Zum Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium
Freude des Evangeliums (evangelii gaudium) lauten die Anfangsworte der programmatischen Reformschrift, die Papst Franziskus am 26.11.2013 veröffentlichte. In ihr wirbt der Papst für einen missionarischen Gestaltwandel der Kirche und die Umgestaltung der Seelsorge. Er denkt an eine Neuausrichtung, die keinen Aufschub duldet und die alle Strukturebenen umfasst: Basisgemeinden und Pfarreien, Teilkirchen und das Bischofsamt (eingebunden in Mitspracheregelungen und innerkirchliche Dialoge), gestärkte Bischofskonferenzen mit authentischer Lehrautorität. Einbezogen wird selbst eine „Neuausrichtung des Papsttums“, dessen Vorrangstellung (technisch als Primat definiert) sich neuen Situationen öffnet. Schon in ersten Stellungnahmen war von einer prophetischen Lehrschrift die Rede, die das Angesicht der römisch-katholischen Kirche über Nacht und ohne Zeitverzug ändern will. Kann dieser machtvolle Impuls auf wirkliche Konsequenzen hoffen?
Programmatischer Elan
Man konnte diesen Vorstoß erwarten, denn die Grundintention, selbst viele Einzelaussagen des Schreibens sind nicht neu. Die zentralen Reformpunkte wurden alle schon einmal angesprochen. Dennoch überraschen die Entschiedenheit, der kompakte Elan und die Ungeduld, mit denen der Papst jetzt sein Reformprogramm zusammenfasst. Er fordert nicht weniger als eine unverzügliche Umgestaltung der gesamten Kirche und er erwartet, dass Christinnen und Christen damit schon heute beginnen. Natürlich ist von diesem Aufruf bis hin zu konkreten Schritten noch ein weiter Weg; auch Papst Benedikt war oft dabei, seine Geduld zu verlieren. Doch handelt der jetzige Papst aus einem anderen, viel konkreteren Grundmotiv. Der Vorgänger ließ sich geradezu treiben von einer unbestimmten Angst vor der Moderne und vom Kampf gegen einen bedrohlichen Relativismus, der durch die Ritzen der Kirche drang. Papst Franziskus kennt solche Ängste nicht. Er geht konstruktiv, wenn auch nicht unkritisch auf die Gegenwart zu. Er agiert in ihr und wirbt für ein Christentum, das unsere Gesellschaft mitgestalten will, weil es die Kraft dazu hat. Deshalb fordert er, dass die Kirche wieder missionarisch wird, also an ihre Ränder geht und Verletzungen nicht scheut. Er sagt ja zur Welt und zu den Menschen so, wie sie sind, um ihnen dort zu helfen, wo sie allein gelassen sind. Diese Begegnung mit Menschen und Welt ist geradezu sein Lebenselixier.
Die Kernbotschaft: Option für die Armen
Detaildiskussionen können und sollten nicht von der entscheidenden Kernbotschaft ablenken, die das ganze Schreiben prägt und vor allem in Kapitel IV („Soziale Dimension der Evangelisierung“) zusammengefasst ist. Hier atmet der Geist einer Befreiungstheologie, die einer gewachsenen Volksfrömmigkeit nahesteht. Das Evangelium Christi meint keine Veranstaltung zur Selbsterlösung, sondern eine tätige Solidarität mit den Armen. Deshalb fordert er einen gemeinsam organisierten, konzentrierten und entschiedenen Einsatz gegen alle Überzeugungen und Strukturen, die Menschen erniedrigen, ausschließen und töten. Aus diesem Grund macht der Papst eine radikale, zugleich von Barmherzigkeit getragene und friedensorientierte Kapitalismuskritik zum Mittelpunkt seiner Analysen und Handlungsziele. Er verurteilt die Verherrlichung des Geldes, die Gier des Menschen nach Besitz, den nicht enden wollenden Konsumwahn, der unseren Globus überzieht und die modernen Wirtschaftssysteme, die den Unterschied zwischen arm und reich täglich verschärfen. Es geht darum, zusammen mit Gott den Schrei der Armen zu hören und darauf im Sinne der Gerechtigkeit zu reagieren.
