Angesichts der Missbrauchsskandale initiierten vor gut vier JahrenMitveerant die Deutsche Bischofskonferenz und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken in enger Kooperation das Reformprojekt „Synodaler Weg“. Später brachte der Vatikan für die Jahre 2021-2024 das weltweite Projekt „Für eine synodale Kirche. Gemeinschaft, Teilhabe, Mission“ auf den Weg. Die vorbereitende Phase ist weitgehend abgeschlossen, im Juni 2024 erschien das Arbeitsdokument für die Endphase im Oktober 2024. Doch Zweifel am Gelingen des Projekts sind angebracht. Der Papst könnte eingreifen, indem er den Kirchen vor Ort endlich Freiräume bietet, die das Qualitätsmerkmal „synodal“ verdienen. Der hier vorliegende Offene Brief an Papst Franziskus zeigt einige Hintergründe und Zusammenhänge auf.
Bruder Franziskus, verehrter Bischof von Rom!
Vor gut vier Jahren trat in Deutschland zum ersten Mal der Synodale Weg zusammen, seine Impulse sind aus der römisch-katholischen Kirche nicht mehr wegzudenken. Unmittelbarer Anlass des Unternehmens waren die Skandale von sexuellem Missbrauch und offizieller Vertuschung. Zudem mussten wir erkennen: Diese Verbrechen und Defizite hatten weitgehend systemische Ursachen. Es galt also, auch kirchliche Strukturen zu erneuern. Die daraufhin erarbeiteten Papiere analysierten, wie Sie wissen, ein zeitgemäßes Verständnis menschlicher Sexualität, eine sachgemäße Ausgestaltung kirchlicher Autorität, die aktuelle Bedeutung des priesterlichen Amtes sowie die hoch umstrittene Unterbewertung von Frauen in unserer Kirche.
Dabei kam es, wie Sie wissen, zu tiefgreifenden Meinungsunterschieden mit den römischen und einigen deutschen Amtsträgern. Leider haben vatikanische Instanzen nur verspätet und unwirsch reagiert. Ihr abweisender Hinweis darauf, wir hätten schon eine gute evangelische Kirche, wurde in ökumenischen, insbesondere in evangelischen Kreisen als verletzend und herabsetzend empfunden. Zwischenzeitlich wurde die geplante Einrichtung eines mit der Deutschen Bischofskonferenz kooperierenden Synodalen Rates untersagt, doch reformgesinnte Kräfte nehmen auch dieses Verbot als ein unangemessenes Diktat wahr, das mit einem synodalen Handeln nicht vereinbar ist. Zur Klärung der Differenzen hätte es eines argumentierenden Gespräches auf gleicher Augenhöhe bedurft. Es hat sich gezeigt, dass synodale Projekte nur unter synodalen Voraussetzungen zu entwickeln sind.
Inzwischen ist auch das römische Projekt Für eine synodale Kirche vorangeschritten. Vergangenen Juli erschien das Arbeitsdokument für die Sitzung der Bischofssynode im Oktober 2024. Gestatten Sie mir, dass ich einige allgemeine Eindrücke und Befürchtungen benenne.
1. Die Tragweite des Projekts wird verkannt
Das römische und das deutsche Projekt werben wiederholt für eine partizipative und inklusive Kirche. Sie unterstreichen die Bedeutung des in Vielfalt geeinten Gottesvolkes und plädieren für kooperative Elemente, eine gegenseitige Hörbereitschaft und intensive Gemeinschaft, dies alles auf der Basis einer offenen und spirituell vertieften Kommunikation, mit der gleichen Hochachtung gegenüber allen Geschlechtern und sexuellen Orientierungen, dem Kampf gegen alle Machtgier und Klerikalismus sowie im Vertrauen auf eine vom Hl. Geist geleitete Gemeinschaft.
