Vertrauen das trägt – Rechtfertigung bei Hans Küng

1. Einleitung: Zeit des Aufbruchs

Im Jahr 1948 betritt Hans Küng, ein kritisch republikanischer Geist aus der Schweiz, das römische Institut Germanicum, dessen Alumni an der päpstlichen Universität Gregoriana drei Jahre Philosophie und vier Jahre Theologie studieren. Das Germanicum wurde 1552 von Papst Julius III. gegründet und den Jesuiten mit dem Ziel übergeben, zur Überwindung der Reformation eine Elite von Theologen heranzuziehen. Ein Großteil der deutschen Bischöfe ist durch diese Kaderschmiede gegangen. In der Ausbildung ging es um Klärung, Profilierung und Systematisierung der römisch-katholischen Glaubenslehre. Als nach 1945 in Rom wieder intensive internationale Begegnungen möglich waren, wurde es zum Brennpunkt einer weltoffenen Theologie, die neue Strömungen begierig aufnahm. Dazu gehörten ein hohes Interesse an neuen philosophischen Impulsen, insbesondere am Existentialismus, ein geschichtliches Denken sowie ein interessierter ökumenischer Blick. Man wollte die Verhärtungen der Neuscholastik und ihrer strengen „Kontroverstheologie“ hinter sich lassen.

Der junge Schweizer Student nimmt diese Impulse ernst. Mit dem Willen, Neues zu erkunden, konzentriert er sich in verstehender und versöhnender Absicht schon während seiner Studienjahre auf die Rechtfertigung des Sünders, den zentralen Streitpunkt der Reformation. Dem Lizentiat in Philosophie (1951) und Theologie (1955) folgen zwei Studienjahre am Institut Catholique in Paris. 1957 erscheint seine Dissertation mit dem Titel Rechtfertigung. Die Lehre Karl Barths und eine katholische Besinnung.[1] Durch ein Vorwort von Karl Barth bestätigt, kann er als Ergebnis seiner Arbeit erklären, diese zentrale ökumenische Kontroverse habe ihren kirchentrennenden Charakter verloren. Daran wird er ein Leben lang festhalten.

Im evangelischen Raum wurde dieses Resultat mit hohem Interesse, von katholischer Seite mit einiger Zurückhaltung rezipiert. Das verwundert nicht, denn Küng hat ein ökumenisches Tabu gebrochen, das seit gut 400 Jahren die evangelisch-katholische Differenz legitimierte. Neben den Zerwürfnissen um Martin Luther und den evangelischen Bekenntnisschriften bezeugte auf römisch-katholischer Seite das Konzil von Trient den Dissens mit seinem ausführlichen Dekret über die Rechtfertigung (1547).[2] Zunächst konnte man das epochale Ausmaß von Küngs These noch kaum ermessen; vermutlich waren dem Autor selbst die unabsehbaren Folgen noch nicht klar, obwohl er erklärte, dies könne „nicht mehr als ein Anfang“ sein (RF 267; SW1, 257; vgl. Anm. 1). Klar war von Anfang an, dass sein erstes theologisches Werk die bislang diskutierten Standardpositionen auch der progressivsten Ökumeniker überholte.[3] Prompt registrierte die Indexabteilung der späteren Glaubenskongregation diesen Fall unter der Nummer 399/57/i. Der Verdächtigte sollte sie ein Leben lang behalten. Auch der 1948 gegründete Weltrat der Kirchen hielt sich mit einem Urteil zurück. Erst 1999, also 42 Jahre nach Küngs Vorstoß, gelingt zwischen dem Lutherischen Weltbund und der römisch-katholischen Kirche ein sehr zurückhaltender Konsens, über den später noch zu reden ist.

A. CHRISTLICHE KERNBOTSCHAFT ODER ÖKUMENISCHE SPEZIALOPERATION?

2. Eine brisante Erinnerung

Die Thematik, die unter dem Begriff der „Rechtfertigung“ verhandelt wird, ist komplex und hat sich im Laufe der Jahrhunderte verändert. Seit der Reformation lautet sie: Gewährt Gott den Menschen das Heil auf Grund menschlicher Leistungen, spielen diese wenigstens eine ergänzende Rolle, oder ruft Gott die Sünder völlig unverdient, also aus reiner Güte und ohne menschliches Zutun in sein Heil? Können wir „unabhängig von Werken [der Thora]“ (vgl. Rom 3,8) gerettet werden oder ist der Glaube ohne Werke wirklich tot (vgl. Jak 2,15-17)? Gilt also die protestantische Losung ‚allein aus Glauben, allein durch Christus und allein durch die Gnade‘ oder zählt das katholische Schlagwort ‚Glaube und Werke? Dieser Alternative wurde ein solches Gewicht zuerkannt, dass sie zur Trennung zwischen katholischer und evangelischen Kirchen führte.

Schon diese vereinfachte Frage lässt erkennen, wie sehr die Thematik von unterschiedlichen konfessionellen Voraussetzungen getragen ist. Im historischen Rückblick verweist das Thema der Rechtfertigung ja auf ein vielschichtiges Problem. Zunächst erinnert es an die Gerechtsprechung des Abram (Gen 15, 1-6), die Paulus in seinem Streit um die Geltung der Thora ins Spiel bringt. Abram vertraut auf JHWH. Im Gegenzug „rechtfertigt“ ihn JHWH und Abraham wird zum Stammvater des jüdischen Volkes (Rom 4,13-22).

Doch im christlichen Raum wird diese Erzählung in spezifische Kontexte eingebunden, die in erster Linie das individuelle Heil der Menschen betreffen. Zu nennen sind die Thorakritik des Paulus (gemäß der alle Menschen sündigen), die augustinische Theorie von der Ursünde (die alle Menschen zu geborenen Sündern erklärt), sowie die reformatorischen Kontroversen um Ablass und eine kirchliche Vollmacht (die das Seelenheil garantieren soll). Vermutlich kennt die christliche Theologie in der Neuzeit kein anderes Thema, das so intensiv zum Stellvertreter konfessioneller Auseinandersetzungen wurde. Mit Küng wird noch zu fragen sein, in welchen modernen und postmodernen Kontexten die Rechtfertigung eine neue, wenn auch verdeckte Rolle spielt.

Aber von der Ursituation des zweifelnden Abram war in diesen Auseinandersetzungen kaum mehr die Rede. Stattdessen führten sie zu antijüdischen Ressentiments, zu einem verschatteten Menschenbild und einer abgründigen Distanz gegenüber der Welt, zu konfessioneller Polemik. Hinzu kommen später innertheologische Fragenkomplexe, die zu Selbstläufern geworden sind, so z.B. Verwerfung und Rettung, Verurteilung und Freispruch, Erlösung, Heiligung und Berufung, Verdienst und ungeschuldete Gnade sowie die Dialektik von Gerechtigkeit und Sünde zugleich. Diese Fragen tauchen, wie Küng schreibt, im konfessionellen Streit „unheimlich gehäuft“ auf (RF 24; SW1, 42) und entwickeln – zumal seit der Reformation ‑ die Neigung zu immer neuen Differenzierungen. Wie also soll man diesen komplexen Knoten von oft inkompatiblen Fragen lösen, ohne sie streng voneinander zu trennen und damit die innere Einheit der Fragen aufzulösen? Küng macht es sich zum Ziel, den gemeinsamen und einigenden Grund all dieser Fragen zu finden und so eine übergreifende Basis zur Lösung der jahrhundertelangen Aporien herauszuarbeiten.

In diesem Krieg an vielen Fronten hatte die katholische Theologie, wie schon angedeutet, neue begriffliche Unterscheidungen erzeugt. Karl Barth warf ihr vor, diese beschäftigten sich zu intensiv mit menschlichen Zuständen, nicht aber mit dem Ereignis des Heils, das doch alle Fragen zusammenhalten müsse.[4] Seit einigen Jahrzehnten wissen wir zudem: Formal gesehen ist das Rechtfertigungsproblem, wie wir es seit Paulus kennen, in der Botschaft Jesu geradezu abwesend; auch in den späteren Schriften von Hans Küng taucht es nicht mehr auf. Damit wird die Diskussion der Sache aber nicht unwichtig. Schließlich ist der Sprachgebrauch in der Moderne irreführender denn je, für Außenstehende geradezu unverständlich. Denn der jüdische Zentralbegriff der zedakah (צדקה), von dem die jüdischen Schriften durchdrungen sind, meint Rechtschaffenheit, Gerechtigkeit oder einfach das, was sich vor Gott gehört, was in Ordnung ist, ein Leben überhaupt lebbar und lebenswert macht. Es ist der zentrale Begriff des jüdischen Glaubens schlechthin. Gerechtfertigt ist, wer vor Gott als „Gerechter“ gelten kann. Deshalb lässt sich dieser Begriff nie isolieren. Er zielt immer auf das Ganze jüdischer Frömmigkeit.[5]

Jüdische Rechtschaffenheit beinhaltet zugleich das Maß der Thora, die Visionen der Propheten, das göttliche Wort, die Weisheit schlechthin. Diese ganzheitliche Dimension wurde in den harten ökumenischen Debatten meist übersehen. Zudem war der katholische Diskurs stark vom juridischen und apologetischen Nebensinn derer bestimmt, die sich vor Gericht rechtfertigen oder ihre Position zu verteidigen haben; ein heilsegoistischer Unterton schlich sich ein. Der rettende oder verurteilende Richter der Menschen, die Heilsangst also, wurde zum niederdrückenden Maß der Überlegungen.

