskonzepts sind eben nicht die kanonischen Schriften, schon gar nicht die Schriften Israels, sondern die späthellenistischen Dogmen von der einen Person in zwei Naturen, die ihrerseits als die zweite Person der göttlichen Trinität begriffen wird: „Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater ….“ Ratzinger braucht sie hier nicht zu wiederholen, aber sie sind präsent.

Wie er mit diesem rigiden, dem Hellenismus zugewandten Werkzeug ein fruchtbares Gespräch ausgerechnet mit dem Judentum beginnen will, ist schleierhaft. Die narrativen, sapientialen und prophetischen Züge von Israels verbindlichen Schriften sind aus diesem Diskurs ebenso verbannt wie die reichen Erfahrungen der folgenden 2000 jüdischen Jahre, weitgehend aufgenommen in die Mischna, den umfassenden Talmud und in die theologischen Werke des 2. Jahrtausends, die qualitative Wende nach der Schoah eingeschlossen. Es ist die Zeit eines Judentums, das litt, das verleumdet, unterdrückt und mit Vernichtung bedroht wurde, aber standhaft, glaubenstreu und spirituell ungeheuer fruchtbar geblieben ist. Ausgerechnet diese Zeit, in der das Judentum zu einem achtbaren Gegenüber des Christentums heranwuchs, spielt bei Ratzinger keine Rolle.

Ratzingers monologisches, über alle Geschichte erhabenes Christusbild bildet den Hintergrund seiner vorgetragenen Differenzierungen. Gewiss, er tritt vorbehaltlos für Gottes Treue im Israelbund ein, doch für einen jüdisch-christlichen Dialog kann er daraus keine sinnvollen Folgerungen ziehen. Genau besehen entwickelt sein Text eine destruktive Dynamik, die seine eigene positive Grundthese Zug um Zug unterminiert.

Kommen wir auf die fünf genannten Aspekte zurück:
[1] Die Dialektik von Kultbejahung und Kultkritik löst sich faktisch ins Nichts und in die Behauptung auf, das Judentum habe sie nicht lösen können. Ratzinger hat wohl kein Gespür dafür, dass diese Spannung in allen Religionen zu finden ist und in Israels Schriften paradigmatisch thematisiert wurde. Natürlich durchzieht sie auch das Christentum und hat in ihm zu Spaltungen geführt. Der Hinweis auf Jesu Opfertod und dessen Feier in der Eucharistie kann das Problem höchstens vergegenwärtigen und verdichten, aber keinesfalls lösen. Die Eucharistie entfaltet keinen magischen Zauber, der uns über die Wirklichkeit unseres religiösen Alltags erhebt. Schon hier zeigt sich, wie sehr Ratzinger sein Heilsverständnis auf sakramentale Kategorien verengt.

[2] Die sogen. Kultgesetze findet Ratzinger uninteressant, denn sie spielen für das Christentum, das sich als Hort universaler Freiheit über das Judentum erhebt, keine Rolle mehr. Dabei verschweigt er die Probleme, die ausgerechnet die katholische Kirche noch heute mit der Freiheit des Christenmenschen hat und vergisst die zahllosen Ersatzbestimmungen, die die Identität des Christentums schützen sollen und massiv einengen. Das betrifft die Sakramente (zumindest in ihrer aktuell verkirchlichten und massiv verrechtlichten Form), die Glaubensbekenntnisse und differenzierten Katechismussysteme, die höchst detaillierten liturgischen Bestimmungen, die zahllosen Formen kirchlicher Sanktionen, bis hin zu verfügter und selbstwirksamer Exkommunikation. Gegenüber solch autoritärer Engstirnigkeit wird das Judentum geradezu zum Hort von Freiheit, niederschwelliger Strukturen, religiöser Selbstbestimmung und unerschöpflicher Kreativität. Ratzingers Überheblichkeit gegenüber der so offenen und flexiblen Identitätsregelung ist bemerkenswert.

