Wir gehören zusammen

Zur Meditation

Liebe Anwesende,
gleich, ob Sie sich gläubig oder Suchende nennen oder einfach hier sind, um für eine halbe Stunde zu sich zu kommen. Hier und jetzt bindet uns dieser Raum zusammen. Wir bilden eine Einheit, auch wenn sie in wenigen Minuten wieder vergeht. Der Augenblick zählt.

Vergangenen Sonntag kam ich mit einer Gruppe von 70-Jährigen zusammen, um ihrer Toten zu gedenken. Was sollte ich ihnen sagen? Einfach die Namen der Verstorbenen aufrufen? Einfach trostreiche Worte wiederholen, die sie schon oft gehört haben? Wie sollte ich die verschiedenen Biographien, die Erfolgreichen und Enttäuschten, die Religiösen und die Skeptiker unter ihnen zum Einklang ihrer Herzen bringen? Ich holte mir ein Gedicht zu Hilfe, das die Ausweglosigkeit der Trauernden nicht verdrängt, den Zwiespalt der Zurückgelassenen gelten lässt und dennoch weiterführt.

Das Gedicht stammt von der schwedisch-israelischen Schriftstellerin Cordelia Edvardson; es ist Hiob 19, 25 und 26, die mitten in der Klage eine erstaunliche Hoffnung bekunden: „Ich weiß“, heißt es dort, „mein Erlöser lebt“. Ich lese das Gedicht vor

Ich weiß, die Liebe lebt
scheintot im Leichentuch aus Vorbehalten
begraben unter dem Stein.
Nicht wegzuwälzen ist er
und redete ich mit Engelszungen.
In den Windungen des Labyrinths gingen wir irr
und von fernher tönt die Flöte
doch der Ariadnefaden –
gerissen.
Spiele, spiel
mich hinauf aus der Finsternis
oder steige herunter ins Totesschattental
denn ich weiß, die Liebe lebt.

Das Gedicht lässt viele unserer Fragen offen. „Die Liebe lebt“, schreibt die Dichterin, wer wollte nicht daran glauben. Doch jetzt ist sie scheintot, nahezu erdrückt von den Vorbehalten der Wirklichkeit, von ihren Grenzen, ihren Bedingungen und ihren Projektionen. Das Leichentuch schnürt dieser Liebe, der Freundin oder dem Freund die Luft ab. Nein, das Leichentuch besagt zu wenig, die Geliebte liegt dort unter dem Stein. Und könnte sie noch etwas empfinden, sie hätte nur Hoffnungsloses zu sagen: dass sie begraben ist unter dem Stein, so schwer, dass ihn niemand wegwälzen kann. Und anders als bei der österlichen Botschaft gibt es keine Engelszungen, die ihn wegbefohlen haben und das Licht ins Grab leuchten ließen. Die Liebe mag voll guten Willens sein, aber auch sie wird in ihrer Ohnmacht erdrückt. Wo bleibt die Macht der Liebe?

Jetzt wechselt die Szenerie und gleich drei Bilder überkreuzen sich: Orientierungslos irren wir im Labyrinth. Dann tönt „von fernher“ die Flöte, ein schwacher, aber zart tröstender, deshalb auch starker Ton, der vielleicht Hoffnung ankündigt, in die Richtung des Lebens weist, weit weg, doch schon spürbar. Doch gleich bricht der Ton wieder zusammen, denn – so die befremdende, weil verfremdende Auskunft: „der Ariadnefaden – gerissen!“ Die letzte Hoffnungsspur, die eine Geliebte einst ihren Geliebten aus dem Verderben holte, auch sie führt nicht mehr hinauf.

Hier könnte das Gedicht zu Ende sein. Und es würde damit sein Vorbild, das Hiobbuch, Lügenstrafen, dem es nachgedichtet ist. Dort jubelt der geschlagene Hiob trotzig, widerspenstig auf:

„Doch ich weiß: mein Erlöser lebt,
als letzter erhebt er sich über dem Staub.
Ohne meine Haut, die so zerfetzte,
und ohne mein Fleisch werde ich Gott schauen.“

Wie kann es also weitergehen, wenn die Richtung verlorengegangen, die Flöte verstummt und trotz aller Versuche der Ariadnefaden gerissen ist? Enttäuschung, verstummte Flöte, gerissener Faden, das sind für uns mehr als die Beschreibung individueller Gefühle. Verstummt und gerissen ist zu viel in einer Gegenwart, die sich wie in einem Hamsterrad dreht, ihre tödlichen Aggressionen nicht in Schach halten kann, sich in ihrem Orientierungsmangel zu verlieren scheint, die keine Hoffnung mehr bietet, an die sich die Enttäuschten unter uns klammern könnten.

Deshalb bricht das Gedicht geradezu ab, obwohl es noch nicht zu Ende ist.
Implosion aller Hoffnung, kein triumphales „Mein Erlöser lebt“ mehr, nicht einmal die Liebe bietet Halt.

