Menschen aus Fleisch und Blut

 

Da wir Menschen aus Fleisch und Blut sind,
hat auch er Fleisch und Blut angenommen
(vgl. Hebr. 2.14)

Was Sexismus, Rassismus und andere Menschen-Phobien verbindet

Nein, Bischof Oster ist kein Rassist. Die Versöhnung mit Frau Prof. Dr. Rahner ging allzu geräuschlos vonstatten. Ich habe ihn für seine Offenheit gelobt und tue es noch immer. Denn je mehr er die Auseinandersetzung anheizte, umso entlarvender trat die Denkart der bischöflichen, neuscholastisch geeichten Dogmatik zutage. So erzwang er eine offene Debatte darüber, was Rassismus ausmacht und wie er mit dem Ordinationsverbot für Frauen zusammenhängt, was ich mit guten Gründen dem Sexismus zurechne. Was sind ihre entscheidenden Komponenten und was macht sie so destruktiv?

Geschichts- und weltlose Formeln

Für Oster ist die Sache klar, die offizielle Kirchenlehre und -disziplin ist über J. Rahners Kritik erhaben; denn Gottes Wort kann weder sexistisch noch rassistisch sein. Die Generalgarantie dafür schöpft er aus der Überzeugung, in zentralen Glaubens- und Sittenfragen könne die Kirche nicht irren, denn gemäß Oster bezieht sie ihr Wissen ziemlich direkt aus dem Jenseits.[1] Ihr Glaubensbestand ist absolut richtig und wahr, dies aus sich, nicht aber aus dem Konsens der Kirche heraus.[2]

Diese Formel, die anscheinend Halt gibt, hat schon viele fasziniert, denn schließlich muss jede Wahrheit aus sich heraus überzeugen. Zweimal zwei ist vier, darüber lässt sich nicht diskutieren. Doch diese formallogische Absolutheit versetzt allen existentiellen Debatten den Todesstoß, weil sie alle Differenzierungen ignoriert. Sie ignoriert die konkrete Lebenswelt, in der auch Christinnen und Christen leben. Aus der Hermeneutik etwa eines E. Schillebeeckx hätte man das schon lange auf höchstem Niveau lernen können. Noch immer verbietet das offizielle, katholisch legitimierte Wahrheitskonzept jede Rücksicht auf kulturelle oder soziale Kontexte, ignoriert humane Interessen, übersieht selbst die Zurücksetzung der halben Menschheit, weil die Frau unsere Bischöfe an Eva erinnert.

Im Jahre 1973 hatte sich ein Lichtblick angedeutet, denn die Erklärung Mysterium Ecclesiae schien wichtige Zugeständnisse zu machen.[3] Auch unfehlbare Aussagen, hieß es da, seien geschichtlich und sprachlich einzuordnen. Sie könnten unvollkommen formuliert sein, von „den wandelbaren Vorstellungen einer Zeit“ geprägt und auf verengte Fragestellungen fokussiert.

Nun hätte man schon damals fragen können: Was geschieht, sobald die gottesdienstliche Herabstufung von Frauen als zeitbedingt erkannt wird? Wird ihr Ordinationsverbot dann nicht obsolet? Doch die Antwort des Schreibens ist frappant. Es erklärt, trotz aller Mängel bleibe in der Kirche der Sinn der dogmatischen Formeln immer wahr und in sich stimmig.[4] Wer diese Entgegnung auf die Frage der Frauenordination überträgt, erkennt schlagartig die römische Halsstarrigkeit, denn trotz aller Eingrenzungen bleibt der Sinn des Ordinationsverbots ‑ das Ordinationsverbot selbst. Dass Frauen nicht zu ordinieren sind, bleibt also unbestritten, weil das Lehramt dagegen ist. Diese tautologische Selbstsetzung ist nicht nur menschen- und weltfern, sondern auch menschenfeindlich. Sie ist schlicht verbohrt, denn sie übersieht, wie sehr sie die Kirche in eine Glaubwürdigkeitskrise nach der anderen stürzt.