Botschaft für die Gegenwart?
Man hat in Deutschland gefragt, ob dies für unser Christsein noch wirklich eine zeitgemäße Botschaft sei. Gehört Kapitalismuskritik nicht ins 19. Jahrhundert und ist nicht vielmehr eine vernünftige Kooperation mit dem Kapitalismus geboten? Diese Frage verrät ihren Ursprung im Westen, der aus eigenem Interesse die globale Weltsituation eines tödlichen Wettbewerbs verdrängt. Man muss übrigens kein Christ sein, um die globale Bedrohung von Weltgerechtigkeit und Weltfrieden durch die modernen Kapital- und Finanzsysteme zu durchschauen. Dies ist seit Jahren ja eines unserer großen politischen, zu Recht auch unserer großen religiösen Themen. Moderner geht es also nicht, wenn einem an einer gerechten und versöhnten Menschheitsordnung liegt. Allerdings ist diese Kritik an Wirtschafts- und Finanzsystemen kein Selbstzweck, sondern an ihren menschenfreundlichen Zielen zu messen.
Man hat ferner die Frage gestellt, ob wir mit Antikapitalismus noch Menschen für die Kirche gewinnen können. Man unterschätze die Bedeutung einer sozial solidarischen Religion nicht, denn auf der gesamten Welt suchen zumal arme und entrechtete, heimatlose und verfolgte Menschen Schutzräume und Anwaltschaften für ihre Nöte und Interessen. Doch interessiert Papst Franziskus die Frage, ob und wie wir neue Kirchenmitglieder gewinnen, gerade nicht. Ihn interessiert, was die Kirche für die Menschen tut. Er zieht eine „zerbeulte“ Kirchengemeinschaft, die sich um Menschen kümmert, den glänzenden Karosserien vor, die wir sonntäglich auf liturgischen Hochglanz bringen. Wie katastrophal sich ein Kirchenverhalten auswirkt, das nur seine eigene Sicherheit sucht, haben wir deutsche Katholiken in den vergangenen Jahren ja hinreichend erlebt. Kirche hat glaubwürdig zu sein, indem sie aufhört, um sich selbst zu kreisen. Aus diesem Prinzip lebt die Spiritualität des Papstes. Es ist ein Prinzip, das uns vor jeder metaphysischen Jenseitssehnsucht, vor jeder Relativismusangst, Nostalgie und allem Narzissmus schützt. So gesehen kann man ihn und eine ihm folgende Kirche im Weltgespräch ruhig als links einordnen. Ja, im Weltmaßstab muss eine erneuerte Kirche zur Parteigängerin der Armen werden. Der Papst sieht sie als eine Weltgemeinschaft, die die Welt verändern will und die Motivation dazu aus einem tiefen Gottvertrauen schöpft.
Wunde Punkte
Allerdings treffen wir in diesem Dokument auch auf traditionell umstrittene, für unsere Reformideen wunde Punkte. Dieser reformwillige Papst lehnt Abtreibung und Homosexualität, Frauenpriestertum und die Aufhebung des Zölibats ab; sie scheinen für ihn ein integraler Teil der alten kirchlichen Lehre und Praxis zu sein. Hier herrscht also nach wie vor ein enormer Diskussionsbedarf, der endlich auf eine angemessene Anthropologie und ein rechtes Schriftverständnis zurückgreifen muss. Da wird noch geduldig, aber entschieden zu argumentieren sein; um der Kirchenerneuerung willen, die auch der Papst vorantreibt, müssen auch wir am Ball bleiben.
