Verantwortung übernehmen – Verantwortung zeigen. Die Rolle der Religionen

Ich bin hier, um Alarm zu schlagen: Die Welt muss aufwachen. Wir stehen am Rande des Abgrunds und bewegen uns in die falsche Richtung. Unsere Welt war noch nie in größerer Gefahr und noch nie gespaltener. Wir stehen vor der größten Krisenkaskade unserer Lebenszeit.
(Antonio Gutérres, UNO-Vollvers.v. 21.09.2021)

Einleitung: Die Verantwortung der Religionen

In unserer Gesellschaft, in der Welt- und Lokalpolitik, in unseren Kulturen und Religionen wird die Frage nach Verantwortung lauter denn je gestellt. Dies geschieht oft in einem rechthaberischen Ton. Statt sie zu übernehmen, schiebt man sie gerne auf andere ab oder man macht sich aus dem Staub. „Bin ich denn der Hüter meines Bruders?“ (Gen 4,9) lesen wir in der Geschichte von Kain und Abel. Gerade uns Deutschen ist diese Frage zum schmerzlichen kollektiven Erbe geworden.

Denn da ist die unermessliche Schuld der NS-Zeit, die immer noch nicht abgetragen ist. Doch seit 11.09.2001 schreit auch die Ermordung von 3000 Mitmenschen in New York nach einer Antwort und an dieses Datum schloss sich – schlimmer noch – eine noch tödlichere Gewaltgeschichte an, die vor wenigen Wochen in Afghanistan einen unfriedlichen Abschluss fand. Niemand kann über die neuen Verhältnisse glücklich sein; das Erbe der Gewalt zeugt sich fort. Der Protest der Religionen hätte deutlicher ausfallen können.

Schließlich erinnern wir uns an die Schrecken von Kolonialismus und Versklavung, Imperialismus und Kulturzerstörung sowie weitere Verkettungen in ständig neue Gewalt. Gewalt ist in uns Religionen allgegenwärtig, man denke an die Diskriminierung von Frauen, Ethnien und ganzen Volksgruppen. Hinzu kommen die jüngsten Natur- und Klimakatstrophen ‑ Brände, Stürme und Überschwemmungen, die zu einer umfassenderen, oft anonymisierten Dimension der Verantwortung führen.

Die Netzwerke einer gegenseitigen Schuld sind also allgegenwärtig. Hilft es uns weiter, einfach die Verantwortlichen dafür zu finden? Wie tief uns dieses Bedürfnis in den Knochen steckt, zeigen aktuell die vielen Verschwörungstheorien, die unsere Gesellschaften spalten. Sie lehren uns neu verstehen, warum auch in früheren Krisenzeiten immer Sündenböcke gesucht und gefunden, mit Schuld überhäuft und vernichtet wurden; je nach Kontext waren es Frauen, Juden, Muslime, Sinti und Roma, später farbige Ethnien, Andersgläubige oder körperlich und geistig Gehandicapte.

Doch es ist auch möglich, dass Menschen zu ihrer Verantwortung stehen. Die in den 1990er Jahren in Südafrika von Desmond Tutu erfundenen „Wahrheitskommissionen“ sind ein Musterbeispiel dafür, dass bei einem ehrlichen Gespräch auch Vergebung möglich ist. Verantwortung ist ja kein spezifisch religiöses, sondern zugleich ein zutiefst menschliches Phänomen, mit dem alle Menschen offen, selbstkritisch, eben verantwortlich umgehen sollten. Sie enthält eine Doppelstruktur: Sie kann in einer Handlung vollzogen sein, doch der gesetzten Verantwortung und Schuld geht immer auch eine vorgegebene Beziehung voraus, ein Schutz- oder Gestaltungsauftrag, den ich übernehmen oder dem ich mich entziehen kann, der aber nie verschwindet.

Dabei können unsere Verantwortungsgrade unterschiedlich bemessen sein. Ganz elementar fühlen wir uns unseren Kindern und Familien verpflichtet, dann vielleicht einem Kreis von Bekannten oder Freunden, vielleicht unserer kommunalen Gemeinschaft oder den Angehörigen des eigenen Clans. Eine individualistische Ethik spannt diesen Kreis sehr eng: was gehen mich andere Menschen an? Auch in unseren Religionen können – bewusst oder unbewusst – Wertesysteme leben, die eine ausgeglichene und universalisierte Haltung der Zuwendung stören. Dabei lässt ausgerechnet eine religiöse Verantwortung keinerlei Kompromisse zu.

These 1:
Die Weltreligionen stellen die menschliche Verantwortung in einen unbedingten Horizont.