Nach nahezu 50 Jahren wäre darüber nachzudenken, dass die Periode der oberflächlichen Schönheits- und funktionalen Strukturreparaturen abgelaufen ist. Seit der Reformation, also 500 Jahre lang, hat die römisch-katholische Kirche die entscheidenden Einwände gegen eine monokratisch-hierarchische Lehr- und Leitungskompetenz verdrängt. Doch jetzt läuft das treue Kirchenvolk, demokratisch erfahren und oft hochgebildet, davon. Bischof Oster spiegelt die unreflektierte, autoritär aggressive Naivität eines vor-neuzeitlichen Lehramts wider.

Petra Morsbach nennt Hierarchie übrigens „ein Produkt von Gruppenfantasien“, darauf aus, die Stärke der Gruppe um ihrer selbst willen zu erhalten. „Die opportunistische Selektion sorgt für kompakten Auftritt und organisatorische Kraft, reduziert aber Selbstkritik und individuelle Verantwortung… Deswegen sind Regularien zur Machtkontrolle und natürlich eine kritische Öffentlichkeit so wichtig.“[5]

 Schlüsselfragen neu verhandeln

Vor einer Diskussion der aktuellen Auseinandersetzung um Sexismus und Rassismus wären deshalb die grundlegenden Schlüsselfragen des katholischen Systems neu zu verhandeln:
(1) Wie stellt sich unsere bischöfliche Elite die [!] katholische Kirche vor? Verwechselt sie diese geschwisterliche Gemeinschaft noch immer mit einem monokratischen System?
(2) Was versteht sie unter dem [!] authentischen Lehramt? Meint sie noch immer, der Heilige Geist beschränke sich auf die höheren Amtsträger, obwohl doch alle Getauften im Geiste gesalbt sind?
(3) Was sollen wir – daraus resultierend – unter der [!] katholischen Glaubenslehre verstehen, wo doch höchst breite und differenzierte Diskurse im Fluss sind und sich nicht ersticken lassen?
(4) Wollen sie nicht erkennen, dass die inneren Zerwürfnisse gerade einen Kipppunkt mit irreparablen Folgen erreichen, einen umfassenden Paradigmenwechsel, da die Epoche eines kontextfreien, überzeitlichen und objektivistischen Glaubensbegriffs endgültig ausgespielt hat.[6] Deshalb sind unsere Reformprojekte ökumenisch zu erweitern.

Rassismus

Rassismus lässt sich nicht auf eine simple Handlungsregel beschränken, die man gutheißen oder ablehnen könnte. Bekanntlich ist dieses Phänomen in komplexe Netzwerke von leiblichen, historischen und kontextuellen Dimensionen eingebettet; es entfaltet sich innerhalb konkreter Erfahrungen von sozialer Distanzierung und Demütigung, konkreten Ausschlüssen und Gewalt. Die Formen des Rassismus ändern sich je nach Gesellschaftsstruktur. Auf verschiedenste Weise werden die Betroffenen isoliert, in demütigende Schranken gewiesen oder mit dem Tode bedroht; black lives matter. Aus eigener Kraft können die Betroffenen dieses Ausgeschlossensein kaum abstreifen; auch ereignen sich viele rassistische Verhaltensweisen unbewusst. Unverbesserliche Rassisten wissen oft nicht, dass sie solche sind. Allerdings neigen sie dazu, ihr rassistisches Gedankengut in Ideologien zu verpacken und machtbewusst in Gruppen zu demonstrieren.

Sexismus

Doch analog strukturierte körperliche Differenzerfahrungen gibt es auch zwischen Frauen und Männern, auch sie können zur persönlichen, gesellschaftlichen und ideologischen Diskriminierung führen. Beim Sexismus, der Geschlechter diskriminiert, geht es nicht einfach um Haut oder Haare, sondern um die primären und sekundären Geschlechtsmerkmale, die männliche oder weibliche Stimme, diffus unterschiedliche Ausprägungen des Körperbaus, unterschiedliche Kleidung und Selbstdarstellung. Hinzu kommt eine weit stärkere Einbindung von Frauen in körperliche Vorgänge (Schwangerschaft und Menstruation, die oft als Schwäche bzw. Unreinheit gedeutet werden). Auch hier können nur Frauen den Männern berichten (und umgekehrt), was die Betroffenen auf ihre Identität fixiert und was sie ausschließt.

