Gegen den fremden und den eigenen Fundamentalismus
Der 7. Januar 2015, der Tag der Pariser Attentate, muss kein historischer Einschnitt sein, aber er verbietet es dem Islam und dem Christentum im west-östlichen Spannungsfeld endgültig, weiterhin die komplexen Probleme und Fragen zu verdrängen, die unser gegenseitiges Verhältnis vergiften und uns von Katastrophe zu Katastrophe schlittern lassen. Die Zeit der konstruierten Feind- und Idealbilder ist vorbei. Zwischen uns stehen reale Fragen, die wir schon längst miteinander, nicht gegeneinander hätten lösen müssen.
Ein hochexplosives Gemisch
Ich spreche hier nicht von Rechtssystemen, Lebensstilen oder Politik, auch nicht von den entwicklungs- und sozialpsychologischen Hintergründen junger Menschen; dazu fehlt mir die Kompetenz. Ich spreche vom Verhalten und Selbstverständnis der beiden Religionen. Als Christ verlasse ich mich auf den Koran, wenn er ausruft: „Wer hat eine schönere Religion als der, der sich völlig Gott hingibt und dabei rechtschaffen ist und der Glaubensrichtung Abrahams, als Anhänger des reinen Glaubens, folgt!“ (Sure 4, 125). Zugleich distanziere ich mich von allem christlichen Überlegenheitswahn, der in seiner Polemik gegen Andersdenkende nicht immer zimperlich war: „‘Der Hund kehrt zurück zu dem, was er erbrochen hat‘, und: ‚Die gewaschene Sau wälzt sich wieder im Dreck‘.“ (2 Pt 2,2). Dabei kommt mir die „Geheime Offenbarung“, also das letzte Buch des christlichen Testaments, in den Sinn, die sich an den schlimmsten, damals denkbaren Gewaltausbrüchen abarbeitet, und ich habe für mich noch nicht die Frage gelöst, ob sie nur die grausame Gewalt der Menschen entlarven oder Gottes noch schlimmere Rache androhen will.
Aktuelle Schreckensberichte zwingen alle abrahamischen Religionen zur Gewissenserforschung, zu der die Feststellung von Josef Joffe zwingt: „Wer in den heiligen Texten der drei ‚Buchreligionen‘ stöbert, wird finden, was er sucht: Anleitungen zum Glaubenskrieg und zur Grausamkeit. Die Geschichte quillt über von Eroberungszügen und Hetzjagden auf Andersgläubige.“[1] Der Gaza-Krieg im Sommer 1914 ist noch nicht vergessen, doch die massivsten Gewaltausbrüche kamen und kommen aus dem arabischen und iranischen Raum. Seit 1948 haben Muslime in ihren Konfessionskriegen an die zehn Millionen Glaubensbrüder umgebracht, Hunderttausende in den Bürgerkriegen in Algerien, im Libanon und in Syrien. Saddam hat 300 000 Landsleute ermordet; hinzu kommen seit 2003 100 000 tote Iraker. Dabei ist westliche Selbstgerechtigkeit unangebracht, denn die kontinuierlichen Eingriffe des Westens in vorderasiatische Länder greifen bruchlos in dieses Spiel des Todes ein.
Hinzu kommt die Gewaltgeschichte im Westen. Wir wissen um die Opfer von nine eleven (2001, über 1000 Tote), das wir lange als ein singuläres Ereignis verdrängten, um die Zuganschläge von Madrid (2004, insgesamt über 200 Tote) und das U-Bahn Attentat von London (2005, 56 Tote, über 200 Verletzte), um zahllose einzelne Morde in westlichen Ländern. Paris hat die Abgründe noch näher gerückt: Unsicherheit und Angst greifen um sich, wie man das diffuse Schlagwort von der Islamisierung Europas auch verstehen mag. Die Millionenauflage des Satireblatts Charlie Hebdo zeigt unsere Solidarität mit den Mordopfern und steigert die Wut in arabischen Ländern. Das aktuelle Gemisch von Brandauslösern und Brandbeschleunigern psychologischer, kultureller und politischer Art ist hoch explosiv. Zahllose Faktoren mögen dabei eine Rolle spielen.
