Zu Recht hat das Manifest „Die Wahrheit wird euch freimachen“ in Kirche und Gesellschaft zu einer breiten moralischen Empörung geführt. Die Reihe seiner Verdächtigungen ist absurd, die Angst vor einer Weltregierung unbegründet, das kirchliche Anspruchsdenken überheblich, der Aufruf zum Widerstand gefährlich und dazu angetan, die Menschen noch mehr zu verunsichern, als sie es in der gegenwärtigen Krise ohnehin schon sind. Eine christlich motivierte Reaktion sollte sich jedoch mit den Endzeitvorstellungen beschäftigen, die in vielen Menschen noch tief verankert sind, von Kirchen, christlichen Gemeinden und Theologie aber seit lange vernachlässigt werden. Wir brauchen eine jesuanisch inspirierte und für die Gegenwart erneuerte Erzählung über das Ziel von Menschheit und Welt. So gesehen ist eine Auseinandersetzung mit diesem Manifest selbst nicht der Mühe wert. Es braucht aber eine weiterführende Antwort.
Der Aufruf vom 7. Mai 2020, vom kurialen Exdiplomaten Erzbischof C. M. Viganò verfasst und inzwischen von mehr als 20.000 Gleichdenkenden, darunter drei papstkritischen Kardinälen unterzeichnet, beginnt mit tiefstem Pathos, als käme er aus päpstlicher Hand. Er spricht von höchster Krise, heiliger Pflicht, appelliert an die „Mitbrüder im Bischofsamt“ und an alle Gliederungen der römisch-katholischen Kirche, richtet sich vor allem an „Intellektuelle, Mediziner, Anwälte, Journalisten“ und andere Fachleute, schließlich an alle, die ihn unterzeichnen möchten, also die gesamte Menschheit.
Das apokalyptische Denken der USA
Dann folgt eine lange Liste schwerster Anklagen, derer sich die Staaten gerade schuldig machen: die Verletzung der Bürgerrechte, der Religions-, Meinungs- und Bewegungsfreiheit, eines wissenschaftlich ungerechtfertigten Alarmismus zur Erzeugung von Panik und zur Kontrolle des Menschen. Ziel sei die „Schaffung einer Weltregierung, die sich jeder Kontrolle entzieht“. Zu vermeiden seien deshalb jede Form von Sozialmanipulation („verabscheuungswürdige technokratische Tyrannei“), die gewinnorientierte Ächtung wirksamer Medikamente, die Herstellung von Impfstoffen aus abgetriebenen Föten, der Einsatz von Tracingsystemen sowie die Strafimmunität von Menschen, die einen Rückgang der Bevölkerung in die Wege leiten. Das alles sei anzuprangern, denn Presse und Fernsehen zensierten inzwischen die Nachrichten, informierten parteiisch und förderten „subtile Formen der Diktatur, vermutlich noch schlimmer als jene, die unsere Gesellschaft in der jüngeren Vergangenheit entstehen und vergehen sah“. Schließlich werden die kirchlichen Rechte gegenüber dem Staat eingefordert, insbesondere die Autonomie in Gottesdienstleitung und Wortverkündigung. Der Staat habe keinerlei Recht, sich in die Souveränität der Kirche einzumischen. Unbefangene Leser/innen staunen oder – das sind wohl nicht wenige – fühlen sich in ihrem Misstrauen gegenüber Öffentlichkeit und Welt endlich von höchster Autorität bestätigt.
Doch das war nur ein Vorgeplänkel, jetzt werden die entscheidenden Folgerungen gezogen: Als Christ musst Du Dich entscheiden, Du bist „entweder mit Christus oder gegen Christus“, konkreter: mit oder gegen die römisch-katholische Kirche, und ganz konkret: mit oder gegen die Autoren dieses Briefs. Doch trotz gegenteiliger Inszenierung spricht aus den Zeilen alles andere als die offizielle Kirche. Der notorische Papstfeind Viganò (Der Diktator Papst, 2018) ist schon genannt. Hinzu kommen die pensionierten Kardinäle und Papstkritiker G. M. Müller (Rom), J. Zen Ze-kiun (Hongkong) und J. Pujats (Riga). Kardinal Sarah (Rom), der gerne mit unserem Ex-Papst im trauten Gartenkloster konspiriert, soll seine Unterschrift wieder zurückgezogen haben. Allein aus Berlin werden 100 Unterschriften gemeldet, und dass der bekannte Impfgegner R. F. Kennedy Jr. zu den Unterzeichnern gehört, ist eher eine exotische Fußnote. Innerkirchlich geben sich die meisten neutral; doch der Brief kann sich nicht die unschuldige Bemerkung verkneifen, am Ende werde der Herr auch „uns Hirten“ richten. Dass Vaganò damit sich selbst meint, ist eher unwahrscheinlich.