 Rassismus und Sexismus sind zutiefst verschwisterte Phänomene, beides nur Sonderfälle einer durch Angst oder Konkurrenz gesteuerten „Anderen-Angst“ (Heterophobie), die sich aus verschiedensten Gründen zum Hass des Anderen steigern kann.[7] Nach meinem Eindruck erfährt die irritierende Fremdwahrnehmung zwischen Männern und Frauen, beim Sexismus also, eine qualitative Steigerung. Denn im Regelfall gehört der Schock der Sexualität zu jeder menschlichen Entwicklung. Er setzt mit der Pubertät ein und bleibt immer gegenwärtig; bis ins hohe Alter hinein ist er in somatischen und psychischen Entwicklungsprozessen neu anzueignen. Deshalb ist die sexuelle Profilierung weithin präsenter und existentieller als die ethnische und vieles deutet darauf hin, dass sich (vor allem die monotheistischen) Religionen kraft ihrer religiösen Leidenschaft höchst aufmerksam um sexuelle Leidenschaften kümmern, die ebenfalls furchterregend und faszinierend sein können. Auch lässt sich dieser Stachel nicht einfach abtrainieren, wie uns die Erfahrungen mit dem Pflichtzölibat zeigen.

Deshalb vermute ich, dass die Grundmuster des Rassismus und anderer Heterophobien im Sexismus präfiguriert sind. Ungelöste Sexualkonflikte werden in ethnische und andere Konflikte projiziert. Nach meiner Erfahrung sind kirchliche Meinungsträger sich dieser Zusammenhänge nicht (kaum) bewusst.

 Körpererfahrungen

Entscheidend für die aktuelle Debatte ist aber dies: Primärer und elementarer Nährboden für rassistisches Verhalten sind ursprüngliche Körpererfahrungen. In ihrem schlichten Aussehen weichen Mitmenschen von unserem Selbstbild ab, sodass sie sich ‑ vorgängig zu jeder Definition ‑ zu Fremden stempeln. Man stößt sich an ihrer Hautfarbe oder Haarstruktur, vielleicht ihrer Form von Kopf oder Lippen. Wir entdecken schiefgestellte Augen oder eine Hakennase, möglicherweise einen ungewohnten Körpergeruch. Eng damit verwoben sind Kleidung und körperliche Selbstdarstellung, ein bestimmtes soziales Verhalten oder eine ungewohnte sprachliche Intonation. Im vorreflexiven Raum werden auch sie als körperliche Eigenschaften wahrgenommen, die eine Person von ihrer Wesensmitte her bestimmen. Ich spreche von elementarem Rassismus. Im günstigsten Fall können ihn nur Betroffene selbst überwinden, indem sie von ihren Gegenerfahrungen berichten. Rassismus entwickelt sich im Raum zwischenmenschlicher Begegnung; Kommunikation und Empathie sind das primäre angemessene elementare Gegengift.

Moderne Verdrängungen

Natürlich sind die Geschichten von Sexismus und Rassismus (Homophobie und Antisemitismus, Religionenhass und andere wohl kultivierte Ängste) mit diesen holzschnittartigen Hinweisen noch lange nicht erzählt. Wie wir wissen, nehmen sie in unterschiedlichen Gesellschaften unterschiedliche Formen an. Zudem führen sie in androzentrisch bzw. ethnisch dominierenden Bevölkerungsgruppen zu höchst umfangreichen Erinnerungs- und Begründungssystemen, Selbstdarstellungen und Ritualisierungen; vermutlich gehören die klerikale Selbstbegründung und Selbstdarstellung dazu; männerbündisch lassen sich die Lebensregeln des Klerikalismus perfekt rekonstruieren.[8] Man führt etwa die eigene Intelligenz und sein besseres Durchsetzungsvermögen ins Feld, ein trieb- oder emotionsgesteuertes Verhalten, die Defizite und Schuldgeschichten der Anderen, den Mythos von der weiblichen Verführung. Dazu gehört auch die Verdrängung der eigenen Schuld. Man denke an Hexenverfolgung, Kolonialismus und Sklaverei. Zudem gelingt es, Konkurrenzerfahrungen mit dem Anderen zu überhöhen.