Islamismus und christlicher Fundamentalismus
Ich beschränke mich auf zwei Begriffe, die aus interreligiöser Warte von Bedeutung sind: Islamismus und Fundamentalismus. In unserer Alltagsdiskussion gelten sie wie die Vorder- und Rückseite derselben Münze. Doch das ist ein gefährlicher Irrtum.
Unbestritten: ohne den Islam gäbe es keinen Islamismus, doch gäbe es auch ohne Zähne keine Karies; das spricht nicht gegen die Zähne.[2] Ebenso wie andere Religionen ist auch der Islam nicht ohne Kultur und Politik, nicht ohne Missbrauch und Perversionen zu denken. Der aktuelle Islamismus hat viel mit der jahrhundertelangen Demütigung zu tun, die der Islam durch westliche, also „christliche“ Mächte erfuhr. Zu seinen Wurzeln gehört die höchst profane Geschichte von Niederlagen und erlittener Gewalt, von politischer Missachtung und einem als Hilfe verbrämten Imperialismus in Ägypten oder Nordafrika, in Afghanistan und dem Irak. Im Jahr 2002 beschimpfte der Kriegstreiber George W. Bush Nordkorea, Iran und den Irak als „Achse des Bösen“, nachdem er ein Jahr zuvor zum Kreuzzug aufgerufen hatte. Eine Kennerin der Lage erklärt dazu: „Mit diesen Worten rekrutieren Terroristen ihre Leute; sie sagen, die Christen sind auf einem Kreuzzug gegen den Islam. … Das ist für ihre Ohren so schlimm, als wenn wir den Begriff Dschihad hören.“[3] Bush, von biblischen Motiven durchdrungen, gab seiner Intervention gegen den Irak eine religiöse Legitimation; entsprechende Gegenlegitimationen blieben nicht aus.
Der Westen hingegen erweckt mit dem Begriff Islamismus den Eindruck, der Islam an sich sei die zentrale Triebfeder der Gewalttaten, die letztlich politisch motiviert sind. Warum kein nahöstlicher oder arabischer, kein iranischer oder pakistanischer Terrorismus? Warum verdrängen wir, dass die meisten Biografien „islamistischer“ Gewalttäter im Westen von sozialer Ausgrenzung oder zerbrochenen Familien geprägt sind. „Fast alle“ sagt der Islamexperte Olivier Roy, waren „zuvor Kleinkriminelle, haben Haschisch geraucht oder Alkohol getrunken. Keiner hatte eine religiöse Vergangenheit.“ Auch für westliche Gewalttäter führt der Begriff des Islamismus also in die Irre.[4]
Ganz anders verhält es sich mit dem Begriff des Fundamentalismus. Außer bei den Baha’i ist er empirisch in allen klassischen Religionen zu Hause, auch im Hinduismus, im Buddhismus und bei den Sikhs. Was aber charakterisiert den Fundamentalismus in seinem Kern? Trotz vielfacher Überlappungen ist er nicht einfach mit gewalttätigen Auswüchsen gleichzusetzen, die religiös oder ideologisch, oft von einer Grauzone dazwischen motiviert sind. So verstanden wäre ein Fundamentalismus prinzipiell gewalttätig, wenigstens gewaltbereit.[5] Diese für den aktuellen Islam sehr ungünstige Definition ist verlockend, rückt dem Grundproblem aber nicht zuleibe und fördert angestammte christliche Ressentiments, die vor allzu viel Nachgiebigkeit warnen.[6]
Diesem Ansatz verwandt ist die These, Fundamentalismus entstehe, sobald sich eine Religion politisiere, also aktiv in die Politik eingreift, sich „radikalisiert“[7]. Dieses Kriterium führt nicht weit, denn die Ideale von Entpolitisierung und weltferner Innerlichkeit unterdrückt einen politischen Impuls, der allen, den monotheistischen Religionen ausdrücklich zu eigen ist. Die Politiknähe einer Religion ist von ihren Zielen und Methoden her zu bewerten.
