Religion und Politik – Quellen von Gewalt? Eine Gewissenserforschung

Einleitung

Weltweit hat sich die politische Großwetterlage verdüstert. Führende Politiker folgen offener denn je egoistisch-machtpolitischen Programmen. Für den Präsidenten der USA gilt „America first“, der Präsident der Türkei steckt Kritiker nach Belieben ins Gefängnis und Russland bricht ohne Wimpernzucken Menschen- und Völkerrecht. Die polnische, von den Brüdern Kaczyński gegründete PiS (Partei für „Recht und Gerechtigkeit“) führt ein autoritär aggressives Regime und die ungarische Fidesz („Ungarischer Bürgerbund“) propagiert unter Viktor Orbán einen „illiberalen“ Staat und agiert gegen muslimische Immigranten, die unter Todesgefahr aus Syrien flüchten. Matteo Salvini von der Lega Nord, seit 1. Juni 2018 Innenminister Italiens, lässt die italienischen Häfen für im Mittelmeer Gerettete schließen. Die Androhung und Ausübung von Gewalt hat in diesen Staaten ein Ausmaß erreicht, wie wir es seit 1990 nicht mehr für möglich hielten.

Zugleich erstarken in westlichen Ländern rechtsextreme Strömungen. In den sozialen Medien ist der Umgangston nicht nur rauer, sondern auch ausgesprochen aggressiv geworden. Wüste Beschimpfungen und Androhung von Gewalt wurden geradezu zum Standard. Hinzu kommt ein weltweiter Terror, der sich (zu Unrecht) auf den Islam beruft. Im Westen heizt er systematisch eine Atmosphäre der Gewalt an und ein rechtsextremer Terror dreht genauso systematisch an derselben Schraube. Fachleute erkennen darin spiegelbildliche Prozesse[1]. Man denke an Italien, die USA, Großbritannien und Polen, in wachsendem Maße auch an Österreich, Deutschland, Frankreich und die Niederlande.

Zwar werden Gewalt und Aggression von christlichen Religionsführern meistens geächtet, aber unter der Decke offizieller Verlautbarungen zeigt sich auch eine weniger friedliche Wirklichkeit. Religiöse Motive spielen in der wachsenden Intoleranz und Gewaltbereitschaft eine unverkennbare Rolle. Gerade Verteidiger des christlichen Glaubens sollte genauer nachdenken. Ich gebe nur einige Hinweise:
– Viele christliche Kirchen in den USA, zumal die evangelikalen, standen und stehen auf der Seite von Donald Trump; ohne eine breite christliche Sympathie wäre er nicht gewählt worden. Man kann stramm gläubig und streng rechts, selbst auf Kosten bestimmter Menschenrechte sein. Das ist ein gefährliches Signal für eine allgemein verbindliche Auffassung des christlichen Wertesystems.
– Die Regierungen von Polen und Ungarn legitimieren ihre Politik nachdrücklich mit kirchlich-christlichen Argumenten; Orbán versteht sich als Verteidiger des Christentums gegen den Islam; das provoziert kritische Rückfragen gegenüber einer traditionell kirchlichen Glaubenspraxis.
‑ Starke Kreise innerhalb der AfD begründen ihre Politik mit Argumenten, die sie für christlich oder für kirchlich geboten halten; diese reichen von der Sorge für die öffentliche Ordnung bis hin zur Angst vor dem Untergang des christlichen Abendlands.[2] Daraus erwachsen Fragen nach der Fähigkeit des real existierenden Christentums nach einem eindeutigen gesellschaftspolitischen Profil.
‑ Weltweit wird die römisch-katholische Kirche seit Jahren von klerikalen Gewalt- und Vergewaltigungsgeschichten geradezu zerrissen, ohne dass eine konsequente Kehrtwende erkennbar wäre. Gewalt ist also präsent und wurde bislang vertuscht. Daraus ergibt sich die Frage, ob das offiziell gelebte Christentum gegenüber dem Respekt vor der Würde des Menschen hinreichend sensibel ist. Ein Zusammenhang zwischen dieser inneren Gewaltaffinität und politisch-gesellschaftlichen Auffassungen liegt nahe.

Gewiss, bei solchen globalen Überlegungen, die ich nur verkürzt vortragen kann, besteht immer die Gefahr, dass wir Äpfel mit Birnen verwechseln, z.B. eine entschiedene Haltung mit aggressivem Verhalten, die Bejahung des staatlichen Gewaltmonopols mit einem autoritären Staat, den für eine gute Politik notwendigen Kompromiss mit charakterloser Nachlässigkeit gegenüber Gewalt. Umgekehrt wäre es auch nicht sinnvoll, die oft verborgenen Zusammenhänge zu leugnen, z.B. zwischen innerer Haltung und äußerem Verhalten, einem denkfaulen Populismus und ausdrücklichem Terror, einer gläubigen Rechthaberei und der Unterdrückung von Andersreligiösen.

Auch sind die genannten Phänomene nicht unbedingt neu. Unsere Probleme sind nicht mit denen der Weimarer Republik, gar des Faschismus zu vergleichen. Politik und Religion hatten schon immer mit Gewalt zu tun und wie wir noch sehen werden, ist sie in gewissen Fällen unverzichtbar. Von welchem Augenblick aber ist Gewaltausübung moralisch gerechtfertigt und wann überschreitet sie die Grenzen der Legitimität? Was sollten Religion und Politik dulden, gar fördern, und was dürfen sie verbieten? Im Jahr 2010 erschien das aufsehenerregende Büchlein von Stéphane Hessel Empört Euch![3]. Doch schon jetzt, neun Jahre später, erscheint es mir als höchst ambivalent, Empörung rundum als politische, gar als religiöse Kategorie einzufordern. Damals was es vielleicht wichtig, gegen eine politische Lethargie anzukämpfen. Heute sind Wut und Empörung dabei, alle Grenzen eines konstruktiven Zusammenlebens zu durchbrechen.

Diese und andere Gründe fordern uns dazu auf, etwa die Frage zu stellen: Was haben Politik und Religion mit Gewalt zu tun? Oft wird sie religionskritisch gewendet: Kann man Religion und Politik zu gewaltfreien Institutionen verbessern oder sollte man sie abschaffen, um die Quellen der Gewalt endlich auszurotten? Beides wäre naiv. Es gibt auch eine staatskritische Variante: Gibt es genug Sicherheitsmaßnahmen gegen den menschenfeindlichen Missbrauch staatlicher Gewalt? Ich möchte versuchen, einige differenzierte Antworten zu entwickeln.

I. Kein wirkliches Zusammenleben ohne Gewalt

Offiziell leben wir heute in einem Gemeinwesen, in dem ungerechtfertigte Gewalt verpönt, staatliche Gewalt sorgfältig kontrolliert wird und wir uns in der Öffentlichkeit sicher bewegen können. Dennoch wissen viele von uns, von Gewalterfahrungen zu berichten. Wir haben sie in der Familie oder in der Schule, in Auseinandersetzungen zwischen Schülern oder Kollegen erfahren. Viele Frauen scheuen sich noch heute über erlittene Demütigungen zu berichten. Bisweilen waren wir Täter, manchmal Opfer, in manchen Fällen Siegende und Unterlegene zugleich. Wir lernten psychische, verbale oder physische Gewalt kennen, wissen von glühendem Hass oder kalter Gleichgültigkeit. In gemischten Situationen ist uns bis heute nicht klar, welche Rolle wir genau spielten.

I/1 Ausgangspunkte: In Gewalt verstrickt

Das ist nicht verwunderlich, denn Gewalt war immer schon Teil eines menschlichen Zusammenlebens, dessen Teil wir waren, ob wir es wollten oder nicht. Gewaltverstrickungen beginnen schon bei den einfachsten Handlungen, die wir schon als Kinder initiieren. Wir agieren zugriffig und kennen noch nicht die Grenzen, an denen unerlaubte Gewalt beginnt. Alles Handeln beinhaltet, wie Alfred Adler (1870-1937) betonte, einen Kern von Aggressivität, gleich ob ein Kleinkind ein Stück Papier zerreißt oder in die Hand seines Schwesterchens zwickt, eine Vase herunterstößt oder – sobald es die ersten Zähne hat – in die Schokolade beißt. Gewalt beginnt überall dort, wo Widerstand überwunden und gebrochen wird. Kraft kommt nur als Gegenkraft zur Wirkung. Wer etwas verändern will, muss in dieses Kräftespiel eingreifen.

Natürlich beschreibe ich damit Gewalt an seiner niedrigsten Schwelle. Der kleine Schlag eines Babys oder einer jungen Katze wird noch nicht als Gewalt wahrgenommen. In der Regel reden wir erst dann von Gewalt, wenn die Aktion eines Menschen, eines Tieres oder einer Maschine andere oder anderes niederzwingt, seine Integrität beschädig oder zerstört, seinen freien Willen missachtet. Wir denken zunächst an eine physische Gewalt, die mit Hilfe der Technik gewaltige, geradezu globale Ausmaße der Zerstörung annehmen kann. Dazu gehören nicht nur Sprengstoffe und raffinierte Schießtechniken, sondern auch die hochmoderne Raketen-, Satelliten- und Informationstechnologie bis hin zu den Atomwaffen. Wir kennen heute Gewaltpotentiale, die nicht nur ganze Landstriche zerstören, sondern die ganze Erde unbewohnbar machen können.

Diskussionswürdig wird die Gewaltfrage für uns, wenn sie von Menschen ausgeht, jenem Lebewesen, das gezielte Prozesse der Zerstörung in die Wege leiten und durchführen kann. Dabei können wir davon ausgehen, dass sie Ihre Zerstörungshandlungen in der Regel bewusst, oft mit rationaler Planung vollziehen. Allerdings sind solche Handlungen oft von elementaren Reaktionen begleitet, die das Bewusstsein in den Hintergrund rücken. Nahezu immer werden Handlungen von einem ganzen Arsenal von Emotionen, von vor-bewussten und bewussten Reaktionen begleitet. Deshalb gibt es auch schwer durchschaubare Szenarien, die mit psychischen Impulsen beginnen und zu physischen Ausbrüchen führen oder durch angelernte Hemmungen in Bahnen geleitet werden. Oft können wir diese wirren, einander durchdringenden Stränge an uns selbst beobachten. Es wäre eine Illusion zu meinen, wir könnten uns von aggressiven Regungen einfach freihalten. Nicht ihre Existenz, sondern unser Umgang mit ihnen ist das Problem.

Da wir Menschen zugleich Gemeinschaftwesen sind, durchdringt diese Nähe zu Gewalt und Aggressivität auch Gemeinschaften und Gesellschaft. Es gibt keine Gemeinschaft und Gesellschaft, in der keine kollektive Gewalt wirksam, zumindest auf dem Sprung ist. Gemeinschaft und Gruppen üben auf einzelne oder auf andere Gruppen Zwänge aus. Die Methoden von individuellem Ausschluss und Freiheitsberaubung bis hin zu Diskriminierung und persönlicher Unterdrückung, zu offener Gewalt und zu Krieg sind bekannt. S. Freud hat darauf hingewiesen, wie erschreckend dünn gerade in Kriegszeiten die Decke humanisierender Regeln und Konventionen sind.[4] Im Blick auf die Schrecken des 20. Jahrhunderts und der aktuellen Ängste vor unserer Zukunft brauche ich nicht auszuführen. Mit grenzenloser Bosheit können Menschen systematisch irregeführt, bevorteilt, ausgebeutet, betrogen und verraten werden; die sozialen Medien leisten dafür ausgezeichnete Dienste. Ganze Volksmassen lassen sich desinformieren, verführen oder zum Schweigen bringen. Solche Prozesse können demokratische Gemeinwesen an die Grenze ihrer Belastbarkeit bringen.

So setzt das Thema vielfältige und allgegenwärtige Bausteine voraus. Ich nenne elementare und indirekte, psychische und physische, individuelle und kollektive Gewalt, versteckte Aggressionen und massive Gewaltausbrüche, dies im Alltag, in Politik und Religion. Da Gewalt kein isoliertes Wesen, sondern eher die Qualität von Handlungen und Haltungen ist, geht es oft um kollektive und höchst komplexe, historisch gewachsene und kulturell stabilisierte Phänomene von Gewalt und Gegengewalt. Wir haben es mit Endlosspiralen zu tun. Sie sind nie wirklich gewaltfrei, aber im besten Fall bilden sie wenigstens stabile und vorhersehbare Verhaltensmuster, gegen die wir uns abschirmen können.

Doch kommt für uns ein weiteres Problem hinzu, das lange übersehen wurde. Viele Theorien über gesellschaftliche, religiös oder staatlich geregelte Gesellschaftsordnungen achten darauf, dass das Kollektiv stabilisiert wird. So entstehen elementare und komplexe Formen von kollektiver Gewalt. Häufig übersehen sie, dass jedes einzelne Individuum seine eigenen Rechte, seine eigene Freiheit und unveräußerliche Würde hat; man denke an die chinesische Staatsordnung. So treten individuelle und kollektive Ordnungs- und Zwangsebenen in Konkurrenz. Gerade in starken und hochdisziplinierten Staatsordnung werden die Individuen umso hilfloser und schwächer. Sie können ihre Rechte nicht mehr durchsetzen, werden zu Opfern und ihrer menschlich elementaren Freiheiten beraubt. Je mehr sie sich zu Gegenkollektiven zusammenschließen, umso mehr bilden sich Ausgangspunkte von Gegengewalt, die ebenso zerstörerisch und tödlich sein können. Dies war der Fall bei den 68ern, aus denen heraus sich die RAF entwickelte.