Vielleicht hätte Viganò mit seinem absurden Erguss in den USA bleiben und sich als Parteigänger von D. Trump präsentieren sollen. Wer dort nämlich die Atmosphäre der kursierenden Fake News durchschaut hat, wird von Viganòs Schreckensmeldungen nicht mehr beunruhigt, in der selbst die Impffrage zum religiösen Glaubensbekenntnis geworden ist. Doch erinnert Viganò an eine apokalyptische Tradition, die bei christlichen Fundamentalisten schon immer rumorte, zu Zeiten von Präsident R. Reagan (1981-1989) neu aufflammte und seitdem von den Evangelikalen und in entsprechenden politischen Kreisen gepflegt wird: Die Endzeit ist nahe! Deshalb gilt kein Zögern mehr. Du musst wissen, ob Du für oder gegen Christus bist. Seuchen galten schon immer als apokalyptische Warnsignale. Jetzt ist die Stunde gekommen, da wir alle Ereignisse scharf analysieren, nach gut und böse einordnen und entschlossen regieren müssen. Denn vergessen wir nicht: nur die Auserwählten werden die himmlischen Freuden erreichen.
Westeuropas Angst vor dem Relativismus
Ich glaube nicht, dass sich diese Stimmung aufs abgebrühte Westeuropa übertragen lässt. Aber die Angst vor dem großen Zusammenbruch grassiert auch in Deutschland, wie wir an den aggressiven Demonstrationen sehen. Zwar bleibt die Szene diffus, vielleicht aber könnten sie noch gefährlich werden; denn viele von uns wissen nicht, in welches Schema sie diese Drohgesten (deren Regeln in den USA zumal unter D. Trump gut eingespielt sind), einordnen sollen. Umso mehr fallen bei uns die Dummheit und Infamie dieser Behauptungen über Medikamente, Impfmaterial und eine Weltregierung auf, zu denen Aluminiumhüte noch hinzukommen, man den Mundschutz mit einem Maulkorb verwechselt und noch nicht bemerkt hat, dass eine Lockerungsbewegung schon lange im Gang ist. Viel gefährlicher ist bei uns, dass unter dem Vorwand der aktuellen Sicherheitsmaßnahmen wieder Ausländerhass, Rassismus und Antisemitismus aufleben und die Verschwörungserzähler extremen, bisweilen gewaltbereiten Gruppen oft nahestehen.
Fragen wir also Kardinal Müller, den deutschsprachigen Protagonisten des Manifests, welche Kirchen- und Gesellschaftspolitik er betreibt. Man kennt seine verheerend reaktionären Kirchenbilder und wundert sich nicht, dass dahinter ein ebenso autoritäres Gesellschaftsmodell steckt, auch wenn er es als „Frechheit“ beschimpft, ihn konservativ zu nennen. Ist ihm auch klar, wie brutal er die unglaublichen Anstrengungen der Krankenpflege und Ärzteschaft lächerlich macht, als stilisierten sie ein bisschen Grippe zu einem Welttheater hoch? Wie weit steht es mit der Empathie dieses Mannes, der angesichts schwerster Erkrankungen nur zu erzählen weiß, wir hätten uns gegen eine drohende Weltregierung zu entscheiden? Hat ihm je jemand klar gemacht, dass vernünftig und redlich denkende Leute von seinem Kirchen- und Gottesbild nur noch die Flucht ergreifen können? Wie kann er es wagen, mit diesem Manifest der Arroganz noch als edel gekleideter Kirchenfürst mit goldenem Brustkreuz aufzutreten? Zwar ist damit schon Altbekanntes angesprochen, aber dass jetzt eine wütende Pandemie zur Verbreitung solch abstruser Ansichten missbraucht wird, kann die Empörung der Gutwilligen nur noch steigern.
