Missbrauch der Macht – DNA der Kirche? Eine aktuelle Standortbestimmung

Ein Beitrag zur schweren Krise der römisch-katholischen Kirche. Wie tief steckt sie in der Falle? Warum fällt ihr eine innere Erneuerung so schwer? Viele Faktoren wirken zusammen und es ist nahezu unmöglich, den Beginn des unheilvollen Fadens aufzuspüren.

Gliederung:

  1. Glaubenskrise, Kulturkrise, Leitungskrise
  2. Ein von Narzissten geschmähter Papst
  3. Die Korruption des Klerikalismus
  4. Handeln statt rhetorischer Vertröstung
  5. Revision der katholischen Lehre
  6. Reform von unten
  7. Was zur Schau gestellt wird
  8. Ein Nachtrag zum Krisengipfel im Vatikan

Einem Außenseiter klerikaler Lebensgewohnheiten wie mir steht es vielleicht nicht an, aus den Skandalen der römisch-katholischen Kirche allzu direkte Schlüsse zu ziehen auf den moralischen Zustand des gesamten Klerikerstandes. Dazu haben sich Andere zur Genüge geäußert. Doch sie kommen zu keinem eindeutigen Urteil, obwohl selbst Kardinal Müller die Fakten nicht mehr leugnen kann. Wir lernten die schwarze Pädagogik katholischer Erziehungsheime in Irland, den USA und in deutschsprachigen Ländern kennen. Die Epidemie klerikaler Vergewaltigungen von Kindern und Jugendlichen liegt auf der Hand, ebenso die regelmäßige mentale und sexuelle Gewalt von Klerikern gegen Nonnen. Betroffen sind alle Kontinente. Seit 2001 wurden alle aktenkundigen Fälle an die römische Glaubenskongregation gemeldet, die in ihrer Allwissenheit konsequent schwieg und damit schwere Schuld auf sich lud. Kaum auszudenken, was Ratzinger, der ehemalige Glaubenspräfekt, bis zum Jahr 2013 zu verantworten hat.[1] Zudem thematisieren neuere Bücher die gefährliche Mischung von Homosexualität und krassem Schwulenhass im Vatikan. Wenn man Frédéric Martel glauben darf, lief dieses Phänomen zu Zeiten Benedikts XVI. endgültig aus dem Ruder und wurde 2013 zu einem Motiv für den päpstlichen Amtsverzicht. Man weiß nicht, welches Grauen das schlimmste war. Ist jetzt endlich ein glaubwürdiger Schlussstrich möglich?

1. Glaubenskrise, Kulturkrise, Leitungskrise

Nein, denn wir wissen es nicht: Was kommt zutage, sobald die noch skandalös verschwiegenen Kirchen anderer Länder hinzukommen? Auch ist die Aufklärung in den Vorreiterländern noch längst nicht am Ziel. Warum haben z.B. Mitbrüder, die oft auch Mitwissende waren, die Verbrechen ihrer Kollegen, Miterzieher, die spätabendlichen Beutezüge ihrer Kollegen, Ordensbrüder das geile Treiben ihrer im Glauben Verbundenen nicht offengelegt? Und welche Pfarrgemeinden wurden bei der Aufdeckung von Missständen wirklich aktiv? An welchen Orten wird heute eine offensive Prävention vorangetrieben und warum wird dieses Anliegen von Reformgruppen nicht weiter verfolgt? Das Krisenbewusstsein ist an der Basis noch nicht angelangt; man sucht die Verantwortung bei den Seelsorgern, Bischöfen und Ordensoberen.

Unter den deutschen Bischöfen scheint sich die Stimmung zu wandeln. Einigen ging die MHG-Studie unter die Haut, geradezu panikartig äußern sich die ersten Würdenträger. Sie zeigen sich erschüttert und schämen sich, bitten die Opfer um Vergebung und gestehen ihr Versagen ein. Dabei wandelt sich manche Betroffenheitsrhetorik in echte Verunsicherung und Bereitschaft zum Kurswechsel. Doch konkret weiterführende, gar zugreifende Gedanken äußern sie nicht. Bischof H. Wilmer (Hildesheim) wurde wenigstens in seiner Metapher zugriffiger. Nach ihm steckt der Machtmissbrauch in der DNA der Kirche. Doch voll Unverständnis widerspricht ihm Kardinal Woelki: „Wenn er recht hätte, müsste ich aus der Kirche austreten.“ Leider versteht er immer noch nicht, warum ungezählte engagierte Christ/innen schon ausgetreten sind.

Mehr Aufsehen erregte Mitte Februar ein „Strategiepapier“, das von fünf Bischöfen verfasst wurde.[2] Sie meinen es schon ernster, reden von einer existentiellen Krise, einer Glaubenskrise, Strukturkrise und Leitungskrise. Doch außer einem Aufruf zur Demut und einer inhaltsleeren Klerikalismuskritik fehlt auch diesem Papier jeder weiterführende Ansatz. Geradezu panisch klingt der offene Brief von neun engagierten Männern und Frauen mit „herzlichen Grüßen an den Papst“. Sie erklären, die Sonne der Gerechtigkeit scheine nicht mehr durch, aber die nach Rom gerufenen Bischöfe hätten das Heft in der Hand und eine gründliche Reform des „Weiheamtes“ stehe an. Sie übersehen dabei, dass den Bischöfen die innere Führung schon lange entglitten ist und gerade die Überhöhung der Gemeindeleitung zum „Weiheamt“ zum Kern des Problems gehört. Trotz dieser Fußangeln wurde inzwischen eine große Unterschriftenaktion gestartet, als ob die Aufhebung des Pflichtzölibats, Ordination von Frauen, Enttabuisierung der Homosexualität und eine erneuerte Sexualmoral nicht schon seit 50 Jahren gefordert würden. Ob das in der aktuellen Situation hilft? Schließlich untersagte im November 2018 Papst Franziskus den Bischöfen der USA, in Sachen Missbrauch aktuelle Maßnahmen zu beschließen.