Gerade weil Religionen sich auf eine letztgültige Instanz beziehen, kommt ihrer Verantwortung eine ungeschmälerte, im eigentlichen Sinn radikale Bedeutung zu. Gewiss, zunächst weiß sich jede Religion für ihren eigenen Lebensraum verantwortlich, doch diese Lebensräume sind flüssig geworden, immer mehr überschneiden sie sich mit anderen religiösen und säkularen Lebensräumen. In letzter Konsequenz heißt das: Unsere Verantwortung für Welt und Menschen kennt keine Ausnahme. Je größer unsere Horizonte werden und je mehr sie sich zwischen Empathie und Hass entscheiden müssen, umso klarer tritt der unbegrenzte, kategorische Charakter dieser Verantwortung in den Vordergrund.

Diese Unbedingtheit ist in unseren religiösen Traditionen schon immer angelegt. Ich erinnere an die Mythen vom Ursprung der Welt: Im Anfang war das Wort, also die göttliche Weisheit, die allen gegeben ist. Ich denke an den Feuerkult, der am Gangesufer in Varanasi allabendlich die göttliche Energie als Anfang aller Wirklichkeit feiert. Im Gedächtnis bleibt mir die jüdische, von Christentum und Islam übernommene Geschichte von der alles vernichtenden Urflut. Sie weist uns nachhaltig daraufhin: Wir alle können in den Strudel des Todes hineingezogen werden. Wir sind Davongekommene, Gerettete, die immer neu auf Rettung angewiesen sind und denen die Achtsamkeit für das Wohl aller Menschen und allen Lebens anvertraut ist. Wir leben über Abgründen, der Schutz von Erde und Leben sind uns überantwortet. Ferner spannen alle Weltreligionen einen weiten Bogen zum innersten Kern von Mensch und Menschsein. Sei es unsere „Seele“, die Energie des Geistes, das uns tragende „Nirwana“ oder das atman, der Atem, der ständig aus- und eingeht. Wir kennen das Bild vom göttlichen Funken oder unserer Einordnung in ein unbedingtes Karma, das die Ordnung der Welt garantiert. – eine Ordnung und Gerechtigkeit, die alle Welt umfasst.

Dieses empathische Bewusstsein von der Verwandtschaft allen Lebens verbindet uns Religionen mehr als vieles andere; es ist weit stärker als unsere kulturell verschiedenen Vorstellungen von Gott und einer guten Lebensgestaltung, von prophetischem Handeln oder mystischer Innerlichkeit. Zudem leben wir in einer neuen Achsen- oder Sattelzeit der Religionen, die zu zusammenführt und dazu anleitet, miteinander zu denken zu fühlen und zu handeln. Der Weltfrieden ist unsere neue gemeinsame Zukunftsvision, denn Frieden lässt sich nur noch als Weltfrieden denken. Das macht uns stolz und in neuer Weise kreativ. Allerdings muss diese neue Gesamtverantwortung geschützt und genau bearbeitet werden, denn sie lässt sich missbrauchen.

These 2:
Diese Verantwortung ist vielfach bedroht und bedarf der sorgsamen Pflege

Doch es gilt auch die gegenläufige Erzählung: Alle Religionen tragen in sich die Neigung zur Egozentrik, weil alle Menschen diese in sich tragen. Wir neigen dazu, unsere individuelle Lebensverantwortung zu überhöhen und gegenüber anderen zu relativieren; wir scheuen die Einzelkonfrontation mit dem Unangenehmen und Ungewohnten. Gerne wenden wir uns ab vom unerwartet Neuen, dem Leiden, den Widersprüchen eines dynamisierten Lebens. Wer jedoch konsequent, also von einer radikalen Perspektive heraus handeln will, kann die unlösbaren Widersprüche, die sich in modernen und hochdifferenzierten Gesellschaften besonders bemerkbar machen, nicht ausklammern. In aller Kürze nenne ich für diese Bedrohung vier Aspekte:

(1) Kampf der Kulturen?

Lange Zeit haben die großen Religionen ihre Verantwortungen und Verpflichtungen auf ihre eigenen Kulturräume begrenzt, in denen sie ihr Definitionsrecht geradezu hoheitlich ausübten. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich das verändert. Alle Religionen erfahren Kritik und Konkurrenz, ihre traditionellen Einflüsse sind bedroht durch andere Kulturen und durch eine technisierte Welt. Wie werden sie in den nächsten Jahrzehnten reagieren? Samuel P. Huntington (Kampf der Kulturen, [1996] 1998) spricht von einem gigantischen clash, also Konflikt der Kulturen, einem Zusammenbruch des interkulturellen Zusammenlebens. Die großen Kulturräume werden zu Orten der Selbstverteidigung, zu Kriegszonen des Hasses und des Todes.

