Der bisweilen karg wirkende, aber stets freundlich gesonnene Papst Franziskus hat Sinn für Symbolik. Zum einen erkor er sich Ahmad Al-Tayyeb, den Großimam der Ashar-Moschee in Kairo und Rektor der dortigen Universität, zum offiziellen Gesprächspartner und verlieh seinem Schreiben damit einen interreligiösen Akzent. Zum anderen fuhr er von Rom eigens in das 200 km entfernte Assisi, um am Todestag am Grab seines Namenspatrons seine neue Enzyklika zu unterzeichnen. Schließlich verweist zum zweiten Mal der italienische Titel auf den Poverello. Seine Umweltenzyklika von 2015 hieß Laudato si‘, die aktuelle Sozialenzyklika vom 4. Oktober 2020 trägt den Titel Fratelli tutti, übersetzt mit Alle Brüder und Schwestern; so redete Franziskus damals seine Lesegemeinde an. Die deutsche Übersetzung zieht Nutzen aus dem deutschen Wort „Geschwister“ (über 50mal), während in anderen Sprachen das traditionelle „Brüder“ und „Brüderlichkeit“ herhalten müssen.
Einklang mit der Tradition
Dieser Begriff führt schon ins Herz der Enzyklika, die der Geschwisterlichkeit und sozialen Freundschaft gewidmet ist. Die ersten Pressereaktionen sprechen von einer Sozialenzyklika. Bischof Bätzing charakterisiert sie als einen „eindringenden Appell“ und als ein „dringliches Werben darum, dass die Würde des Menschen zum Fundament des weltweiten Zusammenlebens wird.“ In der Tat wird das Dokument von einem dringlichen Ton sowie einer politischen und gesellschaftlichen Aktualität bestimmt. Beides ist für Papst Franziskus nicht neu. Vom ersten Tag seiner päpstlichen Amtsführung an strahlt er eine leidenschaftliche und reformwillige Ungeduld aus, vielleicht auch die Neigung, die Welt schwarz-weiß zu malen. Oft hatte er schon seine eigene Kirche im Visier, mehr und mehr blickt er auf die gesamte Welt. Deshalb ist auch diese Enzyklika von aktuellen Hinweisen überfüllt.
Geradezu alarmistisch wirkt das Kapitel I zu den „Schatten einer abgeschotteten Welt“ (Nr. 10-55). Umfassend thematisiert er die aktuellen Gefühle all derer, die als Beobachter oder als Opfer an dem dramatischen Zusammenbruch der ökonomischen, sozialen und politischen Weltkultur leiden, den die Corona-Krise allenfalls verstärkt. Große spirituelle Orientierung bietet dagegen Kapitel II (56-86), das sehr ausführlich und wirklichkeitsbezogen die Parabel vom barmherzigen Samariter auslegt und damit in die „Musik“ (277) der folgenden Kapitel einstimmt. Bis zum Schluss bilden diejenigen, die unter die Räuber fielen, die entscheidende, von Empathie getragene Perspektive. Zu Räubern werden diejenigen, die die Ausgestoßenen berauben. Nicht vergessen werden diejenigen, die meinen, sie könnten achtlos am Elend vorübergehen.
Danach werden ‑ im Doppelsinn von Autor und Gewährsperson ‑ franziskanische Maßstäbe entwickelt. Die Liebe und ihre öffnende, alles überschreitende Kraft bestimmt die soziale und wirtschaftskritische Botschaft von Kapitel III (87-127). Die Liebe ist universal. Sie hat die säkularen Werte von Freiheit, Gleichheit und solidarischer Geschwisterlichkeit so nachdrücklich zu prägen, dass die soziale Funktion etwa des Privateigentums neu zu denken ist (118-120). In einer These, die sicher der genaueren Differenzierung bedarf, betrachtet der Papst das Privateigentum nur als „sekundäres Naturrecht“, weil es dem elementaren Grundrecht aller auf unbedingt notwendige Güter nicht in die Quere kommen darf. Franziskus geht auf Konfrontation: „Wenn einer meint, dass es nur um ein besseres Funktionieren dessen geht, was wir schon gemacht haben, oder dass die einzige Botschaft darin besteht, die bereits vorhandenen Systeme und Regeln zu verbessern, dann ist er auf dem Holzweg.“ (7) Kapitel IV (128-153) nimmt das Phänomen der Globalisierung in den Blick und formuliert das Plädoyer für ein spannungsvolles Gleichgewicht zwischen Universalität und Lokalität (142), für die eine Lanze gebrochen wird. Dieses Kapitel spiegelt vielleicht am deutlichsten die persönlichen Überzeugungen von Jeosé Bergoglio sowie seine dramatischen Erfahrungen in den Favelas von Montevideo wider.