Allerdings führen diese faszinierenden Visionen zu keinem konsequenten und widerspruchsfreien Gesamtbild. Sensible Kernfragen der Kirchenstruktur werden ausgeklammert, verharmlost und technisch an Sonderkommissionen verwiesen, die ohne angemessene Rücksprache von römischen Behörden eingesetzt wurden. Will man diese Kernfragen dem offenen Gespräch entziehen? So ist das Missbehagen über die römischen Alleingänge erneut gestiegen. Zudem stehen einige unserer Bischöfe mit römischen Instanzen in geheimem Kontakt, wodurch sie innerhalb der Deutschen Bischofskonferenz die gebotenen Loyalitätsbande verletzen. Schließlich überschreitet die römische Nuntiatur mit apodiktischen Äußerungen ihre konkordatär geregelten Kompetenzen. Faktisch hat sich eine Gruppe von „Überaposteln“ (2 Kor 11,5; 21,11) aus Rom und aus Deutschland gebildet, die dem erstrebten synodalen Geist massiv schadet.
Vielleicht haben die Behörden, die den Prozess von Rom aus in Ihrem Namen zu steuern versuchen, die Tragweite des gesamten Unternehmens übersehen. Er trifft in unserer Kirche ja einen empfindlichen Nerv, denn wir alle sind in einer ausgesprochen autoritären und machtorientierten Tradition und Kirchenlehre verwurzelt. In erster Linie verlangt er von den Kirchenleitungen einschneidende Konsequenzen, denn sie waren es, die jahrhundertelang gegen den Geist kirchlicher Synodalität verstoßen haben. Sie sind es, die als das wirkliche Ausmaß und den Sprengstoff der neuen Kirchenvision endlich thematisieren, den neuen Freimut von unten akzeptieren müssten, den unsere Kirche bislang sanktioniert hat. Mehr noch, wie schon jede Eucharistiefeier mit einem Schuldbekenntnis beginnt, so erwartet die Gemeinschaft der Glaubenden zunächst auch hier eine offene Selbstkritik der Kirchenleitungen sowie den Mut, offensichtlich autoritäre, machtorientierte, klerikalistische Entscheidungen zu revidieren. Gemaßregelte Frauen und Männer sind zu rehabilitieren. Nur dann ist ein glaubwürdiger Beginn möglich.
Auch sind die ersten Widersprüche im initiierten Erneuerungsprozess unmittelbar zu korrigieren. Im Synodalen Weg Deutschlands durften wichtige Desiderate nicht diskutiert werden und um des institutionellen Friedens willen musste man auf bestimmte Forderungen verzichten, sich also schon im Voraus den erwarteten Verboten römischer Instanzen unterwerfen. Das führte zu unwürdigen Endergebnissen, die den Synodalgedanken schon im ersten Ansatz desavouierten. Nur wenig überzeugen konnte auch, dass das römische Synodalprojekt ausgerechnet der 1965 eingesetzten „Bischofssynode“ übertragen wurde. In ihr nämlich sind selbst den Bischöfen die Kernprivilegien eines Entscheidungsgremiums (Einberufung einer Sitzung, Festlegung der Themen und der Tagesordnung, Feststellung des Ergebnisprotokolls) von Anfang an entzogen. So lässt der Vatikan die Einberufenen keine Minute aus ihrer Kontrolle, versperrt ihnen so den Weg zur ersehnten inneren Freiheit und setzt damit eine alte Untugend fort. Man kann diese Taktik an mehreren Passagen des Arbeitsinstruments erkennen. Unter diesen Voraussetzungen muss das Gesamtprojekt scheitern.
2. Kernfragen bleiben offen
Ich zweifle nicht am guten Willen der kirchlichen Entscheidungsträger. Doch einige Aussagen des genannten Arbeitsdokuments führen zu systemischen Problemen; gründliche Korrekturen wären angebracht. Ich nenne nur drei Indizien.