Dennoch werfen die Gutgesinnten jetzt alle Hoffnung auf das weltweite Treffen der Vorsitzenden der nationalen Bischofskonferenzen in Rom. Doch man höre Hans Zollner SJ, einen exzellenten Kenner der Situation und eine Schlüsselperson im Kampf gegen die „eskalierenden Missbrauchsskandale auf mehreren Kontinenten“. Er dämpft die Erwartungen an einen Endkampf und sendet unausgeglichene Signale. In der ZEIT (08/2019) erklärt er mit guten Gründen, zu einem Showdown zwischen Gut und Böse werde es nicht kommen und es genüge auch nicht, mit Apellen und Vorhersagen „um sich zu ballern“. Gleichzeitig fordert auch er, Glaubwürdigkeit sei jetzt zurückzugewinnen, für die Betroffenen müsse es eine Wiedergutmachung geben und die Prävention von Missbrauch und dessen Aufarbeitung müssten verbindlich werden. Gemäß der Süddeutschen Zeitung vom 20. 02. 2019 erwartet er geradezu den Beginn einer Lawine, die sich nicht mehr stoppen lässt, andererseits spricht er auch von den großen Unterschieden beim aktuellen Problembewusstsein. Einerseits spricht er von Nulltoleranz, andererseits meint er, wir dürften unsere Maßstäbe nicht allen überstülpen. Was also gilt? Offensichtlich sind auch ihm die moralistische Fixierung auf Einzeltaten und allgemeine Beschwörungsformeln zu wenig. Doch er sieht das breite graue Umfeld, in dem sich diese schändliche Unkultur halten konnte. Selbst der Papst habe im Umgang mit dem Missbrauch Fehler gemacht und sich dazu bekannt.

2. Ein von Narzissten geschmähter Papst

Damit ist Zollner auf der richtigen Spur. Es sind die Vertuscher und Wegschauer, diejenigen also, denen das Ansehen einer vielfach verdorbenen Kirche wichtiger war als das Wohl der Opfer. Es gibt auch die fehlgeleiteten Übeltäter, denen niemand aus ihren Fesseln half, bevor es zu spät war. Schließlich kennt man sich in geschlossenen Kreisen, aus denen niemand ausbrechen möchte. Und je höher das Ansehen und die Machtposition, umso gespenstischer wird die Atmosphäre unter denen, die von Ehrgeiz und der Suche nach Intimität getrieben sind. Man werfe nur einen Blick in das verachtenswerte Papstbuch des englischen Historiker und Malteserritters Henry J.A. Sire.[3] In geradezu lächerlicher Selbstüberschätzung versteckt er sich hinter dem Namen des Marcantonio Colonna, des siegreichen Anführers der Seeschlacht von Lepanto (1752), der als Retter des Abendlands galt. Von dieser Arroganz angestachelt diskreditiert er Papst Franziskus mit übelsten Mitteln. Die ganze Biographie rückt den Papst in das Licht eines skrupellosen, lügnerischen, moralisch pervertierten, menschenverachtenden und zornwütigen Machtmenschen, der die katholischen Grundlagen von Glaube und Kirche zerstören will.[4]

So ist es ein Glücksfall, dass der amerikanische Journalist Paul Vallely schon 2013 den biographischen Werdegang des Papstes genauestens untersuchte.[5] Indem er auch bei umstrittenen Ereignissen konsequent Stimmen und Gegenstimmen beizog, kam er zu differenzierten, plausibel belegten Folgerungen. Nach meinem Urteil kam er auf Grund differenzierter Recherchen zu folgendem Ergebnis: (1) Vor allem in seinen frühen Jahren verfolgte Bergoglio eine konservative und kirchentreue, von Rom vorgegebene Linie. Doch an keinem der umstrittenen Punkte zeigt sich ein moralisch verwerfliches Handeln. (2) Dem gängigen Vorwurf, als junger Jesuitenprovinzial habe er die argentinische Jesuitenprovinz polarisiert, steht die Tatsache gegenüber, dass ihm eine schon hochpolarisierte Provinz übergeben wurde. Ähnlich wie seinem Vorgängerprovinzial gelang es ihm allenfalls nicht, diese Polarisierungen zu überwinden. (3) Schon als Jesuit und später in bischöflichen Funktionen hat Bergoglio viele seiner Auffassungen von Grund auf geändert. In ungewohnter Offenheit hat er wiederholt und selbstkritisch auf diesen Wandel hingewiesen. Dabei gibt es auch dort keinen Anlass, Bergoglios Selbstverteidigung in Zweifel zu ziehen, wo die Quellenlage klare Antworten verweigert. Entscheidend ist für mich die Tatsache: Die ernste Auseinandersetzung mit konkreten Aufgaben, denen er sich vorbehaltlos stellte und die unaufhörliche Begegnung mit Schutzbefohlenen machte ihn wandlungsfähig und zum Anwalt der Armen. Als kirchentreuer Priester und später erfolgreicher Mann des hierarchischen Systems mag auch er die Keime des klerikalen Narzissmus in sich getragen haben. Doch die schwierigen Konfrontationen, denen er sich nie verschloss, haben ihm alle Gefühle der Überlegenheit ausgetrieben.

Aus diesen und aus anderen Gründen können mich auch die Ausführungen von C. Viganò nicht überzeugen.[6] Dem Papst wirft er vor, wider ausdrückliches besseres Wissen habe er die sexuellen Perversionen höchster Würdenträger geduldet, unter der Hand sogar Entscheidungen seines Vorgängers zurückgenommen, durch hinterhältige Fragen versucht, unter Betroffenen und Kritikern Stimmungen und den Erfolg seiner Intrigen zu erkunden.[7] So bleibe dem Papst nur noch ein Rücktritt als einzige glaubwürdige Reaktion. Doch schon die konsequent tendenziöse Darstellung des päpstlichen Verhaltens, die geradezu zwanghafte Unterstellung unehrenhafter Motive bei seinen Entscheidungen sowie die ungezügelte Homophobie des Briefeschreibers untergraben alle Glaubwürdigkeit dieses Pamphlets. Dabei herrscht über die Fehler des Papstes bei der Behandlung lateinamerikanischer Fälle kein Zweifel. Umso wichtiger ist es, dass er diese Fehler eingesehen, sich zu ihnen bekannt und sie nachdrücklich korrigiert hat.[8] Wie Benedikt XVI. sein Damaskus im Jahr 2010 mit den Skandalen in Irland, so erlebte es Franziskus wohl im Frühjahr 2018 mit den Vorfällen in Chile.[9]

3. Die Korruption des Klerikalismus

Doch führen mich beide Kampfansagen gegen den Papst auch auf eine andere Spur. Warum hat ihn bis heute niemand gegen diese massiven Angriffe verteidigt und warum lässt man ihn im Regen stehen? Finden seine Verteidiger solche Pamphlete irrelevant oder sind sie ihrer Sache nicht sicher? Ich vermute eher, dass sie dieses Argumentationsniveau abstößt, denn es aktiviert die höchst unappetitliche, von Narzissmus, Intrigen und Untertänigkeit geprägte Atmosphäre eines Hofstaats, wie man sie wohl nur in der Kurie antrifft. Dies zeigen die beiden bemerkenswerten Bücher des polnischen Theologien Charamsa[10] und des französischen Soziologen Martel.[11] In eigenem Erleben und in detaillierter Forschung präsentieren sie die einzigartige Mischung von persönlicher Homosexualität und einer aggressiv präsentierten Homophobie, die sich in diesen Reihen ausgebildet hat. Nicht die Homosexualität vieler Kurialer ist das Problem, sondern der heuchlerischer Umgang mit ihren eigenen Neigungen, der sie in den Selbsthass treibt. K. Charamsa, der sich im Oktober 2015 outete und seine Arbeitsstelle in der Glaubenskongregation sofort zu verlassen hatte, hat es am eigenen Leib erfahren. Da wird gemobbt und Stimmung gemacht, werden objektive Entscheidungen unterlaufen und Personen auf Grund persönlicher Sym- oder Antipathie behandelt, gefördert oder in die Ecke gestellt. Da wird alle Sachbezogenheit durch ein narzisstisches Überlebenstraining ersetzt. Und es gibt keine äußeren Kriterien mehr, weil dieses Kirchensystem sich nur noch auf sich selbst bezieht. Wer sich in diese Gemengelage einmischt und analytische Klarheit sucht, kann nur beschädigt herauskommen. Dies mag einer der Gründe sein, warum niemand die Decke des Misstrauens und der Verdächtigungen wegziehen möchte.