Weiter führt der Hinweis, dass Begriff und Phänomen des Fundamentalismus ein typisches Phänomen der Neuzeit ist und auf typisch neuzeitliche Verunsicherungen (Aufklärung, Einfluss der Wissenschaften, Komplexität der Gesellschaft) reagiert. Auch der islamische Fundamentalismus entstand durch den Einfluss westlicher Staaten und Lebensformen.[8] Sie waren nicht einfach anders, sondern stellten die religiösen Grundlagen der betroffenen Religionen zutiefst in Frage. Man denke an die nichtchristlichen Religionen in den ehemaligen Kolonien (seit dem 19. Jahrhundert) und Mandatsgebieten (seit 1920). So entstand ein muslimischer Fundamentalismus in den Stammlanden des Islam und in Ägypten, nicht zu vergessen die Widerstände, die in Ländern wie Syrien, Libanon, Palästina, dem ehemaligen Transjordanien oder dem Irak[9] allmählich wuchsen und sich verdichteten, ganz zu schweigen von einem entsprechenden Fundamentalismus, mit dem Hinduismus, Buddhismus und die Religion der Sikhs im fernöstlichen Raum infiziert wurden. Dass immer auch ein antiwestliches Ressentiment diese außerchristlichen Bewegungen begleitete, bedarf hier keiner näheren Begründung und macht auch verständlich, warum der iranische Schiitismus 1979 durch Chomeini geradezu über Nacht das Signal zu einer massiven antiwestlichen Politisierung des Islam setzte. Schon ein Blick auf diese Ausprägungen des Fundamentalismus zeigen: Er ist nicht die Folge bestimmter gewaltnaher Religionen, sondern der natürliche Bruder einer Religion und Religiosität im Augenblick ihrer Verunsicherung.
Christlicher und religiöser Fundamentalismus
Dies lässt sich an der Herausbildung des katholischen Fundamentalismus zeigen, der bis heute den treffenden Namen Antimodernismus trägt. Im 19. Jahrhundert führten massive innere Verunsicherungen zu einer in Lehre, Disziplin und Kirchenstruktur streng organisierten Kirchlichkeit, an der die römisch-katholische Kirche bis heute leidet.[10] Man kann von einem äußerst erfolgreichen, strukturgewordenen Fundamentalismus sprechen.[11]
Der evangelische Fundamentalismus, mit dem zugleich der Begriff geprägt wurde, beginnt mit den Jahren 1910-15 in den Südstaaten der USA. Voraus gehen bei evangelischen Gemeinschaften eine massive ökonomische und eine innere Verunsicherung, als sich historische Bibelkritik von den Nordstaaten her zum ersten Mal Gehör verschafft und einen Grundsatzstreit um die Reinerhaltung des Glaubens provoziert. Jetzt beginnt eine aufgeschreckte Gruppe zu definieren, welche fundamentals den unaufgebbaren Kern des christlichen Glaubens ausmachen:[12] Die paradigmatische Bedeutung dieser Fundamente war bald klar. Es ging um eine Schriftauslegung, die sich aller Kritik widersetzte und in ein tiefes Misstrauen gegen ungefähr alle natur- und humanwissenschaftliche Theorien eingebettet war, die das neue Weltbild bestimmen. Dabei ähneln sich in frappanter Weise jüdische, christliche und muslimische Positionen. Sie alle wehren sich mit Leidenschaft gegen den Verlust und die Verwässerung des überkommenen Glaubens.