– Verengter Horizont: Das Dokument beginnt mit der großartigen Jesaja-Vision vom Festmahl der Völker auf dem Berg (25,6-8), von denen alles Elend und alle Kriegsangst genommen sind. Diese Vision sprengt die Grenzen der real existierenden Kirche(n) und das ist gut so; denn bei Jesaja gewinnt die Heilsbotschaft säkulare, weltweite Züge. Doch ihr Feuer ist im Dokument schnell verglüht. Erst gegen Ende leuchtet es unter veränderten Vorzeichen noch einmal auf [Nr. 110]. Stattdessen rücken die bisherigen Leistungsträger exzessiv in den Mittelpunkt: „Bischöfe, Priester, geweihte Männer und Frauen, Lainnen und Laien, Theologinnen und Theologen, Kirchenrechtlerinnen und Kirchenrechtler sowie Bibelwissenschaftlerinnen und Bibelwissenschaftler aus allen Kontinenten und aus verschiedenen kirchlichen Bereichen“. Sie regieren und dozieren, das große Völkerfest ist ausgeblendet. Die weltweiten und interreligiösen, selbst die innerchristlichen Beziehungen sind aus dem Blickfeld geraten. Damit werden die aktuellen Zeichen der Zeit missachtet, die Erfahrungen an der Basis sind vergessen.
– Entschärfte Synodalität: Das Arbeitsdokument setzt sich gründlich mit der Idee der kirchlichen Synodalität auseinander [5-18]. Es fordert, dass dieses Modell spirituell vertieft, als eine innere Haltung des Hörens und Verstehens in vielfältigen, charismatisch reichen Gemeinschaften erneuert wird. Formal werden autoritärem Verhalten klare Absagen erteilt. Doch wird unser autoritäres, dogmatisch streng definiertes Erbe eines kirchlichen Lehr- und Leitungsamts nicht angetastet. Bekannte Positionen werden nahezu kommentarlos wiederholt. Betont werden die unerbittlichen Privilegien des offiziellen Lehr- und Leitungsamts [6, 10], der Ausschluss von Frauen aus den kirchlichen Weiheämtern. Der liberal progressiv klingende Vorschlag, den Frauen besondere „Dialogräume“ zu eröffnen und ihnen wichtige Funktionen zu übertagen [16] profiliert die inakzeptable Diskriminierung nur, statt sie aus der Welt zu schaffen. Zumal wirken die Passagen zu Leitungs- und Lehramt sowie päpstlichem Primat im synodalen Ideenkosmos wie Fremdkörper. Synodale Werte, die an anderer Stelle eingefordert werden, sind hier schlicht ausgeblendet, als habe man sie vergessen: Aufeinanderbezogensein“, „gegenseitige Abhängigkeit“, „Wechselseitigkeit“ [14], „dynamische Beziehung“, „Teilhabe“, „Gemeinschaft“ [13], „gegenseitige Fürsorge“, „Wechselseitige Unterstützung“ oder „Mitverantwortung“ [20]. Von Beziehung, innerem Hören und gemeinschaftlicher Wahrheit ist hier keine Rede mehr. Mehr noch, die genannten Werte werden auch für die säkulare Gesellschaft empfohlen, ohne zu bedenken, dass das kirchliche Modell im selben Atemzug autoritäre Regierungsformen unterstützt. So wirkt Synodalität wie ein verstümmeltes Relikt aus besseren Zeiten. Wenn das römische Projekt dennoch überzeugen will, muss hier noch harte Arbeit geleistet werden.
– Ganzheitliche Umkehr: Am Ende des Kapitels über die Grundlagen erscheint ein kurzes, recht summarisches Kapitel zu Umkehr und Reform [18-21]. Es hätte die Überlegungen des Textes einleiten und den Hintergrund der Überlegungen bilden müssen, denn nur ein Bekenntnis zum eigenen Versagen, nur glaubwürdige Wiedergutmachungen und Rehabilitierungen könnten dem Programm einen glaubwürdigen Schub verleihen. Zu Recht betont der Text, die Reform müsse in einer „inneren Verwandlung“ [19] verankert sein. Doch genauso wichtig wäre zu erklären: Ohne tiefgreifende institutionelle Korrekturen können tiefgreifende geistige Reformen nicht gelingen, denn sie spalten unsere Lebenswirklichkeit.