Nun weiß ich, dass sich viele Mitglieder der Kurie, Kardinäle eingeschlossen, über diese Darstellung aufrichtig empören, weil sie selbst nicht davon betroffen sind. Aber bislang habe ich noch keine überzeugende Gegendarstellung und noch keine Vorschläge zur Austrocknung dieses Sumpfes gehört, sodass sich trotz der Gutwilligen unter ihnen die Frage stellt: Wollen wir einer solchen Institution bei der konsequenten Überwindung der aktuellen Gewaltepidemie vertrauen? Und will man dies den Bischöfen der Welt zutrauen, die gegen diese perversen Zustände bis heute noch nie einen Aufstand gewagt haben ‑ Zustände, die nach Martels Darstellung selbst einem Benedikt XVI. wiederholt die Tränen in die Augen trieben, bis er vor ihnen kapitulierte? Diese Institution ist unfähig, sich selbst zu reformieren. Auch dem von Franziskus eingesetzten Rat von neun Kardinälen („K9-Rat“) zur Reform der päpstlichen Kurie ist nach fünf Jahren noch kein Durchbruch gelungen. Drei Mitglieder sind inzwischen entpflichtet.

Was bis hierher wohl als Abschweifung vom Thema dieses Beitrags wirkte, gehört für mich zum Bündel eines undurchdringlichen, vielleicht überkomplexen Problems. Die gestellte Frage nach Ursache und Symptomen dieses selbstbezogenen Klerikalismus führt zu vielfachen Aspekten von Männerbund und Selbstüberschätzung, Frauenphobie und Geheimniskrämerei, Selbstsakralisierung und Verrechtlichung, Traditionalismus und überbordender Selbstdarstellung.[12] Alle diese Aspekte entfalten jeweils ihre eigene Dynamik. Sie interagieren wie die Schalen einer Zwiebel, die im Grunde keinen Kern hat und dennoch eine durchdringende Wirkung entfaltet. Die Strukturen dieses Klerikalismus lassen sich analysieren, vielleicht sogar reinigen, relativieren und sachbezogen ändern. Sie bleiben aber dann eine zersetzende Gefahr, wenn sie von keinem sachlichen Ziel mehr von außen herausgefordert, gesteuert und gemessen werden. Zumindest aus westlicher, von Säkularisierung geprägter Perspektive hat dieser Klerikalismus seinen Widerpart verloren. Sein Machtpotential kann zum destruktiven und selbstgerechten Selbstläufer degenerieren, weil er nur noch seine eigene Ehre kennt.

Die Machtspiele der sexuellen Vergewaltiger enthüllen sich als besonders abscheuliche Konkretisierung dieser Verhaltensstruktur, die sich an der Kurie besonders krass beobachten lässt, obwohl sie im gesamten römischen Katholizismus verbreitet ist. Die Täter und die Vertuscher[13] wissen überhaupt nicht, wie selbstverliebt sie sind. Das Hauptmotiv hierarchischer Reaktionen ist noch immer die Sorge um das Ansehen ihrer Kirche. Benedikt XVI. hat die kirchenrechtliche Strafbestimmung zum Missbrauch von Minderjährigen einfach als einen dritten Paragraphen den Bestimmungen zur Verunehrung des Eucharistie- und des Beichtsakraments angehängt, als ob es um die Schändung der priesterlichen Würde das Hauptproblem wäre. Menschen-, gar Kinderrechte besitzen im Kirchenrecht keine systemleitende Perspektive.

Schon eine oberflächliche Erinnerung an die prophetisch inspirierte Jesusgeschichte zeigt, wie sehr sie solchen Klerikalismus verabscheut. Deshalb reicht es nicht, den Klerikern und Hierarchen einfach Demut abzufordern. Angesichts der aktuellen Krise sind die klerikalen Strukturen und Legitimationen zu destruieren. Sie müssen endlich transparenten sowie ereignis- und streng funktionsbezogenen Institutionen weichen.

4. Handeln statt rhetorischer Vertröstung

Angesichts der lange anhaltenden Diskussionen wuchs innerhalb und außerhalb der Kirchen ein geschärftes Bewusstsein für unabdingbare Schritte zur Abhilfe. Doch in der Regel zogen sich verantwortliche Kirchenleiter auf eine folgenlose Betroffenheits- und Abhilfe-Rhetorik zurück.

(1) Insbesondere ließ sich kein entschiedener Aufklärungswille erkennen, der alle Stufen der Aufarbeitung dieses Verbrechens durchziehen muss. Man kann diesen Mangel als Kenntnisdefizit oder Sensibilitätsmangel für die Betroffenen deuten, als Überforderung oder innere Verunsicherung, als Kränkung, unbewussten Widerstand oder als das Überlegenheitsspiel routinierter Amtsträger, das aus der Perspektive der Betroffenen an Zynismus grenzt. Vermutlich sind die Motive für dieses Versagen variabel und komplex. Auch hat sich zwischen der überheblichen Reaktion von Erzbischof Zollitsch (2010) und den jüngsten empathischen Reaktionen von Bischof Ackermann viel getan.[14] Dennoch haben die Bischöfe durch ihr vielfältiges Nicht-Handeln ihre Glaubwürdigkeit verloren. Der Hauptgrund ist darin zu suchen, dass die Sorge um das Ansehen der Kirche die Belange der Betroffenen weit in den Schatten stellte.

(2) Bis heute haben die Bistümer Deutschlands noch keine vorbehaltlose Einsicht in die Aktenlage geschaffen. Wie man weiß, sind in manchen Diözesanarchiven einschlägige Akten verschwunden. Staatlichen Verfolgungsbehörden bzw. wissenschaftlichen Forschungsinstituten wird bis heute ein direkter Zugang zu den Akten verweigert. Zumal in den Archiven der römischen Glaubenskongregation schlummern wohl noch die Akten von Tausenden Missbrauchsfällen, die von allen Diözesen der Welt zur Weiterbehandlung nach Rom überstellt wurden. Um die Wiederherstellung von deren Ehre hat sich bislang niemand gekümmert.