Biblische und dogmatische Endzeitängste
Zur umfassenden Beurteilung des Manifests kommt ein spezifisch biblischer, bei vielen archaisch verwurzelter Aspekt hinzu, denn von Anfang an wird die christliche Botschaft von apokalyptischen Visionen begleitet. Für Jesus stand die Endzeit, das Reich Gottes, unmittelbar bevor. Täglich betet das Christentum darum, sein Reich möge kommen. Die Offenbarung des Johannes lässt dramatische Untergangs- und Gewaltphantasien erstehen und wiederholt kommt es in der Geschichte des Christentums zu apokalyptischen Naherwartungen. Man denke an die Wende zum 2. Jahrtausend, den Schwarzen Tod (1346/56), den Fall von Konstantinopel (1453), die Wiedertäufer der Reformationszeit (1534/35), die periodischen Vorhersagen des Weltendes durch ein fundamentalistisch orientiertes Christentum: Plötzlich werden die Verworfenen ins Nichts versinken und die Erwählten in den Himmel aufsteigen.
Bis heute trugen diese Vorstellungen zu politischen Verhärtungen und Frontbildungen bei. Seit 2017 genießt D. Trump eine geradezu messianisch-endzeitliche Verehrung, was auch schwerste ethische Verfehlungen neutralisiert. Deshalb sind auch die genannten apokalyptischen Anspielungen von enormem politischem Gewicht. Apokalyptik und gesellschaftspolitische Machtkämpfe sind eine enge Symbiose eingegangen, zu einer eigenen Erzählung zusammengewachsen, so dass man sie von außen oder durch rationale Argumentation kaum mehr in Frage stellen kann.
Im west- und südeuropäischen Raum setzte sich ein anderer Aspekt durch, den der Theologe, Glaubenspräfekt, Papst und Ex-Papst Joseph Ratzinger nachhaltig verkörpert. Auch er trägt einen endzeitlichen Kampf aus. Doch er versteht ihn nicht als apokalyptischen Streit mit Gewalt, Zerstörung oder kosmischen Ereignissen, sondern – gut platonisch ‑ als Kampf der unfehlbaren römisch-katholischen Kirche um die absolute, in Christus verleiblichte Wahrheit. Erst in den letzten Monaten hat er noch erklärt, was er schon zu Konzilszeiten betonte: unsere Kultur sei von einem unchristlichen, weil liberalen Humanismus bestimmt (F. W. Graf, Kirchendämmerung, 2011). „Diktatur des Relativismus“ war und ist sein Kampfbegriff; bis heute ist er von ihm besessen und seine ganze Präfekten- und Papstzeit lässt sich von ihm her verstehen. Schon früh, wie sich zeigen lässt, ging er unter apokalyptischen Vorzeichen damit um. Im April 2005 stellte sich der neugewählte Papst mit den Worten vor, er sei „nur ein einfacher demütiger Arbeiter im Weinberg des Herrn“. Das klang bescheiden und sympathisch, das Volk jubelte, auch Johannes XXIII. hätte so reden können. Doch in Wahrheit baute er damit eine Drohkulisse auf, die der Franziskanertheologe Bonaventura (1221-1274) angesichts seiner Enderwartungen entwarf (M. Delgado u.a., Europa, Tausendjähriges Reich und Neue Welt, 2003) und auf die sich Joseph Ratzinger schon 1957 in seiner Habilitationsschrift bezog: In der Zeit des nahenden Weltendes werde der „einfache Gläubige“ (simplex et idiota) über die großen Gelehrten triumphieren.
Dieses Klischee von der bescheidenen und heiligen Einfalt eignet sich hervorragend zur Dauerpolemik gegen die so komplizierten, unliebsamen und glaubensfernen Theologen. Es war Ratzinger, der für sich schon immer diese einfache Gläubigkeit in Anspruch nahm und sie verteidigte, obwohl er selbst eine höchst abstrakte Theologie entwickelte. Seine programmatischen Aufsätze zu Wesen und Gestalt Europas zeigen zudem, dass nur unter Führung des römischen Katholismus es ein legitimes Europa geben kann; deshalb geht es ihm immer um Sein oder Nichtsein des unbeschädigten christlichen Glaubens. Wenn Ratzinger sich eines Erfolges rühmen kann, dann einer unversöhnlichen innerkirchlichen Polarisierung, die schon mehr als 50 Jahren von diesem Gedankengut vorangetrieben wird. Die von Ratzinger produzierten dogmatischen Endzeitängste unterfüttern die biblisch verankerte Apokalyptik von destruktiven Macht- und Gewaltphantasien. Zusammen bilden sie ein undurchdringliches und höchst gefährliches Konglomerat.