Huntingtons These ist umstritten, doch ausschließen können wir sie nicht. Der chinesische und der indische Kulturraum erstarken, Vladimir Putin und Recip Erdoğan treten aggressiver auf denn je und die deutsche Verteidigungsministerin drängt auf die westliche Präsenz von Atomwaffen. Umso entschiedener haben wir die Friedensvisionen unserer Religionen überall dort zu stärken, wo sie von Hass und Gewaltphantasien infiziert sind. Die Frage wird sein, ob unsere Religionen genügend Kräfte der Selbstheilung aufbringen. Das wichtigste Gegenmittel lautet: Einander kennenlernen, mit einander reden, uns als eine Menschenfamilie begreifen, die Gefahren im Auge behalten und sich miteinander engagieren.

(2) Persönliche Identität

Gefahren gehen auch von existentiellen Verunsicherungen aus, die mit der neuen Konkurrenz verbunden sind. In der Regel gehen die religiöse und die persönliche Identität eines Menschen eine enge Symbiose ein. Beide bestimmen einander und ringen, verhandeln mit sich. Deshalb gibt es auch keine reine, zeitlose Religion. Sie erscheint immer vermenschlicht und in Kulturen eingebettet, menschlichen und gesellschaftlichen Bedürfnissen angepasst. Diese spannungsvolle Dynamik kann für engagierte Menschen dann schwierig werden, wenn die ursprünglichen Kernimpulse einer Religion und die kulturelle Umwelt stark auseinanderklaffen.

Diese Spannung wird bei Minderheiten noch erhöht und sie macht es ihnen oft schwer, der eigenen Religion und einem authentischen Handeln gleichermaßen treu zu bleiben. Unsere religiös gemischten und zugleich offenen Gesellschaften sind dafür ein gutes Beispiel. Es ist wichtig, dass wir bei diesen Balanceakten einander mit Vertrauen und größtem Respekt unterstützen, dass die Mehrheitsreligionen den Minderheiten ihre Hilfe anbieten, statt sie unnötig in die Rolle der Außenseiter zu drängen. Wir stören uns nicht, sondern bereichern einander.

(3) Säkularisierung

Angesichts der innerchristlichen Spaltungen ist Westeuropa seit 5 Jahrhunderten von aggressiven oder gewalttätigen Konflikten bedroht; bis heute sind sie noch nicht geheilt. Noch immer können kirchliche Institutionen anmaßend oder unversöhnlich reagieren und auf die wachsende Präsenz von nichtchristlichen Religionen wird oft mit verdecktem Fanatismus reagiert. In dieser Dynamik werden die konkurrierenden Religionen bzw. Denominationen aus ihrer selbstverständlichen Einbettung herausgerissen und ihr Gespür für eine gesellschaftliche Solidarität wird geschwächt. Religionen verstehen sich plötzlich als als marker (Charles Taylor), denen ihr eigenes Profil wichtiger ist als ihr gemeinsames Engagement. Man war katholisch, weil man nicht evangelisch sein wollte, und umgekehrt. Im schlimmeren Fall können sie fanatisch und integralistisch werden. Sie verteidigen die eigenen Regeln und verhöhnen damit die Lebenswirklichkeit anderer.

Die moderne Antwort auf diese lange Geschichte des Unfriedens lautete lange Zeit: Säkularisierung des Staatswesens und großer Teile der Zivilgesellschaft. Hamed Abdels-Samat erklärte erst kürzlich: „Frieden entsteht nicht durch mehr Religion, sondern durch mehr Säkularität“ (21.10.2021 in DIE ZEIT). Gegen diese unselige Tradition sollten wir mit voller Kraft ankämpfen. Daraus folgt nicht, dass wir die Säkularisierung zurückdrängen, aber wir können ihren religionskritischen Unterton verändern, indem wir unsere säkularen (politischen, gesellschaftlichen und kulturellen) Anliegen in einer verständlichen Weltsprache vortragen. Religionen können und Müssen, wie Hans Küng einmal schrieb zu „Brückenbauern“ werden. So wird sich auch eine säkularisierte Gesellschaft mit den menschenfreundlichen Impulsen friedliebender und versöhnungsbereiter Religionen auseinandersetzen, sie vielleicht schätzen lernen.

(4) Privatsache?

