I. Die aktuelle Situation
- Wir leben in einer Zeit des tiefgreifenden Umbruchs. In ihr haben sich die großen Glaubensvisionen der vorhergehenden Epoche verflüchtigt. Neue Visionen sind nicht an ihre Stelle getreten.
Dieses Vakuum ist der eigentliche Grund für die wachsende Bedeutungs- und Sprachlosigkeit der Kirche. Diese wurde im Jubiläumsjahr 2017 in ökumenischer Breite offenkundig.
- In den achtziger und neunziger Jahren hat die katholische Kirche die Chance verpasst, die Zeichen einer neuen Zukunft zu lesen. Zwar investierten Viele (Frauen und Männer, Jüngere und Ältere, Gemeindemitglieder und Ordensleute) ihre Kraft in zukunftsweisende Ansätze, doch ein versteinerter Konservatismus hat diese Impulse konsequent und erfolgreich blockiert. Um des innerkirchlichen Friedens willen schreckten die Reformkräfte vor fundamentalen Konflikten zurück. Dafür bezahlen wir heute die Rechnung.
- Visions- und erfolglose Gemeinden reagieren selbstbezogen und selbstverliebt, dies lässt sich vielfach belegen. Sie verwechseln den Dienst an der christlichen Botschaft mit einer gut organisierten Pastoral und ihrem eigenen Wohlsein. Das ist eine gefährliche Täuschung. Die Suche nach einer neuen Glaubensvision ist deshalb kein hehres Ziel, sondern unverzichtbare Grundbedingung für eine neue Zukunft der christlichen Gemeinden.
- Die eingetretene Horizontverengung und Abwärtsspirale ist den reformorientierten Gemeinden, Gruppen und Bewegungen nicht einfach als Schuld anzurechnen. Zum Schicksal wurde ihnen eine falsch verstandene, weil obrigkeitsorientierte Kirchlichkeit, die für unerwartete Charismen und deren Impulse keinen Freiraum mehr bot.
- Dabei brach ihnen die mittlere Generation unwiederbringlich weg und die junge Generation startet ihre christliche Lebensgestaltung unter denkbar schlechten Bedingungen. Sie wird im Blick auf den jesuanischen Impuls ihre Wege selbst finden müssen. Doch das hat Vorteile.
II. Die Schlüsselrolle der Säkularisierung
- In dieser Entwicklung spielen die vielfältigen Säkularisierungsprozesse eine Schlüsselrolle. Alle Kirchen und kirchlichen Gruppierungen interpretieren sie als einen Glaubensverlust, den es abzuwehren gilt. Damit verkennen sie die Zeichen der Zeit. Sie schwächen sich, indem sie sich von ihrer eigenen Welt distanzieren.
- Die aktuellen Säkularisierungsprozesse deuten auf eine andere Entwicklung hin: Auf breiter Basis emanzipiert sich der christliche Glaube von den Leitungsansprüchen kirchlicher Institutionen, von ihren institutionellen, liturgischen, dogmatischen und sprachlichen Vorgaben. In der Säkularisierung fordert die Welt die Rechte ein, die ihr auf Grund kirchlicher Definitions- und Machtansprüche genommen wurden. Bislang haben dies nur wenige reformorientierte Gruppen erkannt. In dieser Erkenntnis läge der Schlüssel zur notwendigen Kurskorrektur.
III. Die prophetische Botschaft Jesu
- Ein unbefangener Blick auf die prophetische, durch und durch weltliche Botschaft Jesu legt dieses Missverständnis offen. Wer die Evangelien liest, sollte mit wachem Auge auf das jüdisch-prophetische Erbe der Jesusverkündigung sowie auf die oft gegenwärtige Unterscheidung zwischen Reich Gottes und Kirche achten. Jesus verkündete nicht die Kirche, sondern Gottes Reich, keine erneuerte Gottesdienstkultur, sondern die Gegenwart Gottes an den Enden der Welt, kein wohlgeordnetes Kirchensystem, sondern gelingende Beziehungen und gegenseitiges Verstehen. Für die ständige Selbstbewerbung der Hierarchie ist in der Verkündigung Jesu kein Platz.
- Die theoretisch-abstrakte Übersetzung der prophetischen Reich-Gottes-Botschaft in unsere säkulare Gegenwart ist weithin geleistet und liegt auf der Hand. Es geht primär um die gelingende Zukunft einer weltweiten, in Frieden und Gerechtigkeit versöhnten Menschheit sowie um die Bewahrung der Schöpfung. Der Weg beginnt mit der Solidarität mit den Schwachen, Ausgeschlossenen und Entrechteten unserer gegenwärtigen Welt. Diese Botschaft ist weitgehend akzeptiert, doch die Kirchen haben sie in ihrer Verkündigung zum Beiwerk des Glaubens, zum bloß ethischen Auftrag, zur reinen Pflicht und Schuldigkeit herabgestuft. Das ist zu wenig und Verrat am jesuanischen Auftrag.