Ich bin mir nicht sicher, ob Küng den hochkomplexen Charakter der Probleme zu Beginn schon durchschaut, doch intuitiv schlägt er einen zielführenden Weg ein. Er entwickelt keinen abstrakten Diskurs über die Rechtfertigungslehre an sich, sondern vergleicht den damals aktuellen katholischen Diskussionsstand (der sich seit dem Konzil von Trient nur wenig verändert hat) mit der damals hochaktuellen Rechtfertigungslehre des Protestanten Karl Barth.[6] Als reformierter Theologe war Barth nicht (wie etwa Luther) geradezu existentiell auf die Rechtfertigungsproblematik fixiert. Umso nüchterner nahm er sie als elementare theologische Frage, als das zentrale Heilsereignis des christlichen Glaubens wahr. Dies führte in der damaligen ökumenischen Diskussion zu einen großen Vorteil: Wie Barth will auch Küng sich nicht in den endlos komplizierten Einzelfragen verfangen, ebenso wenig den großen Komplex der Einzelfragen einfach übergehen.

Küng nimmt vielmehr die Spannung von innerer Einheit und wuchernden Spezialisierungen in den Blick, um so zum Kern des Problemknäuels vorzudringen. Für seine eigenen Überlegungen schafft er sich im ersten Teil des Buches einen Freiraum, indem er zunächst Barths Rechtfertigungslehre „im Ganzen der Dogmatik“ (RF 26; SW1, 43) darstellt. So kann er – sozusagen in indirekter Rede – hinter den Einzelanalysen den umfassenden Hintergrund der christlichen Botschaft im Auge behalten. Erst gegen Ende des ersten Teils (Kap, 15, RF 80-85, SW1, 90-96) geht er auf das Bündel der Spezialfragen ein. Im zweiten Teil stellt er, vom Konzil von Trient geleitet, die katholische Rechtfertigung im Rahmen der spezifisch katholischen Tradition dar. Erst am Ende dieses Teils entwirft er eine katholische Antwort (Kap 32, RF 243-256; SW1, 235-248).

Dabei ist dem Jungtheologen damals schon klar: Weiterführende Antworten liegen nicht dort, wo man sie in den römischen Hörsälen vermutet. Natürlich kann und will er dem übermächtigen römischen Lehramt eines Pius XII. (noch) nicht offen widersprechen, und diesem Tatbestand ist manche zurückhaltende Formulierung geschuldet. Zudem weiß er, wie schwierig es ist, die vielschichtigen Kontexte und ihre Überlagerungen in eine eindeutige und nüchterne Sprache zu übersetzen. Schließlich behandelt auch Luther (ab 1517) die Frage nicht in neutraler Ausgewogenheit und das Rechtfertigungsdekret des Konzils von Trient (1547) nimmt Luthers Anliegen nicht einfach in sachlicher Objektivität auf. Schon Paulus hat die Lehre von der Rechtfertigung als Kampflehre entwickelt. Dennoch ist der Wille zum ökumenischen Durchbruch nach einer Geschichte der Verhärtung, die 430 Jahre fortdauert, deutlich zu spüren. Schließlich ist Küng nicht der einzige katholische Theologe, der ein neues Gespür für eine ökumenische Versöhnung spürt.

3. Einverständnis zwischen Karl Barth und Hans Küng

Die Wahl Karl Barths als ökumenischer Gesprächspartner erweist sich für Küng in mehrfacher Hinsicht als Glücksfall. Auch Barth fordert eine eidgenössische Selbstständigkeit ihr Recht ein. Der um 42 Jahre ältere Protestant (geb. 1886) hat sie durch seinen entschiedenen Widerstand gegen den Nationalsozialismus unter Beweis gestellt. Hans Küng setzt sich mit diesem politischen Menetekel schon als Schüler kritisch auseinander.[7] Hinzu kommt Barths Vermögen, theologische Zusammenhänge souverän zu gestalten. Besser als viele andere ist er mit dem philosophischen Idealismus und der evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts vertraut und als einer der wenigen evangelischen Theologen beschäftigt er sich schon lange intensiv, sachkundig und ausgesprochen fair mit der katholisch-theologischen Literatur. Zudem hat ihn der katholische Theologe Hans Urs von Balthasar dem katholischen Publikum mit einer überzeugenden Monographie nahegebracht.[8]

In den 1950er Jahren genießt Barth nicht nur ein hohes moralisches Ansehen, sondern gilt auch in der Fachtheologie als eine der Leitfiguren des europäischen Protestantismus. Seine Kirchliche Dogmatik (Zürich 1932 f.), von der bis 1955 insgesamt 10 Bände erschienen sind, hat sich sofort als unbestrittenes Standardwerk durchgesetzt.[9] Zunächst präsentiert Küng Barths Gesamtsystem in höchst gestraffter Form (RF 21-101; SW1, 39-109), um dann eine „katholische Antwort“ zu präsentieren (RF 105-276; SW1, 114-265). Dabei steckt er sich ein bescheidenes, in seiner Endwirkung aber anspruchsvolles Ziel. Er will nicht die wahre ökumenische Rechtfertigungslehre entwerfen, wohl aber zeigen, dass die faktischen Lehrunterschiede und deren Diskussionen eine Trennung der konfessionell getrennten Kirchen nicht rechtfertigen.

Die Voraussetzungen für dieses Gespräch sind günstig. Schließlich besteht zwischen dem Denkstil K. Barths und der Denkschule der Gregoriana eine unausgesprochene Verwandtschaft. Das sind ein enzyklopädischer Denkstil, die Freude an logischer Konsistenz, die Hochschätzung der großen theologischen Traditionen sowie eine transparente Konfrontation mit zeitgenössischen Diskussionsgängen. Zudem findet Küng in Anlehnung an Balthasar, dass „Barths Theologie sowohl stärkste Durchbildung des Protestantischen wie stärkste Annäherung an das Katholische in sich vereinigt“ (RF 15; SW1, 33). Auch Küng bringt einen sachkundigen und lernbereiten Kenntnisstand mit, den er sich während seines Studiums erarbeitet hat.

Unter diesen Voraussetzungen will Küng zeigen, dass im Gespräch mit Karl Barth eine Verständigung erreichbar ist. Dabei präsentiert er seine Antworten auch nicht als endgültige Aussagen und tritt seinerseits nicht als der große Kenner der Problematik auf. Vielmehr entwickelt er ein Gespür für die Umbruchsituation, die sich wenige Jahre später auf dem 2. Vatikanum manifestiert, rüstet sich also für einen offenen Weg zur ökumenischen Annäherung (RF 105-107; SW1, 113-116). Von Barth belehrt, präsentiert auch er die Rechtfertigungslehre nicht als eine in sich kohärente Glaubensaussage, die er an einigen Stellen nur noch genauer justieren muss. Auch er ordnet sie konsequent in den weiträumigen Diskurs über Gott und Christus, Schöpfung und Erlösung ein.

Seinen katholischen Ausgangspunkt verankert Küng im schon genannten Rechtfertigungsdekret des Konzils von Trient. Es wurde 1547 verabschiedet und besitzt im katholischen Raum bis heute eine hohe Autorität. Barth und Küng respektieren seine Qualitäten, schätzen es als ein sorgfältig gearbeitetes Dokument, das angesichts der damaligen Spannungen erstaunlich offen argumentiert (RF 114). Doch lässt Küng dieses Dokument, das bislang die katholische Lehre bestimmte, gerade nicht zum unbeugsamen Maßstab katholischer Identität erstarren, wie dies in der Neuscholastik geschah und bisweilen heute noch geschieht. Vielmehr macht Küng sich das neue geschichtliche Bewusstsein zunutze (RF 124), das die Nouvelle théologie mit großem Nachdruck angemeldet hatte.[10] Er liest das hochgradig scholastische Dokument von Paulus sowie von den altkirchlichen Theologen her und verflüssigt so seine ungeschichtlichen, streng ontologischen Kategorien. Im Gegenzug kann er zeigen: Auch Barths Rechtfertigungsidee ist viel beweglicher und weniger einseitig, als es der erste Anschein nahelegt. Doch noch wichtiger ist etwas anderes: Küng lässt sich von Barth an die Hand nehmen, um den komplexen Gedanken der Rechtfertigung im gesamten theologischen System zu spiegeln. Küngs Arbeitshypothese lautet: Die Lehre von der Rechtfertigung lässt sich in ihrer Tragweite nur von der umfassenden Glaubensbotschaft her richtig ermessen.