Allerdings hat die wachsende Säkularisierung westeuropäischer Gesellschaften viele Mitbürger und Mitbürgerinnen zur Überzeugung gebracht, Religion sei Privatsache. Man beschränkt sie auf den persönlichen Lebensraum, überlässt die Wirtschaft und Politik anderen Kräften, und wundert sich über die unseligen Folgen. Dabei widerspricht diese Privatisierung dem ganzheitlichen Grundverständnis der Religionen fundamental. Alle Religionen leben aus politisch höchst wirksamen Impulsen und sie sind noch immer die moralischen Hauptagenturen der Welt. Es ist also wichtig, Innerlichkeit und äußeres Handeln in eine organische Einheit zu bringen.

These 3:
Faktisch ist die Verantwortung der Weltreligionen zu einer einzigen Weltverantwortung vernetzt.

Globalisierungsprozesse hatten wir schon in früheren Zeiten. Ich erinnere an die Hellenisierung in der Spätantike, die Ausbreitung des Islam im 7. Jahrhundert, die Bewegung der „Kreuzzüge“ im Mittelalter, den Aufschwung der europäischen Seefahrt im 15. Jahrhundert, die neuzeitliche Kolonialisierung nichteuropäischer Kontinente, und die machtpolitische Verschärfung dieser Prozesse zur Zeit des Imperialismus. Nach 1945 ist die Weltgeschichte in eine neue gemeinsame Ära eingetreten und der Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs hat diesen komplexen Prozess beschleunigt. Der Welthandel und internationale Finanzverkehr haben zugenommen, Wirtschaftsunternehmen kooperieren weltweit und es entstanden transnationale Konzerne sowie globale Finanzmärkte. Ein internationaler Tourismus ist selbstverständlich geworden. Die internationale Mobilität von Personen hat sich ebenso intensiviert wie die weltweite digitale Kommunikation.

Die Folgen sind dramatisch. Immer mehr Menschen leben als kulturelle, auch als religiöse Minderheiten in Gastländern, in die sie sich erst allmählich integrieren. Sie begegnen nicht nur religiösen Mehrheiten, sondern auch vielen anderen Minoritäten. Das stellt uns Religionen vor neue Herausforderungen.

In fremden Kulturräumen müssen wir uns neu erfinden, also mit uns selbst aushandeln, wer wir eigentlich sind, ohne uns abzuschließen. Wir bewältigen diese Herausforderung nur, wenn wir uns in keine Ghettosituationen drängen lassen, sondern uns aktiv und kreativ in die Umwelt einbringen. So entsteht in unseren Religionen die Sehnsucht nach einer neuen, großräumigen Weltverantwortung, die nicht mehr einschichtig an eine traditionelle Kultur gebunden ist. Wenn man uns ernstnehmen soll, müssen wir in gemeinsamer Augenhöhe als Partnerinnen und Partner auftreten. So wächst – gewollt oder nicht – eine neue gemeinsame Verantwortung heran, in der wir einander unterstützen können. Das schafft auch ein neues gemeinsames Selbstbewusstsein für die globale Welt, die eine neue gemeinsame Orientierung benötigt.

Dieser Prozess ist schon lange im Gange. Man kann dies illustrieren am Werdegang des interreligiös christlichen Theologen Hans Küng, der im vergangenen April verstorben ist. Schon im Jahr 1980 hat er sich als katholisch-christlicher Theologe dem Studium anderer Religionen auf der Basis wirklicher Dialoge zugewandt; er redete nicht über andere, sondern mit ihnen. In seinem Forschungsprogramm „Die religiöse Situation der Zeit“, wandte er sich dem klassischen Kanon der Weltreligionen zu (Judentum, Islam, Buddhismus, Hinduismus sowie den chinesischen Weisheitsströmen). Er initiierte Dialogvorlesungen und verfasste Monografien, schrieb Überblicke zu allen Weltreligionen und verfasste große Monographien zu Judentum, Christentum und Islam. In seinem 3. Memoirenband (Erlebte Menschlichkeit, 2013) finden sich Titel wie „Meine Welt der Afrikaner, Ozeanier und Indios“, der Religionen Indiens und der Religionen Chinas. Schließlich erschloss er – in seinem TV-Programm „Spurensuche“ – einem großen Publikum eine umfassend informierende Welt der Religionen. Dazu trieb ihn kein rein religiöses, sondern zugleich ein weltpolitisches Interesse. Schon früh lautete sein Motto:

Kein Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen,
Kein Frieden unter den Religionen ohne Dialog zwischen den Religionen,
Kein Dialog zwischen den Religionen ohne Grundlagenforschung in den Religionen.