Dennoch, obwohl es jetzt aufhören müsste, findet das Gedicht eine neue Spur. Dies geschieht unerwartet, in einer paradox trotzigen Haltung, mit dem zweimaligen leidenschaftlichen Ruf, der aller Logik des beschriebenen Zusammenbruchs widerspricht: „Spiele, spiel“.
Die Flöte, der Faden der Ariadne und die Richtung ins Licht werden ein zweites Mal beschworen.  „Spiele, spiel mich hinauf aus der Finsternis“.

Erst jetzt wird mir klar: Von Anfang an schon hat die Klagende nicht einen Toten betrauert. Sie hat nicht hinabgeschaut und einen Dritten um Rettung gerufen. Nein, der Klagende bin ich selbst, ich bin unter dem Leichentuch verdeckt und unter dem Stein begraben. Ich rufe in eigener Sache um Hilfe, als Erstickender, Umherirrender, Eingemauerter.

„Spiel mich hinauf – aus der Finsternis“. Ein magisches Bild, das – wiederum nur angedeutet – an Orpheus und Eurydike erinnert. Vielleicht ist es der verlockende Ton, die Musik, vielleicht ein Choralspiel von Bach, die mich heraufrufen können.

Man unterschätze diesen Rettungsanker nicht. Musik war immer schon der Religion und ihrer erlösenden Botschaft nahe. Aber auch diese Rettungsbotschaft scheint nicht mehr zu tragen. Auch die Metaphern von der Unterwelt dort unten und der Erde hier oben,  vom düstern Erdental und dem es überwölbenden Himmel lässt die Dichterin nicht gelten. Auch solche Rettungsbilder versagen, wie es scheint, in der Gottferne unserer Tage.

Dennoch gibt die Dichterin nicht auf. Sie zieht sich in einer letzte kreatürliche Demut zurück, akzeptiert auch den Ort dieser Dunkelheit und fleht: Dann wenigstens „steige herunter ins Totesschattental“. Todesschattental, der Ort unseres Lebens? Kein Tod, gewiss, aber ein tiefes Tal und überall die Schatten des Todes, allgegenwärtig und unentrinnbar.

Bleibt nur noch die Frage: Wen ruft die Klagende an? Eine Antwort behält die Dichterin bei sich, verbirgt sie im Geheimnis dieser schwebenden und unentschiedenen Zeilen. Nur der einen Hoffnung ist sie nach anfänglichem Zögern gewiss: „die Liebe lebt“. Damit lebt die Hoffnung und damit lebt ihre Gewissheit wieder auf, dass sie – von wem auch immer ‑ geliebt wird. Das Christentum und andere Religionen sagen uns nicht einfach, dass Gott die Liebe sei. Sie sagen uns – viel wichtiger – dass uns in jeder Liebe der Hauch des Göttlichen, des Unvergänglichen, des immer Erleuchtenden berührt.

Das Gedicht lässt uns zwischen Zaudern und Hoffen, holt uns nicht aus dem Widerspruch der Wahrnehmungen heraus. So erging es wohl auch den Siebzigjährigen, die ich durch die Gedenkminuten leitete. Reicht es, auf einer unzerstörbaren Liebe  zu bestehen? Müssen wir nicht unser Hoffen – entgegen aller Hoffnung, wie Paulus sagt – erden, ihr wenigstens einen hiesigen Erfahrungsraum anbieten?

Deshalb habe ich dem Gedicht noch einen zweiten Gedanken hinzugefügt. Ich versuchte zu zeigen, wie die jetzt noch Lebenden mit allen Bekannten ihrer Gemeinde und mit den Verstorbenen leben. Sie teilen Erinnerungen, Schicksale, wie sie in das Gedicht von Cordelia Edvardson aufgenommen sind. Wir alle zusammen bilden einen Teppich des Lebens, mit dem einen Ende, das in die Zukunft reicht, mit dem anderen, das unsere Nachkommen knüpfen werden. Deshalb ist es gut, dass wir die Not des Vergehens miteinander teilen, um auch in den Lichtkegel ihrer Hoffnung zu gelangen.

Wir stehen am Beginn des Advents und vollziehen in diesen Tagen genau diesen Übergang von der Todesnähe des ausgehenden Kirchenjahrs zur Hoffnungskraft des heranwachsenden Advents. „Tauet, Himmel, den Gerechten!“ In dieser Zeit erarbeiten wir uns diese Hoffnung auf den Tau neuer Gerechtigkeit, auf die Lust blühenden Lebens und auf den Trost der Gottesnähe.

Die Freude dieses Neuen, der Gottesgeburt in unseren Herzen, kann gelingen, wenn wir uns zuvor den Irrwegen, dem Verstummen der Flöte und den gerissenen Fäden in unserer Existenz gestellt haben. Das Band zwischen den beiden aber heißt: Liebe. In ihr ist Gott pure Gegenwart. In eine geerdete Sprache übersetzt möchte ich sagen: Wir gehören für immer zusammen, und das ist gut so.
Amen.

(Vorgetragen am 02.12. 2014)