Doch haben die sexistischen und rassistischen Stabilisierungen mit dem Aufkommen der Moderne einen merkwürdigen Bruch erlitten. Innerhalb und außerhalb der Kirche wurden sie kulturell durchschaut. Sie gerieten in offenen Widerspruch zu den Prinzipien eines aufgeklärten Handelns. Als einziger Ausweg blieben Verdrängung und Passivität, eine duldende Distanz gegenüber den repressiven Verhältnissen. Jetzt wollte man weder Frauenfeind noch Rassist sein, dennoch die eigene Vorrangstellung behalten. Folge dieses inneren Widerspruchs waren Unberechenbarkeit, verborgener Hass und Aggression. Die fürchterliche Reaktion auf die jüdische Emanzipation in Deutschland spricht Bände und langfristig kam es zum spätmodernen Paradox, dass „aufgeklärte“ Menschen sich zwar wie Sexisten und Rassisten verhielten, ihre Phobie aber ignorierten. Bis heute bezahlen sie damit, dass sie sich gegenüber Frauen oder anderen Ethnien alle Empathie verbieten, denn diese könnte ihr Verhalten entlarven und destabilisieren. So bleibt ihnen nur der Rückzug auf abstrakte Theorien, etwa eine diffuse, pseudotheologische Geschlechter- oder Rassensymbolik, um – in Lobeshymnen eingepackt ‑ das letzte Refugium ihres Sexismus aufrecht zu erhalten: die unbedingte Kultunfähigkeit von Frauen.

Wie mir scheint, steht in kirchlichen Kreisen ein Empathie-freier Frauendiskurs in hohem Ansehen. In den vergangenen Jahrzehnten wurden dazu erstaunliche Texte produziert. Statt die Frau in kruder Weise als Pforte des Bösen zu beschimpfen (das wird nicht mehr akzeptiert), preist man die Würde der Frau und macht diesen Lobpreis zu einem Stilmittel[9], der sich zugleich als Alibi kirchlicher Frauendistanz erweist. Dies ist unverzichtbar, denn trotz eines männlich definierten Priestertums lässt sich im Rahmen einer aufgeklärten, bildungsoffenen und demokratisch orientierten Gesellschaft die sexistische Schizophrenie des Klerikalismus nicht mehr leugnen. So hat die Kirche einen opportunistisch halbierten Frauenrespekt entwickelt, der die Würde der Frauen zu Gunsten des kirchlichen Ansehens instrumentalisiert.

Ausweglose „Lösungen“

Solch opportunistisch halbierte Lösungen haben sich auch auf anderen Gebieten durchgesetzt. Ich nenne Antisemitismus bzw. Antijudaismus, Homophobie und ein oft schillerndes Verhalten während des Nationalsozialismus.

Homophobie: Ein irrational zwiespältiges Verhalten zeigt sich gegenüber der Homosexualität. Das Motto „Alles gegen die Sünder, aber nichts gegen die Sünde“ trägt massive Widersprüche in sich, ebenso die Warnung, homosexuelle Personen zu ordinieren. Diffuse Stützargumente zur Verurteilung von Homosexualität (Körperbau, Unfruchtbarkeit, seelische Unreife, Therapiefähigkeit) sowie unkritisch interpretierte Schriftworte haben noch immer ihre Wirkung. Ebenso unausgegoren, geradezu aggressiv ist die Ablehnung aller Gendertheorien sowie weiterer Formen von Sexualität, die unter der Formel LSBTIQ zusammengefasst sind.[10] Auf diesem Gebiet zeigt sich höchst dramatisch, wie wenig der offizielle Katholizismus mit Fragen und Konfliktfeldern der Körperlichkeit umgehen kann und wie wenig Solidarität er mit diesen benachteiligten Minderheiten zeigt.