Das ist der Grund, weshalb Küng zunächst im ersten Teil seines Buches eine Übersicht über die großen Themen von Barths Dogmatik gibt. Dabei geht es um die Güte Gottes, die alles überstrahlt (RF 26ff; SW1, 43ff), um das unbedingte Ja des Erlösers gegenüber Menschen und Welt (RF 29ff; SW1, 46ff.), um den Bund, den Gott mit den Menschen schließt (RF 33ff; SW1, 49ff), sowie um die Versöhnung, die den Menschen trotz ihres Versagens angeboten wird (RF 37ff; SW1, 53ff). Zusammengefasst: Mit allem Nachdruck geht es Karl Barth um die „Suprematie“, den „souveränen Gnadenakt Gottes“, mit dem er den Menschen begegnet. (RF41-45; SW1, 56-60). Vor dieser Folie erhält das Heilsgeschehen (der „Vollzug der Rechtfertigung“) seine eigene Entschiedenheit: In Christus, gar in seinem Tod, tritt uns Gott selbst gegenüber (RF 46ff; SW1, 61ff) und der Mensch, der letztlich Gott sein will, ist verworfen. Er zerstört sich selbst (RF 53ff; SW1, 66ff), weil er seine Freiheit und Verantwortung behält (RF 57ff; SW1, 70ff).

Umso strahlender erscheint die Gnade eines Gottes, der sich trotz dieser Katastrophe treu bleibt und den Menschen in seine eigene Gerechtigkeit und Versöhnung hineinnimmt (RF 64ff; SW1, 76 ff): „Das Innerste von Gottes Gerechtigkeit ist die Gnade.“ (RF 66; SW1, 78). Allerdings treibt Karl Barth diesen Gegensatz für katholische Ohren derart auf die Spitze, dass die Frage aufbricht: Kann sie wirklich auch zur Gerechtigkeit des Menschen werden? Für Barth ist es eindeutig: Die reformatorische Formel vom Menschen, der zugleich Gerechter und Sünder (simul iustus et peccator) ist, gilt ohne alle Abstriche. Ihm sind die Sünden vergeben, er besitzt das Recht der Kinder Gottes und kann auf das göttliche Erbe hoffen (RF 68-77; SW1, 86-81).

Hans Küngs Antworten auf Barths Positionen müssen hier nicht im Detail referiert werden (vgl. RF 105-193; SW1, 113-191). Er präsentiert einvernehmliche Antworten auf die bekannten Grundfragen: Was meint „Rechtfertigung“ im neutestamentlichen Sinn einer „Gerechterklärung“ (dikaioun)? Was bedeutet Gottes schöpferische Gnade? Welcher Sieg geschieht wirklich in Christi Tod und Auferstehung? Wie ist die Aussage vom „Gerechten und Sünder zugleich“ auch im katholischen Menschenbild, in der liturgischen und spirituellen Frömmigkeit des Katholizismus verankert? Küng kann auf allen Gebieten zeigen, wie nahe katholisches und evangelisches Denken beieinander liegen. Er gibt den Blick frei auf zahllose Zeugnisse der Schrift, der großen theologischen Tradition (die stark von den Theologen der Alten Kirche lebt) und der Gegenwart. Er ruft mit prägnanten Zitaten viele Gemeinsamkeiten aus dem Vergessen zurück.

Für die katholische Leserschaft waren diese Kapitel von enormer Bedeutung, denn mit diesen Zeugnissen katholischer Herkunft kann Küng das theologische Konzept von Barth übernehmen und zugleich erweitern. Während Barth allen Nachdruck auf Gottes Handeln legt, akzentuieren die katholischen Zeugnisse Haltung und Handeln des Menschen. Zugleich überbrücken sie die traditionellen konfessionellen Gegensätze, denn wie Karl Barth akzentuieren auch sie die umgreifende Verankerung der Rechtfertigungslehre im gemeinsamen Gottes-, Christus-, Schöpfungs- und Erlösungsglauben. Im Grunde also sind die konfessionellen Gegensätze sekundär. Sie weisen allenfalls auf Ungleichgewichte hin, doch rechtfertigen sie keinen konfessionell ausschließenden Widerspruch. Als vorläufiges Resultat seines umfassenden Gesprächs stellt Küng fest: „Was die Grundlagen der Rechtfertigungslehre angeht, steht Barth, aufs Ganze gesehen, mit uns Katholiken auf dem gleichen Boden.“ (RF 193; SW1, 191)

4. Grundvertrauen auf Gott

Was folgt daraus für die Rechtfertigungslehre im engeren Sinn? Der ganzheitliche Blick auf die Grundlagen des christlichen Glaubens hat das Thema aus seiner kontroverstheologischen Isolation herausgeholt und zugleich den Boden für eine entspanntere Methode bereitet. Mit Küng hat sie auch im katholischen Raum den strengen, logisch berechnenden Rationalismus der Neuscholastik hinter sich gelassen. Zum einen formuliert Küng die Fragen so elementar, dass klare, allgemein überzeugende Antworten möglich werden. Küng fasst Barths Impuls in der Frage zusammenfassen: „Nimmt die katholische Rechtfertigungslehre die Rechtfertigung ernst als den gnädigen Souveränitätsakt Gottes“ (RF 97f; 268; SW1 106, 258). Küngs katholisch orientierte Gegenfrage lautet: „Nimmt Karl Barth die Rechtfertigung ernst als die Rechtfertigung des Menschen? (RF 269; SW1, 259)

Zum andern lichtet diese Doppelfrage das Gestrüpp der überbordenden kontroverstheologischen Überlegungen und Detaildiskurse, in denen man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht und den Eifer für Gottes Handeln leicht mit kirchlichen Interessen verwechselt, denn die kirchlichen Modelle und Institutionen des Heils können auch vom Vertrauen auf Gott ablenken.

Zudem führt Küngs Rückgriff auf die Grundlagen des Glaubens zu einem hermeneutisch gesprächsfähigen Ansatz, auch wenn er den Begriff der Hermeneutik gegenüber Barth vermeidet. Wiederholt spricht er von einem gegenseitigen Verstehen oder davon, dass eine jede Theologie eben ihr „Gefälle“ mit Stärken und Schwächen hat. Das gelte für Barth ebenso wie für die katholische Theologie (RF 270f; SW1, 260). Mehr noch: „Der implizite Wahrheitsgehalt, insofern er göttliche Wahrheit ist, übersteigt immer die explizierte Formulierung, darin ist ihr Mysteriencharakter begründet.“ (RF 108; SW1, 116) Auch die katholische Theologie darf sich nicht als Herrin der christlichen Lehre aufspielen.

Uns muss also klar sein, dass wir uns immer in Grenzaussagen bewegen. Die Lehre von der Rechtfertigung sei eben eng mit der Glaubenslehre verwoben und erst in der Christologie bekomme das alles seinen „tiefen Klang“. Dabei gehe es um eine „Melodie“, aus der man nicht ungestraft bestimmte Akkorde weglassen kann (RF 267; SW1, 257). „Wir müssen also immer von der Formel wegstreben, … um sie zu verstehen, zu verstehen secundum spiritum“ (RF 122; SW1, 128). So entziffert Küng Grundhaltungen (RF 189; SW1, 188) und entschlüsselt die Rechtfertigungsbotschaft schließlich als Aussage über die neu gewonnene Freiheit des Menschen. (RF 184; SW1, 181-183).

Mit dieser behutsamen, immer zur Interpretation bereiten Perspektive sind die beiden Schlusskapitel der Abhandlung vorbereitet. Ihre Titel lauten Sola fide [Durch den Glauben allein] (RF 243-256; SW1, 235-248) und Soli Deo gloria [Gott allein der Ruhm] (RF 257-266; SW1, 248-257). Sie sammeln das Ergebnis ein.

Im ersten Schlusskapitel über den Glauben kann Küng zeigen: Die reformatorische Formel vom Glauben allein ist schon bei zahlreichen Theologen der Alten Kirche und bei Thomas von Aquin zu finden, gemäß ihnen können die „Werke“ (wie Paulus sie versteht) das Heil nicht bewirken. Dennoch bleibt innerhalb dieses Konsenses noch Raum für unterschiedliche Akzente. So setzten die späteren Kontroversen, die seit der Reformation die Konfessionen spalteten, nur frühere innerkirchliche Kontroversen fort, die nicht zur Kirchenspaltung führten. Küng erinnert an die stark konkurrierenden Schulen des Augustinismus, Thomismus und Skotismus. Auch sie gehören zum gesamtkirchlichen Erbe, denn nach vorreformatorischem Verständnis beleuchten sie nur unterschiedliche Aspekte des einen großen Heilsgeschehens. So zeigt gerade ein Blick auf die Alte Kirche, wie sehr der neuzeitliche Streit der Konfessionen unsere Räume der Sprache und des Verstehens verengt hat. Aus diesen Gründen stimmt Küng dem „Erzprotestanten“ Barth in vielen Aspekten zu, ohne ihm umgekehrt katholische Positionen zu unterstellen. Vielmehr kann er in aller Zurückhaltung erklären, dieser stehe „aufs Ganze gesehen[!], mit uns Katholiken auf dem gleichen Boden“ (RF 193; SW1, 191). So spricht er von einer „grundsätzliche[n] Übereinstimmung“ (RF 269; SW1, 259).