Eine paradigmatische Bedeutung für diese Explosionen von kollektiver Gewalt haben die beiden Weltkriege, für Deutschland zumal die kulturelle Katastrophe des Nationalsozialismus mit der Ermordung von 6 Millionen Juden. Diese schlimmen Erfahrungen hinderten uns nach 1945 daran, uns zum dritten Mal in einen vergleichbaren Wahnsinn zu stürzen. Zwar hatten sich während des „Kalten Kriegs“ erneut hohe Machtkonzentrationen mit enormen Zerstörungspotentialen aufgebaut, aber dieses Mal war es gelungen, ihren Gewaltausbruch zu verhindern.

Vor dieser historischen Erfahrung ist die gegenwärtige Situation umso bedrohender. Ich sagte es schon: Gewalt, Aggressionen, eine beleidigende und erniedrigende Sprache sowie wachsender Terror bestimmen heute weltweit Öffentlichkeit, Kulturräume und Staaten. Wir erleben ebenso eine neue politische und religiöse Intoleranz (M. Nussbaum) sowie eine Grundstimmung der Enttäuschung und gewaltbereiten Verbitterung (J. Ebner), ohne genau zu wissen, was wir ihnen entgegensetzen sollen. Diese Entwicklung hat globale Dimensionen angenommen, denn wir sind mit einer hoch explosiven Weltsituation konfrontiert, die wir nicht verstehen. Der Ost-West-Konflikt des Kalten Krieges war, wenn man so will, noch überschaubar und hat geradezu ordnend gewirkt. Man kannte die Guten und die Bösen, wusste also, wen man in Schach zu halten, in welche Richtung man die Waffen zu richten hatte. Alle anderen Weltkonflikte standen im Magnetfeld dieses großen Ost-West-Konflikts. Die große Unübersichtlichkeit schafft Angst und Panik, gleich ob man an die USA oder den Iran, Nordkorea oder den Golfkonflikt denkt. Neue Mächte von angestrebtem Weltrang wollen die alten Rollen nicht mehr akzeptieren. Zu den fünf klassischen Atommächten (USA, Russland, China, England, Frankreich) kommen neue Kandidaten (Israel, Indien, Pakistan und Nordkorea, eventuell Iran und Saudi-Arabien). Um Niederlagen vorzubeugen, muss man stärker erscheinen, als man ist. Wir befinden uns in permanenter Erregung. Warum versteht es niemand, uns nachhaltig zu beruhigen?

I/2 Hintergründe

Neben den politischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts gibt es dafür einen einfachen Grund: Wir alle sind, noch bevor wir zu klarem Bewusstsein kamen, in Gewalt- und Unrechtsverhältnisse hineingeboren. Offensichtlich schlummert in uns Menschen und in der ganzen Menschheit eine abgründige Neigung, Mitmenschen und konkurrierende Gruppen zu übertrumpfen und sie klein zu machen. Die traditionelle Erbsündentheorie ist sicher nicht mehr haltbar. Im Anschluss an Augustinus (354-430) führt sie uns zu dem zerrütteten Triebhaushalt, die Bosheit der Menschen auf die Ursünde Adams und Evas zurück, deren Schuld sich über die ganze Menschheit ausgebreitet hat.

Seitdem hat nicht die jüdische, aber die herrschende christliche Tradition die biblische Paradiesgeschichte so interpretiert: Adam, der Urmensch, Realsymbol der gesamten Menschheit, kann seiner Neugier, seinem Erlebnisdrang und seinem Begehren keine Grenzen setzen. Er kann sich nicht zügeln, erliegt den Verführungen Evas und katapultiert sich so in eine Welt des Unheils und Verderbens. Man sollte der Erbsündentheorie des Augustinus wegen ihrer schlechten Anthropologie und ihres verheerenden Sexismus nicht folgen, aber sie brachte mit ihren schlechten Mitteln eine tiefe Weisheit in unser kulturelles Bewusstsein. Über der Menschheit herrscht übermächtig archaischer Zwang zum Übermut, zur Zügellosigkeit und zu einer skrupellosen Gewaltbereitschaft. I. Kant spricht von einem Hang zum Bösen, der im Menschen ruht. K. Rahner spricht von einem Unheilszusammenhang, in den wir alle verstrickt sind. Andere haben ganz nüchtern darauf hingewiesen, dass zu allen Gemeinschaften, in denen wir groß geworden sind, Regelverletzungen, Egoismen und Gewaltneigung gehören.

Thomas Hobbes (1588-1679) hat dieses Problem erkannt und auf die Staatenbildung übertragen. Solange sie ihren eigenen Trieben folgen, so Hobbes, herrsche unter den Menschen ein Krieg aller gegen alle. Für ihn ist das der nüchterne, empirisch gesicherte neuralgische Punkt allen Zusammenlebens mit seinen Gewaltausbrüchen, Unterdrückungen, Morden, Ausbeutungen, Lügen und Treuebrüchen. Deshalb bedürfe es einer Instanz, die diese Abgründe zügelt. Genau das tue der Staat mit seinem Gewaltmonopol. 1651 beschreibt er dieses Gemeinwesen Leviathan, vergleicht es also mit dem urtümlichen und mächtigen Seeungeheuer der jüdischen Mythologie, das allen Widerstand brechen kann.[5] In seiner Sorge für Ordnung steht dem Staat – zum Wohl der Menschen – eine Gewaltkompetenz zu, die alle untergeordnete Gewalt bricht.

Gewiss, diesem Bild vom grausam zuschlagenden Staat können wir nicht mehr zustimmen. Es ist absolutistisch geprägt und übersieht alle humanen, sozialen und kulturellen Fürsorgepflichten, die dem Staat heute ebenfalls zufallen. Hobbes hat noch kein Gespür für das sublime Zusammenspiel verschiedenster politischer Instanzen und zivilgesellschaftlicher Vereinigungen, auch kein Sensorium für den vermittelnden Beitrag, den Religionen und humane Weltanschauungen dabei übernehmen können. Hobbes legt allen Nachdruck auf nur einen Aspekt, der allerdings auch für uns unverzichtbar ist. Es muss eine Instanz geben, die der immer wieder aufbrechenden Gewalt Widerstand bietet. Wir sprechen vom Gewaltmonopol des Staates, das nach unserer Auffassung demokratisch zu kontrollieren und ethisch immer wieder zu justieren ist.

Warum aber ist das der Fall? Gibt es nicht auch andere Wege, auf denen sich Gewalt vorzeitig begrenzen, steuern und deshalb verstehen lässt? Das ist richtig, für sie hatte Hobbes, wie gesagt, noch kein Gespür. Ich möchte hier Theorie vortragen, die der französische, zuletzt in den USA wirkende Kultur- und Religionsphilosoph René Girard (1932-2015) entwickelt hat. Ich versuche seine komplexe Gesamttheorie in wenigen Sätzen zusammenzufassen. Alle Menschen, so Girard, ahmen andere Menschen (Eltern, Geschwister, Vorbilder oder Freunde) in ihrer eigenen Lebensgestaltung nach. So beginnen Gemeinschaften und Kulturen: Ich folge den Appellen meiner Vorbilder, tue also, was auch andere tun, will es noch besser tun. So entstehen Kulturen. Die alten Griechen sprachen von mimesis, der Nachahmung. Girard sprich von mimetischem, also nachahmendem Begehren, heute sprechen wir vielleicht von einem Ehrgeiz, der immer auch zu Rivalität, Eifersucht und Neid führt.

Das muss sich nicht unbedingt in der primitiven Sucht äußern, andere zu übertrumpfen. Es äußert sich zunächst im moralischen Anspruch, es den anderen an Gerechtigkeit, mitmenschlicher Sorge, Liebe und Wohlwollen gleichzutun. Man will so werden wie der Vater oder die Mutter, wie ein Freund/in oder eine andere bewundernswerte Person. Doch es bleibt immer (und nicht erst seit kapitalistischen Verhältnissen) das Problem der Konkurrenz. Anders gesagt: Eine jede moralisch anspruchsvolle Gemeinschaft schafft auch Konflikte, und die Staatsform der Demokratie ist deshalb so genial, weil sie diese Konkurrenz zu einem produktiven Prozess umformt. Genau besehen hat der Neid also eine im positiven Sinn vitale, belebende, gute Wurzel. Doch er steckt auch an und kann die Grenzen eines sinnvollen Strebens überschreiten. So kann er ganze Menschengruppen in einen Strudel von Gewalt reißen, sobald er den begrenzenden Inhalt seiner Begierde hinter sich lässt. Schließlich wollen ein einzelner Mensch oder eine Gruppe diesen hinderlichen Neid ein für allemal ausschalten: America first!.

Girards Folgerung lautet: Es gibt keine vitale, wirklich humane Kultur oder Konkurrenz ohne eine letztlich tödliche Schuld, die den Konkurrenten gnadenlos verdrängt. In dieser unausweichlichen Tendenz liegt der Kern allen menschlichen Übels. Girard begann seine Karriere nicht als Moralphilosoph oder Anthropologe, sondern als Literaturwissenschaftler und Kenner der antiken Literatur. Er hat diese Zusammenhänge in den altgriechischen Mythen und Tragödien, z.B. aus dem Ödipus-Mythos gelernt und von dort aus die antiken Opferreligionen interpretiert.

I/3 Untaugliche Lösungen

Worum geht es in diesem Mythos? Das alte Theben wird von einer verheerenden Epidemie heimgesucht und seine Einwohner verstehen sie als Strafe für eine tödliche Schuld, die auf ihnen lastet. Wenn die Schuldigen erkannt und ihre Verfehlungen gesühnt werden, so ihre Folgerung, wird der Fluch aufgehoben. Schließlich wird die Schuldverstrickung des Königs Ödipus offenkundig, der (ohne es zu wissen) seinen Vater getötet und seine Mutter geheiratet hat. Zur Rettung der Stadt wird sein Schicksal besiegelt; eine Gemeinschaft, die ihren Sündenbock gefunden und verjagt oder getötet hat, kann wieder Frieden und innere Versöhnung finden.

Dasselbe Prinzip ist über lange Epochen hin in den zahllosen Opferritualen und -religionen zu finden, in denen massenhaft das Blut von Stieren und Böcken floss. Derselbe Sühnegedanke lebt im jüdischen Ritus des Sündenbocks, der bis zur Zerstörung des Jerusalemer Tempels (70 n. Chr.) am Versöhnungstag mit den Sünden des Volkes beladen und in die Wüste gejagt wurde.[6] Allerdings spart Girard nicht mit harter Kritik. Zwar werden in diesen Versöhnungsfeiern keine Menschen, sondern nur Tiere getötet, aber auch diese Opferriten erliegen einer gefährlichen Täuschung. Denn sie weichen der Frage aus, wer im konkreten Fall die wirklich Schuldigen sind, zudem wird der zu sühnende Frevel noch um eine weitere Gewalttat erweitert.

Dieser religionswissenschaftliche Exkurs wäre unerheblich, wenn er nicht ein höchst aktuelles Problem zum Umgang mit Schuld aufklären würde. Noch heute hat der Sündenbock eine wichtige Funktion. Er leitet verborgene und offene Konflikte auf vermeintlich schuldige Menschen ab. Wir kennen diesen Mechanismus aus dem Antisemitismus und den modernen Verschwörungstheorien, aus der Behauptung, die Juden hätten den Gottessohn getötet, Flüchtlinge nähmen uns die Arbeitsplätze weg und Farbige beschmutzten die weiße Rasse, die 68er hätten die deutsche Politikkultur versifft und sicher habe der syrische Junge von nebenan mein Fahrrad gestohlen. Regelmäßig erfinden populistische Politiker zur Ablenkung von ihren Schwierigkeiten Sündenböcke, man denke an Erdoğan und Trump.

Haben wir gegen solche Fake News ein Gegengift? Für Girard sind es die Evangelien, denn sie erklären Jesus gerade nicht zum Heroen, sondern zum Gescheiterten. Sie suchen den Grund für seinen Tod nicht in mythischen Kräften des Bösen, sondern im konkreten Handeln von Menschen. Wenn man ihn als freiwilliges Opfer verstehen will, dann höchstens als einen, der von seiner Gewaltkritik nicht ablassen wollte und sich konsequent für die Ausgegrenzten eingesetzt hat.

Gerade angesichts der Jesusgeschichte können wir Gewalt weder durch eine edlere Moral, noch durch Opferrituale überwinden. Und ich füge im Blick auf die Staatstheorie von Hobbes hinzu: Zwar kann auch das Gewaltmonopol einer Staats- oder einer Staatengemeinschaft die Gewaltpotentiale der Menschheit nicht überwinden, aber sie muss diese Potentiale im Zaum halten. Auch den Tod hätten die Machthaber verhindern müssen. Je höhere Ansprüche eine Gemeinschaft an sich stellt, umso dramatischer wird sie mit diesem Problem der Gewaltverhinderung konfrontiert. Wir erleben in unserer Epoche diesen Prozess wachsender Aggression, Verrohung und Gewalt neu, lassen uns gerade im Versuch der Gewaltvermeidung von der Versuchung zur Gewalt infizieren.