Warum führt ausgerechnet der fundamentalistische Islam heute zu diesem Übermaß an Gewalt? Man sollte zuvor fragen: Warum übten frühere Jahrhunderte im Namen des christlichen Glaubens ein Übermaß an Gewalt aus? Warum die Sachsenkriege Karls des Großen, die Kreuzzüge, der Dreißigjährige Krieg und die Christianisierung nichtchristlicher Völker im Schatten ihrer Kolonialisierung?[13] Warum hat niemand die Shoa verhindert und gingen vom „christlichen“ Europa zwei Weltkriege aus? Heute kann das Christentum West- und Mitteleuropas von Glück reden, dass sich die Aufklärung, ein demokratisches Selbstbewusstsein und ein moderner Menschenrechtsdiskurs mit Gewissens- und Religionsfreiheit prinzipiell durchgesetzt haben. Bevor wir den Islam pauschal verurteilen und den Islamismus als seine natürliche Folge wahrnehmen, muss uns unsere christliche Erfahrung zur Zurückhaltung ermahnen. So ist bei Pauschalbeurteilungen einer jeden Religion höchste Vorsicht geboten. Dagegen möchte ich an einige meist übersehene Aspekte erinnern.
Zum einen sehe ich unter den Weltreligionen keine guten und weniger guten Werte-, Glaubens- oder Ritualsysteme.[14] Eine jede hat ihre leitende Kernerinnerung und Kernbotschaft, vielleicht eine leitende kulturelle Einfärbung; sie alle bleiben hochkomplexen Zusammenhängen unterworfen. Sie können Opfer von Entfremdungen werden und sich regenerieren. Zum andern sind real existierende Religionen so gut und so schlecht wie diejenigen, die sie mit Leben füllen und ausüben. Empirisch gesehen haben Religionen zwar Utopien und Visionen, aber keine objektiv unverrückbaren Qualitäten vorzuweisen.
Zum andern haben alle Weltreligionen (auf die ich mich hier beschränke) ein unvergleichliches Vermögen. Sie berühren die innersten Tiefenschichten eines Menschen, ihre Qualität als Person, ihr Interaktionsvermögen zwischen Ich und Du, ihre Fähigkeit zu Begegnung und Dialog. Nach aller Erfahrung gewinnen religiöse Traditionen Zugang zu einer Tiefenschicht, in der menschliche Identität und Freiheit erst geboren werden. Deshalb können sich Menschen in dieser Tiefenschicht auch grundsätzlich verweigern. Jede Religion birgt diesen dämonischen Schatten in sich. Zwar disponieren Religionen zu Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Liebe, zur Fähigkeit der Hingabe oder einer recht verstandenen Unterwerfung, aber sie liefern keinen Automatismus für diese Tugenden, weil eine jede Tugend erst in der Begegnung Gestalt gewinnt. Mehr noch, diese Grundhaltungen sind so sublim und unserem direkten Zugriff entzogen, dass Menschen sie von innen her zu einem tödlichen Egoismus und arroganter Besserwisserei verkehren können. Ich nenne dies den religiösen Fundamentalismus, der in allen Religionen als die große Gefahr lauert.
Die Wurzeln des Fundamentalismus lassen sich nur von dieser Fundamentalentscheidung her angemessen begreifen. Wir können sie an der Wiege des christlich-protestantischen Fundamentalismus gut beobachten. Verunsicherte Menschen wollen sich ihrer religiösen Wurzeln versichern, indem sie sich diese Wurzeln verfügbar machen, verwechseln also den Geist mit den Buchstaben, blenden die Fragen einer neuen Gegenwart und die Begegnung mit Mitmenschen aus, verweigern den Dialog. Im Kern des Fundamentalismus geht es keineswegs darum, zu Gewalt aufzurufen oder sie zu legitimieren; sie ist nie die erste Wahl. Angesichts der überall einbrechenden Moderne lautet die alles entscheidende Frage: Lasse ich mich auf die beunruhigenden gesellschaftlichen und kulturellen Herausforderungen ein? Treten wir mit der Moderne in ein Gespräch ein, oder reagieren wir mit einem grundsätzlichen Misstrauen, sodass die eigene Glaubenstradition unversehens zu einer dialogunfähigen und unbeweglichen Gegenwelt mutiert? An sich hat eine solche Grundverweigerung nichts mit Religion zu tun, aber Religionen berühren auch diese Grundverweigerung, weil sie einen umfassenden Sinnhorizont mobilisieren. Sie vitalisieren existentielle Leidenschaft und fordern Treue zur eigenen Erfahrung. So wird in unserer Epoche eine jede Religion, die diesen Ehrentitel verdient, von der Gefahr des Fundamentalismus begleitet, weil wir Menschen eben den Zwiespalt unserer Freiheitsentscheidungen in uns tragen. Der Fundamentalismus gehört zur Geschichte aller Religionen und je nach den Umständen wird er zu offener Gewalt pervertiert.