Zugleich kulminiert das Kapitel in einer Feststellung mit unerwartetem Nachdruck: „Glaube ist tatsächlich auch Vertrauen.“ Es ist ein Satz, der die Grundhaltung und das Denken Küngs zutiefst prägen sollte. Mit dieser Thematik ist Hans Küng ganz bei sich, wie sich noch zeigen wird. Im Neuen Testament gehören Glauben und Vertrauen nahezu als Synonyme zusammen; in der Regel sind sie austauschbar, denn der christliche bzw. biblische Glaube hat durch und durch einen personalen Charakter. So versteht Küng den rechtfertigenden Glauben nicht als gläubige Einsicht in einen sachlichen Vorgang, sondern primär als die vertrauensvolle Anerkennung von Gottes rettendem Handeln. Diese Herausforderung stellt sich ja mit der unausweichlichen Frage, wie wir Menschen mit unseren unüberwindlichen Grenzen umgehen, ohne endgültig zu scheitern. In dieser Situation kommt alles darauf an, dass wir uns ganz auf Gott nicht nur verlassen können, sondern uns auch wirklich verlassen, uns durch nichts von diesem Vertrauen ablenken lassen. (RF 246-256; SW1, 239-248)

Das zweite Schlusskapitel über den Ruhm Gottes (Soli Deo gloria) wendet sich noch einmal dem Grund und Adressaten dieses Vertrauens zu. Nach Küng schließen sich Gottes Ruhm und menschliche Freiheit im Rahmen der Rechtfertigung gerade nicht aus. Es geht also um keinen unterwürfigen Gehorsam. Zwar beginnt die Rettung des Menschen mit der Anerkennung der eigenen unüberwindlichen Grenzen, doch kann diese Anerkennung höchste menschliche Aktivität bedeuten. Deshalb gilt für Küng die Aussage: „ … in seiner passiven Empfänglichkeit ist der Mensch durch Gottes Gnade höchst aktiv“ (RF 257; SW1, 248). Vorerst bleibt es für ein christliches Weltverständnis noch bei der Frage, ob die kirchliche Glaubenslehre und deren praktische Umsetzung wirklich mit Gottes absolutem Vorrang ernst machen und zugleich der Freiheit ihren Raum gewähren.

Mit diesem Test auf die menschliche Freiheit endet Küngs Werk bei einer Fragestellung, die in der beginnenden Epoche der Säkularisierung eine hohe Brisanz entfaltet. Vorerst bleibt sie noch innerökumenisch orientiert: Lässt die religiöse Praxis der Kirchen mit ihren innersten Intentionen wirklich Gott die Ehre zukommen, Gott allein? (RF 257-266; SW 248-257). In antiliberaler Frontstellung und angesichts der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus fordert Barth, dass der Souveränitätsakt Gottes rückhaltlos ernst genommen wird; im Gegenzug betont sein junger katholischer Gesprächspartner in autoritätskritischer Frontstellung, dass es – die Souveränität Gottes vorausgesetzt – um die Rechtfertigung und Anerkennung des Menschen geht. Da Barth Küngs Darlegungen vorbehaltlos akzeptiert (und hofft, dass sie auch von Küngs Kirche gehört werden), ist für ihn der Hauptgrund für die große westliche Kirchenspaltung erledigt. Für den damaligen Diskussionsstand ist das ein epochales Ergebnis. Welcher Sprengstoff für Küng in dieser Alternative steckt, zeigt erst die spätere Entwicklung.

B. NEUE KONTEXTE

5. Widerstand formiert sich

Küngs Buch zur Rechtfertigung hat eine kurze, aber intensive Forschungsaktivität zur Folge.[11] Neben einer ersten und breiten ökumenischen Zustimmung beginnt eine kontroverse Diskussion, doch die Aussichten sind gut.[12] Karl Rahner verteidigt Küngs Kernthese mit Nachdruck[13] und zehn Jahre später bestätigt sie Otto Hermann Pesch, der Kenner von Thomas von Aquin und Luther.[14] Doch angesichts einer breiten Phalanx von irritierten katholischen Dogmatikern und machtbewussten Bischöfen werden die Gespräche bald schwieriger. Langfristig treten die neuen Impulse in den Hintergrund; für die kirchliche Öffentlichkeit in Europa bleibt die Rechtfertigung des Sünders ein protestantisches Thema und ist bald aus dem theologischen Alltag wieder verdrängt.

Dennoch führt seine bleibende Diskrepanz mit der traditionellen katholischen Lehre zu Polarisierungen. Einerseits bringt sein theologischer Durchbruch dem 32-Jährigen schon 1960 einen Lehrstuhl an der Universität Tübingen ein, andererseits führen die offiziellen Bedenken zu einer wachsenden Distanz, die nach Konzilsende (1965) immer offenkundiger wird. Sein 1963 gegründetes Institut für ökumenische Forschung wird zunehmend von offiziellen Gesprächskanälen abgeschnitten, Küng selbst konsequent von den aufsprießenden ökumenischen Gremien und Kommissionen ferngehalten. Unkritisch konservative Argumentionen gewinnen die Oberhand, als ob es weder eine Reformation noch ein 2. Vatikanum gegeben hätte und die römisch-katholische Kirche immer einen fleckenlosen und schriftgemäßen Weg gegangen wäre.

So wird Küngs Nachdruck auf Gottes Souveränität und auf die vorrangige Geltung der christlichen Botschaft schlicht als banale Kirchenkritik wahrgenommen und verurteilt. Die Streitpunkte konzentrieren sich auf die exklusiven Wahrheits- und Amtsansprüche der katholischen Kirche. Im Laufe der Jahre bilden sich Theologen wie Henri de Lubac, Hans Urs von Balthasar, Joseph Ratzinger und selbst Walter Kasper als Antipoden heraus. Typisch ist die Strategie ihrer Argumente: Statt sich mit der Rechtfertigung im Sinne von Paulus, Augustinus oder Luther differenziert auseinanderzusetzen, singen sie den Lobpreis einer begnadeten Kirche, ihrer sakramentalen Struktur und einer kirchlichen Einheit, die faktisch als Unterwerfung unter die Leitungsämter wirksam wird.

Hat diese Entwicklung noch etwas mit den Diskussionen um die Rechtfertigung zu tun? Zunächst war diese Thematik ja, wie schon gesagt, verdrängt. Dieser Themenverlust war zunächst verständlich, denn die Ankündigung des 2. Vatikanum im Januar 1959 unter dem Schlagwort des aggiornamento setzte keine gnadentheologischen, sondern strukturelle und pastorale Akzente. Auf dem Konzil selbst (1962-65) spielte die Rechtfertigung trotz der Debatten zur Ökumene keine ausdrückliche Rolle.[15] Selbst Hans Küng – und das mag erstaunen ‑ stellt in seinen zeitnahen Veröffentlichungen[16] sein großes Thema nicht zur Diskussion. Was ist der Grund für diesen Abbruch der Thematik?

Man könnte darauf hinweisen, dass Küng keine Wiederholungen schätzt. Vielleicht geht er zu optimistisch davon aus, man habe seine Bücher doch gelesen und hoffentlich auch begriffen. Doch in Wirklichkeit bleibt er seinen Intentionen und seiner urdemokratischen Orientierung treu. Auch im Blick auf Barths Kirchenbild hat er die praktischen Konsequenzen für die Kirchenstrukturen nie vergessen. Nachdem sein Konzept 1957 verhandelt war und sich ein ökumenischer Konsens vermelden ließ, lohnt es sich für ihn nicht mehr, weiterhin die abstrakte Theorie in ihren Feinheiten weiter zu entwickeln. Es geht ihm ja nicht um die Details, sondern um den großen Zusammenhang sowie um dessen Folgen in der Praxis des Glaubens.