3. Fixierung auf Sakrament und Weiheamt
Geliebter Bruder in Christus, in der gesamten Kirche, auch in nichtkatholischen Kreisen wird Ihr entschiedener Wille zur Reform anerkannt. Umso irritierter stellen sich jetzt viele die Frage: Warum spalten ausgerechnet die neuen Fragen nach Gemeinschaft, Partizipation und Kooperation unseren Willen zur Erneuerung? Warum führen sie erneut zu un-versöhnten Denk- und Textwelten, zur Spaltungen selbst zwischen Bischöfen, die un-vermittelt von gegenseitiger Sprachlosigkeit bedroht sind? Vielleicht lohnt es sich, in Rom, in den Bistümern sowie in unseren Gemeinden darüber nachzudenken.
Einen zentralen Grund sehe ich in unseren unterschiedlichen Vorstellungen von Sakrament und Sakralität. Im aktuellen Erneuerungsprozess hat noch niemand darüber nachgedacht. Wir haben es ja beinahe vergessen: Nach uralter Tradition gilt und wirkt die Kirche primär als Geschöpf des Wortes, denn der Glaube kommt vom Hören. Sakramente und Sakralität sind nur vertiefende, visualisierende, erfahrungsbetonte Größen. Die biblischen Schriften, die Erinnerungen an Jesus von Nazareth, das Bekenntnis zum Auferstandenen sowie die Verkündigung der ersten Glaubenszeugen sind es, die den christlichen Glauben schon immer inspiriert, neu belebt und kritisch reflektiert haben. Sie verleihen ihm den elementaren Anstoß und die entscheidende Dynamik. Schon früh galt die Taufe als seine Besiegelung (doch man musste wissen, was zu besiegeln ist), die Feier der Eucharistie als die feierliche Danksagung, dies als Zeichen der Teilhabe an dieser Erinnerung (doch man musste sagen können, wofür wir danken und an wen wir uns erinnern). Erst in späteren Jahrhunderten hat sich eine Mehr-, dann eine Siebenzahl von „Sakramenten“ verselbständigt und deren Wortgeschehen sozusagen aufgesogen. Die Kirchen der Reformation brachten die alte Dialektik von Wort und Sakrament wieder zur Geltung, doch das Konzil von Trient (1547-63) hat diese Chance nicht erkannt und mit amtlicher Verhärtung reagiert. Das 2. Vatikanum (1962-65) hat gar die Gesamtkirche umfassend als das „Sakrament“ der innigsten Vereinigung mit Gott beschrieben. Das bedeutete einen verhängnisvollen Triumph des Sakramentalismus.
Nichts daran war einfach falsch, aber zum Schaden für eine synodale Kirche wurde das notwendige Gleichgewicht zwischen „Wort“ und „Sakrament“ massiv gestört. Erst die Kommunikation bringt ja Prozesse und Entscheidungen auf den Weg. Erst sie ermöglicht Dialogräume und Partizipation, erkundet neue Wege, erst sie dringt auf ständige Erneuerung, während die Sakramente auf Endgültigkeit und Beständigkeit drängen, das Unwandelbare im Glaubensprozess betonen. Erst sie konkretisiert und schafft Öffentlichkeit, setzt Handeln in Gang und gestaltet Gemeinschaft. Sie lässt Veränderung, Pluralität und Geschichte entstehen. Sie lebt davon, dass Worte nie eindeutig und abschließend sind, sondern immer neue gemeinsame Wege eröffnen, im Gespräch zu neuer Teilhabe und Gemeinschaft führen. Unter dem Nenner der Synodalität zeigt das genannte Arbeitspapier dafür viele Beispiele. So könnte es wieder Brücken zu einem universalen Kirchenbild, also den Weg zu einem neuen Kirchenparadigma bauen, das die Zeichen der Zeit erkennt.