Gewaltspuren und Überforderung
Deshalb können es auch Muslime ohne Angst vor Verurteilung und Selbstverurteilung zugeben: Trotz seiner enormen Friedfertigkeit hat auch der Islam eine massive Gewaltgeschichte und viele unterhalten zum Koran ein fundamentalistisches Verhältnis. Wir hoffen auf einen Euro-Islam, aber der Weg der Öffnung wird schwer sein. Noch heute bestrafen die Saudis einen Islamkritiker mit 1000 Stockhieben, ohne dass der Weltislam protestiert, und kann in Pakistan ein Vater seine sexuell selbstbestimmte Tochter straflos zu Tode steinigen, ohne dass ihre muslimischen Schwestern weltweit aufschreien. Auf missliebige Autoren werden Kopfgelder ausgesetzt, ohne dass jemand die Absetzung dieses blutrünstigen Mullahs fordert. Mit solchen skandalösen Rechtsgrundsätzen und Praktiken identifizieren sich dann Terroristen und Selbstmordattentäter in ihrem abgeleiteten Fundamentalismus, der mit religiösen Motiven nur noch wenig zu tun hat. Das Christentum kennt immer wieder eine zur Routine gewordene Gewalt. Der den Streit befriedenden Aufklärung jubelten unsere Kirchen im 18. Jahrhundert nicht gerade zu, noch heute herrscht oft ein distanziertes Verhältnis.
Der römische Katholizismus hat mit großem Nachdruck eine zum Fundamentalismus verhärtete Glaubenslehre und Glaubensdisziplin hervorgebracht. In keiner anderen christlichen Gemeinschaft ist der Fundamentalismus so tief in die Amts- und Organisationsstrukturen eingedrungen. Deshalb wird sie vom säkularen Pluralismus bis heute nicht belebt, sondern zutiefst verunsichert. Benedikt XVI. hat diese Haltung in die verräterische Formel von der „Diktatur des Relativismus“ gefasst.[15]
So verwundert es nicht, dass auch die aktuelle muslimische Gewaltwelle ihre Vorbilder im Christentum finden kann. Analog zum modernen „Islamismus“ könnten wir dieses Phänomen „Christianismus“ nennen. Zwei Beispiele aus der Kreuzzugsepoche zeigen erstaunliche Parallelen.
Beispiel 1: Bernhard von Clairvaux rief 1147 zum zweiten Kreuzzug auf. Der rhetorisch hochbegabte Kampfeskünder löste damit Begeisterung aus. „Gott will es!“, war seine große Losung. In der berühmten 4. Predigt legitimierte er die Tötung der Muslime zur moralisch guten Tat. Ewigen Lohn versprach er allen, die in der Schlacht gegen die Muslime fallen.[16] Unterscheidet sich diese Ideologie von derjenigen der Selbstmordattentäter? Erst nach dem Scheitern der Kreuzzugsidee setzte eine kritische Reflexion über Sinn und Unsinn kriegerischer Gewalt ein. Diese Erinnerung gehört zu einer fairen Kritik, auch wenn sie eindeutig ausfallen muss.