Hinzu kommt, dass die Rechtfertigungslehre schon immer krisen- und praxisorientiert war, also immer schon in Polemik und in Grenzaussagen konkret wurde. Dies gilt für Paulus, Augustinus und Martin Luther, bei denen harte Auseinandersetzungen jeweils eine zentrale Rolle spielten. Also konnte sie ihr Ziel nur in konkreten Folgerungen erreichen, im möglichen Verzicht auf die Thora, in der Anerkennung der eigenen Schwäche und in der Kritik an überzogenen Heilsversprechen von Seiten der Kirche. Küng hat dies wohl intuitiv begriffen und deshalb keine theoretische Schule der Rechtfertigung gegründet. Nein, zunächst entwickelt er ein Forschungsprogramm zu verschiedenen Kirchenbildern und versteht die Frage nach der Rechtfertigung als eine Art kritischen Detektor. Dieser soll die Bruchstellen in der Praxis von Kirche und Religion aufdecken, in denen eine Bejahung von Ämtern und Institutionen die überragende Gloria Dei, die Geltung ihrer Wahrheit und Heilsbotschaft, in den Schatten stellt.[17] Ab jetzt wird Hans Küng ein Leben lang neuralgische Felder identifizieren, die das Vertrauen der Menschen exemplarisch auf die Probe stellen, um ihnen zu sagen: Vertraut auf Gott und seine Botschaft mehr als auf die selbsternannten Bringer des Heils.

6. Wo das Vertrauen unterlaufen wird

Küngs wichtigste Leistung in Sachen Rechtfertigung besteht darin, dass er die Zusage der Rechtfertigung aus ihren traditionellen Kontexten gelöst und auf die moderne Frage des unbedingten Vertrauens zugespitzt hat. Schon 1974 wird die Frage der persönlichen Rechtfertigung mit der Frage nach der sozialen Gerechtigkeit konfrontiert. (Ch 573-575; SW8, 721-723)

Wie schon gesagt, lautet das entscheidende Schlüsselwort der jüdisch-biblischen Tradition zedaka (צדקה), in der Regel verstanden als eine Rechtschaffenheit, die schon im Jüdischen Testament eine gemeinschaftsstiftende Fürsorge und ein solidarisches Verhalten mit einschließt. Vor diesem Hintergrund konnte Gen 15,1-6 erneut zum Urnarrativ werden, in dem die Frage der Rechtfertigung zu verankern ist. Entscheidend ist JHWHs befreiendes Wort: „Abram vertraute dem Wort JHWHs und Gott segnete seine redliche Treue.“ Es reicht, voll und tatkräftig auf Gott zu vertrauen, dann stehen wir in seiner Gunst. Ebenso bekannt ist, dass Jesus den selbstgerechten Pharisäer kritisiert, der JHWH dafür dankt, dass er nicht so ist wie die Räuber, Betrüger und Ehebrecher. Doch der Zöllner, der sich seines Versagens bewusst ist, geht „gerechtfertigt“ nach Hause (Lk 18,9-14). Offensichtlich sind die Frommen in Gefahr, ihr demütiges Vertrauen durch fromme Leistungen zu ersetzen.

Aus diesem Grund und nicht, weil er die Thora verachtet, spricht ihr Paulus jede Heilsgarantie ab. Dreieinhalb Jahrhunderte später übertreibt Augustinus (gest. 430) diese berechtigte Kritik an frommer Heilsgarantie, indem er die Kinder Adams zu geborenen Sündern und die Menschheit zum „verdammten Haufen“ (massa damnata) verurteilt. Schließlich lehnt Martin Luther alle kirchliche Heilsgarantie ab, die sich zum Surrogat des göttlichen Handelns erklärt. Auf dieser Spur deckt Küng nun weitere neuzeitliche bzw. postmoderne Kontexte auf, die dieses Vertrauen ebenfalls unterlaufen können und deshalb kritisch zu beleuchten sind. Diese neuralgischen Felder der Bewährung lauten: (1) kirchliche Institutionen, (2) kirchliche Lehre, (3) interreligiöser Dialog sowie das Ziel einer (4) versöhnten Welt.

7. Kirchenstruktur in historischer Kritik

Ein erstes neuralgisches Feld verortet Küng in den amtlichen Ansprüchen der eigenen Kirche in Sachen Kirchenleitung, Wahrheitsanspruch und Heilsvermittlung. Diese Ansprüche haben sich seit der Reformationszeit verhärtet. Seit dem 19. Jahrhundert preist sich die katholische Kirche – gerade in fortschrittlichen Kreisen – als den „fortlebenden Christus“.[18] Wird so das Vertrauen auf Gott nicht in blasphemischer Weise durch ein Vertrauen auf die Kirche ersetzt? Man schaue auf das Konzil von Trient und das Erste Vatikanum (1870), die die faktisch bestehenden Vollmachten dogmatisch zementiert, etwa den Papst in einer beängstigend realistischen Weise zum sichtbaren Stellvertreter des unsichtbaren Hauptes der Kirche befördert haben.[19]

Auf dieses Kampfgebiet wagt sich Küng, dies vor und nach dem 2. Vatikanischen Konzil. Dazu gehören die Bücher Strukturen der Kirche (s. Anm. 16), die das Konzil als Repräsentation der Kirche versteht, sowie Die Kirche[20], die ein synodal und charismatisch verankertes Kirchenbild entwirft. Wahrhaftigkeit[21] widmet sich der Tugend einer offen argumentierenden Transparenz; man kann dieses Buch als Systemkritik an einer verschleiernden Herrschaftssprache lesen. In Sommer 1970 eröffnet er mit Unfehlbar? Eine Anfrage[22] eine Generaldebatte zum päpstlichen Anspruch auf die „außerordentliche“ Unfehlbarkeit, die 100 Jahre zuvor offiziell definiert wurde.

Alle diese Impulse wehren sich dagegen, dass das elementare Vertrauen auf Gott unterlaufen, weil durch ein vorbehaltloses Vertrauen in die Kirche und ihre Institutionen ersetzt wird. Damit arbeitet er im Sinne der Rechtfertigung, die wie die Reformation auf eine erneuerte Kirche zielt. Doch nirgendwo nennt er die Rechtfertigungslehre als Formalprinzip. Dagegen argumentiert Küng gut neuzeitlich im Sinne einer Wissenschaft mit säkularen Prinzipien, vornehmlich der historisch kritischen Exegese sowie der neueren Kirchen- und Dogmengeschichte, bisweilen auch streng philosophisch. Damit verweigert er sich jeder kirchenamtlichen Absolutsetzung. Nichts kann nur deshalb als wahr gelten, weil die Kirche, der Heilige Geist oder ein amtlicher Vertreter es so behauptet. Deshalb konzentriert er den Diskurs auf die ursprünglichen Herausforderungen der biblischen bzw. christlichen Botschaft, die immer in das vorbehaltlose Vertrauen auf Gott selbst mündet. Küng achtet leidenschaftlich darauf, dass kirchliche Festlegungen den Glauben nicht bevormunden: „Verabsolutierte Kirche entmündigt den Glauben, das ist die katholische Gefahr. Entscheidend ist, dass Gottes Heilshandeln sowohl dem Glauben wie der Kirche vorausgeht.“ (Kirche, 49; SW3, 139) Der Lobpreis des immer größeren Gottes darf nicht mehr zur triumphalen Überhöhung, sondern muss zur konsequenten Eingrenzung und Relativierung kirchlicher Institutionen führen.

Die schärfste Zuspitzung erfährt dieses Prinzip in der scharfen Kritik am Dogma von der außerordentlichen päpstlichen Unfehlbarkeit in Unfehlbar? Mit diesem Warnsignal blieb Küng ein Leben lang präsent in den theologisch steril gewordenen Beziehungen zwischen katholischer und lutherischen Kirchen. Der Lutherische Weltbund musste es als Hohn empfinden, als Benedikt XVI. am 23.09.2011 in Erfurt erklärte, er habe kein „Gastgeschenk“ der Annäherung anzubieten. Vielleicht haben er und seine Vatikanischen Behörden nie wirklich verstanden, worum es in der Rechtfertigung wirklich geht. Denn im Jahr 1999 hatte man nach langwierigen Vorgesprächen eine Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre verabschiedet.[23]

Allerdings sterilisierte man sie in dieser Erklärung zu einer abstrakten Definition. So erreichte man keinen klaren, sondern nur einen „differenzierten“ Konsens, also keine Einigung, die zum konstitutiven Teil des Glaubensbekenntnisses werden konnte, sondern nur eine „Bilanz“, die im Grunde die konfessionellen Unterschiede, wenn auch in milderen Worten, reproduziert. Das Dokument unterscheidet zwischen den gemeinsamen „Grundwahrheiten“ und den „Anwendungen“, übersieht aber, dass dieses Königswasser des christlichen Glaubens zur Unterscheidung entwickelt wurde und nur in konkreten Kontexten wirksam werden kann. Die Bilanz geriet dermaßen abstrakt, dass sie bis heute keine ökumenische Wirkung entfaltet. Erneut blieb Küng unverstanden, der ökumenische Störenfried.