Deshalb ist auch die höchst aktuelle Frage zu stellen: Ist das Christentum eine Opferreligion? Schließlich setzt die christliche Erlösung Christi Tod voraus und dieser Tod wird allenthalben als Opfer gepriesen. Nach traditionellem Verständnis feiern Katholiken bei jeder Eucharistiefeier das „Messopfer“, in der Jesu Tod „auf unblutige Weise wiederholt“ wird. Auch die protestantischen Kirchen legen das Schwergewicht auf genau dieses Kreuzesopfer, das unsere Rechtfertigung ermöglicht. So reden alle Konfessionen im Gefolge von Paulus von Jesu „Opfertod“ als dem einzigen Opfer, das die ganze Welt erlösen kann.

Überlieferte Kirchenlieder und Passionsgesänge sind von Opfergedanken so voll, dass in ihnen das Leiden und das Opfer geradezu einen Selbstwert erhalten. Der Heiligkeitsgrad von Menschen wurde vornehmlich an ihrer Opferbereitschaft gemessen. Uns katholischen Kindern wurde dieser Gedanke in der Nachkriegsepoche tief eingeprägt und er bestimmt noch immer die Volksfrömmigkeit. Ich erinnere nur an den „Schmerzhaften Rosenkranz“ mit seinen Zusätzen, die jeweils 10 mal wiederholt wurden: der für uns Blut geschwitzt hat, der für uns gegeißelt, für uns mit Dornen gekrönt worden ist, das Kreuz getragen hat, der gekreuzigt worden ist. Die Folge sollte sein, dass wir selbst ebenfalls Opferbereitschaft zeigen, uns im Geiste und in der Tat Gott aufopfern, für andere Menschen Opfer bringen.

Ob und wie weit diese Gedanken biblisch legitim sind, ist höchst umstritten. Natürlich greift das Neue Testament auf diese Opfermetaphorik zurück, aber es ist eine Metapher unter anderen, keine direkte Wirklichkeitsbeschreibung, nie das Zentrum der Christusverkündigung. Dafür kann der Hebräerbrief exemplarisch gelten. Einerseits versteht er Christus in jüdischer Symbolik als den einzigen Hohenpriester, der mit seinem Opfer die Welt versöhnt. Andererseits erklärt der Brief, dass Jesu Opfer ein für allemal gilt, also weitere Sühneopfer überflüssig sind, die Zeit der Sühneopfer vorbei ist.

I/4       Die Eskalationen des 20./21. Jahrhunderts

Wenn nicht alles täuscht, befindet sich unsere Epoche in einem höchst sensiblen und gefährlichen Stadium. Niemand weiß so richtig, was aktuell geschieht, aber ungeahnte Wellen von Neid und Konkurrenz, von Gewaltvisionen und gegenseitigem Hass zeigen ihre Fratze. Woher kommen sie? Sie machen sich nicht nur in diktatorischen, sondern auch in demokratischen Regimen breit. Sündenböcke überall und Vernichtungsvisionen, die in den Echokammern der sozialen Medien geradezu explodieren. Diese Feindbilder vermischen sich mit realen Ängsten vor lebensfeindlichen Städten und vermüllten Weltmeeren, vor einer neuen Atomrüstung und einem Weltraumkrieg, vor der Klimakatastrophe und der Ausbeutung der Erde.

In diesem Gemisch von begründeten und projizierten, solidarischen und kleinkarierten Ängsten hat sich die Kultur der Schuldzuweisung in unglaublicher Weise verfestigt. Wir brauchen Sündenböcke für alles, für den kollabierenden Verkehr und die verlotterte Infrastruktur, das verunsicherte Bildungswesen und die Schere von Arm und Reich. Schuld sind immer die anderen, die Grünen oder die SPD, der Kapitalismus oder die Bürokratie, auch die öffentlichen Medien liefern dafür täglich neue Beispiele und Argumente. Doch diese Denunziationswut erreicht genau das Gegenteil dessen, was sie erreichen will. Sie vergiftet eine Gesellschaft und öffnet die Schleusen zu neuer Gewalt. Neue kulturelle Katastrophen sind nicht ausgeschlossen, das belegen der Nationalsozialismus mit der industriellen Ermordung von 6 Millionen Juden, der Stalinismus mit bis zu 28 Millionen Opfern, der 2. Weltkriegs mit den vermutlich 65 Millionen Getöteten, der Vietnamkrieg mit 2 Millionen, der Terror des Roten Khmer mit 2,2 Millionen Opfern; die Liste ließe sich fortsetzen.

Man braucht sich ja nicht darüber zu wundern, dass Religionen und Alltagskulturen zur Erklärung dieser Abgründe zu mythischen Gestalten Zuflucht nehmen, seien der der Satan oder der Teufel, böse Engel oder dunkle Mächte, Hexen oder ein verfügtes Schicksal. Sie alle können ein Gespür für die übermenschliche Macht wecken, der wir ausgeliefert sind. Sie bieten uns aber auch eine willkommene Entlastung für die immer schwierige Selbstkritik. Denn klar muss sein, die Sündenböcke und mythischen Gestalten dürfen nicht von der entscheidenden Frage ablenken: Was ist der Anteil von konkreten Menschen, was ist unser eigener Anteil an den beängstigenden Entwicklungen? Kurzfristige verschafft die Denunziation von Generalsündern zwar eine hohe Entlastung, doch langfristig verdeckt sie den konkreten Blick auf die wirklichen Ursachen und Verursacher sowie auf unsere persönliche Beteiligung an Prozessen, die sich zu hochkomplexen Gesamtphänomenen verselbständigen. Wir sind immer Teilquellen von kollektiv-gesellschaftlicher und kulturell akzeptierter Gewalt.

II. Gestaltungswille – Leidenschaft – Mitverantwortung

Doch kommen wir nach diesem langen Einschub zur ambivalenten Figur des Sündenbocks auf die Kernfrage zurück, ob und inwiefern Politik und Religion Quellen von Gewalt sind. Angesichts der aktuellen gesellschaftspolitischen Szene sowie der Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts ist es geradezu absurd, ausgerechnet in Politik und Religionen die primären Quelle von Gewalt sehen zu wollen. Gewiss wurden und werden die (offiziellen) politischen und die religiösen Kräfte immer wieder von Gewalt überrollt. Doch ist das nur die eine Seite der Medaille. Wir sollten ihre andere Seite nicht unterschlagen. Denn gerade in einem Kulturraum und in einer Epoche relativen Friedens, in der sich Politik und Religion nicht gegen offene, möglicherwiese gegen eine Kriegsgewalt stellen oder großideologische Weltgegensätze bändigen musste, kommt in diesem vielschichtigen Geschehen eine zweite Schicht zum Vorschein.

In Zeiten des Friedens und friedlicher Umbrüche erscheinen die Staatspolitik, die Staaten insgesamt und das Alltagshandeln der real existierenden Religionen als Quellen von Gewalt, denn sie erscheinen immer wieder in Zusammenhängen von Repression und seelischem Druck, beim Einsatz für ein geordnetes Verhalten und für ethische Regeln. Bisweilen kämpfen die Kirchen für seltsame Wahrheiten, man denke an die Auseinandersetzungen über Homosexualität und Abtreibung, die Beendigung des eigenen Lebens, den Schutz von Feiertagen oder religiösen Gefühlen.

II/1 Prekäre Nähe zur Gewalt

Jetzt zeigt sich, dass Politik und Religionen in einer prekären Nähe zu Gewalt leben. In Sachen Politik ist der Zusammenhang klar. Zur Politik gehört es auf allen Ebenen, Gewalt einzudämmen. Im Grenzfall erfordert dies Gegengewalt, Zwang und Sanktionen; die Politik hat die Angelegenheit eines Gemeinwesens durch verbindliche Entscheidungen zu regeln. Gefährdende Gewaltpotentiale lassen sich nur durch Potentiale der Gegengewalt einschränken. Gewiss, in einem demokratischen Zusammenleben ist diese Gegengewalt auf ein Minimum zu beschränken und auch dann nur besonnen anzuwenden. Ferner ist der Einsatz von Zwangsmitteln und staatlicher Gewalt streng zu kontrollieren und vor Missbrauch zu schützen. Manche destruktive Gewalt lässt sich schon zügeln, bevor sie zum Ausbruch kommt. Man kann Gewaltpotentiale kanalisieren und dafür sorgen, dass ihre Entwicklung nicht eskaliert, und die staatliche Gegengewalt in deeskalierende Prozesse einbinden. Ein jeder Stockschlag tut weh, gleich ob er von einem Rechtsradikalen oder von der Polizei kommt. Zudem erscheint die staatliche Gewalt umso übermächtiger, je größer das Gemeinwesen ist, in dessen Namen sie handelt. Die großen Heere der Weltmächte, ihre Atomwaffen und Raketensysteme präsentieren enorme Bollwerke der Zerstörung.

Wie aber steht es mit den real existierenden Religionen? Beschränken wir uns auf die uns bekannten Weltreligionen, allen voran das Judentum, das Christentum und den Islam. Von ihren besten Intentionen her sind es Religionen, die – der Politik vergleichbar ‑ auf die Gestaltung von Gesellschaften und Welt ausgerichtet sind. Auch sie wollen destruktive Gewalt überwinden und noch gründlicher versuchen, an den Wurzeln jeder Gewalt zu arbeiten. Faktisch üben sie auch heute noch einen starken Einfluss aus, da sie Werte entwickeln, in individuellen und kulturellen Tiefenschichten für Grundorientierungen sorgen, Gewissen bilden und die Identität von Menschen immer noch stark beeinflussen. Man täusche sich nicht, das gilt auch für die „säkularisierten“ Gesellschaften, wie wir sie in Mittel-, West- und Nordeuropa oder in Nordamerika vorfinden. Wir sollten diese Einflüsse nicht an der Zahl der Kirchenbesuche messen.

In globaler Perspektive fällt dieser Aspekt noch klarer ins Gewicht: Faktisch sind die Weltreligionen noch immer die großen moralischen Weltagenturen und faktisch setzen sie sich gründlich mit Heil und Unheil, Gewalt und Frieden, missglückter und glückender Versöhnung auseinander. Religionen spielen im Umgang mit Gewalt deshalb eine hervorragende Rolle. In den prophetischen Religionen gilt das noch ausdrücklicher als in den Religionen Indiens oder den Weisheitsströmen Chinas. Die prophetischen Religionen erschöpfen sich nicht in einer innerlichen Frömmigkeitskultur oder Mystik, nicht in der Suche nach dem eigenen Seelenfrieden, sondern im Eifer für den Respekt vor dem Leben, für allgemeine Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, gegenseitige Treue und für die Erhaltung der Erde. Sie wollen die Welt gestalten.

Hier nun liegt der springende Punkt, der Politik und Religion oft angreifbar macht: Wer sich mit der Gesellschaft, gar mit ihrer Neugestaltung, mit der Utopie eines globalen und gerechten Menschheitsfriedens beschäftigt, bekommt es immer mit der Gewalt zu tun. Und damit beginnt das Problem: Politik und Religion leben immer in Bezügen von Gewalt. Denn Politik und Religion werden von Menschen in die Wirklichkeit umgesetzt, keine Politik und keine Religion ist aber besser als die Menschen, die sie von innen her begreifen und glaubwürdig umsetzen sollen. Das ist für Politik und Religion ein Dauerproblem.

II/2 Wille zur Gestaltung

Politik und Religionen sind von einem entschiedenen Gestaltungswillen getragen. Wer etwas verändern will, will in Verhältnisse eingreifen, Menschen herausfordern, Werte realisieren und die Öffentlichkeit mit dem konfrontieren, was nicht in Ordnung ist und gegebenenfalls Gewohnheiten und Gesetze erneuern. Genau an diesem Punkt kommt es zu Gratwanderungen zwischen ethischer Bekundung des menschlichen Respekts und der u.U. eingreifenden Einflussnahme, also einer Aggression im elementaren Wortsinn. Politik und Religionen wollen auf Konflikte, Situationen des Unrechts und der Lüge reagieren. Dieser Gestaltungswille ist der Bruder des Willens zur Entschiedenheit und Klarheit. Zwar sind Verbote und Gebote, wie schon gesagt, nur die letzten Gestaltungsmittel, aber Vieles geschieht eben zu deren Vorbereitung bzw. zu deren Vermeidung. Man nutzt unbemerkt Einflüsse, steuert direkt und indirekt, vielleicht wird manipuliert und notfalls ausgegrenzt. In Krisenfällen wirken demokratische Elemente als widerständiges Korrektiv.

Zudem möchten Politik und Religion nicht Beliebiges, sondern Zustände oder Ereignisse gestalten, die für die Betroffenen von hoher Bedeutung sind und mit deren Lösung sich Vor- und Nachteile, Kritik oder Bestätigung verbinden. Es geht in der Regel um sensible Fragen, die oft als Provokation empfunden werden und emotionale Reaktionen hervorrufen. Provokation und Widerstand sind also im Spiel. Sie tauchen heute umso stärker auf, da wir es gelernt haben, uns für unsere partikularen Interessen einzusetzen und geneigt sind, kollektive Interessen hintanzustellen oder (gut neoliberal und gut kapitalistisch) dem vermeintlich freien Spiel der Kräfte zu überlassen.