(3) Allgemein anerkannt ist die Forderung nach einer angemessenen Strafverfolgung durch die öffentliche Gerichtsbarkeit der zuständigen Staaten. Doch einer konsequenten Anzeigepraxis kann man sich auch in der BRD nicht sicher sein. Zudem nehmen die Bistümer bei verjährten Fällen oder nach dem Tod von Übeltätern ihre ergänzende Aufklärungspflicht nur bedingt wahr.[15] Auch lässt sich auf breiter Ebene die Entschlossenheit vermissen zu einer zügigen und fairen Abwicklung von innerkirchlichen Verfahren zur Anerkennung von Missbrauchsverbrechen und zur angemessenen Wiedergutmachung. Wie die Reaktionen auf den weltweiten Missbrauchsgipfel vom 21.-24.02.2019 zeigen, haben diese zu viel Wut und Bitterkeit geführt.

(4) Allgemein akzeptiert ist die Forderung, die Vertuschung sexueller Gewalttaten entschieden zu bekämpfen. Dies verlangt schon die Achtung vor der Personenwürde von Kindern und Heranwachsenden (sowie von Klosterfrauen); ihre verletzte Würde ist bedingungslos wiederherzustellen. Doch nur ungenügend werden diejenigen zur Rechenschaft gezogen, die Missbrauchstäter schütz(t)en, deren Untaten vertusch(t)en und nicht für angemessene Sanktionen sorg(t)en. Zugegeben und bisweilen verfolgt werden nur Fälle, die für öffentliches Aufsehen gesorgt haben und dem Ansehen der Kirche schaden. Auch hat sich bislang noch kein Bischof oder Ordensoberer aus eigenen Stücken zu seinem Versagen bekannt oder nähere Auskunft gegeben zum Ablauf oder Schweregrad der Vertuschung. Genau dies wäre nötig, um ausgewogene Regeln für einen gerechten, gleichwohl differenzierten Umgang mit diesem Versagen zu entwickeln.

(5) Benedikt XVI. hat im Jahr 2010 den Begriff der „Nulltoleranz“ geprägt. Von Franziskus wird er häufig übernommen. Offen ist allerdings, was mit ihm gemeint ist. Die bedingungslose moralische Verurteilung des Missbrauchs ist unbestritten. Er bleibt wirkungslos, wenn er keine disziplinarischen Konsequenzen hat. In den Augen von missbrauchten Kindern, Frauen und Männern kann es nur heißen: konsequente, lebenslange und öffentlich bekundete Entlassung aller Missbrauchstäter aus dem priesterlichen bzw. bischöflichen Stand sowie aus ihren öffentlichen und seelsorgerlichen Funktionen. Diese Regelung ist als zwingende Folgerung einer jeden Schulderkennung festzulegen.

(6) Unabhängig von weiteren Reformen haben die aufgeführten Gesichtspunkte aus sich heraus eine plausible und zwingende Geltung. Für die Sanierung des skandalösen Kirchenzustands ist ihre Verwirklichung notwendig, aber nicht ausreichend. Allgemein geben auch viele Kirchenleitungen zu, dass auch strukturelle Begünstigungen zu bekämpfen sind. Doch über missbrauchsfördernde Strukturen und deren Korrektur besteht keinerlei Konsens. So zeigte sich bislang ‑ über allgemeine, meist überschätzte Präventionsregeln und -kurse hinaus ‑ noch kein Bischof fähig oder bereit, die real existierenden strukturellen Zuordnungen von Schutzbefohlenen zu Klerikern wirksam zu ändern. Über die Gründe dieser Selbstblockade wird noch zu reden sein.

(7) Hoch umstritten ist die bleibende Gültigkeit des Pflichtzölibats. Seine Kritiker unterstellen zwischen Zölibat und Missbrauchsepidemie keinen monokausalen Zusammenhang, doch nachweislich verhindert bei vielen Klerikern diese kategorisch verpflichtende Lebensform einen verantwortlichen und menschlich gereiften Umgang mit der eigenen Sexualität und der Sexualität anderer Menschen. Übergriffiges und vergewaltigendes Handeln bleiben nicht auf Kinder und Heranwachsende beschränkt. Zudem ist der Pflichtzölibat biblisch nicht begründet und selbst nach römisch-katholischer Lehre nicht zwingend. Die Aufhebung des priesterlichen Pflichtzölibats verbietet niemandem, diese Lebensform freiwillig zu übernehmen. Zudem brächte die Aufhebung dieser kategorischen Pflicht das Lebenskonzept von kirchlichen Orden und religiösen Kongregationen in neuer Weise zum Leuchten. Dass diese Diskussion (von wenigen Ausnahmen abgesehen) inoffiziell immer noch diskriminiert wird, verweist auf einen engen, nur auf die eigene Tradition fixierten und biblisch unbelehrten Horizont.

5. Revision der katholischen Lehre

Warum aber will eine Bekehrung in den genannten Punkten nicht gelingen, obwohl jeder der genannten Reformpunkte überzeugen müsste? Die hemmenden Faktoren müssen außerhalb dieser direkt zugänglichen Handlungsfelder liegen. Ausgerechnet in der so traditionsbewussten und an der christlichen Wahrheit orientierten Kirche konnte sich diese Epidemie, so der Insider H. Zollner SJ, wie die „Metastasen“ eines unbehandelten Krebsgeschwürs ausbreiten. Benedikt XVI. und Franziskus nahmen Zuflucht zum Teufel und zum Geheimnis des Bösen. Doch letztlich liegt dieses dunkle Geheimnis nicht in außerkirchlichen Kräften, sondern in der heillosen Selbstüberschätzung der Kirche, die zur noch heilloseren Überforderung ihrer „geweihten“ Amtsträger geführt hat. Wer dem Problem dieser Epidemie auf die Spur kommen will, muss mit den überheblichen Verengungen beginnen, die den römischen Katholizismus spätestens seit den reformatorischen Zerwürfnissen prägen.

Schon das katastrophale Nein zur wohlbegründeten reformatorischen Kirchenkritik hat unselige und selbstzerstörerische Folgen eingeleitet. Eine weitere, zeitlich näherliegende Schwelle zum gegenwärtigen Debakel bildet die antimodernistische Verhärtung, die vom römischen Anspruch absoluter Rechtshoheit und Unfehlbarkeit ausging.[16] Eine Kirche, die sich noch im Jahr 2000 über den Rest der Menschheit stellt und in Heilsfragen allen Anderen schwere Defizite bescheinigt[17], produziert auch ein menschenverachtendes Amtsverständnis, weil sie ihre klerikale Elite in feudaler Manie über die „einfachen“ Menschen erhebt. Diese Art radikaler Entweltlichung entzieht, wie schon gesagt, jedem humanen Umgang mit eigener und fremder Sexualität die Grundlage. Hinzu kommt die (vom Pflichtzölibat begünstige und im Vatikan explodierende) paradoxe Mischung von Homosexualität und Homophobie, die im Grunde zum Selbst- und Fremdenhass führt.