Sakramente und sakrale Ereignisse beleben hingegen andere Erfahrungswerte. Sie zeigen Gottes endgültiges Handeln und setzen das Heil in einer unüberbietbaren Vollendung gegenwärtig, bis hin zu ihrer dinglichen Fassbarkeit, etwa im reinigenden Wasser, in Brot und Wein. Das Heil der Getauften etwa ist unabänderlich besiegelt, in der Eucharistie der Auferstandene endgültig gegenwärtig. Die Grundsakramente (Taufe, Eucharistie, Sündenvergebung) besiegeln die Glaubenspraxis als Gottes definitives Werk und machen sie konkret erfahrbar, verleihen ihr eine heilige und unantastbare Würde. Sie nehmen die endgültige Erlösung vorweg.
So verwundert es nicht: In den machtorientierten Epochen (von Spätantike, Mittelalter und Neuzeit) wurde diese Sakralität des Endgültigen auf die kirchlichen Leitungsämter, schließlich auf das sog. „Grundsakrament“ Kirche übertragen. Die heilige, im Sakralen verankerte Würde garantierte Rechts- und Glaubenssicherheit, Stabilität in oft orientierungsarmen Zeiten. Man schuf mit höchst stabilen Lehr-, Leitungs- und Entscheidungsvollmachten eine Wahrheitsgarantie. So konnte sich die Machtfülle der kirchlichen Amtsstruktur bis hin zu den letzten Konzilien steigern und es verwundert nicht: faktisch verteidigen die amtlichen Verteidiger dieses Modells heute ihre eigenen machtvollen Privilegien. Ohne es zu wollen, wurden sie in den Augen vieler zu den Verteidigern nicht von kirchlichen, sondern von ihren eigenen Belangen. So berufen sie sich nicht auf zukunftsoffene, sondern auf verunsicherte Katholikinnen und Katholiken, die nach sicheren Orientierungen suchen. Diese Grundidee der geweihten, sich apostolisch nennenden Elite bedarf der Korrektur, wenn unsere Kirche wieder synodal werden soll. Das heißt: Diese Erneuerung der Kirche setzt eine Umkehr und Ergänzung der „geweihten“ Elite voraus.
Doch im genannten Arbeitspapier präsentiert sich dieses sakrale, auf Autorität zentrierte Modell gegenüber der synodalen Idee noch als uneinnehmbare Festung. Abstrakter formuliert: Dieser Text hat die Synodalität noch nicht ganzheitlich auf diese sakramentalen Aspekte, nicht auf die immer störende Dialektik von Sakrament und Wort hin durchdacht.
Das zeigt sich an verschiedenen Stellen, etwa beim undifferenziert autoritären Umgang mit Frauen [16, 17], beim un-synodal und beziehungslos gedachten „Vorsitz des Bischofs bzw. des Priesters“ in der Eucharistie [25], der etwas hilflosen Unterscheidung zwischen „Taufämtern“ und ordinierten Ämtern [29], der apologetisch sinnfreien Erklärung, nicht alle Charismen seien wirklich als Amt ausgestaltet (was sind sie nach Paulus denn sonst?) [31] sowie der klassischen These, dem Bischof komme eine ordentliche und unmittelbare Macht zu [38]. Es bleibt der Eindruck, wird könnten den Priestern unbedingt trauen. Zwar wird der Abschied von einer „pyramidalen Art der Autoritätsausübung“ erklärt, doch dieser Abschied beschränkt sich auf eine spirituelle, nicht auf die institutionelle Wirklichkeit [36]. Noch andere blinde Flecken ließen sich finden und bei allen stoßen die alte autoritäre und die neue synodale Welt aufeinander. Es ist also dringend geboten, dass das klassisch römisch-katholische Amtsmodell neu gedacht, umfassend in ein synodales Paradigma überführt wird, sodass sich die Widersprüche auflösen, die das ganze Projekt zerstören könnten.