In dieser Situation können Politik und Religion nichts anderes, als sich auf das Spiel von Gewalt und Gegengewalt, von Beeinflussung und Gegeneinflüssen einzulassen. Sie können sich in dieser Situation nur legitimieren, indem sie genauestens darauf achten, dass sie die Ziele und Verfahrensregeln der Humanität sowie das umfassendere Wohl der betroffenen Gemeinschaft streng auf ihrer Seite haben. An diesem Punkt kommt es meistens zur Bewährungsprobe und oft genug hat die Politik genau dort versagt. Nach meinem Urteil haben die deutschen Ordnungskräfte angesichts der deutschen Erfahrungen mit einem autoritären Staatsverhalten ein hohes Maß an Sensibilität erreicht und ich bewundere oft das höchst besonnene Verhalten der Polizei in schwierigen und gewalthaltigen Situationen.

Es ist aber auch daran zu erinnern: Es wird schwierig, die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten, wenn das Vertrauen in die Obrigkeit einmal gründlich zerstört ist, so etwa bei vielen Menschen, die noch den katastrophalen Nachklang des Nationalsozialismus, die Katastrophe des Kriegsendes, dann das Regime der DDR erlebten und auch heute die Erfahrung machen, dass sie benachteiligt in ihrer ausgebluteten Ortschaft sitzen, auch aus der Europäischen Union keinerlei Vorteile erzielen können. In solch prekären, geradezu nach Aggression, Hass und Grenzüberschreitung riechenden Situationen gerät Politik ganz nahe an die Gefahrenzone von zähmender Gewalt und möglichen Spiralen, die eine destruktive Atmosphäre noch mehr aufheizen als herunter kühlen. Nach aller Erfahrung hilft es dann nicht, wenn Polizei und Justiz konsequent durchgreifen. In solchen Situationen bedarf es kreativer Stimmen und helfender Kräfte, die Versöhnung bewirken, aktuelle Konstellationen überwinden und zu neuen Horizonten führen. Wenn dies nicht geschieht, können Gesellschaften in schwere und langdauernde Kristen geraten. Vergleichbares gilt für die religiösen Horizonte bzw. Sinn- und Werterahmen, die sich eine Kultur gesteckt hat und die auch heute immer wieder beschworen werden.

II/3 Leidenschaft und „heilige“ Ungeduld

Ich gehe noch einen Schritt weiter und bringe damit die Religionen aus folgendem Grund stärker ins Spiel. Zwar hat uns der große Ethiker der Neuzeit, Immanuel Kant (1724-1804) eingebläut, eine gute Ethik habe rational vorzugehen, dürfe sich von keinen Neigungen, sondern allein von der Pflicht leiten lassen. Das mag für das Finden von guten Lösungen sinnvoll, vielleicht unverzichtbar sein. Aber moralisches, kreatives und ein von Solidarität getragenes Handeln, das die Gifte der Verletzungen überwinden und versöhnend wirken will, braucht mehr. Wir brauchen Emotionen, die von dieser Moral durchdrungen, noch besser gesagt: ein moralisches Handeln, das von den positiven Emotionen der Empathie, der Solidarität und der Versöhnung geprägt sind, denn die Ausmaße von den Gewaltgeschichten voller Hass und Verbitterung sind übergroß.

Auch in Deutschland erzeugen sie einen Überdruck, der zu einer weiteren Verrohung der politischen Sitten führt. Ich erinnere nur an die Attentate auf Inhaber/innen öffentlicher Ämter, die wir erleben mussten. Ich nenne Oskar Lafontaine (25.04.1990), Wolfgang Schäuble (12.10.1990), die Kölner OB‘in Henriette Reker (17.10.2015), Andreas Hollstein, Bürgerm. v. Altena (27.11.2017), Regierungspräsident von Kassel Walter Lübcke (ermordet am 01.07.2019), den Hockenheimer OB Dieter Grummer (17.07.2019). Im Jahr 2018 hat das Bundeskriminalamt insgesamt 1256 Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger gezählt. Ich gehe hier nicht ein auf die Zahl der Straftaten von rechtsextremer und die zahllosen Terrorakte von muslimischer Seite und übergehe die mindestens neun NSU-Morde.

Deshalb ist heute auch eine emotional verstärkte Gegenoffensive auf solche Zustände notwendig. Es kann nicht sein, dass Mitbürger/innen bei Gewalttaten oder Unglücken auf Straßen, öffentlichen Plätzen oder Bahnhöfen ungerührt zuschauen, gar noch Rettungskräfte behindern. Dies gehört zur Grundausstattung eines politischen Engagements. Ich gehe bei religiös engagierten Menschen noch einen Schritt weiter. Ich erwarte von ihnen, dass sie im Einsatz gegen öffentliche Gewalt geradezu leidenschaftlich reagieren. Damit stoßen wir auf eine Eigenart, die sich vor allem in den Religionen exemplarisch zeigen lässt. Wo eine Gesellschaft aus den Fugen gerät, wo Menschen auf Hilfe angewiesen sind, wo Gewalt und Zerstörung ungeniert auftreten, haben Religionen natürlich zur Stelle zu sein. Religionen sind, wenn sie etwas bedeuten wollen, eben keine distanzierten und kühlen Einrichtungen. Religionen bewegen die Herzen, mischen sich in destruktive Prozesse und Zusammenhänge ein.

Damit komme ich noch einmal auf einen Gedanken von René Girard zurück. Wer sich im Kampf gegen Destruktion engagiert, motiviert auch die eigene Abgrenzung, den Widerspruch und Widerstand. Deshalb engagieren sich Religion und Religiosität gerade in Gewaltprozessen mit dem Risiko, dass sie selbst von Gewaltprozessen infiziert werden. Wer sich gegen das Böse einsetzt, setzt sich dem Bösen auch aus und riskiert, dass er selbst hart und misstrauisch, streng und gewalttätig wird. Und es gibt den Typ der religiös, moralistisch Verbitterten und Verhärteten. Er erfährt ja aus der Nähe, wie hässlich böse Menschen sein können. Er lässt sich sozusagen auf homöopathische Prozesse ein und kann nur hoffen, dass er diese Verwicklungen unbeschadet übersteht. Oft entwickeln Politik und Religion, vom Kampf gegen destruktive Gewalt zermürbt, eine reaktive, sekundäre Gewalt, die sich nur noch schwer korrigieren lässt, denn sie beruft sich auf gute, hochethische Motive. Der rächende Held und der strafende Gott werden dann zum gefährlichen Leitbild.

Oft haben solche Prozesse auch böse geendet. Wir kennen die Gewaltgeschichten des Christentums und des Islam, die Hexenprozesse und Kreuzzüge, Glaubensinquisitionen und Exkommunikationen, den Dreißigjährigen Krieg zwischen Katholiken und Protestanten, die tödlichen Anschläge von Sunniten gegen die Schiiten und die Anhänger des Bahai. Es waren die Kirchen, die viele diktatorische Regime unterstützten oder wohlwollend duldeten, weil sie von diesen Hilfe gegen den sittlichen Verfall erhofften. Sie beharrten selbstgerecht auf Privilegien, weil sie meinten, sie seien automatisch auf der richtigen Seite. Man könnte endlose Einzelfälle aufzählen, in denen religiöse Menschen der Infektion durch Rachegeist und Hass verfallen sind. Das ist eine paradoxe und zugleich tragische Entwicklung, weil sie den Geist der Goldenen Regel im Namen des guten Kampfes gegen deren Verletzung pervertiert. Politik und Religionen werden mit Leidenschaft betrieben, verlangen höchsten Einsatz und Ungeduld. Doch deren Schwester ist der blinde und selbstgerechte Fanatismus. Es gibt eine ungezügelte Politik, die immer rechthaben will, und fanatische Ausübung von Religion, die sich einbildet, sie handle im Namen Gottes. Um höherer und unumstößlicher Ziele willen gibt man mitmenschliche Rücksichten auf und ist zur Zerstörung ganzer Kulturen bereit.

Deshalb habe ich auch kritisch nach der Rolle des Opfers im christlichen Glauben gefragt. Ursprünglich wurde, wie schon gesagt, der Tod Jesu nicht als ein Sühneopfer für unsere Sünden, sondern als eine Tat der Solidarität begriffen. Deshalb müssen sich die Christen fragen lassen, ob sie ihre leidenschaftliche Botschaft vom menschenfreundlichen Gott nicht zu einer missmutigen Trauerreligion über die böse Welt gemacht haben, für die das Blut des Gottessohnes floss. Und zum Beweis dafür, wie wenig wir vom Umgang Jesu mit Gewalt und Zerstörung begriffen haben, haben wir die Juden zu Gottesmördern gestempelt und damit den Teufelskreis religiöser Zerstörung nur weitergeführt. Das Christentum lebte viel zu lange in dieser grausamen Ambivalenz. Sogar der altehrwürdige und religionsverbindende Ruf vom je größeren Gott, den Christen und Muslime teilen (lateinisch „Deus semper maior“, arabisch „Allahu akbar“) ist in unserer Generation zum Schreckensruf geworden. Nur wer das selbstkritisch eingesteht, hat heute noch das Recht, sich Christin oder Christ zu nennen.

II/4 Überheblichkeit statt Selbstkritik

Politik und Religion teilen eine wichtige Gefahr, in dieser Welt unterstehen sie keiner nächsthöheren Instanz, auch wenn die ausführenden politischen Organe vom Volk als ihrem Souverän zu kontrollieren sind. Doch die autoritär, diktatorisch oder „illiberal“ geführten Staaten entziehen sich weitgehend der Kontrolle und bringen die kritische Presse zum Verstummen. Oft werden die elementarsten Menschenrechte verachtet. Dann kommt es darauf an, dass sein System geändert wird.

Anders verhält es sich bei Religionen, zumal dann, wenn sie (wie im westlichen Kulturraum) den Rechts- und Verfassungsregeln eines Staates unterliegen oder (wie in manchen arabischen und asiatischen Staaten) eng mit ihnen verwoben sind. Doch die meisten Religionen sind so flach organisiert, dass sie als solche gar nicht handeln können. Umso leichter können einzelne Personen oder Gruppen im Namen ihrer Religionen zu Gewaltquellen werden. Hingegen verfügen die christlichen Kirchen über einen so hohen Organisationsgrad, dass sie nach Möglichkeit ihre eigenen Angelegenheiten selbst regeln. Das Musterbeispiel dafür ist die römisch-katholische Kirche. Sie hat die Bewahrung und Entwicklung ihrer eigenen Lehre, Moral und rechtlichen Struktur höchst effektiv organisiert. Deshalb versucht sie auch weltweit, wie die aktuellen Auseinandersetzungen zu Missbrauch und Vertuschung zeigen, ihr eigenes Regierungs- und Rechtsregime durchzusetzen. In den evangelischen Kirchen ist das nur bedingt der Fall.

Natürlich wurde dieses Problem nicht nur in innerkirchlichen Reformbewegungen schon lange erkannt. Den Kirchenleitungen stehen höchstens christliche Gemeinden und Individuen gegenüber, die sich auf die christliche Urbotschaft und auf ihr eigenes Gewissen berufen. Umso wichtiger ist es, dass dieser fundamentale Mangel erkannt, die interne Pflicht zur Herrschaftskritik auch wirklich wahrgenommen wird. Doch je mehr in unserem Kulturkreis die Throne stürzten und sich die Demokratie durchsetzte, verpassten sich die römisch-katholischen Leitungsorgane eine absolutistische, weltweit monokratische Struktur. Kritik war lange verstummt und mit harten Sanktionen belegt, alle Selbstkritik auf ein individualisiertes und privatisiertes Sündenbewusstsein verkürzt. Die Ermutigungen von Papst Franziskus zu einer fundamentalen Erneuerung haben sich noch nicht durchgesetzt. Als Folgen erleben wir heute eine schleichende Entfremdung dieser Kirche von Menschen und Kultur, einen wachsenden Narzissmus der Institutionen, eine mangelnde Sensibilität für die sekundäre „geistliche“ Gewalt, die faktisch von kirchlichen Institutionen ausgeht, von den hässlichen Phänomenen sexueller Gewalt gegenüber Abhängigen ganz zu schweigen.

Zugegeben, im westlichen Kulturkreis leben die traditionellen christlichen Kirchen in einer Übergangsphase. Wir kommen aus einer Zeit, in der (im Katholizismus viel offenkundiger als im Protestantismus) die christliche Wahrheit zur Rechthaberei pervertiert war. Ich nenne (1) den Anspruch auf die Unfehlbarkeit der Leitungsämter, der im Katholizismus seinen härtesten, dogmatisch fixierten Ausdruck fand und immer noch findet. Hinzu kommt (2) eine offene oder verborgene Herabsetzung anderer Religionen. Nur der christliche Glaube kann das endgültige Heil bringen. Der unsägliche Umgang mit dem Judentum war zwei Jahrtausende lang von Vorurteilen, Verurteilungen, gesellschaftlicher Gewalt beteiligt. Die Bahai’s werden vom Islam noch immer bis auf den Tod bekämpft. Schließlich wirkt auch noch die Tradition des (3) Konfessionalismus nach. Umso wichtiger ist es, dass sie sich aus den Fesseln einer unseligen und gewaltbesetzten Vergangenheit befreien.

Weniger offenkundig sind auf dem Gebiet von Staat und Politik die schleichenden Entfremdungsprozesse in innerstaatlichen Bürokratien, internationalen Organisationen, auch in dem staatlichen Zwitterwesen der Europäischen Union. Sie haben aber ihre Wirkung, indem sie das bürgerliche Engagement (z.B. in Wahlen und allgemeiner Zustimmung) massiv schwächen und Gewaltbereitschaft steigern.

II/5 Abschaffen?