Kapitel V (154-197) ist vornehmlich der Politik gewidmet. Hier endlich wird der Papst unverwechselbar, denn neben den Abgrenzungen gegenüber Populismus und Liberalismus (155-164) und den Klärungen zum Volksbegriff konzentriert er sich entschlossen auf die Haltung und Praxis der Liebe. Sie kann alle die disparaten und auseinanderstrebenden Dimensionen des politischen Handelns zusammenhalten und bringt sie in ein integratives Handeln sowie in eine humane Praxis. Nächstenliebe ist immer realistisch (165), weil sie sich konkret um die Verlassenen kümmert. Sie führt zum Wandel des Herzens (166) und verleiht dem so gestalteten Leben eine spirituelle Tiefe (167). In der Kraft dieser „sozialen und politischen Liebe“ (176-180) fordert der Papst eine Reform internationaler Organisationen sowie die Souveränität eines universalen Rechts. Aus ihr erwachsen die Geltung der Menschenrechte sowie eine Stärkung der Zivilgesellschaft, die die staatlichen Aufgaben zu ergänzen hat (175). Anders gesagt: der Papst plädiert für eine „Zivilisation der Liebe“ (183). „Während jemand einem älteren Menschen hilft, einen Fluss zu überqueren – und das ist wahre Liebe – so erbaut der Politiker ihm eine Brücke und auch das ist Liebe.“ (186)
Auf Grund dieser Kapitel wurde die vorliegende Enzyklika schon vor ihrem Erscheinen als eine Sozialenzyklika qualifiziert, die der 1891 von Leo XIII. begonnenen Reihe eine weitere hinzufügt und somit die „katholische Soziallehre“ nicht nur fest-, sondern auch entschieden fortschreibt. In der Tat bleibt das Ringen des Papstes mit dieser geradezu unantastbaren Sozialtradition nicht verborgen. Er bemüht sich redlich darum, in deren Horizont zu bleiben. Aber im Grunde durchbricht er ihren streng rational argumentierenden Objektivismus und ihre abgeklärte Formelhaftigkeit. Er schreibt mit Leidenschaft und dem Gespür dafür, dass unerwartete neue Probleme neue Reaktionen erfordern.
Der unterscheidende Akzent
Besonders deutlich wird dies in Kapitel VI (198-221) über Dialog und soziale Freundschaft sowie in Kapitel VII (222-270) über Wege einer neuen Begegnung. Ich erkenne hier den Versuch, einer immer differenzierter und anonymer werdenden Welt die unverzichtbare Basis personaler Aspekte entgegenzusetzen. Deshalb wird betont: Eine Gesellschaft bleibt immer auf einen Konsens angewiesen, der letztlich personal zu vermitteln ist. Deshalb spricht Franziskus von „sozialen Freundschaften“, also Strukturen und Regelungen, die freundschaftliches Verhalten institutionell erweitern können. Diese Freundschaften ermöglichen einen wirksamen und vorbehaltlosen, internationalen und interdisziplinären Austausch von Gütern und Informationen (204) und halten die elementare Frage nach der Wahrheit wach. Sie bewahren uns vor dem Scheinkonsens einer „eingeschläferten und eingeschüchterten Bevölkerung“ (209). Unverzichtbar sind deshalb auch „Wege zu einer neuen Begegnung“ (226), die einen konstruktiven Umgang mit Konflikten und schließlich die Kraft zur Vergebung (236) ermöglichen.
In diesen beiden Kapiteln ist die Bergoglios Volk-Gottes-Theologie am stärksten zu spüren, die – nicht ohne peronistische Einflüsse ‑ sein argentinischer Freund Lucio Gera (1924-2012) und Juan C. Scannone SJ (1931-2019) entwickelt haben. Ihr Referenzpunkt bleibt immer die persönliche Begegnung mit den Armen, die für den Papst bis heute die vorrangige Quelle für einen unverfälschten Glauben und eine authentische Frömmigkeit bildet. Deutlich wird dies in den Nummern „Die Architektur und das Handwerk des Friedens“ (228-232). Es geht darum, die konkreten Probleme eines Zusammenlebens zu erkennen, ein Gefühl der Zugehörigkeit wachzuhalten, proaktiv zu bleiben, Friedensprozesse professionell zu gestalten und schließlich für eine lebendige Kultur zu sorgen, die das ganze Volk zu integrieren weiß. Bei aller geleisteten Denkarbeit bleibt Franziskus auch hier der „Pastoralist“, also der konkrete Praktiker vor Ort, deshalb auch der Skeptiker gegenüber abgehobenen Theorien. Wer sich nicht erneut durch die Mühle der gesamten katholischen Soziallehre durchquälen möchte, der lese die erfrischenden Kapitel VI und VII.