8. Überwindung der hellenistischen Glaubenslehre

Die wachsende Verunsicherung vieler engagierter Kirchenmitglieder nach 1965 leitet bei Hans Küng eine zweite Phase kritischer Rückfragen ein, denn jetzt geraten nicht nur das Existenzrecht der Konfessionen in die Diskussion, sondern auch Sprache und biblische Begründung der christlichen Botschaft. Dies ist eine epochale, höchst folgenreiche Frage und zu deren Beantwortung nimmt er sich Zeit. Seit 1957 arbeitet er sich (mit den gebotenen Unterbrechungen) schrittweise in den hochkomplexen theologischen Denkweg des Philosophen G.F. W. Hegel ein und verfasst dazu eine Monographie von über 700 Seiten, die 1970 erscheint[24].

Die komplexen Forschungsergebnisse sind hier nicht wiederzugeben, doch im Blick auf die christliche Botschaft beinhalten sie ein beunruhigendes Ergebnis: Hegels Lehre von Christus und Gott, so Küng, überspielt unter der Fahne der „Geschichtlichkeit“ erneut die konkrete Geschichte. So hat auch Hegel die hellenistische Denkform der klassisch kirchlichen Glaubenssprache nicht überwunden[25], schafft also keinen Zugang zum exegetisch neu entdeckten Ereignis des „historischen Jesus“.

Unter diesen Bedingungen gerät das altehrwürdige Glaubensbekenntnis aus dem Jahr 451, das in den großen Kirchen immer noch höchste Geltung besitzt, in die Diskussion. Denn die historisch-kritische Exegese brachte in die Glaubensdebatte eine enorme Verunsicherung. Im Rahmen der Entmythologisierungsdebatte betonte schon Rudolf Bultmann zu Recht den mythischen bzw. symbolischen Charakter der religiösen Sprache, die keine objektive Gewissheit mehr bietet.[26] Ernst Käsemann verwies auf den Gewissheitsverlust, den der Paradigmenwechsel von der hellenistischen Bekenntnisformel zum erzählenden Bericht verursacht.[27] Mit klaren Definitionen, die Objektivität suggerieren, schaffen wir keine Gewissheit mehr; müssen also neue Wege des Verstehens finden, statt fundamentalistisch die Tradition wortreich stabilisieren. Als einer der wenigen katholischen Theologen bringt Küng den Mut auf, diese Herausforderung zu thematisieren und die aufgebrochenen Zweifel zu verarbeiten. Küng stellt sich der Aufgabe in zwei Schritten.

In Christ sein (München 1974; SW8, 39-751) entwirft er einen historisch verantworteten und systematisch reflektierten Jesusbericht, also eine „Christologie von unten“. Er relativiert die rational durchgerechneten hellenistischen Denkmodelle. Statt ein neues, hehres und machtbetontes Christusmodell im Sinne eines Christus Pantokrator oder Weltenherrn zu repräsentieren, stellt er die alles entscheidende, alles andere entlarvende Frage, die bei Jesu Verurteilung zur Debatte stand: War Jesus ein Lehrer der Wahrheit oder ein Irrlehrer, ein Prophet oder Lügner, ein Ketzer oder das Opfer seiner Prophetie? (Ch 283f.; SW8, 372) Für diese Antwort gebe es „Hinweise, keine Beweise“ (227; SW8, 301). Sie verlangen also kein gehorsames Fürwahrhalten, sondern ein eigenes Urteil, eine freie Entscheidung, die aus einem „unbedingten und unerschütterlichen Vertrauen“ erwächst (Ch 289; SW8, 379). Nur „in der Nachfolge Jesu Christi“ können wir „wahrhaft menschlich leben, handeln, leiden und sterben … gehalten von Gott und hilfreich den Menschen“ (Ch 594; SW8, 745).

In Existiert Gott (München 1978; SW9, 53-934) geht Küng dann genauer der Spannung zwischen diesen offenen „Hinweisen“ und einem entschlossenen Vertrauen nach. Er entfaltet das Konzept der inneren Rationalität, in der sich die raisons du cœur von Blaise Pascal spiegeln. (EG 64-118; SW9, 102-164) Die Kraft dieser inneren Vernunft erfahren die Glaubenden aus einer frei gesetzten Zustimmung, die sich gegen ein radikales Grundmisstrauen absetzt. (EG 490-528; SW9, 598-647) Aus erkenntniskritischer und psychologischer Perspektive wird dieses Grundvertrauen zur konstitutiven und unverzichtbaren Bedingung für ein freies Ja zum Sinn des Lebens. Der spezifisch christliche Glaube erwächst also – immer in die alltägliche Lebenserfahrung eingebettet ‑ aus dem Versuch, die Jesusgeschichte konkret zu hören und dieses Narrativ in der lebenspraktischen Nachfolge zu verstehen.

So fügt Küng die Gottesfrage in eine Bedingung ein, die (in einem säkularen Kontext) die klassische Rechtfertigungsfrage mit ihrem Zweifel und ihrer Hoffnung wiederholt: „Wenn Gott existierte, dann wäre die gründende Wirklichkeit selbst nicht mehr letztlich unbegründet.“ (EG 622; SW9, 758) Diese Bedingung, die alle Zweifel anerkennt, lässt sich durch keine äußere Rationalität widerlegen, nur die innere Rationalität kann eine grundlegende Gewissheit gewähren (ES 630; SW9, 766f). So zeigt sich der Gottesglaube letztlich nicht als Leistung, sondern als ein Geschenk. (EG 632; SW9, 768). Hermeneutisch-methodisch formuliert: In Existiert Gott entwickelt Küng eine Doppelstrategie, die der Verlockung einer objektiven Zusicherung entweicht. Er konfrontiert das anschaulich ausgestaltete Jesusnarrativ des Neuen Testaments mit einem aktuellen Sinndiskurs, der eine universale Geltung einfordert. In dieser stets offenen Konfrontation entstehen eine Sprache und eine Überzeugung, die den Glauben in offenen, von Hoffnung getragenen Deutungen ausformuliert, sogar einem säkularen Publikum nahebringen kann, weil es keine Unterwerfung unter Glaubensformeln fordert.

9. Dialog in einer globalisierten Welt

Mit einem dritten Schritt hat Küng eine letzte Dynamik mit weitreichenden Konsequenzen eröffnet. Seit den 1980er Jahren stehen Religionen und Weltanschauungen unweigerlich miteinander im Gespräch, selbst in den westlichen Kulturen hat das Christentum seine Monopolstellung verloren. Viele Kirchen empfinden dies als Demütigung. Doch für Küng stellt sich jetzt prinzipiell die Frage, ob sie sich nicht überschätzen, statt einander in Vertrauen zu begegnen. Jetzt enthüllt sich das in vielen Kontexten ausformulierte Gottvertrauen der Rechtfertigung als die Bereitschaft zu einer weltweiten Versöhnung. „Kein Friede unter den Nationen ohne Friede zwischen den Religionen.“ Dieses Motto, das jetzt auf dem Titelblatt seiner Bücher erscheint, hat eine grundstürzende theologische Bedeutung. Die Narrative aller Religionen haben ihre eigene Würde, die menschlich und theologisch zu respektieren ist. Ein zeitgemäßer Sinndiskurs setzt eine vorbehaltlose gegenseitige Kommunikation voraus. Religionsdialoge erschöpfen sich also nicht mehr in religionswissenschaftlichen Spezialprogrammen zur Befriedigung menschlicher Neugier oder Absicherung bestimmter Thesen. Sie rücken vielmehr ins Zentrum einer interreligiös-theologischen Arbeit, die jeder Religion (und jeder Weltanschauung, die konstruktiv von humanen Werten getragenen wird) einen vergleichbaren Vorschuss des Vertrauens zubilligt. Sie alle können und sollten zu einem fairen Wettstreit um die Wahrheit antreten.

Die Erweiterung dieses Horizonts ist dramatisch, denn in diesem Dialog begegnen sich religiöse, oft universale Sinnerfahrungen, die einander ergänzen, gegebenenfalls auch relativieren. Umgekehrt gibt es keine Moral, auch kein religiöses oder weltanschauliches System mehr, das sich über die anderen erheben kann, weil es die einzige Wahrheit nur in der Anerkennung verschiedenster Kontexte garantiert. Schon 1978 erklärt Küng in einer theologisch gemeinten Feststellung: „Und wir sind auf dem Weg nicht allein, sondern mit Abermillionen anderer Menschen aus allen möglichen Konfessionen und Religionen, die ihren eigenen Weg gehen, aber mit denen wir je länger desto mehr in einem Kommunikationsprozess stehen, wo man sich nicht um Mein und Dein, meine Wahrheit – deine Wahrheit, streiten sollte; wo man vielmehr, unendlich lernbereit, von der Wahrheit der anderen aufnehmen und von seiner eigenen Wahrheit neidlos mitteilen sollte“.[28]

Faktisch eröffnet Küng damit einen definitiven Konflikt mit dem Monopolanspruch seiner eigenen christlichen Kirche (auch mit dem Monopolanspruch anderer Religionen), der dem Gedanken der Rechtfertigung fundamental widerspricht, denn die Wahrheit selbst ist immer größer als seine menschlichen Gefäße. Küng steht damit in einem diametralen Gegensatz zu Joseph Ratzinger, dem späteren Benedikt XVI., der im Jahr 2000 als Präfekt der Glaubenskongregation programmatisch erklärte: Die nichtchristlichen Religionen und die nichtkirchlichen Christentümer befinden sich „objektiv in einer schwer defizitären Situation im Vergleich zu jenen, die in der Kirche die Fülle der Heilsmittel besitzen.“[29] Dieser Satz spricht jedem weltweit umfassenden Gottvertrauen Hohn.