Vor diesen dunklen Hintergründen des Versagens und des lähmenden Narzissmus verstehe ich das Plädoyer vieler Menschen zu einem radikalen Neubeginn. Wäre es nicht am einfachsten, auf dem Gebiet des Zusammenlebens das Gewaltmonopol des Staates abzuschaffen? Hätte man nicht in anarchischen Verhältnissen, in denen niemandem und keiner Institution eine unbedingte Gewalt zukommt, so schreckliche Verfehlungen wie den Nationalsozialismus oder die lateinamerikanischen Diktaturen verhindern können? Und wäre es nicht am einfachsten, Religionen überhaupt abzuschaffen, weil damit deren Rationalitätsverluste, fanatische Gewaltausbrüche, Verfluchungen und soziale Ausgrenzungen gebannt wären? Doch das eine wäre so fatal und irreal wie das andere.

Ein Rückfall in die Anarchie würde ja keine Besserung bringen; wir kämen allenfalls in Verhältnisse, die z.B. die blitzartigen Erfolge der ISS ermöglicht haben; die Destruktion aller Macht würde über Nacht zu gesetzloser Gewalt führen. Zu einem vergleichbaren Dilemma würde die Abschaffung von Religionen führen. Würden wir sie heute aus der Welt schaffen, würden morgen neue entstehen. Religionen leben ja immer schon aus den kontinuierlichen Erfahrungen von Überschreitung und Verlust, Kontinenz und ehrfurchtgebietender Würde. Es gibt eben die Sehnsucht des Menschen nach letzten Antworten, nach einem konstruktiven Umgang mit ihrem Scheitern und den alltäglichen Lebensrätseln. Wir Menschen haben keine andere Wahl, als uns ständig damit auseinanderzusetzen.

Die politische und die religiöse Lebenswelt sind nun mal ständig gefährdete und nie abgesicherte Bereiche; es gibt weder den absoluten Staat noch die absolute Religion. Uns Menschen bleibt nur der eine Weg der Mitverantwortung übrig, in der wir uns unserer Zukunft beherzt stellen und mit in höchster Wachheit, in steter Kommunikation notfalls auch dazu bereit sind, initiierte Versuche wieder abzubrechen. Diese Mitverantwortung, die das Ganze im Blick hat, sollte immer neu auf die Vorläufigkeit einer Lösung achten und damit rechnen, dass ein entwickeltes Konzept auch falsifizierbar ist. Für das Gebiet des umfassenden Handelns hat der kritische Rationalist Karl Popper (1902-1994) mit seinem Falsifikationismus eine stichhaltige Theorie entwickelt. Nicht als ob wir prinzipiell zur Wahrheitserkenntnis unfähig wären, aber wir sind prinzipiell unfähig, die erkannte Wahrheit treffsicher und unfehlbar in unser hochkomplexes Zusammenleben umzusetzen; selbst für die absolute Lauterkeit unserer Absichten können wir nicht garantieren. Deshalb müssen das konkrete politische und religiöse Handeln immer in der Schwebe bleiben, die Herausforderungen können unsere augenblickliche Leistung immer überschreiten.

II/6 Nüchterner Realismus

Ich habe von Gestaltungswillen und Leidenschaft gesprochen, von den Gefahren und dem fürchterlichen Versagen von Politik und Religion, auch davon, dass Politik und Religion sich immer mit Gewalt auseinandersetzen müssen und deshalb in Gefahr sind, sich selbst mit prometheischen Machtansprüchen und Gewaltorgien zu infizieren. Die Weltgeschichte ist von Beispielen dafür voll.

Deshalb sind die Tugenden politischer Gestaltungswille und religiöser Leidenschaft vor ihrer Perversion zu bewahren. Vermutlich können dieser Gestaltungswille und diese Leidenschaft nur dann aufblühen, wenn sie kontinuierlich von dieser Selbstkritik im Namen der Menschlichkeit begleitet werden. Dieses Experiment ist schon oft misslungen, aber es gibt auch viele Beispiele des Gelingens. Wir können in Europa auf 74 Jahre des Friedens und der Versöhnung zurückblicken; das ist eine Zeit, in der die Politik in ihren Grundzügen nicht versagt hat. Zugleich haben wir in dieser Zeit lernen müssen, dass Politik und Religionen sich nicht einfach auf Schwarz und Weiß verteilen lassen. Weder Heiligsprechungen noch Dämonisierungen sind angemessen. So haben für unseren Wohlstand in diesen Friedenszeiten andere Kontinente bitter bezahlt, wie die zahllosen Flüchtenden bezeugen, die in den vergangenen Jahren im Mittelmeer ertrunken sind.

Ähnliches gilt für das Verhalten von Religionen. Das Unheil, das sie mit ihrer Arroganz und Menschenverachtung anrichteten, haben wir besprochen. Deshalb ist auch zu erwähnen, wie oft z.B. christliche Gruppierungen. Bewegungen und Einzelne konkreten Frieden gestiftet haben. Gewiss, in zahllosen Fällen ließen sie sich missbrauchen oder setzten die erfahrene Bosheit auf sekundärer Ebene fort. Doch ebenso oft haben sie auch Versöhnung und Frieden ermöglicht. Der Friedens- und Gewaltforscher Markus A. Weingardt hat viele Fälle aus jüngster Zeit aufgezählt.[7] Er erinnert an Argentinien, die friedliche Revolution der DDR, an Ost-Indien, Kambodscha, Mosambik, die Philippinen und an 34 weitere Fälle von Albanien bis Zimbabwe, in denen sich der christliche Glaube als eine Friedenskraft erwies, die Gewalt beendete. Als hervorragendes Beispiel hat sich uns allen Südafrika eingeprägt, wo der Übergang vom Regime der Apartheid in ein demokratisches Zusammenleben besser gelang, als die Spezialisten zu hoffen wagten.

Ohne religiöse Impulse wären diese Zukunftsschritte nicht gelungen. Es stimmt also auch aus empirischer Perspektive nicht, dass Religion zur Quelle von Gewalt werden muss. Doch damit können wir uns, wie schon ausgeführt, nicht zufrieden geben, denn die inneren Abgründe bleiben bestehen. Deshalb stelle ich im dritten Teil die Frage, wie die Religionen mit diesem inneren Problem umgehen.

III. Umgang mit dem Zwiespalt

III/1 Prophetisch denken und handeln

Religionen und politische Konzepte sind höchst komplizierte Gebilde, denn in der Regel spiegeln sie die komplexen Situationen menschlicher Existenz und gesellschaftlicher Verhältnisse wider. Bei unserer Thematik treten die Aspekte der inneren Erfahrung, des persönlichen Leidens und der Existenz aktueller Todesangst in den Hintergrund. Im Vordergrund stehen die Fragen der Gemeinschaft und eines menschlichen Zusammenlebens. Angesichts dieser Problemfelder haben die „prophetischen Religionen“ kostbare Standards ausgebildet. Sie lassen sich unter dem Stichwort der Prophetie zusammenfassen. Ursprünglich meint dieser Begriff keine Vorhersage im Sinne eines Vorausschauens, das vielleicht nur göttlich begabten Menschen möglich ist. Prophetien sind Ankündigungen, Warnungen oder Versprechen gesellschaftspolitischer Art. Es geht um Anerkennung und Kritik, den Aufruf zu sozialen und friedfertigen Verhältnissen.

Meine erste These lautet: Die gesellschaftspolitische Kraft einer Religion und die Kraft einer wirksamen Politik leben aus Visionen. Wenn Religion mit Überschreitung (= Transzendenz) zu tun hat, dann um die Kraft, über den aktuellen Tellerrand hinauszublicken und zu zeigen, warum es sich lohnt, sich für die Gemeinschaft einzusetzen, Politik zu machen, sich im Rahmen einer Religion zu engagieren. Visionen sind konkrete, die Gegenwart sprengende und zukunftsweisende Bilder. Sie haben die Kraft, die aktuelle Notlage zu „über-blicken“, uns aus dem Zwang zur Selbstbeschäftigung herauszuholen. Ferner scheint mir dies unbestreitbar: Es reicht heute nicht, Politik und Religionen einfach mit moralischen Regeln zu konfrontieren und über deren Verletzung zu schimpfen. Solcher Moralismus hat noch nie weitergeholfen. Auch eine gute und konstruktive Politik, die sich zunächst auf die Reparatur verschlissener Zustände konzentriert, muss Visionen entwickeln und aus ihnen leben. Zwar schaffen auch Visionen das Gewaltproblem nicht aus der Welt, aber sie bringen massive Entlastungen zustande. Sie ermutigen, regen die Phantasie an und schaffen Lust zu einem menschenfreundlichen sozialen, solidarischen Handeln. Sie sprengen in ausweglosen Situationen die Verkrampfung und verhindern Mutlosigkeit.

Thomas Morus (1478-1535), dieser aufrechte Politiker und Prophet, beschrieb seine politischen Ziele als Utopie. Wir kennen die Utopie einer kommunistischen bzw. sozialistischen Gesellschaft. J. J. Rousseau (1712-1778) entwarf ein pädagogisches (geradezu modernes) Programm mit dem Ruf Zurück zur Natur![8] und wurde zu einem Wegbereiter der französischen Revolution. Karl Marx entwarf 1848 das kommunistische Manifest, das nicht unbedingt eine Lösung, aber ein zentrales Thema formulierte. Die Existenzphilosophie (z.B. Søren Kierkegaard, Karl Jaspers, Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre, Albert Camus u.a.) machte klar, wie eng individuelles Verhalten und kollektive Zustände miteinander verwoben sind. Jürgen Habermas (geb. 1929) warb für den herrschaftsfreien Diskurs[9]. Francis Fukuyama (geb. 1952) sprach 1992 vom Ende der Demokratie und dem Beginn eines ungehinderten weltweiten Austauschs.[10] Was sind unsere Visionen heute? Ein Problem gegenwärtiger Weltpolitik scheint mir darin zu liegen, dass wir unsere visionäre Kraft verloren haben. Und ich füge hinzu: Dies ist auch das Problem eines Christentums, dessen gesellschaftlicher Einfluss immer mehr schwindet.

Dabei ist nicht zu vergessen, dass Jesus von Nazareth in erster Linie die prophetische Tradition des Judentums aufnahm und der Erwartung des Gottesreiches neue Impulse gab. Man lese nur die Bergpredigt und die Gleichnisse. In ihnen geht es immer um zwischenmenschliche Beziehungen, um Suchen und Finden, um Rückkehr und Versöhnung und davon, dass hier und jetzt eine neue Menschengemeinschaft beginnen kann. Der entscheidende Zug des Christseins ist nicht eine moralisch verstandene Nachfolge Jesu, die alles tun, sozusagen nachmachen und wiederholen will, was er getan hat. Entscheidend ist die Übernahme seiner prophetischen Grundhaltung, die ein klares Ziel vor Augen hat und existentiell auf deren Gelingen setzt. Auch die gegenwärtige Misere von Christentum und christlichen Kirchen im westlichen Kulturraum könnte an diesem Punkt den Schlüssel ihrer Erneuerung finden. Es bedarf keiner langen Erläuterung dafür, dass eine zeitgemäß weiterführende Politik ebenfalls auf eine solche gesellschaftspolitische Vision angewiesen ist.

Im Anschluss daran lautet meine zweite These: Diese prophetische, d.h. grenzüberschreitende Orientierung an einer menschenwürdigen Zukunft ermöglicht einen distanzierten und gelassenen Blick, der unser Handeln und Denken ständig begleitet. Kritik und Selbstkritik sind zu diffusen und nichtssagenden, deshalb auch zu ungeliebten Schlagworten degeneriert, denn sie haben ihre Maßstäbe verloren. Mancher kritisiert nur, weil Kritik den Eindruck großer Intelligenz oder der Überlegenheit schafft. Dagegen kann nur scharfsinnig und verständlich kritisieren, korrigieren und sich selbst zur Ordnung rufen, wer genau weiß, was konkret zu erreichen und was in jedem Fall zu vermeiden ist. Die Propheten konnten schärfste Urteile aussprechen und in der Bibel werden solche Urteile ohne Zögern selbst Gott in den Mund gelegt, weil ihr Maß und Bezugsrahmen klar waren.[11] Aus diesem Grund konnten die jüdischen Propheten solche Kritik und Selbstkritik kompromisslos aussprechen, ohne moralistisch, verbissen oder unmenschlich zu werden. Sie wussten genau, worum es ging. Ihre Texte sind nicht von einer diffusen und der jammervollen Angst getragen, alles gehe den Bach hinunter, sondern von einer klaren Sicht auf die aktuellen Versäumnisse der jüdischen Politik.

Meine dritte These zielt auf die Gegenwart, in der alle Kulturen und Religionen in einen globalen Dialog eingetreten sind. Das Projekt Weltethos und andere Entwürfe sind seit den 1990er Jahren zu einer epochalen Entdeckung durchgestoßen. Es gibt zwischen den Weltreligionen einen tiefen und erstaunlichen Konsens über Welt- und Lebensgestaltung. Ihre Ziele, Haltungen und Visionen sind alle von der Goldenen Regel und in ihrem Gefolge von fünf gemeinsamen humanen und zugleich gesellschaftspolitischen Werten getragen. Das sind die großen, inter- und zugleich überreligiösen Maßstäbe der Humanität: Respekt vor dem Leben, gegenseitige Gerechtigkeit, unbedingte Wahrhaftigkeit, gegenseitige Treue und – als unabdingbare Voraussetzung dazu ‑ die Bewahrung der Erde, unseres gemeinsamen Lebensraums. Diese Werte können eine erneuernde Kraft entwickeln, weil sie unabhängig voneinander in den großen Kulturräumen entdeckt wurden. Da gibt es keine Weltreligion, die in ihren Werten die anderen übertrumpft. Im Prinzip ist alles Konkurrenzdenken überholt und steht selbst mit dem universal anerkannten Katalog der Menschenrechte in großer Übereinstimmung. Selbst die Trennung zwischen religiösem und säkularem Denken ist aufgehoben.