Er erkannte also, welch weltpolitische Wirkung Religionen haben, ob sie es wollen oder nicht. Daraus erwuchs schließlich das Projekt Weltethos, das er 1990 in einem kleinen Büchlein entwarf und das 1993 seine entscheidende Grundgestalt als Deklaration des 2. Parlaments der Weltreligionen in Chicago fand.

Überhaupt war diese Zusammenkunft eine Sternstunde der Weltreligionen. Der westliche Imperialismus war zusammengebrochen und die Religionen entdeckten endlich, dass sie „nicht auf einem Raumschiff außerhalb unserer Erde tagten, sondern mitten in“ ihr. Die Grenzen der „reinen“, technisch orientierten Naturwissenschaft wurden vielfach aufmerksam durchbuchstabiert. Dies weckte ein neues Interesse an den Kräften und Potenzen der Religionen. Die Wissenschaften boten (wie es hieß) Wissenschaft aber keine Weisheit, Technologie aber keine geistige Energie, Industrie, aber keine Ökologie, Demokratie aber keine Moral.

Der hochrangige US-Bürger Robert Muller rief dernReligionsvertretern zu: „Die Welt braucht euch! Ihr, mehr als jeder sonst, habt Erfahrung, Weisheit, Einsichten, Gefühle für das Wunder des Lebens, für die Erde und das Universum“. Ihr „müsst wieder der Leuchtturm sein, Führer, Propheten und Botschafter der einen und letzten Geheimnisse des Universums und der Ewigkeit. Ihr müsst Mechanismen des Konsenses einrichten, Ihr müsst der Menschheit göttliche oder kosmische Regeln für unser Verhalten auf diesem Planeten geben.“

Der Funke zündete auch an anderen Orten: 1997 veröffentlichte der Interaction Council unter Vorsitz von Helmut Schmidt eine Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten, die die ethischen in den Religionen gegenwärtigen Grundregeln in 19 Artikeln in allgemein menschliche Pflichten übersetzt. 1999 formulierte das 3. Parlament der Weltreligionen in Kapstadt einen umfassenden Aufruf an unsere führenden Institutionen (an Religion und Spiritualität, an Regierungen, an Landwirtschaft, Arbeit, Industrie und Handel, an Erziehung, an Künste und Kommunikationsmedien, an Naturwissenschaft und Medizin, an internationale zwischenstaatliche Organisationen, Organisationen der Zivilgesellschaft). Im November 2001 (2 Monate nach dem Anschlag auf das World Trade Center) fand dieser Rezeptionsprozess seinen Höhe- und vorläufigen Endpunkt. Die UN-Vollversammlung beriet über den Dialog der Kulturen. Dazu wurde auf Initiative von Kofi Anan hin die Denkschrift Brücken in die Zukunft übergeben, an der auch Hans Küng mitgearbeitet hat. Auch Hans Küng erhielt vor der Vollversammlung das Wort [nur auszugsweise zitieren]:

»Viele Menschen fragen sich angesichts der heutigen Irrungen und Wirrungen: Wird das 21. Jahrhundert wirklich besser sein als das 20. Jahrhundert voll von Gewalt und Kriegen? Werden wir eine neue Weltordnung, eine bessere Weltordnung wirklich erreichen? … Unsere Gruppe legt eine solche Vision eines neuen Paradigmas internationaler Beziehungen vor, welches auch neue Akteure in der globalen Szene in Betracht zieht. In unseren Tagen treten die Religionen wieder als Akteure in der Weltpolitik in Erscheinung. Es ist wahr, viel zu oft haben die Religionen im Lauf der Geschichte ihre zerstörerische Seite gezeigt. Sie haben Hass, Feindschaft, Gewalt, ja, Kriege angeregt und legitimiert. Aber in vielen Fällen haben sie Verständigung, Versöhnung, Zusammenarbeit und Frieden angeregt und legitimiert. In den letzten Jahrzehnten sind überall auf der Welt verstärkt Initiativen des interreligiösen Dialogs und der Zusammenarbeit der Religionen entstanden. In diesem Dialog entdeckten die Religionen der Welt wieder, dass ihre eigenen ethischen Grundaussagen jene säkularen ethischen Werte unterstützen und vertiefen, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte enthalten sind. Auf dem Parlament der Weltreligionen 1993 in Chicago erklärten über 200 Vertreter und Vertreterinnen aus allen Weltreligionen zum ersten Mal in der Geschichte ihren Konsens über einige gemeinsame ethische Werte, Standards und Haltungen als Basis für ein Weltethos, die dann in den Bericht unserer Gruppe für den Generalsekretär und die Vollversammlung der Vereinten Nationen aufgenommen wurden …. Gerade im Zeitalter der Globalisierung ist ein solch globales Ethos absolut notwendig … : Die Globalisierung braucht ein globales Ethos, nicht als zusätzliche Last, sondern als Grundlage und Hilfe für die Menschen, für die Zivilgesellschaft. … Einige Politologen sagen für das 21. Jahrhundert einen »Zusammenprall der Kulturen« voraus. Dagegen setzen wir unsere anders geartete Zukunftsvision; nicht einfach ein optimistisches Ideal, sondern eine realistische Hoffnungsvision: Die Religionen und Kulturen der Welt, im Zusammenspiel mit allen Menschen guten Willens, können einen solchen Zusammenprall vermeiden helfen.« (260f)