[3] Auch über Recht und Moral besteht nach Ratzinger kein grundsätzlicher Diskussionsbedarf. Man könnte dieser Position zustimmen, denn sie gewährt der Thora auch im Christentum die gebotene grundsätzliche Hochschätzung. Doch Ratzinger hebt auch die Moral seiner eigenen Religion zugleich in ein qualitativ höheres, heilsgeschichtlich unvergleichliches Niveau: die christlichen Gebote seien in das Heilsgeschehen Christi aufgenommen. Dadurch erhalten sie eine unvergleichliche Tiefe und einen unmittelbaren Gottesbezug, denn sie stehen jetzt schon im Horizont von Gottes Liebe und Vergebung.

In sträflicher Weise übersieht Ratzinger: Auch die Moral der jüdischen Tradition kennt Vergebung, Barmherzigkeit und die immer neue Suche nach Gerechtigkeit. Auch sie steht im Horizont göttlicher Verheißungen und einer universalen Heilshoffnung, die letztlich allen Völkern gilt. Wiederum erkennt Ratzinger dem Christusereignis eine Wirksamkeit höherer Ordnung zu. Anders als im Judentum gilt für ihn das christliche Heilsgeschehen als objektiv vollzogen. Ein historischer, psychologischer, narrativer oder soziologischer Diskurs, der diese Behauptung rechtfertigt oder angemessen differenziert, bleibt erneut aus.

[4] Ratzingers Antwort auf die Messiasfrage erfährt zunächst eine erstaunliche Wendung: Natürlich habe sich Jesus nie Messias genannt; das sei ja selbstverständlich, denn das Judentum hätte diese Aussage nicht verstehen können. Erst dem Christentum, nicht dem Judentum habe sich die wahre Hoffnungsstruktur des Messiasglaubens enthüllt. Wiederum folgt eine Begründung, die nur sprachlos machen kann: „Niemand hat Gott jemals gesehen. Der eingeborene Gott, der am Schoß des Vaters ist, hat uns davon erzählt.“ (Joh 1,18; vgl. 13,25). Hier geschieht Ungeheuerliches. Die ganze messianische Dynamik, die sich im Judentum entwickelt hat und die vom Christentum übernommen wurde, wird als nicht-existent vom Tisch gefegt. Mit dem Begriff der Hoffnung spielt Ratzinger ein unlauteres Spiel. Das Erhoffte, so Ratzingers Unterstellung, sei eben noch nie dagewesen. Doch damit ignoriert er den entscheidenden Punkt: Gerade das Erhoffte war und ist auch im Akt des Hoffens immer schon wirksam, anwesend und von religiöser Wirkmacht.

Ratzinger erwartet von den Juden, wie er sich ausdrückt, dass sie sich mit den Jüngern nach Emmaus begeben; dort könne ihnen die Wahrheit ihres Glaubens aufgehen. Dabei übersieht er das Entscheidende: Die Emmausjünger können das Geheimnis Jesu erst im Blick auf Israels Schriften begreifen. Sie gehen in der jüdischen Tradition in die Schule und haben keinen Grund, das Judentum zu belehren. Ratzinger hingegen tut so, als müssten die Juden erst Jesus begreifen, um den Sinn ihrer Geschichte zu ergründen. Er verwechselt ein greifbares Resultat mit dem Prozess, der dazu führte. Bis heute hat sich an diesem Verhältnis nichts geändert, denn das Christentum bleibt auf die jüdische Botschaft angewiesen, um seine eigene Botschaft in der Hoffnungsgeschichte der Menschheit zu verankern. Dass Ratzinger diese hermeneutischen Zusammenhänge verkennt, führt zum katastrophalsten seiner Missverständnisse. Er raubt der jüdischen Botschaft ihre messianische Lebensmitte und damit ‑ ohne darum zu wissen ‑ dem des Menschgewordenen seine menschliche Lebensgrundlage.