Ich halte es für die große Leistung unserer Epoche, dass genau an diesem Punkt eine neue weltweite Solidarität entstehen konnte, in der eine human orientierte Politik und die Weltreligionen an einem Strang ziehen, miteinander kooperieren können. Daraus kann auch eine neue Art von Politik- und Religionskritik entstehen. Sie will Politik und Religionen nicht zerstören, sondern sie auf ihre legitimen Wege verweisen. Es geht immer darum, dass die humane, gerechte und friedensfähige Qualität des Gesamthandelns geschützt und vorangetrieben wird. Auch unter diesen Voraussetzungen bleiben Politik und Religion unterschiedliche Unternehmungen, die durch ihre eigenen Möglichkeiten gefährdet sind, und auch jetzt bleiben beide von ihren eigenen Abgründen bedroht. Doch prinzipiell können sie in gegenseitiger Solidarität auch die Aufgabe einer konstruktiven Selbst- und Gewaltkritik leisten.

 Daraus ergibt sich für die konkrete Weiterentwicklung von Politik und Religion eine vierte These: Für Politik und Religion hat das einseitige Beharren auf der Tradition katastrophale Folgen. Ein Blick auf die Wirkungsgeschichte Jesu kann das verdeutlichen. Jesus war kein Traditionskritiker. Nach allem, was wir wissen, fügte er sich in die Tradition seiner Väter ein. Dennoch wurde er zum Pragmatiker um der Menschen willen. An einigen Punkten hat er die Traditionen seiner Heimat relativiert. Ich erinnere an seinen offenen Umgang mit Frauen, seine Kritik am Steinigungsgebot der Ehebrecherin, seine Relativierung des unerbittlichen Sabbatgebots sowie sein Engagement für die Kleinen[12]. Die biblische Tradition hat diese Gefahr des puren Traditionalismus erkannt und den wörtlich genommenen Buchstaben des „Gesetzes“ dem „Ich aber sage euch“ des Evangeliums gegenübergestellt, das die Fragen und Sehnsüchte einer neuen Zeit ernst nimmt.

In der Spannung zwischen Gesetz und Evangelium steckt genau dieselbe Spannung, die sich zwischen einer reaktionären Auslegung der Verhaltensregeln und einer zeitgemäßen Anwendung ergibt. Dieses aggiornamento (Johannes XXIII.) verhindert, dass überholte Regeln zu sekundär reaktionären und gewaltaffinen Gesetzen werden, also auf die sekundäre Gewalt von Religion und Politik zurückgreifen. Die Hüter der Tradition stilisieren sich in Politik und Religion ja gerne zu den Gerechten und den Unfehlbaren, die nur unverbrüchliche Normen durchsetzen. Hingegen greifen die prophetisch Be-Geisterten zu neuen und oft prekären Lösungen. Sie können sich auf keine Vergangenheit berufen, sondern müssen neue Zeichen entziffern. Das ist ihre Schwäche und ihre Stärke zugleich. Der pure Traditionalismus (den es auch in der Politik gibt) führt immer die starken und bewährten Argumente der Vergangenheit ins Feld. Aber er führt auch zu einer Scheinheiligkeit und einem Hochmut, die Solidarität zerstören und eine Unmenschlichkeit schlimmsten Ausmaßes rechtfertigen können. Das Zweite jedoch belässt dem Leben den Atem, der für ein friedliches Leben unverzichtbar ist.

III/2  Das Opferideal entlarven

Vor diesem Hintergrund ist noch einmal auf die Grundstruktur der antiken Opferreligionen zurückzukommen, die auch das Christentum beeinflussten. Für die Opferreligionen reicht zur Erlangung eines vollendeten menschlichen Lebens keine perfekte Ethik, wie sie die Stoiker erwarten, und ihnen ist rechtzugeben. Problematisch ist aber, wie schon gesagt, auch die Folgerung der „Erlösungsreligionen“; sie behaupten, die Schuld der Menschen müsse durch ein sühnendes Opfer überwunden werden. Von dieser Position wurden schon das frühe und vor allem das mittelalterliche Christentum stark beeinflusst. Ich persönlich finde den liturgischen Satz „Du nimmst hinweg die Sünden der Welt“ hochproblematisch. Zwar ist uns Christus einen Weg vorangegangen, der uns von Schuldzwängen befreien kann; deshalb können wir von der „Freiheit der Kinder Gottes“ sprechen. Aber auf diesem Weg wurde kein Tod verherrlicht und kein Blut sakralisiert, kein Justizmord für heilig erklärt; er bleibt eine schreckliche Tat. Dagegen klingt manche Karfreitagspredigt so, als dürften wir über den Tod Jesu glücklich sein. Vorschnell hat man diese grausame Schuldgeschichte zur felix culpa (= glücklichen Schuld) umgemünzt. Welch ein Missverständnis!

Dieses Missverständnis wurde durch die Erlösungstheologie des mittelalterlichen Theologen Anselm von Canterbury (1033-1109), die „Satisfaktionstheorie“ vertieft: Im Gefolge der Adamssünde habe die Menschheit Gott in unendlicher Weise beleidigt, und die Größe dieser Schuld könne nur durch ein gottgleiches Wesen gesühnt werden. Deshalb habe Gott beschlossen, seinen eigenen Sohn als Menschen zur Sühne für diese Sünden auf die Erde in den Tod zu schicken. Diese Theorie, die sich im westlichen Mittelalter durchgesetzt hat, war von Anfang an inakzeptabel, denn sie degradierte Gott zu einem unbarmherzigen Rächer, der auf Genugtuung besteht.

Für Fachleute und kirchlich engagierte Christ/innen gilt die Lehre von der Satisfaktion (= Genugtuung) als unbiblisch, unangemessen und überholt. Man unterschätze aber nicht die hochwirksame, weil kollektiv immer noch gegenwärtige Erinnerung an diesen Mythos bei den vielen Menschen, die sie bei ihren Großeltern oder Großtanten gehört und nie kritisch bearbeitet haben. Ihre berechtigten Ressentiments bestimmen noch oft den Ton, in dem unsere Kultur mit dem Leiden und dem Tod von Menschen umgeht. Unglück wird zur Strafe Gottes hochstilisiert und Leiden als göttliche Glaubensprüfung präsentiert.[13] Der Gewalt (etwa in Kriegen oder in Unglücken) haftet noch immer ein sakrales Geheimnis, die Idee eines von Gott verfügten Strafgerichts an. Der Gott der Güte wird zugleich zum Gott des Gerichts, ihm wird eine helle und eine dunkle, also eine beglückende und eine strafende Seite zugesprochen. Alle Empathie und Solidarität wird von einem weltfernen Sühnegeschehen abgeleitet, als ob sich Jesus nicht für die Menschen hier und jetzt eingesetzt und um Vergebung von Mensch zu Mensch geworben hätte.[14]

Noch im vergangenen Jahrhundert wurden Kriege zu Opferhandlungen und deren Opfer zu einem heldenhaft ertragenen Selbstwert hochstilisiert; die pseudoheroischen Kriegerdenkmale sprechen ihre eigene Sprache. In der Geschichte haben solche Opferideologien vielfach zur Brutalisierung der christlichen Religion geführt. In den USA preisen Evangelikale Präsident Trump für seine Israelpolitik. Friedrich Nietzsche (1844-1900) sprach sehr hellsichtig vom Ressentiment der Christen gegen allen Erfolg und rief sie dazu auf, der Erde treu zu bleiben.

Gegenwärtig erleben wir, was mit Kirchen passiert, die sich jahrhundertelang auf ein überirdisches Erlösungs- und Sühnegeschehen zurückgezogen haben. Das menschenferne, aus einem Tod genährte „Heilige“, das in den Kirchen gepflegt wurde, verflüchtigt sich und verliert jede gesellschaftspolitische Kraft. Nach meiner Überzeugung ergeben sich die aktuellen Säkularisierungsprozesse nicht aus einem Glaubensabfall der bösen Welt, sondern aus der Überbetonung des Kreuzes mit all seinen inhumanen Tendenzen. Diese Tradition kann sich selbst gegen ihre eigenen Gewaltimpulse nicht mehr wehren. Sie pflegen ihr Dasein in den fundamentalistischen Tendenzen, die im Christentum allenthalben zu Hause sind. Mit ihnen steigert es sich besserwisserisch und heilsarrogant in eine Überwelt hinein, die jeden Bezug zu dieser Wirklichkeit verliert. Das Christentum muss die politische Brisanz dessen, was man Jesus angetan hat, neu entdecken und dessen gesellschaftspolitische Bedeutung ernstnehmen. Nur so kann es im Verein mit einer human orientierten Politik zum Wohl unserer Zukunft wirken.

III/3 Masochismus und Sadismus überwinden

Recht verstanden sind weder das Christentum noch insbesondere der Katholizismus als Opferreligion zu verstehen. Es sollte ihnen um eine vorbehaltlose Solidarität und Verantwortung für die Menschen und zwischen ihnen gehen. In der Nachahmung Jesu können sie es selbst mit dem Tod aufnehmen. Die besprochene Opfermentalität hat einen gefährlichen Masochismus begünstigt, zu Passivität und einem politischen Untertanengeist erzogen und in den Kirchen autoritäre Verhältnisse entstehen lassen. Sie mag auch ein Grund für ein beunruhigendes Phänomen sein: In den vergangenen Jahrzehnten wurden Religionen zwar höchst selten zum wirklichen Auslöser von Gewalt, aber sie ließen sich oft für Nationalismen und ethnische Gewaltausbrüche missbrauchen. Man denke an den Irlandkonflikt (1969-1998) und die Balkankriege 1998/99, deren Nachwirkungen bis heute nicht überwunden sind. Keine der implizierten katholischen, orthodoxen und muslimischen Religionsführer brachte es fertig, seinen Leuten zu erklären, dass ihre Religion eine Religion des Friedens ist. Im Konfliktfall lenkt jede opferfreudige Religionsidentität vom aktuellen Wohlsein der Menschen in ein Jenseits ab, das diese Welt ihrem Schicksal überlässt. Dies aber zerstört die christliche Freiheit ebenso wie die Kraft der großen prophetischen Zukunftsvisionen, die zumal in den monotheistischen Religionen zu Hause sein sollten.

Stattdessen ist von Religionen (sofern sie ihre Kernimpulse richtig verstehen) zu erwarten, dass sie realistisch sind, Gewalt als Gewalt zur Kenntnis nehmen. Meist ergeben sich Gewalt und die Verführung zu ihr aus komplexen Situationen. Von Religionsführern wäre zu erwarten, dass sie diese entwirren und den Betroffenen helfen, sie zu verstehen. Langfristig gelten nicht Indoktrination und Hasstiraden, sondern die königlichen Wege einer vorausschauenden Politik: Erziehung, Bildung und Kommunikation, die ständige Suche nach Kompromissen und dem umfassenderen Vorteil. Damit sollten sich Religionen der Politik mit all ihren Möglichkeiten anschließen.

Doch bildet auch diese Regel kein Patentrezept, das alle Probleme löst, denn der Realismus gegenüber der Gewalt kann auch umschlagen in das Recht und die Pflicht zum politischen Widerstand bis hin zu physischer Gewaltanwendung und zum Ungehorsam gegen die herrschenden Gesetze. Mangels Kompetenz steht es mir nicht zu, hier angemessene Regeln und Situationsbeschreibungen zu liefern. Doch nach meiner Überzeugung gibt es Grenzfälle, in denen das Gewissen Einzelner oder einer Gruppe zum gebotenen Handeln ermächtigt. Am 20. Juli 2019 haben wir uns an die Widerstandstat des Claus Schenk Graf von Stauffenberg gegen Adolf Hitler erinnert. Heute, 75 Jahre später, erstaunt mich, wie schwer sich der Kreisauer Kreis damals mit dem Entschluss zu einem Attentat getan hat, da gemäß dem Römerbrief jede Obrigkeit von Gott eingesetzt sei.[15] Wir haben heute gelernt, dass selbst das kategorische Gewaltverbot der Bergpredigt nicht alle politischen Kontexte abdecken kann.

Doch ergibt sich aus religiöser Perspektive noch ein weiterer Aspekt. Zum Realismus im Umgang mit der Gewalt kann auch der Wille gehören, in wirklich ausweglosen Situationen Gewalt und Scheitern auszuhalten, um die faktische Gewaltspirale nicht in unberechenbarer Weise zu verschärfen. Auch an diesem Punkt hat die Religion kein Angebot zu machen, das den Horizont der säkularen Politik prinzipiell überschreitet. Die Tugenden der Ergebung und der Gelassenheit gehören gleichermaßen zu Religion und Politik, und die Religion tut gut daran, die Politik bzw. Menschen in dieser Möglichkeit zu bestärken, sobald sie sich im politischen Handlungsbereich zu bewähren haben.[16]

III/4 Zu Vergebung ermutigen

Aus religiöser Perspektive ist hier noch ein letzter Gesichtspunkt anzusprechen, wenn auch nicht im Sinne eines Besserwissens oder der pflichtschuldigen Ermahnung. Jürgen Habermas, der sich bisweilen „religiös unmusikalisch“ nannte, hat diesen Gedanken im Oktober 2001, wenige Wochen nach der Terrorattacke vom 11. September, ins Spiel gebracht. Er wies darauf hin, dass die „Grenze zwischen säkularen und religiösen Gründen … ohnehin fließend“ sei, und fügte die Beobachtung hinzu, dieses „verblendete Attentat“ habe „im Innersten der säkularen Gesellschaft eine religiöse Saite in Schwingung versetzt“, überall hätten sich „die Synagogen, die Kirchen und die Moscheen“ gefüllt. Es ist eine Bewegung, die auch nach späteren großen Attentaten zu spüren war.