Am 9. November verabschiedete die UN-Vollversammlung dann eine Resolution mit einer Globale[n] Agenda für den Dialog der Kulturen. Diese fordert u.a. „Die Entwicklung von besserem Verstehen auf der Basis gemeinsamer ethischer Standards und universaler menschlicher Werte.“ (Dokumentation zum Weltethos, S, 262). Explizit religiöse Inhalte sind für die UN Tabu. Deshalb dürfen auch die vorgetragenen Beiträge nicht offiziell dokumentiert werden. Aber sie verfehlen ihre Wirkungen nicht. Weltweite Aufmerksamkeit ist geweckt, offiziell sind die Weltreligionen am Welttisch der Nationen und Kulturen zusammengerufen. Die von Tübingen konzipierte Ausstellung „Weltreligionen – Weltfrieden – Weltethos“ wird im UN-Hauptquartier gezeigt.

Aus Küngs Erfolgsgeschichte ziehe ich nicht den Schluss, er habe das einzig mögliche Programm einer spirituellen Welterneuerung vorgelegt. Aber mit seiner Arbeit hat er das aufbrechende globale Bewusstsein für unsere global-religiöse Verantwortung nachhaltig gestärkt. Das ist ein qualitativer Durchbruch, hinter den wir nicht mehr zurückfallen dürfen.

These 4:
Vor Ort bleibt diese Verantwortung vielfältig und konkret

Die 1990er Jahre waren ein Jahrzehnt des Aufbruchs. Ihm folgte eine Epoche der Rückschläge und Enttäuschungen. Umso wichtiger ist es, Verantwortung in unserem Alltag neu und aktuell zu verankern. Auch diese Herausforderung lässt sich paradigmatisch am Projekt Weltethos illustrieren. Es will ja keine Ethik sein, also kein ausgearbeitetes ethisches Weltsystem darstellen, das man wortgetreu repetieren könnte. Dieser weltethische Fundamentalismus wäre verkehrt. Die Erklärung von Chicago fordert uns auf, in den zahllosen offenen Fragen „sachgerechte Lösungen“ zu finden.

Wir müssen also lebens- und berufsspezifische Ethikcodes entwickeln. Im Text heißt es: „Wir drängen die einzelnen Glaubensgemeinschaften, ihr ganz spezifisches Ethos zu formulieren.“ Entscheidend sind also keine neuen Ethikregeln, sondern ist der Wandel des Bewusstseins, der aus religiösen Wurzeln kommen kann. „Wir plädieren für einen individuellen und kollektiven Bewusstseinswandel, für ein Erwecken unserer spirituellen Kräfte durch Reflexion, Meditation, Gebet und positives Denken, für eine Umkehr der Herzen. Gemeinsam können wir Berge versetzen.“ (IV, 1-3)

Die spirituellen Wurzeln dieses globalen Bewusstseinswandels im interreligiösen Dialog sind unverzichtbar. Gemeinsame Tische etwa sind kein Selbstweck, auch stehen sie nicht nur im Zeichen eines Weltfriedens, sondern auch im Zeichen der gegenseitigen Zusammenarbeit und Verständigung vor Ort; sie kann nur aus lokalen Verwurzelungen und Beziehungen wachsen. Die grundlegenden, weltweit akzeptierten Lebensregeln von Menschlichkeit und gegenseitigem Respekt, von Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und gegenseitiger Treue wirken wie flexible Treibriemen, die in Kanada anders aufzulegen sind als bei den Māori, in muslimischen Traditionen anders als bei der Anhängerschaft des Vishnu oder den Sikhs. Im Judentum anders als vielleicht bei der Glaubensgemeinschaft der Bahá’í oder der Aleviten, in Heilbronn anders als in Dortmund oder Berlin.