[5] Nach diesem System verläuft auch Ratzingers Analyse der Landverheißung, deren Scheitern vor über 2600 Jahren (mit der babylonischen Zerstreuung) begann und im Jahr 70 in eine Diaspora mündete, die bis heute andauert und deren Folgen die Gründung des Staates Israel nur bedingt zurücknehmen konnte. Ratzinger kennt diese Problematik. Schließlich hat er an einem völkerrechtlich geregelten Verhältnis zwischen Vatikan und dem Staat Israel seine großen Verdienste, das sei nicht vergessen. Doch letztlich besiegelt diese Geschichte der Diaspora das faktische Scheitern der Bundeszusagen. Wiederum lässt er die christliche Antwort auf eine höhere Ebene entschwinden. Die Christen hätten sich von der Frage nach ihrer „konkreten Abstammung“ gelöst. „Voll Glauben sind diese alle gestorben, ohne das Verheißene erlangt zu haben; nur von fern haben sie es geschaut und gegrüßt und haben bekannt, dass sie Fremde und Gäste auf Erden sind.“ (Heb 11,13)

Das eingefleischte Überlegenheitsbewusstsein meldet sich erneut. Wir Christen erscheinen als die Erhabenen, die sich von dieser Welt und von der Bindung an ein Volk gelöst haben. Vergessen sind all die Landes- und Besitzansprüche, von denen sich die Kirchen jagen ließen, von den Kreuzzügen bis zum Dreißigjährigen Krieg, der maßlosen Machtpolitik Gregors VII. (1073-1085) bis zum abolutistischen Machtanspruch des 1. Vatikanischen Konzils (1870). Im Jahr 1494 teilte Alexander VI. die Welt in eine spanische und eine portugiesische Sphäre auf und die weltlichen Geltungsansprüche der Kirche wirkten noch im Christkönigsfest, dem „Hochfest Christus, König der Welt“ (1925) nach, das den unverfrorenen und verwegenen Feinden der Kirche Einhalt gebieten sollte. Bis 1964 trugen die Päpste noch die Tiara als Symbol ihres weltlichen Herrschaftsanspruchs. Für einen Vertreter der römischen Hierarchie wäre dies Grund genug, um diese Thematik selbstkritischer und ohne geistliches Selbstgenügen zu verhandeln.

Umstiftung des Bundes?

Die Strategie von Ratzingers Ausführungen ist klar. In allen fünf Punkten führt sie in eine für das Judentum hoffnungslose Asymmetrie. Die These vom nie gekündigten Bund wird ausgehöhlt und Ratzingers Folgerungen sind eindeutig: „Zur realen Geschichte Gottes mit Israel [gehört] der Bundesbruch von Seiten des Menschen.“ Paradigmatisch wird das im Buch Exodus beschrieben. „Die lange Abwesenheit des Mose wird für das Volk zum Anlass, sich selbst einen sichtbaren Gott zu geben, den es anbetet: ‚Das Volk setzte sich zum Essen und Trinken und stand auf, um sich zu vergnügen‘ (Ex 32,6). Der zurückgekehrte ‚Mose sah, wie verwildert das Volk war‘ (Ex 32,25). Mose schleuderte angesichts des gebrochenen Bundes die von Gott selbst beschriebenen Tafeln fort und zerbrach sie (Ex 32,19). Gottes Erbarmen schenkte Israel zwar die Tafeln zurück, aber sie sind immer als Ersatztafeln zugleich auch Warnzeichen, die an den gebrochenen Bund erinnern.“ (404) Das also ist die Realität der mehrfachen Bundeschlüsse Jahwes mit Israel. Keinen von ihnen hat Israel erfüllt.

Umso klarer sticht der neue, in Christus geschlossene Bund von diesen Bundesbrüchen ab, denn er bezieht das Versagen der Menschen von vornherein mit ein. Für Christen ist es im Leiden Gottes immer schon aufgehoben, also im Kreuzestod Christi, und das heißt: in der Eucharistie. Jetzt folgt ein Wort, das dem Titel des Artikels und der Rede vom unkündbaren Bund geradezu Hohn spricht. Ratzinger, der die wohlbekannte Theorie von der Substitution (Ersetzung) des Alten Bundes mit hohem Pathos ablehnt, spricht von der „Umstiftung[!] des Sinai-Bundes in den neuen Bund im Blute Jesu“ und von einer neuen, für immer gültigen Gestalt. Die Formel vom nie gekündigten Bund reiche nicht aus, „um die Größe der Wirklichkeit einigermaßen angemessen auszudrücken“. Stattdessen erklärt Ratzinger jetzt: „Reuelos (unwiderruflich) sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt (Röm 11.29).“ Und einigermaßen gnadenlos fügt Ratzinger mit 2 Tim 2,12f hinzu: „Wenn wir standhaft bleiben, werden wir auch mit ihm herrschen, wenn wir ihn verleugnen, wird auch er uns verleugnen. Wenn wir untreu sind, bleibt er doch treu, denn er kann sich selbst nicht verleugnen.“