Aber dafür ist keine Angst geboten. Hoffnung auf vernünftige Gespräche gibt schon die Tatsache, dass der Papst diese Reformerwartungen nicht aus Machtüberlegungen, aus sexuellen oder anderen Ressentiments ablehnt. Man hat eher den Eindruck, dass er mit dem differenzierten Diskussionsstand noch wenig vertraut ist. Immerhin erkennt er den spezifischen Beitrag von Frauen in unseren Gesellschaften vorbehaltlos an und will Tätigkeitsräume von Frauen in der Kirche in jedem Fall erweitern. Auch sieht er, „wie viele Frauen pastorale Verantwortungen gemeinsam[!] mit den Priestern ausüben“. Schließlich nennt er „doppelt arm“ die Frauen, die Situationen der Ausschließung, der Misshandlung und der Gewalt erleiden“. Vor diesen Hintergründen kann man davon überzeugt sein, dass der Papst sein letztes Urteil über diese Fragen noch nicht gesprochen hat.
Kein Oberlehrer, sondern Gesprächspartner
Ist diese Hoffnung berechtigt? Auch dieser Papst hat eine konkrete Biographie. Er ist in Lateinamerika groß geworden und zunächst in der südamerikanischen Problemwelt zu Hause. Das spürt man auch an seinen Aussagen zu Säkularisierung, Ökumene und Interreligiosität, die nach europäischem Diskussionsstand ebenfalls noch der Differenzierung bedürfen. Sicher wird eine reformwillige Kirche auch hier noch manche Position korrigieren müssen, sie berühren ja nicht nur „westliche“, sondern auch Probleme anderer Kontinente. Zudem schickt der Papst allen seinen Aussagen eine wichtige Einschränkung voraus. Er will Möglichkeiten zum Gespräch eröffnen, statt sie abzuwürgen. Er ist ausdrücklich nicht der Meinung, wir müssten von ihm „zu allen Fragen …, welche die Kirche und die Welt betreffen“, endgültige Aussagen erwarten. Er hält es nicht für angebracht, dass er „die örtlichen Bischöfe in der Bewertung aller Problemkreise ersetzt, die in ihren Gebieten auftauchen“. So spricht er von einer „heilsamen“ Dezentralisierung, in der die verschiedenen Kulturräume der katholischen Kirche ihre eigene Stimme erhalten werden. Er versteht sich nicht mehr als der Oberlehrer der weltweiten Gesamtorganisation, sondern als ein Gesprächspartner der Bischöfe bzw. der nationalen und kontinentalen Bischofskonferenzen. Es liegt also bei uns, unsere Stimme zu erheben.
Spirituelle Tiefe
Schließlich fällt auf, dass lange Passagen dieses Dokuments spirituell orientiert sind. Ausführlich schreibt der Papst über die tägliche Lesung und das Studium der Heiligen Schrift, über das Hören auf Gottes Wort, über den Glaubensdialog mit Menschen und über das Gebet. So gesehen ist dieser Papst ein zutiefst frommer, von der Sache Gottes bis in die Mitte seines Herzens hin angerührter Mensch. Als Jesuit hat er es gelernt, Gott – wie Ignatius von Loyola sagte – „in allen Dingen zu suchen und zu finden“, und zu sehen, dass Gott uns immer voraus ist. Die ganze innere Dynamik des Papstes, sein breiter Einsatz für mehr Gerechtigkeit, seine Solidarität mit den Armen und Entrechteten, sein Nachdenken über die Zusammenhänge von Erniedrigung, Ausschluss, Hunger und Tod, all dies lebt aus einer Spiritualität der Gottesnähe, die bei ihm durch Jahrzehnte hin gewachsen und gereift sein muss. Vielleicht müssen wir europäische Christen genau diese Verbindung von Frömmigkeit und Politik neu lernen. Religion ist eben keine Privatangelegenheit, sondern ein zutiefst kultur-, gesellschafts- und friedenspolitisches Projekt, angesichts der Weltgeschichte ein nie endender Prozess.
Wie kann Erneuerung gelingen?
Bleibt die große Frage: Wird es gelingen, die angezielten Reformen durchzuführen oder ist in der Weltkirche Widerstand zu erwarten? Zwar bleibt der Papst Bischof von Rom. Diese Identitätsmarke soll und kann wohl nicht verändert werden. Aber dieses Dokument verlagert das pastorale und das theologische Schwergewicht der römisch-katholischen Kirche weg vom alten Europa, hin an ihre ehemaligen Ränder. Mehr denn je wird sie jetzt dort zu Hause sein, wo sie früher kontrollierte und den Glauben propagierte, wohin sie ihre Missionare geschickt und alle zur Beachtung römischer Prinzipien angehalten hat. Das ist ein dramatischer Prozess von unabsehbarem Ausmaß.