In der Tat. die Welt der Religionen ist kein über der Welt schwebendes Raumschiff. Sie bildet kein über-kulturelles System, das über einer defizitären säkularen Welt dahinzieht, denn genau diese säkulare Welt lebt von Voraussetzungen, die sie gerne verdrängt. Unsere interreligiöse Begegnungsarbeit muss sich deshalb mit einer gemeinsamen Außenarbeit verflechten, die im westeuropäischen Raum und in anderen hochindustrialisierten Ländern besonders dringlich ist. Wir brauchen in unseren Lebensräumen kräftige und authentische, religiös unterschiedliche Stimmen, die sich in unseren Kommunen und Städten mit spiritueller Kraft Gehör verschaffen, sich gegen Schubladendenken Populismus, Rassismus und überholte Patriarchate wenden sowie einwirken auf die Grundhaltung von Frauen und Männern, Kindern und Jugendlichen zu Politik, Wirtschaft und Recht, zu Schule, Bildung und Forschung. Religiös zu denken heißt immer auch, diese Überzeugungen differenziert, ganzheitlich und entschlossen zu verwirklichen.

So gesehen sind wir schon lange über die Frage der 1990er Jahre hinaus. Damals lautete sie: Wie können wir gemeinsame Wege finden? Heute haben viele von uns schon auf vielen Ebenen zusammengefunden. Wir haben unsere Zusammenarbeit ebenso in einer Spiritualität der gegenseitigen Achtsamkeit und mitfühlenden Partnerschaft begründet wie in einer gemeinsamen ökologischen Sorge für unsere Welt. Je konkreter wir uns mit Einzelfragen beschäftigen, umso genauer sollten wir die Spannung zur spirituellen Mitte halten, die uns gemeinsam auf dem Weg hält.

These 5:
Maßstab allen Handelns ist die Sorge für Mensch und Gesellschaft

ir können davon überzeugt sein: Alle Religionen leben aus der einer einzigen Urquelle, auch wenn wir sie unterschiedlich symbolisieren und benennen. Wo aber spiegelt sich dieser gemeinsame Ursprung in unserer Wirklichkeit wieder? Wo liegt der göttliche Ort, an dem diese Orientierung bei uns ihren Widerhall findet? Wo spielt das ein- und ausgehende Atman, dieses universale und zugleich individualisierte Selbst, aus welchen Kräften brennt der Dornbusch, ohne zu verbrennen? Was ist das Geheimnis des letzten Gottesnamens, der uns verborgen bleibt?

Die gegenwärtig globalisierte Welt gibt uns einen wichtigen Hinweis. Zwar möchte sie Distanz zu allem (formal) Göttlichen haben, aber als neuer Maßstab unseres Handelns hat sich in tausend Formen die Frage nach dem herausgebildet, was uns Menschen gut tut. Die Standarte des gemeinsamen Handelns lautet Menschlichkeit, eine konsequente und selbstlose Humanität, die die Sorge für die Erde und alles irdische Leben einschließt. Unser Humanitätsbegriff hat sich also erweitert und wir wissen: Gerade in säkularisierten Kulturen haben diese Fragen nach der Würde der Kinder, Frauen und Männer sowie nach unseren Lebensressourcen eine geradezu sakrale Bedeutung erhalten (Hans Joas, die Entstehung der Werte, Frankfurt 1999). So gesehen sind alle unsere Religionen im besten Wortsinn modern. Wir finden uns alle in der Goldenen Regel, die uns letztlich zu einer gemeinsamen Weltverantwortung geführt hat.

Nicht ohne Grund haben sich religiös orientierte Denker dieser Dimensionen angenommen. Ich nenne den deutsch-amerikanischen Juden Hans Jonas mit seinem Buch Prinzip Verantwortung (1979) sowie den in Litauen geborenen Juden Emmanuel Levinas mit seinem Buch Die Spur des Anderen (1983), der im Anblick des mich anschauenden Menschen die Spur des Unendlichen sieht, das ihn kategorisch zu Respekt und Achtung verpflichtet.

Ich erinnere ferner an den 1965 geborenen süddeutschen Soziologen Hartmut Rosa mit seinem Buch Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung (2016). Mit seiner neuen Metapher setzt er allen kritischen Theorien der Entfremdung und der religiösen Entzauberung ein Anti-Modell entgegen. Wir sind immer schon mitschwingende Teile von großen schwingenden Netzwerken (von Mitmenschen, einer materiellen Wirklichkeit und kulturellen Sektoren); wir leben in diesen Schwingungen mit ihnen. Wir sind also keine „Seinsklötzchen“ oder individuelle Einzelgänger/innen, sondern geistige Beziehung.