Beispiel 2: Der aktuelle Aufbruch junger Menschen zum IS-Staat erinnert an den bis heute rätselhaften „Kinderkreuzzug“ (1212). Tausende von jugendlichen, besitz- und hoffnungslosen Menschen machten sich zu einer plan- und ziellosen Pilgerfahrt nach Jerusalem auf. Offensichtlich schufen ihre religiös-weltliche Utopien ein neues Gemeinschaftsgefühl und maßlose Begeisterung. Der „christianistische“ Fundamentalismus von damals stand dem aktuellen „Islamismus“ in nichts nach. Wer zudem muslimische Täter unbesehen als islamistisch qualifiziert, kann nur wenig der Behauptung entgegenstellen, Antisemitismus und Nationalsozialismus seien die radikale Ausgeburt einer christlich begründeten Menschenverachtung.
Natürlich darf diese Kritik nicht zum masochistischen Selbstzweck verkommen. Noch weniger macht sie die Arbeit der Kultur- und Sozialpolitik, der Pädagogik und der Sicherheitsorgane überflüssig. Aber nur unter selbstkritischen Voraussetzungen und in einer gesprächsbereiten Atmosphäre können sich die Verantwortlichen nüchtern auf die Frage konzentrieren, wie die Gewaltzirkel beherrschbar werden. Zugleich müssen die Religionen ohne alle Selbstgerechtigkeit einen Prozess mentaler Entgiftung initiieren. Ein christlicher Umgang mit dem Islam kann sich nicht auf die Belehrung muslimischer Mitbürger und auf die Verurteilung muslimischer „Hassprediger“ kaprizieren. In den entscheidenden religiösen Fragen sitzen wir im selben Boot. Es zwingt uns zur äußeren und inneren Solidarität. Denn niemand von uns kann der abgründigen Paradoxie der real existierenden Religionen ausweichen.
Obwohl sich das Christentum von Anfang an als Religion der Nächstenliebe definiert, der Islam unbestritten als Religion der Barmherzigkeit gilt und sich alle Weltreligionen in wenigen grundlegenden Weisungen verständigen können[17], gewinnen in ihren Krisenzeiten andere Kräfte die Oberhand. Der Grund für diese Perversion liegt nicht in den Religionen und ihrer Botschaft, sondern in Menschen, die dieser Religion Gestalt geben. Sie umgeben das religiöse Angebot mit angsterfüllten, engstirnigen Filtern. Christentum und Islam versagen immer dann, wenn ihre Gläubigen den Dialog blockieren, sich aus existentiellen Ängsten anderen Überzeugungen nicht mit Kopf und Herz stellen. Sie flüchten sich in Selbstgerechtigkeit, Überheblichkeit und Mangel an Empathie. Diese Haltungen wuchern schließlich – immer unter religiösen Vorzeichen – aus in Verachtung und Benachteiligung, in Gewalt mit ihren monströsen Folgen.