Im Geiste dieser fließenden Gemeinsamkeit von säkularer und religiöser Motivation spricht er dann von einer unabgeschlossenen Dialektik des abendländischen Säkularisierungsprozesses. Er bezieht sich auf „säkulare Sprachen, die das, was einmal gemeint war, bloß eliminieren“. Sie hätten Irritationen hinterlassen, als sich „Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Vorstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte“. Ich konkretisierte die Irritationen bei den Erfahrungen eines endgültigen Verlustes und eines Unrechts, das nicht wieder gut zu machen sei. Wir müssten lernen, religiöse Erfahrungen in eine säkulare Sprache zu übersetzen. Dazu gehören, wie ich vermute, die Kunst des Akzeptierens und der Gelassenheit statt einer Rache, die unter der Maske der Gerechtigkeit nur neue Gewalt erzeugt. Dazu gehört auch im Sinne von Habermas Fall die utopische Hoffnung auf ein Zusammenleben – „nicht in der Hobbistischen Ursprungsgestalt des globalisierten Sicherheitsstaates, also in den Dimensionen von Polizei, Geheimdienst und Militär, sondern als weltweit zivilisierende Gestaltungsmacht“. Ich verstehe das als ein Zusammenleben, das nicht nur in Zwangsmaßnahmen Übertretungen verbietet und sanktioniert, sondern kreative Impulse im Sinn der großen moralischen Weltagenturen auslöst. Habermas reagiert darauf zurückhaltend und eher resignativ: „Im Augenblick bleibt uns nicht viel mehr als die fahle Hoffnung auf eine List der Vernunft ‑ und ein wenig Selbstbesinnung.“

Ich schlage vor, dass sich eine human erleuchtete Religiosität und eine auf Frieden und Konsens angelegte Politik dabei treffen können. Denn dazu gehört auch (im unverzichtbar alltäglichen Grenzfall) die Fähigkeit, sich mit einem Verzicht abzufinden und die harte Situation derer zu verarbeiten, die zu kurz gekommen oder auf der Schattenseite unseres Zusammenlebens gelandet sind. Aus religiöser Perspektive gehört dazu auch der Vorschlag, anderen Menschen zu vergeben. Welch wunderbare Beispiele haben uns in den vergangenen Jahren oft jüdische Mitmenschen gegeben, die in deutschen KZ-Lagern Grauenhaftes erlitten hatten. Auch das deutsch-französische Verhältnis der vergangenen 70 Jahre ist dafür ein hoffnungsvolles Beispiel.

Die Vergebung und Akzeptanz von Unglück sind keine erzwingbaren, aber durch und durch menschliche Tugenden, die der Freiheit Einzelner entspringen können. Natürlich kann auch die säkulare Politik dazu aufrufen und dies überzeugend praktizieren. Wie ich jedoch meine, kann der weiterreichende, weil auf Grenzüberschreitungen angelegte Horizont der Religionen dazu mit kraftvollen Motiven und einer überzeugenden Sprache beitragen. Daraus erwächst ihnen auch die Pflicht, die Möglichkeiten der Vergebung von Fall zu Fall erneut auszuloten.

III/5 Die eigene Rolle erkennen

Politische Verhältnisse können grausam sein und den Menschen das Letzte aus der Hand schlagen, woran sie sich halten können. Man kann das in der Geschichte Jesu entdecken. Nach seiner Liquidierung wussten selbst seine Anhänger/innen nicht mehr, was sie von und über Jesus sagen sollten. Alle traditionellen Kategorien und Titel, über die sie verfügten, waren zerstört, das sagen uns Exegese und Theologie. So mussten die schwerst Enttäuschten erst mühsam ihre eigenen Traditionen durchsuchen, um eine neue Sprache und angemessene Bilder über seine Rolle zu finden. Am erfolgreichsten gingen sie bei den religionskritischen Propheten zu Rate.

So blieben ihnen nur zwei Wege, die innerlich miteinander zusammenhingen: Statt für die Weltschuld Sühnemechanismen aufzuspüren (dieser Prozess setzte erst später ein), wurden ihnen ihr eigenes Versagen und das Versagen ihrer Mitmenschen bewusst. In dieser Frage mussten sie ihren eigenen Standpunkt finden und von ihm aus eine neue Glaubenspraxis entwickeln. Genau dieses Vorgehen ist in kritischen Zeiten auch das Ziel eines überzeugenden Redens und Handelns. Wir brauchen eine authentische Politik, die sich der eigenen Grenzen bewusst ist. Die Erfahrungen von Auferstehung und Geistsendung sind Deutungen, derer das politisch gescheiterte Leben Jesu bedurfte. Diese visionären Deutungen der aktuellen Situation waren der einzige Weg, die aktuellen Tendenzen zur Selbstzerstörung zu überwunden. Dabei schließen in öffentlicher Verantwortung ein visionäres, ein rationales und ein selbstkritisches Denken einander nicht aus.

Jürgen Habermas entwickelte in den 1980er Jahren das Konzept vom demokratischen und herrschaftsfreien Diskurs. Bis heute wird er für diesen Vorschlag kritisiert, denn unsere Welt sei faktisch von Strukturen der Macht, des Besitzes, des Geschlechts, der Ethnien und der Religionen zerrissen. Doch erkenne ich in dieser Herrschaftsfreiheit auch eine Utopie, die unser Handeln belegt. Es ist die Utopie eines Zusammenlebens, in dem diese Unterschiede nach Möglichkeit neutralisiert, wenn nicht gar unterdrückt werden. Diese Herrschaftsfreiheit muss das große Ziel einer jeden Politik sein, in der sich Gewalt auf ein Minimum reduzieren und die eigene sekundäre Gewalt überwinden lässt.

IV. Was eine Gesellschaft zusammenhält

 IV/1     Wovon lebt der säkulare Staat?

Es gibt einen bekannten Satz des Staatsrechtlers, Rechtsphilosophen und Richters am Bundesverfassungsgericht Ernst-Wolfgang Böckenförde (1930-2019). Ich zitiere: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Theologen, Bischöfe, selbst Benedikt XVI. legten ihn so aus: Ohne religiöse bzw. christliche Voraussetzungen kann unser Staat seine Werte, die Gestaltung seines Rechts und sein Handeln nicht begründen. Verkürzt gesagt: Ohne Christentum gibt es keinen guten Staat, der mit sich im Reinen ist. Leider hat Böckenförde das nicht gemeint. Er wollte nur sagen, dass ein freiheitlicher Rechtsstaat ohne eine innere moralische Substanz der Gesellschaft nicht funktionieren kann. Warum trauen viele Christ/innen dem Staat so wenig zu?

Das hartnäckige Missverständnis erklärt sich aus dem schon genannten tiefgreifenden Umbruch, in dem sich Christentum und Religion in unserer Epoche befinden. Lange galten die Kirchen für unser Zusammenleben als eine unbestrittene und unverzichtbare Werteinstanz; noch heute gefallen sich unsere Bischöfe in der oft überflüssigen Belehrung ihrer Schafe. Ohne Religion, so ihre Meinung, müsse ein Staat seine Grundorientierung, sein Rechtsgefüge und seine moralische Ausrichtung verlieren; wir hätten das ja im Nationalsozialismus und zu Zeiten der ehemaligen DDR erlebt. Doch inzwischen wurden wir eines Besseren belehrt. Natürlich wirken auch in einem säkularisierten Rechtsstaat moralische Kräfte des gegenseitigen Respekts, der Gerechtigkeit, der Wahrhaftigkeit und der gegenseitigen Solidarität, obwohl sie diesen Tugenden keine ausdrücklich religiöse Qualität zugestehen. Auch viele Politiker, die nicht aus ausdrücklich religiösen Motiven handeln, gestalten ihr Geschäft aus humanen Überzeugungen und diese Humanität lässt sich auch ohne religiöse Argumente verstehen. Sie folgen der Stimme ihrer Empathie und ihres Gewissens, in dem sie das Gute als gut, das Böse als böse begreifen, das Destruktive als destruktiv ablehnen.

Wie dem auch sei, einem Staat ist nicht geholfen, wenn er religiöse Gestaltungkräfte prinzipiell ausschließt, denn recht verstanden schöpfen die Religionen aus tiefen menschlichen Erfahrungen, die in Krisenfällen sehr stark sein können. Sie machen darauf aufmerksam: Unsere Werte leben immer aus umfassenden Zusammenhängen, die den Horizont der menschlichen Verfügbarkeit überschreiten. Umgekehrt unterschätzt das innerweltliche Wertebewusstsein der Menschen oft die überschreitenden Sinndimensionen, in denen es sich faktisch bewegt. Wer säkulare Kräfte einfach deshalb missachtet oder gar verteufelt, weil sie säkular, also nicht ausdrücklich religiös sind, leistet unserer Gesellschaft ebenso wenig einen Dienst wie die professionellen Verächter einer jeden Religion.

Bei der Geltung von ethischen Werten sind Religiosität und Säkularität näher beieinander, als wir es für wahr halten möchten. Die religiösen Kernwerte, die möglicherweise unser Handeln bestimmen, leben unvermindert in den uns bekannten explizit humanen Werten weiter. Umgekehrt lebt die Gestaltung von Staat, Recht und Politik nicht einfach aus Regeln und Geboten, die ihr als bloße Norm von außen aufzuerlegen sind. Zum Beispiel könnte ein noch so strenger, mit hohen Strafen bewehrter Rechtsschutz des Eigentums allein das je persönliche Eigentum anderer nicht schützen. Diese Werte wirken aus einem inneren moralischen Bewusstsein heraus, dem die Bürger/innen von innen her und in Freiheit zustimmen.

IV/2 Gewaltvermeidung von innen

Für unsere Frage nach Gewalt in Religion und Politik ist diese Erkenntnis wichtig. Th. Hobbes hat, wie ich zeigte, das Individuum als ein gewalttätiges Raubtier und den Staat als ein ebenso gewalttätiges Ungeheuer dargestellt. Doch ein solch harter, gewalttätiger Tierbändigerstaat könnte nicht funktionieren. Selbst das unbestreitbare Gewaltmonopol des modernen Staates kann nur wirksam werden, wenn es von der Mehrheit der Bürger/innen anerkannt wird. Ein Staat kann eine grassierende Gewaltepidemie nicht überwinden, indem er alle Bürger/innen mit Waffen ausstattet.

Deshalb beginnt die politisches Zügelung oder Vermeidung von Gewalt nur dann, wenn Gewaltverzicht von der Bevölkerung akzeptiert und übernommen wird. Gewaltvermeidung beginnt mit Erziehung zur physischen und psychischen Gewaltvermeidung. Der Wert des Gewaltverzichts auf Grund eines gegenseitigen Respekts darf nicht erst mit der Tätigkeit von Sicherheitsorganen beginnen, sondern muss (wie Habermas sagte) als weltweit zivilisierende Gestaltungsmacht präsent sein. Nur ein Staat, dessen Politik – nach innen wie im internationalen Handel ‑ konsequent auf Gewaltlosigkeit hinarbeitet, nimmt die Gewaltproblematik wirklich ernst. Die Kirchen tun gut daran, diese politischen Bestrebungen zu unterstützen. Es geht um positive Gegenstrategien, bis hin zur Stärkung internationaler Organisationen mit einem internationalen Geflecht von Verträgen und bindenden Absprachen, die durchaus eine klug gestaltete Weltregierung zum Ziel haben können.

Die ideellen Voraussetzungen dafür sind gut. Trotz einer Fülle von diktatorischen und korrumpierten Staaten und trotz der augenblicklich erschreckenden Erfolge von skrupellosen Staatsführern ist unter dem Einfluss der Menschenrechte weltweit ein Rechtsbewusstsein entstanden, das von der unantastbaren Würde des Menschen ausgeht[17] und dem die Religionen nur zustimmen können. Das aktuelle säkulare Weltbewusstsein bedeutet für die Religionen gerade keine Bedrohung, sondern die Bestätigung von alten Wertesystemen, die ursprünglich in den Religionen ausgebildet wurden. Diese Nähe zeigt sich in drei Präzisierungen, die sich aus der implizit religiösen Tiefenstruktur dieses vorbehaltlosen Respekts vor der menschlichen Person ergeben.

IV/3 Drei Präzisierungen

Bei genauer Betrachtung beschäftigen sich öffentliche Gewaltdiskussionen mit konkreten Gewaltereignissen, die Mitmenschen konkreten Schaden zufügen und nach einer gerichtlichen Klärung verlangen. Zu lange haben christliche Pädagogik und Verkündigung den jüdischen Dekalog auf isolierte Verfehlungen fixiert: einen Schmerz zufügen, etwas stehlen, bisweilen lügen oder mal die Ehe brechen.