Was also tun? Die antireformatorische Lehrentwicklung der vergangenen 500 Jahre ist endlich zu revidieren und auf biblischer Grundlage neu aufzubauen. Heute wissen das professionell trainierte Theologen, doch weichen die meisten dieser Folgerung aus. Sie flüchten sich in psychologisch, soziologisch oder moralisch orientierte Positionen. Natürlich spricht nichts gegen eine vernünftige Psychologie, gegen ein menschenfreundliches Ethos und gegen eine hilfsbereite Demut. Doch spätestens seit dem 2. Vatikanum sollte die katholische Theologie auch wissen, wie tief das dort propagierte „aggiornamento“ in das Selbstverständnis und in den Alltag unserer Kirche eingreifen muss. Man erinnere sich an die Neuentdeckung des Gottesvolkes und der Welt, der Schrift und der Ökumene, der Armen und einer Nähe zu allen Menschen, sodass es nichts „wahrhaft Menschliches“ gibt, das nicht in den Herzen der Jünger/innen Christi seinen Widerhall fände. (Gaudium et Spes 1)

Dieses anstrengende Programm wurde bald diskriminiert. Aus Angst und Verstocktheit haben die Kirchenleitungen neue Impulse blockiert, als „modern“ und protestantisch diskriminiert. Der polnische und der deutsche Vorgängerpapst trieben die Verweigerung auf die Spitze. Wer konziliare Wege vorschlug und ungeduldig insistierte, wurde zum Schweigen gebracht. Diejenigen, die sich in Resignation zurückzogen, hat niemand gezählt. Und wer angesichts dieser Verdrängungsgeschichte selbst heute noch meint, er müsse den „Glauben der Väter“ noch weiter aushärten, scheitert sogar bei den gemäßigt Konservativen; Kardinal Müller ist dafür ein glänzendes Beispiel. Trotz besten Willens hat selbst Papst Franziskus die theologischen Konsequenzen dieses Irrwegs noch nicht durchschaut. Seine spirituelle Erneuerung verdient Zustimmung, aber sie bedarf dringend einer genaueren biblisch-theologischen Justierung. Auch reicht es nicht, Ernesto Cardenal zu rehabilitieren. Wer sich der nachkonziliaren, erniedrigten Erneuerer von Lehre und Kirchenordnung nicht mehr erinnert, produziert eine Verdrängungsgeschichte, die nur destruktiv enden kann. So enthüllt sich die aktuelle Missbrauchskatastrophe nur als ein Symptom der verschleuderten Chancen, das den demokratischen Impuls des letzten Konzils vernichtete. Dazu seien nur einige Schlüsselpositionen genannt.

Der destruktive und zutiefst unchristliche Satz vom wesenhaften, nicht nur graduellen Unterschied zwischen Klerikern und Laien (Lumen Gentium 10) ist ebenso aufzuheben wie der ebenfalls unchristliche und unbiblische Satz, (allein) der Amtspriester vollziehe das eucharistische Opfer, und dies „in der Person Christi“. Die ins Dogmengut eingegangene Sakralisierung der Gemeindeleitung ist dem 4. Jahrhundert geschuldet; es ist die geradezu mythische Überhöhung der kirchenleitenden Funktionen, die bei der zeitgenössischen Hierarchie diesen tödlichen Immobilismus auslöst und aufrecht erhält. Um es klar auf den Punkt zu bringen: Biblisch gesehen braucht eine Gemeinde keine Priester-, sondern eine Leitungsfunktion. Gemäß frühchristlichem Vorbild muss sie heute auch von Frauen wahrgenommen werden. Nicht aus christlich theologischen, sondern aus ideologischen Gründen sperren sich die Bischöfe gegen solche Möglichkeiten. Erst wenn diese überfälligen Revisionen vollzogen sind, kommt die Kirche den ideellen und strukturellen Prägungen bei, die den priesterlichen Missbrauch massiv fördern. Allerdings setzen auch diese Reformen ein gründlich erneuertes Bild von gegenseitiger Liebe und Sexualität voraus. Das päpstliche Schreiben Amoris laetitia hat es bei weitem noch nicht erreicht.

 6. Reform von unten

In keine Panik muss jedoch verfallen, wer diese Zusammenhänge kennt und sich in den vergangenen Jahrzehnten eine christliche Mündigkeit erworben hat. Zur Information gibt es seit 50 Jahren eine reichliche Literatur. Doch der Grat zwischen Erneuerungswillen und ängstlichem Konservatismus bleibt schmal. Ich erinnere an den wegen seiner Weltoffenheit hochgerühmten Kardinal Lehmann. Als 1970 K. Rahner die Bischöfe wegen ihrer Zölibatspolitik öffentlich kritisierte, distanzierte sich Lehmann von solchem Verhalten. Offene Bischofskritik fand er unangemessen und dem Unfehlbarkeitskritiker Hans Küng hielt er 1971 entgegen, kirchliche Erneuerung komme nicht mit lauten Worten, sondern auf Taubenfüßen. Im gleichen Atemzug rühmte er sich, eine große Pressekampange gegen Küng organisiert und einen Meinungsumschwung gegen ihn organisiert zu haben.[18]

Doch auf den wahren Meinungsumschwung warten wir noch heute. Wie viele Quasireformer entwickelte er ein fragwürdiges Gespür für Kritikwürdiges und dennoch zu Ertragendes, ohne der eigenen Leichen im Keller zu gedenken. So etablierte sich ein Schein konstanter Erneuerung, doch aus dieser kollektiven Gehorsamshaltung erwuchs der heuchlerische Lebensstil einer sich liberal gebenden, im Grunde aber unehrlichen und selbstverliebten, priesterzentrierten Kircheninstitution. Dieses Projekt schien lange zu gelingen. Jetzt ist es dabei, krachend und in moralischer Schande zu scheitern.

Umgekehrt sind nach Jahrzehnten der Enttäuschung wache Christ/innen auch innerhalb des römischen Katholizismus so weit, dass sie der Zusammenbruch der klassischen Seelsorge nicht mehr erschüttert. Sie haben die Kraft gewonnen, für eine neue Zukunft der christlichen Botschaft zu sorgen. Natürlich sind Rom und die dort monopolisierten Institutionen nach wie vor gefragt, ob ihnen eine überzeugende Umkehr gelingt. Doch die römische Zentrale muss auch wissen, dass sich keine Institution am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen kann. Die Prozesse der Selbstheilung müssen von unten kommen.