Ich begreife diesen Text, der sich als Gesprächsangebot für den christlich-jüdischen Dialog versteht, als ein Zeichen der Unbelehrbarkeit und Überheblichkeit, zugleich als die Konsequenz einer bibel- und geschichtsfernen Theologie. Neues sagt Ratzinger in ihm nicht, denn wer von der Göttlichkeit Jesu (im Sinne des altkirchlichen Dogmas) ausgeht und wer dessen Neuinterpretation durch die neu verstandenen Schriftzeugnisse verweigert, kann mit dem Judentum und mit anderen Religionen keinen Dialog auf Augenhöhe führen.[7] In der Tat hat Ratzinger bis heute seine Aussage von 2000 in Dokument Dominus Iesus (Nr. 22) nicht zurückgenommen: „Wenn es auch wahr ist, dass die Nichtchristen die göttliche Gnade empfangen können, so ist doch gewiss, dass sie sich objektiv in einer schwer defizitären Situation befinden im Vergleich zu jenen, die in der Kirche die Fülle der Heilsmittel besitzen.“ Dieses Defizit wirkt sich gegenüber dem Judentum umso vernichtender aus, als das Christentum gegenüber dem Judentum nicht nur Konkurrenz-, sondern auch Erbansprüche erhebt. Die Aussagen der Verwandtschaft und Nähe schlagen in Aussagen der Feindschaft und Verneinung um. Dies ist auch der Grund, weshalb das jüdisch-christliche Gespräch seit dem 2. Vatikanischen Konzil auf offizieller Ebene kaum vorankommen konnte.

Wie soll es weitergehen?

Für den jüdisch-christlichen Dialog hat Ratzinger fünf untaugliche Themen vorgeschlagen, denn sie entwickeln einen Diskurs der institutionellen Legitimität. In diesem Legitimationsdruck werden Kultbejahung und Kultkritik [1] sakramentalistisch, wenn nicht gar magisch auf die Eucharistie verengt, die kirchlichen „Kultgesetze“ [2] kritiklos als Gottes Wille vorausgesetzt, Recht und Moral [3] in einen übergeschichtlichen, also unmenschlichen Zusammenhang entrückt, wird die Frage nach dem Messias [4] als spezifisch christliche Domäne behandelt und die Landverheißung [5] von vornherein als Beweis jüdischen Scheiterns präsentiert. Von der Katastrophe der Schoah, deren Vorgeschichte und Geschichte die Legitimität des Christentums in seinen Grundfesten erschüttert, zeigt er sich in keiner Weise berührt. Aus theologischen wie aus pragmatischen Gründen ist dieser egozentrische Identitätsdiskurs untauglich. Wer nur das Recht der eigenen Religion im Blick hat, muss in dieser Weise scheitern.

Denn Religionen sind ganzheitliche Gebilde, nie fertig von Handlungen, Haltungen, Weltinterpretationen und geschichtlichen Erinnerungen. Wenn die Wahrheit sich im Handeln erweist, ist auch das Christentum gegen seinen Verfall, gegen Irrtümer und Untreue nicht geschützt. Wir sollten voneinander lernen, was wir den Menschen, den menschlichen Gemeinschaften und der Erde bedeuten können. Es geht um Fragen der Humanität und des Lebensrespekts, der Gerechtigkeit, Glaubwürdigkeit und gegenseitigen Treue.