Antijudaismus und Nationalsozialismus: Gewiss, der millionenfache Mord von Juden hat weiteste Kirchenkreise endgültig bekehrt, aktuelle Vorwürfe des Antijudaismus oder Antisemitismus sind unberechtigt. Doch die Geschichte der jüngsten Vergangenheit ist immer noch nicht aufgeklärt; es bleiben gravierende Irritationen. Zum Verhalten mancher deutschen Bischöfe während des nazistischen Regimes bleiben ebenso Fragen offen wie zur Rolle Pius‘ XII, in dessen Archiv man mindestens 15.000 meist verzweifelte Bittschriften aus jüdischer Hand gefunden hat. Auf den ersten Blick ist die Diskrepanz zwischen diesen Vertrauenserweisen und ihrer Abhandlung unerträglich.[11]

Fragen sind auch Benedikt XVI. zu stellen: Warum dachte er sich 2008 eine neue übergriffige Osternachtbitte aus, die Juden möchten Jesus Christus als den Retter aller [!] Menschen anerkennen? Gewiss, das macht ihn zu keinem Antisemiten, aber durch die Hintertür kehrt atmosphärisch das hochgefährliche Motiv von den „perfiden“ Juden wieder zurück.

Später umging er eine klare Stellungnahme gegenüber seinem Großonkel, dem Theologen, Publizisten und Politiker, aber auch massiven Judenkritiker Georg Ratzinger (1844-1899); unter Pseudonym schrieb er höchst judenkritische Bücher, was Josef Ratzinger zu übersehen schien: die Familie sei auf seine gesellschaftspolitischen Verdienste für ein sozialeres Zusammenleben stolz gewesen. War man von seinen antijudaistischen Ausfällen nicht peinlich berührt?[12] Die einschlägigen Bemerkungen des amerikanischen Vatikanjournalisten John L. Allen wurden in der deutschen Übersetzung ohne weiteren Hinweis ausgeblendet.[13] Was genau gab es da zu verbergen?

Eine schimmernde Ambivalenz zeigt sich auch bei der Aufarbeitung des deutschen „Kulturkatholizismus“, den 1903-1941 die Zeitschrift Hochland unter der Inspiration von Carl Muth (1867-1944) prägte. Hier zeigt sich Exemplarisches. Gewiss die meisten Autoren stemmten sich tapfer gegen die nazistische Ideologie, ihren Antisemitismus eingeschlossen, schließlich wurde die Zeitschrift auch verboten. Doch genauere Analysen konnten zeigen, dass ihnen eine letzte Entschiedenheit und Leidenschaft fehlte; man achtete darauf, dass man nicht zu weit ging. Der Historiker H. G. Hockerts (München) brachte die vorherrschende Haltung auf die Formel: Abstand, aber kein Widerstand.[14] Wie mir scheint, lässt sie sich – damals wie heute – auf das Verhalten vieler katholischer Institutionen und Amtsträger übertragen. Man missbilligte den Krieg, ließ aber Kriegsdienstverweigerer (etwa Franz Jägerstätter) im Stich. Offensichtlich trifft dieser doppelte Boden auch auf die hier besprochenen Konfliktfälle zu. So lohnt sich die Frage, was an diesem schillernden Lösungsschema so verlockend ist. Warum werden in einer Religion, in der doch leidenschaftliches Engagement gilt, diese austarierten, rational abgewogenen, auf eine gelassene Rationalität herab gedrosselten Ja-Aber-Lösungen zu Generalformeln, zu Zeugen einer überzeitlichen Glaubenstreue, für die überholte Regeln einer Institution mehr gelten als der leidenschaftliche Einsatz für die Opfer überholter Normen?

Warum Zwitterlösungen?

Aus welchem Geist also sind diese selbstzerstörerischen Zwitterlösungen, diese wohl reflektierten Inkonsequenzen geboren? Wie kann es zum Beispiel sein, dass man
– intensiv die Würde der Frauen betont, um sie gleichzeitig für kultunfähig zu erklären?
– homosexuellen Menschen mit Respekt begegnen will, zugleich aber LSBTIQ und Gendertheorien scharf angreift?
– nachdrücklich an einem guten Verhältnis zum Judentum bemüht ist, den jüdischen Glauben aber immer noch als unterlegen und überholt kritisiert?
– kirchliche Pluralität und Kontextualität propagiert, aber außereuropäischen Theologien nur mit repressiver Toleranz begegnet?
– klerikalen Missbrauch von Kindern als abscheulich verurteilt, ihrer vorbehaltlosen Aufarbeitung aber zähen Widerstand entgegensetzt?