Werden unsere Bischöfe diese Lektion lernen, statt sich erneut in Selbstmitleid und Fremdkritik zu erschöpfen? Eine Kirche lebt ja nicht von abstrakt theologischen Grundpositionen, sondern von den sachgemäßen Folgerungen, die sie aus ihrer Botschaft für ihre Struktur und Selbstdarstellung zieht. Trotz alle Betroffenheitsrhetorik seit dem Jahr 2010 haben Fragen der Genugtuung und Entschädigungsregelung noch keinen befriedigenden Stellenwert erreicht. In der Glaubenskongregation sind Tausende von Fällen dokumentiert, ohne dass bislang etwas geschehen wäre. Das Schicksal anderer Opfer (zahlreiche Nonnen eingeschlossen) wird erst allmählich entdeckt. Meines Wissens hat sich noch kein Purpurträger von der katholisch-klerikalen Kernthese distanziert, zwischen Klerikern und Laien gebe es einen wesenhaften Unterschied; sie ist vielleicht konstantinisch, keinesfalls aber paulinisch, schon gar nicht jesuanisch. Und nur wenigen von ihnen ist bislang die Einsicht in das verdinglichte und bis zur Unkenntlichkeit verrechtlicht hierarchische Kirchenkonstrukt gelungen, das immer noch von feudalen und vormodern frauenfeindlichen Positionen gespeist wird. Seine Verhärtungen enthüllt es z.B. in der ökumenefeindlichen Transsubstantiationstheorie, die den Priester an die Stelle Christi setzt.[19]

Wir hoffen weiter. Vielleicht sieht sich mancher dazu bereit, sich erneut auf eine theologische Schulbank zu setzen, um endlich zu lernen, was den Sachkundigen unter den Theologen selbstverständliche, ökumenisch gemeinsame Überzeugung ist. Durch nichts haben sich die Kirchenführer so sehr geschadet wie durch die Verachtung des theologischen Lehramts. Leider steht in diesen Tagen selbst dem Papst kein klares theologisches Konzept zur Verfügung.[20]

 7. Was zur Schau gestellt wird

Ebenso wichtig erscheint mir eine grundlegende Umkehr in der bischöflichen Selbstdarstellung, die noch immer vom Bodensatz eines imperialen, höchst undemokratischen Gesellschaftsbildes zehrt. Kaum zu überbieten sind die ‑ bei vielen „Frommen“ beliebten ‑ Staatsschauspiele, die unsere Bischöfe bei zahllosen Gelegenheiten inszenieren. Über Epochen hin hat ein feudales und machtverliebtes Denken diese Riten geprägt. Dazu gehören der imperiale Purpur ebenso wie der barocke Kleidchen- und Spitzenkult, ein mittelalterlich-feudales Wappensystem genauso wie eine strenge Kleiderordnung. Die Abstufung der ehrwürdigen Farben vom Violett bis hin zum leuchtenden Rot der Kardinäle signalisiert die innere Ranghöhe der agierenden Hierarchen, ohne die sie sich überhaupt nicht identifizieren könnten. Das Pallium, verkümmertes und funktionsloses Relikt eines einst würdevollen Umhangs, wird von allen zur Schau gestellt, die es vom Papst empfangen haben. Das Weihrauchwedeln, das gütige Zulächeln und die Dauersegnung des „Volkes“ bei Ein- und Auszügen werden zur gnadenvollen Geste. Der Bischofsring, gleich ob opulent oder bescheiden, ist in unserer Gegenwart deplatziert. In einer deutschen Stadt konnte kürzlich der Gottesdienst nicht beginnen, weil der Bischof seine Mitra vergessen hatte und niemand begreift das Auf- und Absetzspiel bei einer normalen Liturgie. Vor kurzem trug Kardinal Schönborn sein goldenes Bischofskreuz sogar beim Interview mit einer von einem Kleriker vergewaltigten Nonne; hätte er nicht wenigstens bei dieser Gelegenheit darauf verzichten können? Dass der Stab ein Zeichen höherer Würde ist, versteht sich von selbst, und dass beim Tod eines Bischofs die Krümmung nach unten getragen wird, erinnert mich an das Pathos einer Wagner-Oper. Darüber mag man hinwegsehen, denn auch Bischöfe sterben nur einmal. Dass ein junger Bischof aber sein liturgisches Buch nicht selbst halten kann, das erinnert doch eher an das servile System einer Untergebenenkultur.

Alles in allem erzeugt dieses Ensemble der Selbstdarstellung eher eine unfreiwillige Komik als einen heiligen Ernst. Und der Eindruck der Selbstverliebtheit entsteht, wenn sich die Bischöfe – gerne in Gruppen vereint – zu Konferenzen, Gedenkfeiern oder gar persönlichen Geburtstagen präsentieren. Dann erscheinen sie in voller Montur, mit golddurchwirkten Rauchmänteln und entsprechend herausgeputzten Mitren, sodass man nicht mehr weiß, ob sie ein heiliges Geheimnis oder sich selbst feiern. Diesem Ärgernis von autoritärer Erhabenheit und Selbstüberhebung können sich auch die päpstlichen Inszenierungen nicht entziehen. Selbst das schlichte weiße Gewand gilt eben nicht mehr als Zeichen weiser Bescheidenheit, seitdem es seltsamerweise auch ein „emeritierter Papst“ beansprucht. Vielmehr gilt es als die Epiphanie höchster Erhabenheit, die darzustellen im Augenblick nur zwei Personen gestattet ist. In Rom hat sich dieser monarchische Grundbestand päpstlicher Selbstdarstellung erhalten, auch wenn im Augenblick die schlimmsten Auswüchse verschwunden sind. Niemand weiß, ob sie nicht wiederkommen.

Dies alles erzeugt noch immer ein Gesamtschauspiel, bei dessen Anblick mir jedes Mal das Lachen im Halse stecken bleibt. Ich denke dann an Fellinis nachdenklichen Film Roma (1972). Er zeigt eine gespenstische Modenschau. Bischöfliche Gestalten bewegen sich ziellos durch den Raum. Ein genauer Blick entlarvt sie als innerlich hohle Drapierungen, die auf leblosen Gestellen dahinfahren. Ob dieser Komik habe ich damals von Herzen gelacht. Später wurde mir klar, wie bitter ernst es dem genialen Filmemacher war. Wenn heute, 47 Jahre später, auch Bischöfe unruhig werden und von der machtinfizierten DNA der Kirche sprechen, kann dies der erste Schritt zu einer Umkehr sein, die keinen Stein auf dem andern lassen wird, bis sich wieder die jesuanische Botschaft durchsetzen kann.