Schon die Entdeckung, dass Jesus auf Selbstbenennungen und -qualifikationen keinen Wert legte, hätte den Ex-Papst eines Besseren belehren können. Die Erwartung des Gottesreichs, also die Zukunft einer in Frieden und Versöhnung versöhnten Menschheit, beginnt mit vorbehaltloser Menschlichkeit. Was meinen Wille Gottes und die Gegenwart seiner Herrlichkeit heute? Wie gestaltet sich eine biblisch inspirierte Spiritualität und mit welchen Impulsen hat sie Jesus bereichert? Welche Maßstäbe legt uns das Gebot der Gottes- und der Nächstenliebe in einer Epoche auf, die von der Schoah ebenso belehrt wurde wie von den Schreckensregimenten des vergangenen Jahrhunderts? Befördern wir Christinnen und Christen mehr als die imperialen Allüren der Weltherrschaft, die notfalls Hass streut, Fehlinterpretationen propagiert und Gewalt legitimiert? Ist uns die Bitte von Johannes Paul II. um Vergebung für das den Juden zugefügte Leid (12.03.2000) zur selbstverständlichen Haltung geworden? Fragen über Fragen können das jüdisch-christliche Gespräch bereichern. Auf die direkte oder sublime Bestätigung alter Vorurteile können wir gerne verzichten.

Ratzingers erneut erwiesene Unbeweglichkeit erinnert mich an einen Brief, den er 1986 zum Fortgang der Ökumene an seine ehemaligen Tübinger Kollegen schickte. Viel sei erreicht, schrieb er damals, eine weitere Annäherung bleibe Gott selbst vorbehalten.[8] Ähnlich fatalistisch klangen die enttäuschenden Worte Benedikts XVI. in Erfurt am 24.09.2011. Hier erneut ein Stillstand, dem Anschein nach gibt er alles in die Hände Gottes und der Heiligen Schriften. Faktisch aber stäubt er sich dagegen, die These vom defizitären Zustand aller Nichtchristen aufzugeben. Umso interessanter ist die Frage nach der Bedeutung des hier besprochenen Textes. Genau besehen ist es die Äußerung eines ehemaligen Amtsträgers, der sich in ein Leben des Gebets zurückgezogen hat. So ist dem Text keinerlei besondere Bedeutung zuzumessen. Dass der ehemalige Papst seiner Amtszeit noch eine Botschaft nachschicken möchte, ist durchaus verständlich. Doch sollte sie bitte nicht in der Aufforderung kulminieren, an den überholten Vorrangsansprüchen festzuhalten, die Benedikt XVI. damals bekräftigte. Die Epoche eines christlichen Defizit-Dialogs ist wirklich abgelaufen. Ratzinger, der große spekulative Theologe der Nachkriegsjahre, hat seine Zeit überlebt. Zu Recht erklärte sein Nachfolger: „Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee.“

Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag analysiert die hochspekulativen Ausführungen von J. Ratzinger zum Verhältnis von Christentum und Judentum. Es geht, in einfacheren Worten gesagt, um folgendes Problem:

Im August 2018 meldet sich Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. mit einem aufsehenerregenden Beitrag zum jüdisch-christlichen Dialog zu Wort. Dabei hält er wie Johannes Paul II. daran fest, dass Gott die Berufung Israels nie aufkündigte. Doch schränkt er diese Bestandsgarantie in mehrfacher Hinsicht ein: [1] Das Judentum blieb immer einer äußerlichen Kultpraxis verhaftet; [2] es erreichte nie wie das Christentum eine universale Bedeutung und Identität; [3] Recht und Moral mündeten in keine wirklich erlöste Gottesbeziehung; [4] es hatte nie einen wirklichen Zugang zum Geheimnis des Messias; [5] schließlich erhielt das Judentum nie das Verheißene Land, sondern verlor endgültig Jerusalem und den Tempel, den Gott im auferstandenen Christus wieder aufbaute. Zwar hat Gott diesen Bund nie gekündigt, doch die Juden haben ihn kontinuierlich gebrochen. Deshalb kam es in Tod und Auferstehung Christi zu einer „Umstiftung“ zum Neuen Bund. Kein Wort verliert Ratzinger über die veräußerlichten Kultpraktiken der römisch-katholischen Kirche, ihre eingefleischte Eurozentrik, die Vergesetzlichung ihrer Moral u.a. im Kirchenrecht, ihren überheblichen messianischen Herrschaftsanspruch und darüber, wie oft die römisch-katholische Kirche den Bund mit Gott gebrochen hat und ihn kontinuierlich bricht.