Schließlich kann sich in diesem universalisierten Vertrauen auf Gott ‑ in einem vierten und letzten Schritt ‑ der Kreis eines bedingungslosen Weltvertrauens vollenden, denn zur Debatte steht jetzt die Reichweite aller (ausdrücklich und implizit) religiösen Narrative, Bekenntnisse, Lehren und Symbolwelten, Rituale und Heilszusagen. Sie unterscheiden sich voneinander in größter kultureller, sozialer und historischer Vielfalt. Wo aber ist ihre gemeinsame Kernbotschaft zu suchen, die das entscheidende Vertrauen stiftet?

Für Küng liegt sie in einer ganzheitlichen (lebenspraktischen, spirituellen und intellektuellen) Grundhaltung des gegenseitigen Vertrauens, der Liebe und Bejahung. Sie äußert sich in der Goldenen Regel ebenso wie im Apell zur Menschlichkeit. Küng hat diese Kernbotschaft im Projekt Weltethos ausformuliert.[30] Es wird zur Richtschnur und zum Appell und Kriterium aller Religionen sowie Weltanschauungen und legt – ganz im Sinn der Rechtfertigungslehre ‑ deren Ambivalenzen offen. Gerade Religionen dürfen nicht zu identitären und fanatischen Institutionen degenerieren, obwohl sie genau dieser Versuchung ausgesetzt sind.

Deshalb ist das Projekt Weltethos nach Küng „kein explizit religiöses … Projekt. Es kann sowohl von Religiösen wie von Nichtreligiösen mitgetragen werden. Philosophische Begründungen sind ebenso möglich wie theologische und religionswissenschaftliche Grundlegungen.“[31] Genauer gesagt: philosophische, theologische und religionswissenschaftliche Argumentationen sind zu einer fairen und respektvollen Kooperation aufgerufen, damit sie in einer globalen Welt zu globalen Ergebnissen führen können.

Damit hat die Rechtfertigungslehre ihre endgültige Dimension erreicht, die in den Weltreligionen angelegt ist. Nicht nur die Thora (Paulus), die sittliche Leistung (Augustinus) oder kirchliche Vollmachtsansprüche (Luther) müssen mit einer Heilsgarantie versagen, sondern auch kirchliche Bekenntnisse und Lehren, einzelne Religionen oder die Religionen in ihrer Ganzheit, sobald sie den Vorrang des je Größeren missachten. Auf allen genannten Ebenen bleiben wir angewiesen auf ein grundlegendes Vertrauen auf Gott und die Wirklichkeit, auf einen Respekt vor dem Leben. Leider haben die Repräsentanten der römisch-katholischen Kirche diese Arbeit für ein fundamentales Vertrauen in Gott, Mensch und Welt noch nicht zur Kenntnis genommen. Alle anderen Religionen und religiösen Gemeinschaften sind mit derselben Herausforderung konfrontiert.

C. SCHLUSS: VERTRAUEN DAS TRÄGT

Paulus, Augustinus und Martin Luther machten die Rechtfertigungslehre zum negativen, sozusagen heilsegoistischen Fokus ihrer Warnung vor der Sünde, dem drohenden Gericht und der endgültigen Verdammung. Bei Küng zeigt sich, wie ausgeführt, ein epochaler Paradigmenwechsel. Er macht sie zum positiven Brennpunkt eines grundlegenden Vertrauens auf Gott sowie den Sinn von Leben und Welt. Aus biblischer Perspektive ist das eine elementare Perspektive, die an die Segnung von Abraham erinnert und der ganzen Menschheit eine Zukunft eröffnet. Für Küng wurde dieser Impuls zu einer elementaren Triebfeder seines Denkens, Glaubens und Lebens. Ein biographischer Hinweis kann diese Beobachtung eindrucksvoll illustrieren.

Im Jahr 1953 stürzt den jungen Theologiestudenten die Diskussion mit einem Skeptiker in innere Zweifel. Er muss erkennen, dass seine neuscholastischen Gottesbeweise den Kritiker nicht überzeugen können. Er begibt sich auf eine leidenschaftliche Suche, bis ihm während eines spirituellen Gesprächs eine bahnbrechende Erleuchtung zu Gehör kommt. Küng formuliert sie so: „Wage ein Ja! Statt eines abgründigen Misstrauens wage ein grundlegendes Vertrauen zu dieser abgründigen Wirklichkeit! Statt eines Grundmisstrauens ein Grundvertrauen: zu dir selbst, zu den anderen Menschen, zur Welt, zum Leben, zur fraglichen Wirklichkeit überhaupt! Und Sinn scheint auf, macht hell, wird Licht …“.[32]

Die Bedeutung dieses Zeugnisses lässt sich kaum überschätzen. Es zeigt vermutlich das zentrale Motiv von Küngs Spiritualität, seinem theologischen und religionswissenschaftlichen Denken. In seinen Schriften taucht dieses Motiv immer wieder auf. Schon im Rechtfertigungsbuch wurde, wie gezeigt, die Vertrauensfrage thematisiert und in Existiert Gott? ausführlich analysiert. Das Motiv der vertrauenden Hoffnung durchzieht seine Schriften zur Kirchenreform[33] und auf den letzten Seiten seiner Memoiren erscheint der Psalmvers: „Auf dich, Herr, habe ich vertraut, in Ewigkeit werde ich nicht verloren gehen (Ps 71,1)“.[34] Im Alter von 85 Jahren schreibt er schließlich: „Wenn ich mich auf Gott verlasse, halte ich mich frei gegenüber allen endlichen Mächten und Instanzen, die nicht Gott sind … Mein unbedingtes Ja … kann ich keinesfalls irgendeiner irdischen Instanz oder Macht geben, keinem Staat und keiner Kirche, keinem Vorgesetzten, Guru, Führer oder Papst.“ (SW, 532) Erneut zitiert er als katholischer Christ diesen Psalmvers, der den Abschluss des urkatholischen „Großer Gott, wir loben Dich“ bildet.

Natürlich bleibt die Rechtfertigungslehre für ihn eine Kampflehre, die nur in konkreten Texten ihre Wirkung entfaltet. Wie in einem magnetischen Kraftfeld macht sie für ihn neuralgische Testfragen sichtbar und polarisiert zumal seine eigene Kirche im Konflikt mit ihren partikularen, oft kleinkarierten Interessen. Oft wird übersehen, dass Küng den religiösen Institutionen, Strukturen und Systemen einen hohen Stellenwert zumisst, weil sie – richtig verstanden – aus einer vertrauenden Rechtschaffenheit entstehen, vielfach zu Gerechtigkeit führen, entsprechende Praxisräume eröffnen und schützen. Das gilt innerhalb des Christentums z.B. für die Lehre, die Sakramente und kirchlichen Ämter, auch für die Leitmodelle nichtchristlicher Religionen, der Religionen insgesamt. Doch genau deshalb achtet er genau darauf, dass sie sich nicht verselbständigen oder zu Surrogaten des Grundvertrauens degenerieren. Sie haben zu dienen.

Keine Religion und keine Weltanschauung, keine starke Institution oder Überzeugung kann dieser kritischen Frage entgehen, denn sie alle entwickeln auch partikulare Interessen. Die kritische Leitfrage aller Glaubwürdigkeit lautet deshalb: Wo liegen die Grenzen, jenseits derer sich diese Institutionen an die Stelle Gottes, der Menschen oder menschlicher Gemeinschaften setzen, deren Wahrheit verdunkeln und schließlich zerstören, die Freiheit und jeden Lebenssinn zunichtemachen? Diese Fragen und Sorgen sind es, die Küng zum scharfsichtigen Kritiker kirchlicher Überheblichkeit gemacht haben.

So gesehen ist es ein Skandal und ein Zeichen der Blindheit, dass seine eigene Kirche diesen Warnruf bis heute noch nicht richtig wahrgenommen, nicht einmal im interkonfessionellen Dialog selbstkritisch besprochen hat. Doch es wäre nicht im Sinne von Hans Küng, mit diesen bitteren Worten zu enden, denn bis zum Schluss seines Lebens war er davon überzeugt: Auch in seiner Kirche wird einmal die gebotene Demut siegen.