Steckt der Unwille dahinter, sich von vertrauten vormodernen Überzeugungen zu lösen oder geht es schlicht um den Machterhalt der monokratisch agierenden Machtträger? Blockiert ein un-geschichtliches, reform-unfähiges Dogmenverständnis von vornherein jede Flexibilität oder will man nicht einsehen, dass bei zentralen Irrtümern sich auch die Kirche korrigieren muss? Ist man einfach darüber beleidigt, dass sich die Moderne dem kirchlichen Definitionsanspruch entzieht oder erliegen umgekehrt die offiziellen Kircheneliten dem Zwang, sich mit dem gegenwärtigen Rechtsbewusstsein wenigstens zur Hälfte zu arrangieren? Identifiziert man die Institution Kirche so distanzlos mit dem Willen Christi, dass man aus den Dilemmata keinen Ausweg mehr findet?

Alle diese Motive mögen eine Rolle spielen: sie zeigen, dass auch die Kirche kulturellen und menschlichen Zwängen unterliegt und sich in hoffnungslose Rechthaberei verfangen kann. Es reicht eben nicht, einfach ein neues spirituelles Öffnungspotential anzubieten.

Ich möchte an einen Aspekt erinnern, der die hier genannten Konfliktfelder miteinander verknüpft. Wie der Umgang mit Frauen exemplarisch zeigt, hat sich die römisch-katholische Kirche nie mit der Körperlichkeit, dem „Fleisch“ der Menschen versöhnt, weder im sexuellen noch im ethnischen, nicht im interkulturellen, in Maßen nur im sozialen Bereich. Im Gegenteil, mit der Körperlichkeit führt sie schon immer Krieg; er führte zu Dualismus und Doppelmoral. Es spricht Bände, dass unsere Kirchenleitung den Zölibat noch immer für eine vorbildliche, einem Priester angemessene Lebensform hält. Es ist eine Lebensform des ständigen Kampfes gegen Leidenschaft und für eine stoisch beruhigte Gelassenheit.

Widerständige Körperlichkeit

Die biblischen Schriften konnotieren bis hin zu Paulus die Metapher vom Fleisch meist negativ. Das Fleisch ist schwach, vergänglich, hat keinen Bestand. Zum Geist bildet es einen negativen Kontrast, in ihm wohnt nichts Gutes (Röm 7,18). Die augustinische Tradition zog daraus drastische Konsequenzen mit Langzeitwirkungen bis in die Gegenwart. Doch was nützen diese Abwertungen? Können wir uns dieser Realität entziehen? Der Hebräerbrief, der sich intensiv mit der Erfahrung des Leidens auseinandersetzt, zieht ganz andere Konsequenzen. Allen kritischen religiösen und moralischen Bewertungen zum Trotz stellt er programmatisch fest: Wir, die Kinder Gottes, sind eben von Fleisch und Blut. Deshalb hat auch Jesus Christus Fleisch und Blut angenommen (Hebr 2,14). Das Johannesevangelium greift diese Linie auf, um sie als Paradox zu formulieren: Das Wort ist Fleisch geworden (Joh 1,14) und er gibt sein Fleisch für das Leben der Welt (Joh 6,51).

Diese beiden Dokumente rufen nicht dazu auf, die Menschen dualistisch in Geist und Materie aufzuteilen, sondern sich mit Leib, Fleisch und Blut als einem Gottesgeschenk zu versöhnen. Das ist gut so, denn es gibt eben kein Leben ohne Fleisch und Blut, ohne Sexualität und körperliche Merkmale. Reine Geister sind Idealismus pur. Günther Doliwa erklärt zurecht: „Das Wort, das nicht Fleisch wird, wird ein Dämon“[15] Wer sich ernsthaft mit Menschen auseinandersetzt, wird ihr Fleisch und Blut ernstnehmen, deren Geschlecht und Hautfarbe, ihre sexuelle Eigenart und ihre eingefleischten Gewohnheiten, sowie deren individuelle Geschichte mit ihren besonderen Kontexten.