- Die Botschaft Jesu hat diese Zukunftsvision in einen religiösen und spirituellen Rang erhoben. Der Glaube erwächst aus der Lust zu Solidarität und Nächstenliebe, nicht aus einer auferlegten Pflicht.
- Biblisch gesehen sind Gottes- und Nächstenliebe von gleichem Rang (Mt 22,39). Gott und Christus sind primär in den Mitmenschen, nicht in einem Kult gegenwärtig (Mt 25,36) und das Johannesevangelium hat den Abendmahlsbericht durch den Bericht von der Fußwaschung ersetzt (Joh 13, 1-11). Dort kann Gottes Reich unmittelbar beginnen.
IV: Gott im säkularen Lebensraum
- Jesuanisch gesehen ist die primäre Heimat der Gemeinde weder ihre Selbstdarstellung noch ihr eigenes Wohlbefinden, auch kein sakraler Ritus oder Tempel. Ihre Heimat ist ihr säkularer Lebensraum vor Ort, den es als Gottes Schöpfung zu vermenschlichen gilt.
- Auch ist es kaum jesuanisch, den Gottesdienst bzw. die Eucharistiefeier einseitig (und säkularisationsfeindlich) zum isolierten spirituellen Mittelpunkt des christlichen Glaubens zu erklären, obwohl die katholische Kirche darin noch immer ihr Alleinstellungsmerkmal sieht. Damit sei die Bedeutung der Eucharistie nicht relativiert, aber die Eucharistie wird nur dann zum Sakrament, also zur wirksamen Quelle des Glaubens, wenn sie aus der Erfahrung dieser Reich-Gottes-Praxis lebt. Andernfalls verkommt sie zur frommen, therapeutisch vielleicht hilfreichen Selbstbestätigung.
- Die jüdischen Propheten sehen Jahwe vorrangig als einen machtvoll herrschenden, mit einem glänzenden Hofstaat umgebenen Gott. Dagegen sind die Worte und Gleichnisse Jesu von der Alltagswirklichkeit der einfachen Menschen geprägt. Bei ihnen geht es um die Suche nach dem Verlorenen, um gegenseitige Vergebung und Versöhnung. Sie lassen die Symbolik eines machtvoll und königlich regierenden Gottes in den Hintergrund treten.
- So führt die prophetische, mit den Menschen solidarische Reich-Gottes-Praxis zu keinem blinden Aktionismus. Im Gegenteil, erst sie gibt dem Gottesglauben seine wahre Tiefe zurück. Gott wohnt in keinem dinglichen und weltfernen Jenseits, sondern im Schicksal und in den Herzen der Menschen, deshalb auch in jeder menschlichen Gemeinschaft.
- Diese weltoffene Glaubenspraxis überwindet alle Nostalgie, denn hier und jetzt, in Menschen und Welt findet sie das Geheimnis des Göttlichen. In diesem aktuellen Horizont lassen sich das Gebet, die Meditation und die Liturgie der Gemeinde erneuern: „Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt.“ (Joh 11,25). Im Geiste Jesu sind wir bereits auferstanden.
V. Erneuerung der Gemeinden
- Paulus redet keinen Gesamtverband, sondern seine Ortsgemeinden als Kirche an, denn in erster Linie vollziehen sie, was Kirche ausmacht. Ihre Kompetenz, die prophetische Nachfolge Jesu vorbildlich zu gestalten, liegt auf dem Schnittpunkt von weltlichem Alltag und regelmäßiger Zusammenkunft. Dazu gehört auch ihr Recht, Gottesdienste und die sonntägliche Eucharistie zu feiern.
- Die Befreiungstheologie ist auf der richtigen Spur. Ihre theoretischen und praktischen Impulse sind jedoch in den Lebensräumen Westeuropas voranzutreiben und zu konkretisieren.
- Es gibt eine Vielfalt von kirchlichen Reformansätzen. Je nach Vorlieben sind sie biblisch oder gesellschaftskritisch, anthropologisch oder soziologisch, psychologisch oder therapeutisch, liturgisch oder ästhetisch akzentuiert. Sie alle haben ihr relatives Recht, sind aber von der prophetischen Vision Jesu her zu durchdringen. Erst so erhalten sie ihren für Gesellschaft und Kulturen relevanten Ort.
- Deshalb beginnt die Erneuerung der Kirche mit einer erneuerten Reich-Gottes-Praxis ganz unten, in den christlichen Gemeinden. Autorität und Leitungskompetenzen der überörtlichen Kirchenleitungen ergeben sich aus dem Dienst, den sie für das Wohl und den gesamtkirchlichen Zusammenhalt der Gemeinden erbringen. Wegen offenkundigen Versagens können auch bischöfliche und andere Kirchenleitungen Autorität und Kompetenzen verlieren.