Innere Haltung und äußeres Verhalten lassen sich nicht trennen, auch das ist in den religiösen Traditionen klar. Schon wer im Herzen Mitmenschen verachtet, ist ein Mörder (1 Joh 3,5), wer Schwester oder Bruder als Dummkopf beschimpft, verfällt dem göttlichen Gericht (Mt 5,22). In diesem Sinn lesen wir im Koran, Allah liebe die Rechtschaffenen, die „ihren Groll unterdrücken und den Menschen verzeihen“ (Sure 3, 133f). Zeitgenössisch formuliert geht es darum, angesichts der Gegenwartsprobleme einander zu hören, zu vernehmen und in diesem Sinne Vernunft walten zu lassen. Für jeden gesprächsoffenen Menschen ergibt sich das schon aus einer vernünftigen Wahrnehmung der Welt. „Wer einmal in der Hölle war“, so eine in Auschwitz überlebende Jüdin, „weiß, dass es zum Guten keine Alternative gibt.“[18]
Rationale Zeitanalysen bleiben unverzichtbar, aber Religionen haben mehr zu leisten. Sie können sich nicht zornig auf abstrakte Konstrukte versteifen wie individualistische Moderne oder säkularisierte Kultur, unbarmherziger Kapitalismus oder glaubensloser Westen. Weiter hilft auch keine hochmütige Kritik am rückständigen Orient oder einem unaufgeklärten Islam, an seiner zurückgebliebenen Wirtschaft oder vorwissenschaftlichen Kultur. Wer den Forderungen von Bibel und Koran folgt, entdeckt hinter diesen Konstrukten konkrete Menschen mit konkreten Fragen. Dazu gehören deren Demütigungen, ihre Enttäuschungen und ihre Scham. Sie lassen sich nicht mit nüchternen Diskursen, sondern nur in respektvoller Annäherung besprechen. In dieser Treue zum konkreten Menschen beruht die Stärke von Religionen, auch wenn sie uns alle Machtmittel aus der Hand schlägt. Deshalb sind Juden, Christen und Muslime, aber auch Hindus, Buddhisten und Sikhs konstant überfordert. Wir alle müssen überfordert sein, damit wir nicht meinen, unsere Aufgabe sei irgendwann erledigt.
Wer ist Charlie wirklich?
Am 7. Januar 2015, diesem Unglückstag, trat die satirische Zeitschrift Charlie Hebdo in den Mittelpunkt des christlich-muslimischen Interesses. Erst wurde sie zum Eckstein westlicher, dann zum Prüfstein interreligiöser Solidarität. Neben allem demokratischen Freiheitspathos des Westens symbolisiert sie auch eine zur Stilform geronnene Verhöhnung religiöser Lebensformen und Überzeugungen. Die meisten Anzeigen gegen diese Zeitschrift wurden bislang nicht von Muslimen, sondern von katholischen Kreisen lanciert. Wer diese Diskrepanzen auflösen will, sieht sich schnell mit fundamentalen Unterschieden zwischen der westlich säkularen und nicht-westlichen, religiös bestimmten Kulturen konfrontiert. Dies ist die dritte Symbolebene, für die Charlie Hebdo inzwischen steht. Wer schlüssige Lösungen sucht, muss den gordischen Knoten nicht durchschlagen, sondern entflechten. Wie ist das möglich?
Dazu ist alles Wichtige gesagt, außer dem Einen, wofür eine religiöse Grundhaltung die Augen öffnen könnte: Wir sind blind geworden für die Verletzungen unserer Kontrahenten und die damit verbundenen tiefen – kulturellen, politischen, sozialen ‑ Beschämungen. Ein Großteil der Christen ist noch immer auf Identität und Seelenheil fixiert. Der einst explosive Rechtfertigungsgedanke Martin Luthers verkümmerte vielfach zu einer wehleidig ichbezogenen Gottessuche, statt zur leidenschaftlichen Bejahung Anderer zu befreien. Mehr denn je beharrt der Katholizismus mit 1,3 Mrd. Mitgliedern auf einer erstarrten Kirchenstruktur, statt sich in aller Leidenschaft von einem solidarischen Weltinteresse leiten zu lassen. Angesichts dieser religiösen Mängel kann sich die europäisch arabische Gewaltspirale ungehemmt weiterdrehen. Die Resignation und Trostlosigkeit dieses religiösen Elends findet kein Ende.