Erstens: Dagegen stellt die biblische Tradition (bis in die Bergpredig hinein) klar: Bei diesem Regelwerk geht es um ein umfassendes und ganzheitliches Unternehmen; zuvor geht es schon um übelwollende Haltungen, böse Worte und aggressive Kommunikation.[18] Überdies sind Einzelregelungen zu Gewalt, Diebstahl, Lüge und Untreue schon immer auf die Goldene Regel bzw. das Gebot der Nächstenliebe fokussiert. Es geht um den Ausdruck einer inneren Haltung sowie um eine umfassende Kultur der gegenseitigen Zuwendung. Die Verbote des Dekalogs markieren nur die Basis für einen Kosmos von Werten, die unser Denken und Fühlen, das Herz von Menschen bestimmen.

Für die Gewaltfrage bedeutet dies: Gewalt meint nie eine abgrenzbare Einzeltat, sondern die Qualität des menschlichem Denkens und Verhaltens, einer konkreten Planung und des mitmenschlichen Umgangs. Deshalb kann sich die Frage nach Gewalt in Politik und Religion nie auf die Grenzfälle beschränken, in denen Politik vollendete Gewalt einsetzt oder Religionen Gewalttaten rechtfertigen. Es geht um ein inneres Moment von gesellschaftlichem und kulturellem Verhalten, also um die Gesamtstimmung und Gesamthaltung, in der Politik handelt, und von der her sich die Wertestruktur von Politik und Religion bestimmen lässt.

Zweitens: Zu diesem Ethos der Gewaltfreiheit, also der gegenseitigen Zuneigung, gehört auch die Unterscheidung von Ideal und kultureller Verwirklichung. Lebensachtung, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Partnerschaft können verschiedenste kulturelle Formen annehmen. Es ist nicht statthaft, bestimmte Formen von außen her zu verfügen, wie es auch geboten ist, neu aufbrechende Formen der Gerechtigkeit ernst zu nehmen. Man denke in Deutschland nur an die Unterschiede zwischen den „alten“ und den „neuen“ Bundesländern. Nur bei diesem kontextuellen Bewusstsein und seinen Differenzierungen lässt sich die globale Geltung eines Ethos verwirklichen.

Drittens: Wer sich heute mit der politischen Qualität von Bosheit oder Gewalt beschäftigt, kann sich nicht mehr auf eine bestimmte Gemeinschaft oder Nation beschränken. Geboten ist der Umgang mit Gewalt im umfassenden Welthorizont. Angesichts der globalen Allgegenwart von Gewalt ist dies ein extrem kritischer Punkt und ihre Bekämpfung ist höchst komplex geworden. Deshalb müssen zusammen mit der Politik auch die Religionen in einen Lernprozess eintreten, der so schnell nicht zu Ende kommt.

Die Zeit, in der die Religionen schon die Lösung für die Weltprobleme parat hatten, ist abgelaufen. Deshalb zeigen sich das Böses und Gewalt vordringlicher als früher in Prozessen und Neigungen, in Ängsten und indirekten Folgen. Wer fruchtbar mit dem Bösen umgehen will, muss stärker als früher die Faktoren berücksichtigen, die die Qualität unseres Handelns bestimmen: die enorme Unsicherheit und Angst, die langfristige Unberechenbarkeit bestimmter Handlungen, die neuen Horizonte der Solidarität, die uns abverlangt werden. Oft kommt es nicht mehr darauf an, dass konkrete Gewalt verhindert, sondern darauf, dass die Strukturen verändert werden, die faktisch zu Misstrauen und gegenseitigem Ausschluss, zu sozialen, rassistischen oder geschlechtsbedingten Konflikten führen. Bevor Religion und Politik einander darüber belehren, sollten sie sich auf einen gemeinsamen Lernpfad begeben.

Schluss: Handeln in einer säkularisierten Gesellschaft

Das hier vorliegende Referat über Gewalt in Religion und Politik ist von der Erfahrung wachsender Gewalt und dem Verdacht geleitet, dass Politik und Religionen selbst zu Quellen der Gewalt werden können. Ist das der Fall und was muss sich ändern? Ich kann keine einfache Antwort liefern, denn Politik und Religionen haben zur Gewalt immer schon ein prekäres und schillerndes Verhältnis, denn beide haben ja die Bezähmung oder Überwindung von Gewalt zum Ziel, müssen sich also mit Gewalt auseinandersetzen und sind gegen Gewaltinfektionen nie immun. Aus zwei Gründen wird heute eine Antwort schwieriger denn je.

Zum einen ist die zeitgenössische Politik (von ihren lokalen bis hin zu ihren international globalen Dimensionen) hoch komplex geworden und vor bislang ungeahnte Herausforderungen gestellt. So tappen trotz hoher Professionalität auch die politischen Organe, die alles kontrollierende Presse und der politische Souverän (vom gewählten Parlament bis zum wählenden Staatsvolk) oft genug im Dunkeln. Zum andern hat sich das Rollenspiel zwischen Politik und Religion massiv geändert. In unserem Kulturkreis befindet sich die öffentliche Funktion von Religion in einem tiefen Umbruch. Ich bin nicht der pessimistischen Meinung, Säkularisierung bedeute eins zu eins einen Verfall von Werten und Kultur. Ich vermute eher, dass sich unsere Religion an die Erwartungen von modernen und hochkomplexen Gesellschaften anpassen sollte und dabei ist, zu einer neuen Sprache und einer neuen Weggemeinschaft zu finden.

Auf diesem Weg werden religiöse Gebote in humane Werte, asymmetrische Belehrungen in demokratische Diskurse, das Ideal des Reiches Gottes in die Utopie einer in Gerechtigkeit versöhnten Weltgesellschaft verwandelt. In dieser Perspektive stellt sich sehr schnell die Entdeckung ein, dass die Moderne und ihr Menschenrechtsbewusstsein durchaus in Einklang mit den Kernbotschaften der Religionen stehen. Deshalb scheint mir eine vertrauensvolle Kooperation zwischen Religion und Politik angemessener denn je. Heute arbeiten in vielen sozial, ökologisch, gewaltkritisch orientierten Nichtregierungsorganisationen säkulare und religiöse Kräfte problemlos und fruchtbar zusammen. Umgekehrt werden kirchliche Institutionen überall dort geschätzt, wo sie in der kommunalen, nationalen oder internationalen Öffentlichkeit als Teile der Zivilgesellschaft auftreten, also auf formale Privilegien verzichten, die ohnehin nur Zeugen der Vergangenheit sein können.

Meist können die Religionen, ihre Gemeinschaften und einzelnen Kräfte in die Arbeit keine neuen Sachargumente einbringen, aber sie können dort stark werden, wo Menschen und Zielsetzungen an ihre Grenzen kommen und eine spirituelle Tiefenschärfe gefragt ist oder wo ‑ im Umgang mit Demütigung und Schuld, mit Vergebung und zermürbender Erfolglosigkeit ‑ neue Inspirationen notwendig werden. An diesen Punkten ist ebenfalls ein Überlegenheitsbewusstsein unangebracht. Auch säkulare Menschen können durchhalten, Verzweiflung überwinden und Mitmenschen vergeben. Aber von einer gelebten Religion kann man erwarten, dass sie für solche Situationen gewappnet ist und dafür eine versöhnende Sprache bereit hält. Vergessen wir aber nicht, die Versuchung zur Gewalt wird die Politik und unsere Religionen auch weiterhin begleiten, weil sie tagtäglich mit Gewalt konfrontiert sind. Sich mit ihr auseinanderzusetzen, dafür sind sie ja geboren.

Der Text geht auf einen Vortrag zurück, der am 23. März 2019 in Augsburg gehalten wurde; er wurde im Juli 2019 erweitert.

Anmerkungen

[1] Julia Ebner, Was Islamisten und Rechtextreme mit uns machen, Darmstadt 2018; Martha Nussbaum, Die neue religiöse Intoleranz. Ein Ausweg aus der Politik der Angst, Darmstadt 22014.

[2] Liane Bednarz, Die Angstprediger. Wie rechte Christen Gesellschaft und Kirchen unterwandern, München 2018.

[3] Stéphane Hessel, Empört Euch!, Berlin 2011; ders., Empörung. Meine Bilanz, München 2012.

[4] Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, 1930

[5] Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, I und II, Berlin 2011.

[6] Der gesamte Ritus, der auch die Tötung eines Stiers und eines Bockes begleitet, wird in Lev 16,8-21 beschrieben.

[7] Markus A. Weingardt, Religion – Macht – Frieden, Bonn 2010.

[8] Die Schlüsselwerke von J. J. Rousseau sind Émile (1762) sowie Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts (1762).

[9] J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt 1981.

[10] F. Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? München 1992.

[11] „Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis dass es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.“ (Heb 4,12)

[12] „Wer von euch ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein.“ (Joh 8,7); „Der Sabbat ist um des Menschen willen da“ (Mk 2,27); „Wer einem von diesen Kleinen, die an mich glauben, Ärgernis gibt, für den wäre es besser, wenn ihm ein Mühlstein um den Hals gehängt und er in der Tiefe des Meeres versenkt würde.“ (Mt 18,6)

[13] Als Beispiel nenne ich ein Kirchenlied, das ich während meiner Schülerjahre mit hoher Ergriffenheit gesungen habe. Es ist von Heinrich Bone (1813-1893) überliefert. (Strophe 1:) Am Ölberg in nächtlicher Stille ergab sich dem Vater sein Wille, zu trinken den Becher der Qualen, um unsere Schuld zu bezahlen. Mit Blutschweiß umronnen, so hat er begonnen. O Jesu mein, wie leidest du Pein. (Strophe 2:) Gefangen, mit Stricken geschnüret, zum heidnischen Richter geführet, entblößt an die Säule gebunden, gegeißelt, bedecket mit Wunden. So büßt er und duldet, was Sünder verschuldet. O Jesu mein, … (Strophe 3:) Der König, der alles regieret, der Himmel und Erde gezieret, hier wird er mit Dornen gekrönet in purpurnem Mantel verhöhnet. Sein Blut über Lider und Wangen rinnt nieder. O Jesu mein, … (Strophe 4:) O schauet den Spender der Gnaden mit schimpflichem Kreuze beladen! Er trägts mit ermattenden Kräften, ans Holz unsern Schuldbrief zu heften, als Opfer zu sterben, dass wir nicht verderben. O Jesu mein, … (Strophe 5:) Ach seht den Gekreuzigten hangen, mit Armen uns Sünder umfangen! Zu uns hat sein Haupt sich geneiget, zum Vater sein Seufzen aufsteiget. Ihm weiht er die Schmerzen, uns trägt er im Herzen. O Jesu mein, wie leidest du Pein.

[14] Die KNA berichtet am 26.06.2019: „Ein russisch-orthodoxer Bischof hat für den Tod von Millionen sowjetischer Soldaten im Zweiten Weltkrieg deren vermeintlichen Atheismus verantwortlich gemacht. ‚Hauptsächlich ungetaufte‘ junge Männer seien ums Leben gekommen und Opfer ihrer ‚Gottlosigkeit‘ geworden, sagte der Metropolit von Belgorod an der Grenze zur Ukraine, Joann (58), bei einem Gedenkgottesdienst zum Jahrestag des Angriffs der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion Ende Juni 1941. Den Sieg über Deutschland verdanke die Sowjetunion den getauften Soldaten.“ Allerdings hat Bischof Joann von anderen Kollegen Widerspruch erfahren.

[15] „Denn alle staatliche Gewalt kommt von Gott, und jede Regierung ist von Gott eingesetzt.“ (Röm 13,1).

[16] Die Herausgeber der letzten Briefe und Aufzeichnungen von D. Bonhoeffer, die er uns aus der Haft zurückließ, tragen den programmatischen Titel Widerstand und Ergebung (hgg. v. Eberhard Bethge, Gütersloh/München 2010).

[17] Das Grundgesetz Art. 1 lautet: „(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ Dieser Text wäre es wert, auch einmal in Kirchen meditiert und in Predigten ausgelegt zu werden.

[18] Als klassisches Beispiel kann gelten: „Jeder, der seinem Bruder zürnt, wird dem Gericht verfallen sein. Wer aber zu seinem Bruder sagt: ,Dummkopf!‘, wird dem Hohen Rat verfallen sein. Wer aber zu seinem Bruder sagt: ,Du Narr!‘, wird der Hölle des Feuers verfallen sein.“ (Mt 5,22)

Gliederung

I. Kein wirkliches Zusammenleben ohne Gewalt

1 Ausgangspunkte: In Gewalt verstrickt
2 Hintergründe
3 Untaugliche Lösungen
4 Die Eskalationen des 20./21. Jahrhunderts

II. Gestaltungswille – Leidenschaft – Mitverantwortung

1 Prekäre Nähe zur Gewalt
2 Wille zur Gestaltung
3 Leidenschaft und „heilige“ Ungeduld
4 Überheblichkeit statt Selbstkritik
5. Abschaffen?
6 Nüchterner Realismus

III. Umgang mit dem Zwiespalt

1. Prophetisch denken und handeln
2. Das Opferideal entlarven
3. Masochismus und Sadismus überwinden
4. Zu Vergebung ermutigen
5. Die eigene Rolle erkennen

IV. Was eine Gemeinschaft zusammenhält

1. Wovon lebt der säkularisierte Staat?
2. Gewaltvermeidung von innen
3. Drei Präzisierungen

Schluss: Handeln in einer säkularisierten Gesellschaft