 8. Ein Nachtrag zum Krisengipfel im Vatikan

Der römische Krisengipfel mit den Vorsitzenden der nationalen Bischofskonferenzen und weiteren Repräsentanten des Klerus ist abgeschlossen. Die Erwartungen waren hoch und steigerten sich bis hin zur Schlussansprache des Papstes, der die Ergebnisse des Treffens darlegen wollte. Trotz der starken Ansprachen von drei Frauen mündeten die Tage in einer Enttäuschung, die der Papst nicht auffangen konnte. Zunächst entwarf Franziskus ein breites Tableau des weltweiten Missbrauchs, sprach von heidnischen Kinderopfern, Kinderbräuten und vom Sextourismus, um dann endlich auf seine eigene Kirche zu kommen. Doch dort stilisiert er auch die Täter zu Opfern; das ist skandalös: „Die gottgeweihte Person, die von Gott auserwählt wurde, um die Seelen zum Heil zu führen, lässt sich von ihrer menschlichen Schwäche oder ihrer Krankheit versklaven und wird so zu einem Werkzeug Satans. In den Missbräuchen sehen wir die Hand des Bösen, das nicht einmal die Unschuld der Kinder verschont.“ Das Unheil kommt also nicht aus kirchlichen Verhältnissen, sondern von außen. So haben schon seine beiden Vorgänger gedacht: Die Kirche an sich bleibt unbefleckt.

Dann spricht er vom „stillen Schrei der Kleinen“, auf den wir aufmerksam zu hören haben. Noch einmal fragt er nach einer Erklärung für diese Epidemie. Doch anstatt jetzt endlich Sachgründe zu nennen, vielleicht über die Machtideologien seiner Kirche zu sprechen, betont er noch einmal: Diese Erscheinung sei nichts anderes als „der gegenwärtige Ausdruck des Geistes des Bösen. Wenn wir uns diese Dimension nicht vergegenwärtigen, werden wir der Wahrheit fern und ohne wahre Lösungen bleiben.“ Er ruft dazu auf, „diese Brutalität aus dem Leib unserer Menschheit herauszureißen“ und legt acht Empfehlungen aus, die im Rahmen der WHO erarbeitet wurden und auf die sich die Päpstliche Kommission für den Schutz von Minderheiten konzentrieren werde.

Die Reaktion konnte nicht ausbleiben: Nach einer jahrzehntelangen, sich immer verschärfenden Diskussion bliebt es wieder einmal bei Worten und wieder einmal waren die Herren der Kirche unter sich, nur dreimal durch wohlvorbereitete Zeugnisse von Missbrauchsopfern unterbrochen. Für Betroffene und Reformwillige ist das unerträglich. So läuft der Papst Gefahr, das Gegenteil dessen zu erreichen, was er erreichen wollte. Erneut wich er dem kircheninternen Sachproblem aus, das sich nicht zentralistisch lösen lässt. Bewegung kann höchstens von einigen Bischofskonferenzen kommen, die ihrerseits den Mut haben, die dogmatisch-narzisstischen Barrieren zu durchbrechen.

Der Bußgottesdienst vom Samstagabend war bescheiden inszeniert, doch mit Macht präsentierten sich die alten Fragen erneut beim sonntäglichen feierlichen Schlussgottesdienst in der blumengeschmückten Sala Regia, dem vornehmen päpstlichen Ehrensalon, der ansonsten dem Neujahrsempfang des Diplomatischen Corps vorbehalten ist. Von einer wenigstens liturgischen Läuterung war nichts zu spüren, alle Bußstimmung verflogen. Feierte man die Bitte um Umkehr oder sich selbst? Erneut traf sich die Elite einer kirchlichen Weltmacht, alle einträchtig in gleiche grüne Messgewänder gehüllt, mit denselben Bordüren und Stickereien geschmückt, doch ihre Ranghöhe und Rangunterschiede durch die Farbe ihrer Käppchen markiert. Sie alle „konzelebrierten“ eine Standardliturgie. Dabei aktivierte zum Einsetzungsbericht ein jeder von ihnen seine eucharistische Vollmacht, die den „Laien“ eben nicht zukommt. Für mich gerät das Geschehen zu einem absurden Schauspiel von geballter Magie. Hätte man nicht wenigstens an diesem letzten Tag einer bußfertigen Zusammenkunft die Karfreitagsliturgie zum Vorbild nehmen können, in der die Priester auf ihre Weihevollmacht verzichten, also keine Eucharistie feiern? Stattdessen sucht man erneut die Überwindung des eigenen Machtversagens, indem man die versammelten Weihekräfte bis zum Äußersten kumuliert.

Das kann kein Missbrauchsopfer überzeugen und für diese Weihelogik ist es nur konsequent, dass die Missbrauchten auch jetzt draußen bleiben. Noch einmal demonstriert die Hierarchie ihre klerikale Macht, die doch den Nährboden für ihr Versagen liefert, das sie bekämpfen wollen. Noch immer sind sie davon überzeugt, der Herr habe ihnen „die Verwaltung der Heilsgüter anvertraut“, wie Bischof Ph. Naameh aus Ghana während des Bußgottesdienstes erklärte.

Ich fürchte, dass diese Elite ihr Kernproblem noch nicht wirklich verstanden hat. Es ist ihre Blindheit, die es bisher unmöglich machte, über Strukturänderungen überhaupt nachzudenken. Solange diese Barriere nicht bricht, bleibt die Macht über Menschen ein römisch-katholisches DNA-Problem. Offensichtlich fällt es den Hierarchen schwer, die jesuanische Botschaft ohne römische Verzerrungen wahrzunehmen.

Abgeschlossen am 26.02.2019

Anmerkungen

[1] In offener Diskussion sind inzwischen zahllose Fälle sexueller und körperlicher Gewalt in Argentinien, Australien, Belgien, Chile, Deutschland, Frankreich, Irland, Italien, Kenia, Polen und den USA. Auf sie haben die zuständigen kirchlichen Behörden reagiert. In vielen anderen Ländern sind die Systeme der Vertuschung und des offiziellen Schweigens noch intakt.

[2] Die bischöflichen Verfasser sind P. Kohlgraf (Mainz), St. Oster (Passau), F.-J. Overbeck (Essen ), K.-H. Wiesemann (Speyer) und F. Genn (Münster).

[3] The Dictator Pope, Washington 2018; deutsch: Der Diktator Papst, Bad Schmiedeberg 2018.