Massive Verknotungen
So wirbelt das genannte Manifest, wenn man es im westeuropäischen Kontext liest, unterschiedlichste endzeitliche Krisenerzählungen durcheinander und macht sie unentwirrbar:
(1) Eine nordamerikanische, politisch hochbrisante Vorstellungswelt, die apokalyptische Vorstellungen mit aktuellen, gewaltaffinen, politischen, meist kapitalismusfreundlichen Tendenzen vermischt,
(2) Eine westeuropäisch-endzeitliche Vorstellungswelt, die – vom amtlichen Katholizismus gestützt ‑ aus einem Mix von staatskirchlichen Machtansprüchen und zeitlosen, dialogunfähigen Wahrheitsansprüchen besteht. Dazu kommen
(3) im deutschen Sprachraum aktuelle gesellschaftliche Krisenerscheinungen mit einer virulent diffusen Fülle von Verschwörungs- und Sündenbocktheorien, die von geltungsfreudigen Wortführern propagiert und verunsicherten Mitläufern übernommen werden.
Diese Erscheinungen treten jetzt in Interaktion mit der Corona-Krise des Alltags, die eine tiefe Verunsicherung nach sich zieht. Vergessen wir nicht: Diese Krise setzt die Bevölkerung massiven gesellschaftlichen, materiellen und seelischen Belastungen aus, die von den Krisenerzählungen kanalisiert werden und ihrerseits die gefühlten Belastungen steigern und radikalisieren können. Für Kardinal Müller und die Seinen wird die (allmählich schwindende und sich mythisierende) Gestalt von J. Ratzinger zur unangreifbaren Appellationsinstanz. Zombi-Katholiken umschwärmen seine Aura und gehen mit Allerweltszitaten hausieren. Kritiker werden verteufelt. Kardinal Müller, u.a. von der schwer reichen, aber absolut inkompetenten Fürstin Gloria unterstützt, ist offensichtlich der Überzeugung, dass er die Rolle des Felsens in der Brandung ausfüllt, nachdem der Felsinhaber endzeitlich ins Wanken gekommen ist. Natürlich durchläuft die katholische Kirche eine schwere Krise. Doch ihr moralisches Versagen soll jetzt von den genannten Untergangsphantasien überdeckt werden. Müllers empörte und überhebliche Reaktionen lassen nichts Gutes hoffen (DIE ZEIT v. 14.04.2020, S.50).
Den Nachdenklichen unter uns möchte ich die Lektüre dieses Manifestes nachdrücklich empfehlen, denn es entlarvt die geistig und spirituell desolate Situation, die den westlichen Kulturraum offensichtlich verbindet. Beschränken wir uns auf Deutschland. Eigentlich dürfte seine säkulare und wissenschaftsgläubige, technisch orientierte und politisch wohl sedierte Gestimmtheit diesen apokalyptischen und endzeitlichen Interpretationen kaum eine Chance bieten. Dennoch sprießen Verschwörungserzählungen wie nach einem Frühlingsregen aus dem Boden.
Zwar sind sie diffus und widersprüchlich, gleich, ob man China oder Angela Merkel, Bill Gates oder inkompetente Virologen hinter allem entdeckt, gleich auch, ob Entvölkerungsaktivisten, Impffanatiker oder 5G-Anlagen beschuldigt werden, gleich ob der Mund-Nasenschutz zum Redeverbot umgedeutet oder übersehen wird, dass zahlreiche Ausgangs- und Reiseverbote schon gefallen sind. Doch sie alle demonstrieren gemeinsam, die einen, um mehr Demokratie anzumahnen, die andern, um eine real funktionierende Demokratie aus den Angeln zu heben, der sie nicht mehr vertrauen. Daraus müssen wir schließen: Die allgemeine Verunsicherung reicht viel tiefer, als sich im Augenblick übersehen lässt und als unserer Öffentlichkeit zu besprechen vermag.