Das wäre eine tragische Entwicklung, die unsere Wachsamkeit erfordert. „Du wohnst in einem Haus des Widerspruchs“, schreibt Ezekiel, „sie haben Augen zu sehen und sehen nicht, und Ohren zu hören und hören nicht; denn sie sind ein widerspenstiges Haus“ (12,2). Wir könnten diesen inneren Widerspruch als theologische Schwäche oder als menschliche Halbherzigkeit charakterisieren. Es gilt aber auch: Der Hl. Geist teilt sich weder einer in Macht erstarrten Hierarchie noch einer Kirche mit, die sich nur unentschlossen von dem distanziert, was sie vielleicht falsch gemacht hat. In diesem Fall kann kein neues Vertrauen von oben wachsen, weil das Vertrauen in die Basisfehlt, und das Synodenprojekt droht sein Ziel zu verfehlen. Bei ihrer letzten synodalen Zusammenkunft (4.-29. Oktober in Rom) haben auffallend viele Bischöfe in TV-Interviews von einer unmittelbaren Erfahrung des Heiligen Geistes in der Konferenzhalle berichtet, als ob sie ein neues Pfingsten erlebt hätten. Doch sie könnten einer mannigfachen Selbsttäuschung unterlegen sein, denn etwas Zurückhaltung und ein stilles Nachdenken von drei Minuten reichen für seine neue Ankunft wohl nicht aus. Umkehr braucht Zeit.
4. Ein realistisches Programm?
Das Reformprojekt, das Sie, verehrter Bruder in Christus, initiiert haben, ist gewaltig, wohl gewaltiger, als seine Organisatoren es sich vorstellen konnten. Es braucht nicht nur einen längeren Atem als geplant, sondern auch eine neue, konsequent synodale Methode, die sich nicht schon am Anfang in Widersprüche verfangen darf. Im Grunde benötigen wir jetzt schon Schlüsselentscheidungen, die dem Weg zur Synodalität allen Zwiespalt nehmen. Dazu gehören die vollgültige Partizipation von Frauen, die neutestamentliche Ent-Mythisierung des Priesteramts und die Wahl der Bischöfe nicht durch Rom, sondern durch die katholischen Frauen und Männer vor Ort.
Dennoch bleibt eine fundamentale Schwierigkeit: Es ist der Übergang von einer autoritär klerikalistischen zu einer partizipativen Kirchenpraxis. Denn auch an der Basis lässt sie sich nicht – wie jetzt vorgesehen – als Schnellprojekt verordnen. Einige von oben initiierte Beschlüsse und Planungskonzepte genügen nicht, auch wenn sie gut begründet sind. Die neue synodale Mentalität braucht Zeit, um dort zu entstehen, von wo aus sie wirken, sich von innen her organisieren muss. Sie kann nur mit Frauen und Männern beginnen, die das alte Format schon verlassen haben und zu Vorbildern der neuen Vision geworden sind. Zudem können die höchst unterschiedlichen Kulturräume unserer Weltkirche weder gleichförmig noch synchron voranschreiten. Signifikante Unterschiede müssen und werden bleiben, die unterschiedlichsten Kontexte vor Ort zu ihrem Recht kommen. In Fragen der Verkündigung, Liturgie, Frömmigkeit und sozialen Praxis wird eine explosive Vielfalt entstehen. Der Dialog der Kulturräume ist kein Kinderspiel, sondern in Begegnungen schmerzliche Realität sein. Der Konflikt des Paulus mit den Altaposteln von Jerusalem bietet dafür nur einen Vorgeschmack. Für das Finden erster Konturen benötigt diese weltweite Basisarbeit mindestens fünf Jahre. Erst dann können wir unsere ersten Modelle einander präsentieren, gegenseitig testen auf ihre biblische Verträglichkeit und einheitsstiftende Kraft. Direkte und indirekte Belehrungen, Steuerungen und Verbote sollten dabei keine Rolle spielen. Den römischen Behörden wird diese nachhaltige Zurückhaltung ebenso schwer fallen. Doch wie an Pfingsten der Geist schon in zwölf Flammen herniederkam, wird er sich jetzt millionenfach vervielfältigen.