So können wir davon ausgehen, dass die Impulse des Papstes in den meisten Kulturräumen der katholischen Kirche mit großer Zustimmung aufgegriffen werden. Dies gilt vor allem für die Länder, in denen Armut, soziale Ungerechtigkeit, ethnischer Unfriede und Unterdrückung herrschen. Hingegen werden in den etablierten Kernlanden der westeuropäischen und nordamerikanischen Teilkirchen leichte Taubheit und leiser Widerstand zu erwarten sein. Man wird seine Identität erst neu suchen und definieren müssen. Es ist einfach schwer, aus einer rechtlich, finanziell und kulturell gesicherten Situation heraus die Ausrichtung der Herzen zu ändern. Vermutlich werden murrender Groll, theoretische Verweise auf kirchliche Lehren und die Macht der Tradition das primäre Unvermögen verdecken, von den eigenen Privilegien Abstand zu nehmen. Spannend wird die Frage sein, wie die kurialen Kräfte reagieren, die am meisten zu verlieren haben.
Dennoch hat der Papst auch für den Westen Türen aufgestoßen, die sich nicht mehr schließen lassen. Reformorientierte Kräfte sind dafür sehr dankbar. Was heißt das konkret? Als erstes muss von unten, d.h. in Gemeinden und in Basisgruppen eine breite, offene und aktive Diskussion über die zahlreichen Vorschläge und deren Folgen beginnen. Die Bischöfe müssen sie aufnehmen und in transparenter Weise besprechen. Jetzt können sie sich nicht mehr hinter römischen Anweisungen oder abstrakten Glaubenssätzen verstecken.
Zugleich können wir davon ausgehen, dass von oben, d.h. in Rom, eine breit angelegte Reform in Gang gesetzt wird; eine erste Kurienreform ist ja schon eingeleitet. Sollten diese Anfänge aber erneut im zähen Brei von Bequemlichkeit und Rechthaberei ersticken, dann ist es die prophetische Aufgabe von uns allen, solange „Krach zu machen“ (wie der Papst sagt) und die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, bis sich etwas bewegt. Denn dieses erneuerte Christentum ist nicht mehr nach innen gewandt und autoritär ausgerichtet, sondern ergebnisorientiert und auf Gemeinschaften angelegt. Katholikinnen und Katholiken, die zur Erneuerung bereit sind, gibt es genug.
Ein überzeugendes Dokument
Bislang galten päpstliche Schreiben meist als eine schwer verdauliche Lesekost. Dieses Mal zeigen sich selbst Kardinäle von Inhalt und Sprache des Textes angerührt. In der Tat, viele Leserinnen und Leser finden Sprache und Ton dieses Schreibens ganz außerordentlich: Der Papst schreibt einfach, verständlich und sehr unmittelbar. Man spürt hinter allem, was er sagt, eine große und überzeugende spirituelle Tiefe. Er spricht nicht nur von seiner Freude am Evangelium, sondern teilt sie auch mit. Man fühlt direkt: Dieser Papst steht mit Leib und Seele, mit einer geradezu sinnlich vitalen Hingebung hinter der christlichen Botschaft, die aus der Solidarität mit den Armen lebt. Er erfährt eine innere Befriedigung, wenn er mit Menschen reden und leiden, ihnen raten und sie unterstützen kann. Es macht ihm offensichtlich Spaß, nicht allein zu sein. Dennoch ist er, wie uns Insider berichten, ein Mensch geblieben, der mit Macht umzugehen und seine Ziele durchzusetzen weiß. Angesichts seiner aktuellen Aufgaben ist das gut so. Gottes Reich hat ja mit Macht zu tun. Denn es geht immer darum, die Macht von Menschen über Menschen zu brechen, damit eine menschliche und versöhnte Zukunft entstehen kann.
(ersch. in WsK-Plattform Nr 80, Jan. 2014, 5.7)