Vielleicht zählt diese Versöhnung mit unserer und anderer Leiblichkeit zu unseren aktuellen Hauptaufgaben. Erst die Evolutionstheorie, die Psychoanalyse, die Kritische, kontextuelle und Gender-theologien machten es uns deutlich. Auch im Idealfall sind unsere Körper keine kybernetisch oder vom Geist gesteuerten Maschinen. Es sind vielmehr hochkomplexe, tief in der (Trieb-)Natur verankerte, immer dynamische, zugleich ganz eigenwillige und anarchische Fließgleichwichte, die jeweils ihre eigene und einzigartige Identität und Würde entfalten. Wir nehmen Menschen und menschliche Gruppen, die Mehrheiten und die Minderheiten nur dann ernst, wenn wir diese Würde achten und zum ständigen Ausgangspunkt unseres Handelns machen.

Auf diese anarchische, einzigartige Welt der Körperlichkeit, so der Hebräerbrief, hat sich Jesus eingelassen. Die Leiblichkeit ist nicht der Kampfplatz gegen gottfeindliche Versuchungen und der Mensch kein Wesen, das seinen Leib möglichst unterwerfen und beherrschen soll. Vielmehr ist der leibhafte, immer im Leib, also in seinem Körper lebende und mit anderen Körpern verbundene Mensch „das Ende der Werke Gottes“. Nur dort kann sich Liebe voll entfalten, statt sich mit gebotenem Abstand zu beweisen.[16]

Offensichtlich hat die römisch-katholische Tradition dies nie richtig begriffen. Spätestens seit dem 5. Jahrhundert hat sie versucht, unsere Leiblichkeit, unser Fleisch und Blut, nach höheren Regeln zu modellieren, sie untertänig und regierbar zu machen; Augustinus machte sie zum Zeichen der Sündigkeit und die Frauen zu deren Symbol. Die eroberungswütige Neuzeit machte die „Wilden“ zu Sklaven und eine christliche Überlegenheitsideologie schikanierte die Juden und andere Ethnien. Vielerorts wird im Namen des Christentums heute noch gleichermaßen Krieg geführt gegen die weibliche Sexualität sowie gegen ethnische Minderheiten. Statt eines empathischen Umgangs miteinander erwächst daraus ein autoritäres Verhalten, das sich durch jede Abweichung von dominierenden Linien gestört fühlt.

Diese schwere Deformation zeigt sich in der Art, wie unsere Kirche mit der paulinischen Leib-Metapher umgeht. Paulus geht es um die Vielfalt des Leibes und um seine Funktionen, um gegenseitige Verantwortung und Empathie: „Wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit; wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle Glieder mit.“ (1 Kor 12,26). In seiner einflussreichen Enzyklika vom Mystischen Leib (1943) greift Pius XII. die Metapher auf. Doch er unterschlägt exakt die unberechenbare Vielfalt des Leibes und die immer einzigartige konkrete Gestalt, die jeden Leib so einzigartig, widerständig und vielfältig macht. Stattdessen hämmert er seiner Kirche ein, ihr ganzes Wohlsein hänge an der Vorrangstellung ihres sichtbaren Hauptes. So aber macht er die Gemeinschaft der Nachfolge zu einem kybernetisch vernetzten Monster. Es lebt nicht in und aus gegenseitiger Versöhnung, sondern aus autoritären Verhaltensweisen; gegenseitiges Vertrauen wird durch Unterordnung ersetzt. Dass man ausgerechnet Frauen bei der Feier der Eucharistie diskriminiert, die so intensiv aus der Leibmetapher lebt, gehört zur geradezu absurden Tragik dieses fehlgeleiteten Kirchenbildes.

Deshalb tun wir gut daran, das Gottesvolk der Kirche auch als eine Gemeinschaft von Menschen aus Fleisch und Blut in den Blick zu nehmen, von körperlichen Wesen also, die immer schon Männer oder Frauen sind, vielleicht Asiaten, Afrikaner oder auch Europäer.[17] Es ist eine Gemeinschaft, die gemäß organischen Gesetzen von unten wächst, durch „Organe“ vertreten wird, deshalb immer vielfältig, unberechenbar und körperlich widerständig bleibt. Zu dieser Widerständigkeit gehört aber auch die ständige, einvernehmliche und versöhnende Begegnung. Umgekehrt gesagt: Wer wirkliche Versöhnungsarbeit leisten will, kann es nicht bei einer gepflegten Abstandskultur (wie in Corona-Zeiten) belassen, denn zur Versöhnung gehören auch leidenschaftliche Bejahung oder entschiedener Widerstand. Nur wer mit den leiblichen Differenzen zwischen Geschlechtern, Ethnien und ihren Traditionen von innen her vertraut ist, kann zur Versöhnung von Gesellschaft und Welt den gebotenen Beitrag leisten.