Verehrter Bruder in Christus!
Ich möchte der römischen Zentrale keine Herrschsucht vorwerfen, doch ihr aktuelles Verantwortungshandeln vollzieht sich selbst dann noch im überholten autoritären Kontext, wenn es Synodalität einfordert. Sie sieht und übersieht doch das Entscheidende, den synodalen Vollzug. Man nennt Sie „Diener der Diener Gottes“; das ist kein Ehrentitel, sondern ein bindender Auftrag. Deshalb schlage ich vor: Lassen Sie die bestehenden, schon weltweit entstandenen Papiere kritisch prüfen von Frauen und Männern der Theologie, der Religionswissenschaften, der Seelsorge und der Sozialarbeit, die in den vergangenen Jahren den Mut hatten, dem autoritären römischen Handeln zu widersprechen und dafür sanktioniert wurden. Nehmen Sie ihre Reaktionen ernst und bitten Sie die Kirchengemeinschaften der einzelnen Kulturkreise, ohne Vorgaben ihre eigenen Visionen von einer partizipativen Kirche zu entwickeln. Diese Ergebnisse sollten für Sie und Ihre Behörden als kirchliche Traditionen im besten Wortsinn gelten, als die ersten Früchte ihres synodalen, d.h. einvernehmlichen Denkens und Handelns.
Dann wird sich zeigen, wie eine wirkliche Vielfalt wohltut, bereichert und dadurch eine reiche Einheit von Gleichgesinnten schafft. Wir brauchen afrikanische, asiatische, fernöstliche und lateinamerikanische Kontexte des Kircheseins, aber auch Regionen, die unsere globale (industrielle, wissenschaftliche und interreligiöse) Welt im Blick haben und mit viel Mut dieses ständige Neuland betreten. Es wäre töricht, ihnen Säkularismus, religionsfremde Aufklärung oder einen zügellosen Liberalismus vorzuwerfen. Auch ihnen gebührt das partizipative Vertrauen darauf, dass sie vom Hl. Geist geführt sind. Umgekehrt hat jeder Kontext, auch der lateinamerikanische wie der westeuropäische, seine blinden Flecken, die er in global synodaler Empathie selbstkritisch zur Kenntnis nimmt. Paulus scheute damals intensive Kontakte mit dem kleinasiatischen, dem jüdischen und dem weströmischen Kulturkreis nicht. Vor diesem Hintergrund wollte er, dem das Wort wichtiger war als die Sakramente, allen alles werden (1 Kor 9,22) und wagte selbst mit Kephas den Konflikt. Nur eine Kirche handelt wahrhaft synodal, wenn sie sich an diese innere Weite wagt.
Schluss
Vor wenigen Tagen wurde in Johannesburg die römisch-katholische Bischöfin Dr. Patricia Fresen zu Grabe getragen, die zuvor auf drei Kontinenten segensreich wirkte. Sie war eine eindrucksvolle, spirituell inspirierte und inspirierende, eine zutiefst kirchlich engagierte Frau. Bei Frauen und Männern vieler Länder nährte sie die Hoffnung auf eine erneuerte, eine partizipative Kirche. Viele hätten ohne ihr Wirken unsere Kirche schon längst verlassen. Doch im Nachruf war mit Schrecken zu lesen: Sie wurde von ihrer Kirche 39-mal exkommuniziert, und zwar als Folge ihres Kampfes um kirchliche Erneuerung. Diese absurde „Erfolgsgeschichte“ sollte allen, die Erneuerung suchen, zu denken geben. Solche Missstände sind unerträglich. Die Zeit drängt. Denn wer heute trotz vielversprechender Ankündigungen für Enttäuschungen an der Kirchenbasis sorgt, erhält keine reumütigen Untertanen, sondern leere Kirchen und zahllose Kirchenaustritte zurück. Bitte, handeln Sie!
Mit vertrauensvollen Grüßen im Geiste Jesu, unseres Bruders und Vorgängers im Glauben
Hermann Häring