Anmerkungen

[1] Das Buch Rechtfertigung wird im laufenden Text zitiert unter dem Sigel RF. Es ist neu erschienen in Hans Küng, Sämtliche Werke, Band 1 (SW1), Freiburg 2015, S. 23-301. [Justification. The Doctrine of Karl Barth and a Catholic Reflection (1964)]

[2] Dekret über die Rechtfertigung, in: Denziger-Hünermann (371991, 1520-1583).

[3] Dies lässt sich beispielhaft zeigen am bekannten Werk von Yves Congar, Vraie et fausse réforme dans l’Église, Paris 1950, 21969, das noch auf der strikten Geltung der offiziellen römisch-katholischen Glaubenslehre besteht.

[4] Zu K. Barth s. Anmerkung 6. Küng (RF43; SW1, 85) übernimmt von Barth nicht weniger als acht Gegensatzpaare von Gnade, mit denen sich die traditionelle katholische Theologie beschäftigt: (1) gratia increata – creata, (2) externa – interna, (3) gratum faciens – gratis data, (4) actualis – habitualis, (5), medicinalis – elevans, (6) praeveniens – concomitans, (7) operans – cooperans, (8) sufficiens – efficax, (9) Dei – Christi, (10) supernaturalis – naturalis.

[5] Der Ägyptologe Jan Assmann spricht von einem Zentralbegriff, unter dem in den altorientalischen Kulturen „das Ganze des gesellschaftlichen Zusammenhangs“ gedacht wurde. Er lautet „‘Gerechtigkeit‘, ägyptisch Ma‘at, vedisch rta, nachvedisch mescharu, hebräisch ṣedeq/ṣedaqa, griechisch dike und themis. Allen diesen Begriffen, vor allem aber den fünf erstgenannten, ist gemeinsam, dass sie auch Weltordnung bedeuten, also eine naturrechtliche Auffassung von Gerechtigkeit meinen. Gerechtes Handeln ist ein Handeln in Übereinstimmung mit dem der Welt inhärenten Sinn.“ (Herrschaft und Heil, München 2000, 202).

[6] Vgl. auch Anm. 8. Als zentraler Bezugstext von K. Barth kann gelten: § 61 Des Menschen Rechtfertigung, in: Die Kirchliche Dogmatik, Teil IV, 1: Die Lehre von der Versöhnung, Zürich 1953, 573-718.

[7] Hans Küng, Erkämpfte Freiheit. Erinnerungen I, München 2002, 20-24; SW 21, 19-22.

[8] Hans Urs von Balthasar, Karl Barth, Darstellung und Deutung seiner Theologie, Köln 1951.

[9] Von Barths 13-bändigen Monumentalwerk Kirchliche Dogmatik lagen damals 10 Teilbände von I/1 bis IV/2 vor. Der erste Band dieses Lebensprojekts erschien 1932, der zehnte (IV/2) 1955. Später erschienen noch ein weiterer, voll ausgearbeiteter Band (1959), ein Fragment (1967) und nach Barths Tod eine Sammlung von weiteren Fragmenten (1976). Karl Barth ist 1968 im Alter von 82 Jahren verstorben.

[10] Als wichtigste Vertreter der Nouvelle theólogie gelten: Marie-Dominique Chenu, Yves Congar, Henri Bouillard, Henri de Lubac, und Jean Daniélou. Zu ihnen gerechnet werden auch H.U. v. Balthasar und (mit Vorbehalt) Teilhard de Chardin, der als Paläontologe ein eigenes theologisches Profil entwickelte.

[11] Johannes Brosseder, Konsens im Rechtfertigungsglauben ohne Konsens im Kirchenverständnis? Zur Bedeutung des Rechtfertigungsstreits heute, in: H. Häring, K.J. Kuschel, Neue Horizonte des Glaubens und Denkens. Ein Arbeitsbuch, München 1993, 344-354.

[12] Christa Hempel. Rechtfertigung als Wirklichkeit. Ein katholisches Gespräch; Karl Barth – Hans Küng – Rudolf Bultmann und seine Schule, Frankfurt 1976, 8-20.

[13] Karl Rahner, Zur Theologie der Gnade. Bemerkungen zu dem Buch von Hans Küng: Rechtfertigung. Die Lehre Karl Barths und eine katholische Besinnung. In: Theologische Quartalschrift 138 (1958), S. 40-77.

[14] Otto Hermann Pesch, Die Theologie der Rechtfertigung bei Martin Luther und Thomas von Aquin. Versuch eines systematisch-theologischen Dialogs, Mainz 1967.

[15] Von Rechtfertigung ist nur knapp die Rede in der Apostolischen Konstitution Lumen Gentium, Nr. 9 und 40, sowie im Ökumenismusdekret Unitatis Redintegratio, Nr. 3.

[16] Konzil und Wiedervereinigung. Erneuerung als Ruf in die Einheit, Freiburg 1960; SW2, 61-212; Strukturen der Kirche, Freiburg 1962; SW2, 298-645, sowie Kirche im Konzil, Freiburg 1963; vgl. SW2, 649-731.

[17] Weitere Texte zur Lehre von der Rechtfertigung sind zu finden in: SW1, 389-532.

[18] Dazu positioniert sich differenziert und doch ambivalent: Walter Kasper, Katholische Kirche. Wesen – Wirklichkeit – Sendung, Freiburg 2011, 191 sowie 194, Anm. 59.

[19] In profilierter Weise ist diese Theorie ausgeführt in der Enzyklika Pius‘ XII. vom Juni 1943: Mystici Corporis, https://www.vatican.va/content/pius-xii/de/encyclicals/documents/hf_p-xii_enc_29061943_mystici-corporis-christi.html.

[20] Die Kirche, Freiburg 1967; SW3, 106-582.

[21] Wahrhaftigkeit. Zur Zukunft der Kirche, Freiburg 1968; SW 5, 43-183.

[22] Unfehlbar? Eine Anfrage, Zürich-Einsiedeln-Köln 1970; SW 5, 221-408.

[23] Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre. Alle offiziellen Dokumente von Lutherischem Weltbund und Vatikan (= Texte aus der VELKD; Nr. 87, Juni 1999). Lutherisches Kirchenamt der VELKD, Hannover 1999, ISSN 1617-0733.
https://www.velkd.de/publikationen/texte-aus-der-velkd.php?publikation=386&kategorie=22 Diese Erklärung wurde am 31.10.1999 in Augsburg im Namen des Lutherischen Weltbundes und der römisch-katholischen Kirche feierlich unterzeichnet. Auf das Hauptproblem dieser Erklärung macht Eberhard Jüngel aufmerksam. Er vermisst im Sinne von Hans Küng die kriteriologische Funktion dieser Erklärung: Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens. Eine theologische Studie in ökumenischer Absicht, Tübingen 31999.

[24] Menschwerdung Gottes. Eine Einführung in Hegels theologisches Denken als Prolegomena zu einer künftigen Christologie, Freiburg 1970; SW7, 37-662.

[25] Wichtig werden für Küng die prinzipiellen Überlegungen von Ernst Käsemann, Das Problem des historischen Jesus, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 1960, 167-214.

[26] „Es gibt keinen Unterschied zwischen der Sicherheit auf der Basis von guten Werken und der Sicherheit, die auf objektivierendem Wissen beruht.“ (Rudolf Bultmann, Jesus Christus und die Mythologie, in: Glauben und Verstehen IV, Tübingen 1965, 141-189; zit. 188). Dieser Aufsatz ist ursprünglich in englischer Sprache erschienen: Jesus Christ and Mythology, New York 1958.

[27] „Die Frage nach dem historischen Jesus ist legitim die Frage nach der Diskontinuität[!] des Evangeliums in der Diskontinuität der Zeiten und in der Variation des Kerygmas.“ (E. Käsemann, a.a.O. 213).

[28] Theologie im Aufbruch. Eine ökumenische Grundlegung, München 1987, 305; SW 13, 254.

[29] Dominus Iesus, Erklärung über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche, veröffentlicht am 06.08.2000 von der Kongregation für die Glaubenslehre, Nr. 22. (http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_20000806_dominus-iesus_ge.html).

[30] Den besten Zugang zum (inhaltlich und strukturell) komplexen Projekt Weltethos bietet www.weltethos.org.

[31] Handbuch Weltethos (mit Günther Gebhardt und Stephan Schlensog), München 2012, 29; SW 19, 340.

[32] Erlebte Menschlichkeit. Erinnerungen III, München 2013, 702, SW 23, 664.

[33] Vgl. Die Hoffnung bewahren. Schriften zur Reform der Kirche, München 1994, 9-36, 201-206; SW 6, 121-150, 263-268.

[34] Erlebte Menschlichkeit, 2013, 702, SW 23, 664.

Erstveröffentlichung dieses Beitrags:
Trust That Endures: Hans Küng on Justification, in: Paul Lakeland (ed.), Hans Küng: a revaluation, Paulist Press (2024), 7-31.