Beitrag der Religionen
Bleibt noch das – leider zu kurz geratene ‑ Kapitel VIII (271-284), das den Beitrag der Religionen an einer geschwisterlichen Welt erörtern soll. Auch hier stehen Passagen etwa zur weltverbindenden Kraft der Religionen (281-283), deren Klarheit man nur zujubeln kann, denn in ihren legitimen und normativen Kernen haben die Weltreligionen mit Gewalt nichts zu tun; sie sind der Goldenen Regel verpflichtet (schon 59f.). Dennoch bleibe ich ratlos. Denn in den vorhergehenden Kapiteln legte der Papst die säkulare Welt (Kultur, Wirtschaft, die globale Macht- und Sozialpolitik) mit höchster Entschiedenheit auf ihre unverzeihlichen Mängel fest. Vorbehaltlos stellte er liberale Ideologien, globale Herrschaftsstrategien und die Produktion beschämender Armut an den Pranger. Doch mit den Religionen geht er viel defensiver um. In einem ist ihm gewiss zuzustimmen: Recht verstanden leisten sie „einen wertvollen Beitrag zum Aufbau von Geschwisterlichkeit und zur Verteidigung der Gerechtigkeit in der Gesellschaft“, doch das ist nur die halbe Wahrheit. Auch mag man seiner Behauptung zustimmen, ein recht verstandener religiöser Dialog erschöpfe sich „nicht nur [in] Diplomatie, Freundschaft oder Toleranz“. (271) Man kann aber daran zweifeln, ob jedes Handeln von Religionen und jeder von religiösen Institutionen geführte Dialog „moralische und spirituelle Werte und Erfahrungen in einem Geist der Wahrheit und Liebe“ zur Geltung bringt. Auch heute spiegeln die meisten religiösen Institutionen das Versagen ihrer weltlichen Schwesterinstitutionen in Ideologie, Wirtschaft und Politik perfekt wider.
Leidenschaftlich ist Franziskus beseelt von den versöhnenden Potenzen, die in den Religionen leben, doch im Eifer seines Gefechts blendet er die inneren Gefahren ab, die eine jede Religion in sich trägt und oft im Übermaß ausagiert. Mehr noch, mit ungeschützten Formulierungen gerät Franziskus nahe an einen begründungsbedürftigen Ausschließlichkeitsanspruch: „Nur mit diesem Bewusstsein von Kindern [des göttlichen Vaters] … können wir untereinander in Frieden leben.“ (272) Wo keine transzendente Wahrheit anerkannt wird, triumphiert die Gewalt (273). Die Wurzeln des modernen Totalitarismus liegen in der „Verneinung der transzendenten Würde des Menschen“ (ebd). Eine Hauptursache für die Krise der modernen Welt sei die „Entfremdung von religiösen Werten“ (275). Deshalb habe die Kirche (warum nicht die Religionen?) im Weltgeschehen ihre Stimme zu erheben. Hier wären differenziertere Formulierungen am Platz. Denn das Wort von der „transzendenten“ Würde des Menschen schließt säkulare Begründungsverhältnisse gerade nicht aus.
Der näheren Erklärung bedarf auch die Behauptung, die Kirche müsse „sich in allen Enden der Welt … inkarnieren“ und katholisch meine, „an jedem Ort der Erde gegenwärtig zu sein“ (278). Henri de Lubac, dem diese Metapher wohl entliehen ist, hat entschieden imperialistischer gedacht und wird von vielen Christinnen und Christen wohl so verstanden. Gewiss, die Ausführungen zu „Religion und Gewalt“ (281-285) bescheinigen jeder religiösen Legitimation von Gewalt eine eindeutige Absage. Zugleich lässt sich aber nicht verhehlen: Faktisch agiert Franziskus als das absolute Oberhaupt einer höchstinstitutionalisierten Religionsgemeinschaft. Wenn deshalb ein Papst über den Weltfrieden spricht, rückt seine Kirche ganz ungewollt in die Rolle des Vorbilds, das die päpstlichen Aussagen bestätigt oder lügenstraft. Deshalb müsste er mit ihr genauso konkret und entschieden strenger umgehen als mit der säkularen Welt. Dann reicht es nicht (wie noch darzulegen ist), die katholische Ablehnung von Krieg und Todesstrafe zu besprechen (255-270). Gewiss, von den Religionen fordert er kategorisch eine Rückkehr zu „unseren Quellen“, und das ist gut so. Ferner unterscheidet er zu Recht zwischen der vielfachen Gewaltpraxis, die im Namen von Religionen ausgeübt wird, und den „fundamentalen religiösen Überzeugungen“ (282). Doch die Grenze zwischen fundamentalen und sekundären Glaubensüberzeugungen wird immer wieder verwischt, sodass die großen Religionen unter Berufung auf ihre Wahrheit oft zu Glutkernen von Fanatismus und Zerstörung werden. Man denke nur an aktuelle evangelikale Tendenzen in den USA.