[4] Ein Beispiel dieser Darstellungsstrategie mag genügen. Auf den kritischen offenen Brief von 13 Kardinälen vom 12.10.2015 über den Fortgang der Familiensynode soll der Papst wie folgt reagiert haben: „Es begannen Berichte zu zirkulieren, dass Papst Franziskus im Beisein von Bischöfen und Priestern in Rage verfiel, als er den Brief in der Casa Santa Maria erhielt und es gab die Nachricht von einer Schimpftirade, wie man sie sicher seit Jahrhunderten nicht mehr aus dem Mund eines Papstes gehört hatte. Il Giornale erwähnte Gerüchte, wonach der Papst gesagt habe: »Wenn dies der Fall ist, dann können sie gehen. Die Kirche braucht sie nicht. Ich werde sie alle hinauswerfen!« Laut anderen Berichten sagte er: »Wissen die nicht, dass ich hier an der Macht bin? Ich werde ihnen die roten Hüte wegnehmen.« (S. 140)

[5] Pope Francis. Untying the Knots, Bloomsbury 2013; deutsch: Papst Franziskus. Vom Reaktionär zum Revolutionär, Darmstadt 2014

[6] Der Offene Brief des päpstlichen Ex-Diplomaten Carlo M. Viganò vom 22.08.2018 ist in deutscher Sprach u.a. nachzulesen in https://www.die-tagespost.de/kirche-aktuell/online/Das-Schreiben-von-Ex-Nuntius-Vigano-exklusiv-in-deutscher-UEbersetzung;art4691,191445

[7] Zur Debatte standen die Beurteilung von Kardinal Donald Wuerl (Washington) und von Kardinal McCarrick (New York), der inzwischen in den Laienstand zurückversetzt wurde.

[8] Eine unaufgeregte Zusammenfassung der päpstlichen Fehler bietet KNA vom 19.02.2019 unter dem Titel: Franziskus musste in Sachen Missbrauch viel lernen. Außerdem macht das Wort von seiner „steilen Lernkurve“ die Runde. Zur Debatte stehen die zu nachsichtige Behandlung des missbrauchsverdächtigen argentinischen Bischofs Zancchetta (2013) sowie die (später korrigierte) Milde gegenüber einem – staatlich wegen Missbrauchs verurteilten ‑ italienischen Priester (2017). Großes Aufsehen erregte seine (ebenfalls korrigierte) Verteidigung des von ihm ernannten, wiewohl der Vertuschung verdächtigten argentinischen Bischofs Juan Barros, der mit einem Serientäter in Sachen Missbrauch, dem allseits beliebten Priester Fernando Karadima enge Beziehungen pflegte. Im Laufe der Untersuchung (s. Anm. 9) zeigte sich ein ganzes priesterliches Netzwerk des Missbrauchs. Dann zog Franziskus die Sache an sich und auf sein Drängen hin boten alle chilenischen Bischöfe ihren Rücktritt an. Juan Barros und zwei weitere Bischöfe sind inzwischen zurückgetreten.

[9] Entscheidend wurde der offizielle Bericht von 2.300 Seiten, den Erzbischof Charles Scicluna (Malta) als Sonderermittler erstellte (vgl. KNA-Bericht vom 19.02.2019).

[10] Krzystof Charamsa, Der erste Stein. Als homosexueller Priester gegen die Heuchelei der katholischen Kirche, München 2018.

[11] Frédéric Martel, Sodoma. Enquête au coeur du Vatican, Paris 2019; engl. Übersetzung: In the Closet of the Vatican. Power, Homosexuality, Hypocrisy, Bloomsbury 2019.

[12] Dazu mein Beitrag: Was ist Klerikalismus? (https://www.hjhaering.de/was-ist-klerikalismus/)

[13] Vertuscher werden in der Regel die Vorgesetzten (Bischöfe oder Ordensoberen) genannt, die wissend Täter schonen oder ihnen an anderem Ort die Fortsetzung ihrer priesterlichen Tätigkeit ermöglichen. Noch nicht untersucht sind (1) das Verhalten von Kollegen, die in falsch verstandener Kollegialität Missbrauchsfälle nicht weitermelden, (2) das naive Vertrauen auf die beschwichtigende Mitteilungen Dritter und (3) eine Kultur des Schweigens, die klerikale Gruppierungen zusammenhält.

[14] Am 24.02.2010 warf der damalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz der Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger falsche Tatsachenbehauptungen vor. Er stellte ihr ein Ultimatum, ihre Interviewäußerungen zum kirchlichen Missbrauchsskandal zu korrigieren. Allerdings verlief seine Attacke im Sand.

[15] Auf die notorisch schleppende innerkirchliche Verfahrensbehandlung und den oft demütigenden Umgang mit Anerkennungs- und Entschädigungsfragen wird hier nicht eingegangen.

[16] Der Kirchenhistoriker Hubert Wolf hat die menschlichen Abgründe dieses Denkens in seinem Buch Die Nonnen von St. Ambrogio (München 2013) vorgeführt. Statt die wahren Signale zu hören, hat man diese akribisch erforschte Geschichte zum köstlichen Krimi herabgestuft. Dies sollte auch bedenken, wer seit neuestem die Forderung nach Formen der Gewaltenteilung in der Kirche erhebt. Streng genommen setzt sie den Widerruf dieser dogmatisch festgelegten Vollmachten voraus.

[17] „Wenn es auch wahr ist, dass die Nichtchristen die göttliche Gnade empfangen können, so ist doch gewiss, dass sie sich objektiv in einer schwer defizitären Situation befinden im Vergleich zu jenen, die in der Kirche die Fülle der Heilsmittel besitzen.“ (Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung „DOMINUS IESUS“ über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche vom 6. August 2000, Nr. 22).

[18] Gemäß Peter Kohlgraf, dem Nachfolgerbischof Kardinal Lehmanns in Mainz hatte Lehmann das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirchen unterschätzt; „die strukturellen Fragen oder die Fragen eines systemischen Versagens hatte er nicht auf dem Schirm.“

[19] In seinem Schreiben vom 16. Juni 2009 zur Eröffnung des „Priesterjahres“ 2010 zitierte Papst Benedikt XVI. den Pfarrer von Ars mit folgenden Worten: „Ohne das Sakrament der Weihe hätten wir den Herrn nicht. Wer hat ihn da in den Tabernakel gesetzt? Der Priester. Wer hat Eure Seele beim ersten Eintritt in das Leben aufgenommen? Der Priester. Wer nährt sie, um ihr die Kraft zu geben, ihre Pilgerschaft zu vollenden? Der Priester. Wer wird sie darauf vorbereiten, vor Gott zu erscheinen, indem er sie zum letzten Mal im Blut Jesu Christi wäscht? Der Priester, immer der Priester. Und wenn diese Seele [durch die Sünde] stirbt, wer wird sie auferwecken, wer wird ihr die Ruhe und den Frieden geben? Wieder der Priester … Nach Gott ist der Priester alles! … Erst im Himmel wird er sich selbst recht verstehen.“

[20] Dies lässt sich eindrücklich am päpstlichen Schreiben Amoris laetitia vom 19. März 2016 zeigen (http://www.hjhaering.de/zur-ambivalenz-des-papstbriefes-amoris-laetitia/).