So rührt Johanna Rahners Analogie zwischen Rassismus und kirchlicher Frauenabwehr an eine Schlüsselfrage, die nicht mehr verdrängt werden sollte. Auch die Frage eines kirchlichen Rassismus wäre es wert, auf Abstand und Widerstand hin genauer untersucht zu werden.[18]

Anmerkungen

[1] In der Mitte des 19. Jahrhunderts stellte man sich diese Übermittlung in Rom auch so vor: Maria schrieb im Himmel Briefe, die sich in einem Holzkästchen auf dem Altar des Klosters St. Ambrogio materialisierten. Josef Kleutgen, späterer Verfasser der Unfehlbarkeitsbulle (1870), entnahm die Briefe und leitete sie den vorgegebenen Adressaten als himmlischen Befehl weiter. Es versteht sich, dass das Unfehlbarkeitsmodell in einer solchen Atmosphäre prächtig gedeihen konnte. Zur näheren Information: Hubert Wolf, Die Nonnen von Sant’Ambrogio. Eine wahre Geschichte, München 2013, 171-178 (Die Gottesmutter schreibt Briefe).

[2] Die Schlüsselstelle der Unfehlbarkeitsbulle lautet: ex sese, non autem ex consensu ecclesiae (DH 3074).

[3] Erklärung der Glaubenskongregation Mysterium Ecclesiae, vom 24. Juni 1973 unterzeichnet von F. Šeper und H. Hamer (DH 4530-4541).

[4] DH 4540

[5] Petra Morsbach, Machtmissbrauch und Widerstand in: Herder Korrespondenz 4/2021, S. 18-22.

[6] Dieses Problem berührt nicht nur die römisch-katholische Kirche, sondern ist von ökumenischer Bedeutung.

[7] Vgl. Albert Memmi, Rassismus, Frankfurt 1992, S. 124 (vgl. den Artikel Rassismus bei Wikipedia)

[8] https://www.hjhaering.de/was-ist-klerikalismus/

[9] Ein geradezu klassisches Dokument für diese doppelbödige Taktik ist das Apostolische Schreiben von Papst Johannes Paul II. über die Würde der Frau (Mulieris Dignitatem) vom August 1988.

[10] Gemeint sind Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans*, Inter* und queere Menschen.

[11] Hubert Wolf, Die Briefe an den Stellvertreter, Interview mit Volker Resing, in: Herder Korrespondenz 5/2012, S. 17-20.

[12] Josef Ratzinger, Salz der Erde: Christentum und katholische Kirche an der Jahrtausendwende; ein Gespräch mit Peter Seewald, Stuttgart 1996, S. 47.

[13] In der deutschen Übersetzung des genannten Buches (Kardinal Ratzinger, Düsseldorf 2002) wurde das 1. Kapitel (Growing Up in Hitler’s Shadow) des englischen Originals ohne näheren Hinweis unterschlagen.

[14] Hans Günter Hockerts, Abstand oder Widerstand? Carl Muth und das Hochland im »Dritten Reich«, in: Tomas Pitrof (Hg.), Carl Muth und das Hochland (1903-1941), Freiburg 2018, 428-443.

[15] Günther M. Doliwa, Glaube Liebe Hoffnung II: Über die schönste aller schönen Künste 2013, 91-139.

[16] Das Wort stammt von dem schwäbisch-pietistischen Theologen Christian Friedrich Oetinger.

[17] Der juristisch verengte Begriff der Körper-schaft könnte seine ursprüngliche Bedeutung zurückerhalten: Ein Gesamt, eine Gestalt oder Schöpfung aus Körpern, die selbst zum Körper-wesen, zum „Leib“ wird.

[18] https://www.hjhaering.de/eine-unappetitliche-geschichte-zum-konflikt-eines-afrikanischen-priesters-mit-deutschen-katholischen-behoerden/