In anderer Metaphorik ausgedrückt: Wir stehen in einem unaufhörlichen Prozess von Nehmen und Geben, Hören und Antworten, und diese Antworten gehen über in eine Haltung der Ver-Antwortung vor der Wirklichkeit, den Menschen und dem göttlich unbedingten Urgrund. Nur wer diese Verantwortung akzeptiert und in ihr mitschwingt, kann zu voller Menschlichkeit und Frömmigkeit, zu einer dialogischen Spiritualität finden. In solcher Verantwortung kommen die Religionen zu sich.

Lange waren wir Europäer der Meinung, nur die abrahamischen Religionen hätten diese Weltverantwortung entwickelt, und setzten uns gegen die „mystischen“ Religionen Indiens und die Weisheitsströme Chinas ab. Der Religionswissenschaftler Perry Schmidt-Leukel reagiert auf diese Simplifizierung und spricht von der fraktalen Struktur unserer Religionen. Alle beinhalten in verschiedensten Ausprägungen prophetische, mystische und weisheitliche Elemente, also Weltbejahung und Weltkritik. Deshalb können wir uns auch anderen Religionen ohne die Angst anvertrauen, auf Abwege zu gelangen.

Schluss:
Verantwortung in einer konfliktreichen Epoche

In jedem kulturellen Raum gestaltet sich die Verantwortung der Religionen anders und ich weiß: die Last der Verantwortung ist ungerecht verteilt. Die christlichen Religionen präsentieren sich noch gerne als die unverzichtbaren Meinungsgeber. Wir bilden uns schnell ein, wir allein stünden für die universalen Menschenrechte schlechthin. Dabei sind Europa und der nordamerikanische Raum auch die Erfinder einer neuen Hass-Sprache, des Shitstorms und eines systematischen Mobbing. Opfer dieses Mobbing sind oft Minderheiten in Abstammung, Geschlecht und Religion. Für sie ist es viel schwerer, sich zu profilieren und die Gesellschaft zu kritisieren. Deshalb nehmen sie ihre öffentliche Verantwortung oft weniger deutlich wahr. Umso wichtiger ist es, dass zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften Begegnungsorte, Arbeitsgruppen und Solidargemeinschaften entstehen. Die mehrheitlichen könnten den minderheitlichen Gruppen helfen, indem sie klärend in Diskussionen eingreifen und als erste ihre Stimme erheben.

Lassen Sie mich mit einer letzten Bemerkung enden, die uns zur Demut aufruft: Bischof Heinrich Bedford-Strohm, der Vorsitzende des Rates der EKD, gab nach einer Afghanistanreise am 25. Sept. 2014 ein Interview in der ZEIT. Er verteidigte den Einsatz u.a. der Bundeswehr mit dem Argument: Ja, wenn wir militärisch eingreifen, machen wir uns schuldig. Wenn wir aber nicht eingreifen, machen wir uns ebenfalls schuldig. „Unsere Verantwortung hat keine Grenzen“. Vermutlich würde nach dem August 2021 sein Interview einen anderen Verlauf nehmen. Was mich damals störte, war der Tenor seiner Worte: Wie wir‘s machen, machen wir‘s falsch. Das glaube ich nicht, denn zum Handeln gehört auch eine verantwortliche Prävention. Aber wer Verantwortung übernimmt und sie in der Öffentlichkeit zeigt, muss oft dafür seine Haut zu Markte tragen. Auch das bindet uns zusammen, doch in Gemeinsamkeit können wir diese Last besser tragen.

So komme ich auf die Worte von Antonio Gutérres zurück. „Wir stehen am Rande des Abgrunds“. Bei allem Wohlwollen gegenüber den Religionen, das ich als überzeugter Christ hege, fürchte ich, dass dieses Krisenbewusstsein noch zu wenig zu uns durchgedrungen ist. Wir sind davon überzeugt, dass uns Frieden verheißen ist. Aber der schärfste Gegner der religiösen Friedensbotschaft ist gesellschaftliche Macht. Wir vergessen zu oft, dass religiöse Verantwortung mit Demut und Dienstbereitschaft verbunden ist. Diese Demut schließt ein entschiedenes Engagement nicht aus. Im Gegenteil, sie beinhaltet den gemeinsamen Mut, diese Welt sinnvoll und solidarisch, d.h. im Geiste der Nächsten- und unserer Gottesliebe zu gestalten. Packen wir‘s an, oder mit einem Wort von Huldrych Zwingli gesagt: „Tut um Gott´s Willen etwas Tapferes.“

Dieser Text wurde in verkürzter Form am Tag der Religionen, 28.10.2021 in Heilbronn vorgetragen.

 

 

 

Letzte Änderung: 2. November 2021