Ratzingers Ausführungen sind monologisch, unhaltbar und ungeheuerlich, denn faktisch bestätigen sie viele Vorurteile, aus denen sich der christliche Antijudaismus gespeist hat und immer noch speist. Aus Ratzingers Perspektive sind diese Ausführungen konsequent, denn sein Christusbild lebt nicht aus einem unbefangenen Verständnis der Schrift, sondern aus dem hellenistischen Christusdogma und seiner Überzeugung, dass sich alle Nichtchristen „objektiv in einer schwer defizitären Situation befinden“ (Dominus Iesus, 22). Auf dieser Basis ist kein fruchtbarer Religionsdialog möglich. Ratzinger fällt hinter die entsprechenden Ausführungen des 2. Vatikanischen Konzils zurück und es wird Zeit, dass er, der kein kirchliches Leitungsamt mehr innehat, in seine Schranken gewiesen und Dominus Iesus, dieses Dokument des Unfriedens, revidiert wird.

Anmerkungen

[1] Kommission für die religiösen Beziehungen mit den Juden, Reflexionen zu theologischen Fragestellungen in den katholisch-jüdischen Beziehungen aus Anlass des 50jährigen Jubiläums von „Nostra Aetate“ (Nr. 4), 10. Dezember 2015, http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/chrstuni/relations-jews-docs/rc_pc_ chrstuni_doc_20151210_ebraismo-nostra-aetate_ge.html

[2] Walter Homolka, Wir sind kein unerlöstes Volk!, in: DIE ZEIT 30/2018, S. 50.

[3] Gregor Maria Hoff, Gottes Treue gilt auch Israel, in: DIE ZEIT 30/2018, S. 50.

[4] Thomas Söding, Im Sturmzentrum. Eine Beschädigung des jüdisch-christlichen Dialogs?, in: Herder Korrespondenz 72 (2018).

[5] Josef Ratzinger/Benedikt XVI., Gnade und Berufung ohne Reue. Anmerkungen zum Traktat „De Iudaeis“, in: Communio, Internationale Katholische Zeitschrift 47 (2018), S. 387-406.

[6] Hans Küng, Die Kirche, Freiburg 1967, S. 131-180.

[7] Vgl. dagegen den Gesprächsansatz von: Jehoschua Ahrens, Karl-Hermann Blickle, David Bollag, Johannes Heil (Hg.), Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen. Die Erklärung orthodoxer Rabbiner zum Christentum, Berlin 2017; ferner: Rainer Kampling, Ilse Müllner (Hg.), Gottesrede. Gesammelt Aufsätze von Erich Zenger zum jüdisch-christlichen Dialog, Stuttgart 2018. Noch nicht überholt ist das Standardwerk von Hans Küng, Das Judentum. Die religiöse Situation der Zeit, München 1991.
Wichtig sind die Impulse, die Karl-Josef Kuschel mit seinem Trialogprojekt zu Judentum, Christentum und Islam gesetzt hat: Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt – und was sie eint, München NA 2001; Juden, Christen, Muslime. Herkunft und Zukunft, Düsseldorf 2007; Martin Buber – seine Herausforderung an das Christentum, Gütersloh 2015; Die Aktualität des Projektes Weltethos und die Notwendigkeit einer abrahamischen Ökumene von Juden, Christen und Muslimen, in: Moral und Weltreligionen, hrsg. v. Ch. Gestrich, Berlin 2000, S. 13-34.

[8] Joseph Ratzinger, Zum Fortgang der Ökumene. Ein Brief an die Theologische Quartalschrift, in: ThQ 166 (1986), S. 243-248.

Letzte Änderung: 16. Januar 2020