Genau dieses beunruhigende Phänomen hängt jedoch mit dem epochalen Versagen der Kirchen, insbesondere der katholischen Kirche zusammen, denn seit Jahrzehnten lässt sie die Menschen im Regen stehen. Sie hat den Kontakt mit ihnen verloren, weil sie sich nur noch um sich, um ihre vermeintlichen Glaubenswahrheiten, Vorrechte und elitäre Selbstdarstellung kümmerte. Konsequent hat sie alle zum Schweigen gebracht, die die heiligen Kühe aus einer monarchischen Kultur schlachteten, Partizipation und Geschlechtergerechtigkeit anmahnten und es wagten, auf die katastrophalen Fehlentwicklungen zu verweisen, die die Kirche Christi langsam, aber sicher aus der Spur brachten. Wie weit dieser Vorwurf auch die evangelischen Kirchen trifft, habe ich hier nicht zu beurteilen. Ich sehe nur, dass sie mit vergleichbaren Defiziten kämpfen.
Der christliche Grundimpuls
Die entstandenen Defizite sind massiv, denn offensichtlich braucht eine jede Gesellschaft, die Krisen überstehen will, umfassende (um nicht zu sagen: transzendierende) Erzählungen. Wer auf keine mehr zurückfallen kann, greift fragmentarisch auf alte Erinnerungen zurück oder schafft sich eben neue. Aus dem Weltenlenker wird der Weltverschwörer, dem Satan der Chinese oder wieder einmal der Jude. Alte Gewaltphantasien feiern Urständ und neue werden unkontrolliert angefeuert. Dagegen erschöpft sich ein verdorrtes Katechismuswissen von Müllers Schlag in einer weltfremden Indoktrination.
Sollen wir wieder zur alten Apokalyptik zurückkehren? Gott bewahre, denn ihre menschenfeindliche Anwendung hat uns genug Hass, Verachtung, Mord und Totschlag beschert. Doch gilt es, die Grundfragen, aus denen die Apokalyptik schon immer lebte, neu zu entdecken. Es geht um die Frage, welchen Sinn ich meinem Leben in Katastrophenzeiten geben kann. Wie gehen wir mit dem eigenen und dem Tod unserer Lieben um? Wem trauen wir die Garantie für den Sinn unseres Lebens zu und wie können wir unsere eigene, von uns selbst erfahrene Welterzählung so gestalten, dass sie auch anderen Menschen zu einem nachdenklichen und inspirierenden Angebot wird? Überfällig ist die Suche nach einer Sprache (der Weisheit, des Schweigens, der Poesie), die unseren Enttäuschungen und Erschütterungen, Bruch- und Hoffnungslinien Raum gibt.
Wenn eine Gemeinschaft – gleich, ob christlich oder nicht – in Zeiten der Krise verschüttete Quellen des Lebenssinns neu erschließen will, sollte sie wenigstens daran erinnern, dass es diese Quellen gibt und wir sie nicht überhören sollten. In den vergangenen Wochen etwa haben die Medien, nicht aber die Kirchen, die Frage besprochen, ob und wie wir umgehen können mit den Grenzen der Wissenschaft und Medizin, mit unserer Ungewissheit und dem Problem des Nichtwissens überhaupt. Vielleicht ist das die Schlüsselfrage unseres westeuropäischen Orientierungsverlusts, nur eine weiterführende Vision hilft da weiter. Deshalb hat es keinen Sinn, sich moralisch über Voganòs Manifest und seine Unterstützer zu empören. Dieser Zorn würde diesen ruinösen Text nur stärken und unser weltanschaulich-religiöses Versagen umso mehr entlarven.
Reformorientierte christliche Stimmen könnten ihre Erneuerungsversuche eine Stufe tiefer ansetzen, also nicht an der ethischen Korrektheit (das können andere auch und vielleicht noch besser). Sie könnten genuin christliche Inspirationen freilegen, die sich letztlich aus dem jesuanischen Reich-Gottes-Impuls ergeben. Jesus hat die apokalyptischen Gewaltphantasien gerade nicht als Modelle zur machtvollen Nachahmung, sondern zu deren Überwindung übernommen. Jetzt schon können wir uns freuen, jetzt schon sind die Armen reich, jetzt schon ist es möglich, den Tod zu überwinden. Wie wäre es, wenn Christen mit ihren Mitmenschen diese Erzählung wieder pur, also durch eine grenzenlose, aktuelle und von Vertrauen getragene Solidarität teilen würden? Einfacher gesagt: Wir könnten den Verunsicherten helfen, wieder zu sich selbst zu finden.