Diese Kritik lässt entgegenhalten, dass sich nur neun von den 287 Nummern des Textes mit den Religionen beschäftigen. Diese Zuwendung zur Welt ehrt den Autor. Doch wäre es ein Leichtes gewesen, die offenkundigen kirchlichen Missstände in die breiten Diskurse der vielen Sachthemen einzufügen. Man denke an die Defizite durch Machtmissbrauch (256, 258, 273), Ideologien (17mal), Emphatiemängel, Kolonialisierung und Globalisierungsräusche (12, 29ff.) sowie verfehlte Kommunikation. (42) Auch die Kirche kennt schamlose Aggressivität. (44) Wie kann man die Menschenrechte 19mal und die Demokratie 5mal so nachdrücklich einfordern und die entsprechenden Defizite in der eigenen Kirche einfach vergessen? Ist es nicht erstaunlich, dass der drängend ungeduldige Mahner in Sachen Weltgerechtigkeit den Skandal übergeht, dass seine eigene Kirche noch immer von einem vormodernen Rechtssystem drangsaliert wird? Wie kann man so nachdrücklich von der Würde der Frauen reden (11mal) und deren Zweitrangigkeit in der eigenen Kirche verschweigen? Damit werfe ich dem Papst keine Heuchelei vor, aber mangelnde Konsequenz, vielleicht auch einen beengten Blick. Ich möchte nicht die begeisterten Reaktionen derjenigen schmälern, die in dieser Enzyklika eine höchst aktuelle große Vision entdecken. Ich gebe aber zu bedenken, dass sie sich auch als Alibi von denen missbrauchen lässt, die innerhalb unserer Kirche keinen Reformbedarf entdecken. Angesichts des Synodalen Wegs ist vor dieser Gefahr zu warnen.
Überholte Textform
Doch sollen diese Hinweise nicht mit globaler Papstkritik enden. Der prophetisch-visionäre Gesamtentwurf hätte das nicht verdient und das Problem dieser Enzyklika liegt nicht bei ihrem Verfasser, sondern in der autoritär universalen Stilform dieses Rundschreiben. Wie schon gesagt, rückt es Franziskus in die große Tradition der katholischen Soziallehre ein. Er nimmt deren Grundthemen umfassend auf und ordnet sie entschlossen der neuen Perspektive eines proaktiven, von Leidenschaft und Empathie beseelten Handelns ein. Das zwingt ihn (Laudato si‘ vergleichbar) in den Kampf mit einer Überfülle von Themen, die in einem einzigen Dokument kaum zu bewältigen sind. Sie werden genannt, bisweilen moralisiert und manchmal bis zum Schlagwort verkürzt. Aus Platzgründen können Kernbegriffe wie Kapitalismus, Liberalismus, Globalisierung oder Populismus nicht differenziert werden. Das alles macht so eine Enzyklika verletzlich. Bezogen auf die Kulturvielfalt der Adressaten fallen zudem zahllose theoretische und praktische Ansätze unter den Tisch.
Stattdessen stellt sich die Frage: Muss ein Papst wirklich all diese Themen umfassend bearbeiten? Wir brauchen auch keine Dokumente mehr, die zahllose – allgemein bekannte und von Spezialisten erarbeitete – Erkenntnisse einfach abschöpfen und anonymisieren. Diese Generalschreiben rücken immer mehr in die Nähe von Großplagiaten, die zahllose Autorinnen und Autoren schlicht enteignen. Die päpstliche Funktion als Vielwisser, Allesbelehrer und universaler Obertheologe hat sich überholt. Vom päpstlichen Schreibtisch erwarte ich kurze, in ihrer Klarheit überzeugende Texte, in denen der Papst ganz bei sich und seinen Anliegen sein kann. Nach Weltregionen differenziert könnten Begleittexte erscheinen zu ausgewiesenen Konzepten, Personen oder Debatten politischer, sozialer, ökonomischer, exegetischer, religionswissenschaftlicher oder weltethischer Art. Die könnten zur weiteren Diskussion wertvolle Freiräume eröffnen. Wie wir wissen, schätzt Papst Franziskus die Charismen sehr hoch. Hier wäre ein Ort, die einschlägigen Leistungen und Fähigkeiten zur Geltung zu bringen.
Dieser Strategiewechsel würde der päpstlichen Autorität nicht schaden, sondern die vom Papst so hochgeschätzten Geistesgaben umso strahlender zur Geltung bringen. Er, der Künder einer neuen Utopie, würde noch intensiver gelesen und weltweit wahrgenommen; er könnte sich konzentrieren auf sein eigenes Charisma als weltweiter Mahner und als Inspirator einer neuen Lebensqualität, die Christen und Nichtchristen gleichsam übernehmen können.