Diese religiöse Krise spiegelt sich im unbarmherzigen Spiel um die Karikaturen, die vor und nach dem 7. Januar erschienen sind. Mit guten Gründen hat Frankreich in ihnen demokratische Freiheiten verteidigt. In diesem Augenblick wurde auf Inhalt und Qualität nicht geachtet, denn auch eine Religion hat, sofern sie Machtansprüche erhebt, Spott und Gelächter zu ertragen. Aus globaler Perspektive ergeben sich allerdings Fragezeichen, weil sich viele Kulturen in ihrer religiösen Unmittelbarkeit auf diesen Code kritischer Verständigung nicht einigen können. Für Muslime gerät das Freiheitspathos zum verhöhnenden Sadismus. Welche Institution bringt in diesem ausweglosen Konflikt die Souveränität auf, die Perspektive zu wechseln, und in einer international hochbrisanten Situation, um eines interkulturellen Friedens willen, für diesen Fall auf die Ausübung unbestreitbarer angestammter Rechte zu verzichten, weil sich damit ein weiterer Kreislauf der Gewalt besänftigen ließe? Aus interkultureller Perspektive steckt in der Losung Je suis Charlie noch immer ein unaufgeklärter Rest. Der Triumph der Freiheit entpuppt sich als Lust an der Verhöhnung. Eine Aufklärung über die Aufklärung, wie sie die Frankfurter Schule schon vor 60 Jahren einforderte, ist unabdingbar. Solange dies nicht geschieht, symbolisiert dieser Karikaturenstreit nur das Rad der bleibenden Missverständnisse, das sich durch moralische Appelle und politische Maßnahmen nicht anhalten lässt.
Aufgabe der Religionen kann es nicht sein, über diesen Streit eindeutig zu urteilen, sondern dessen Gründe aufzulösen. So greife ich noch einmal auf das Grundproblem des Fundamentalismus zurück: Es geht darum, in der religiösen Tiefenstruktur unserer Identität lernwillig und gesprächsfähig zu bleiben. Es geht um Freiheit und Heil, Wut und Resignation, Scham und Versagen, Verletzung und Heilung, Visionen der Gerechtigkeit und der Rettung. Sie verschaffen sich in den Symbolsprachen der Religionen wirksamen Ausdruck. Wer sie verarbeitet, hat einen Weg zu seinem Selbst gefunden, dies geschieht aber nur im Dialog mit Anderen.
In der aktuellen Situation, um Streit also um die Begegnung von Christentum und Islam in Europa, stehen eine aus Enttäuschung und Scham geborene Wut und Verzweiflung zur Debatte. Solange Islam und Christentum als die geheimen Hauptakteure dieses Großkonflikts ihre Versöhnungsarbeit nicht leisten, kommen wir keinen Schritt voran. Deshalb müssen christliche und muslimische Gemeinschaften vor Ort, ihre Argumentations- und Meinungsbildner in der Öffentlichkeit diese Versöhnungsarbeit mit Leidenschaft aufnehmen und vorantreiben. Wir müssen Begegnungen organisieren und auf gleicher Augenhöhe über Versagen und Möglichkeiten beider Seiten streiten.
Wir müssen uns nicht nur tolerieren, sondern uns leidenschaftlich umarmen: als Nachkommen Adams, als die vom Ertrinken gerettete Familie Noahs, als die von Gott geleiteten Töchter und Söhne Abrahams, dessen Nachkommen Sarah und Hagar geboren haben. So können wir unsere Geschichten, Differenzen und Verletzungen endlich als gemeinsame Familiengeschichten begreifen und besprechen. Kirchenleitungen und Gemeinden, Bildungshäuser und Theologen sollten die Ersten sein, die sich auf den Weg machen, die vielen bestehenden Projekte in die Öffentlichkeit tragen und neue entwickeln. Dabei müssen wir auf verfügbare psychologische, soziale und gesellschaftspolitische Kompetenzen zurückgreifen. Entscheidend ist aber unsere gemeinsame religiöse, wenn nicht gar abrahamische Kompetenz, die ganz selbstverständlich unsere jüdischen Schwestern und Brüder mit einschließt. Wir sind Charlie mit seinen ermordeten Redakteuren, wir sind aber auch die im Supermarkt ermordeten Jüdinnen und Juden und wir stehen in Hochachtung vor dem muslimischen jungen Helden, der Menschenleben gerettet hat.
in: Religions for peace. Informationen RfP/Deutschlan 92/2015, 10-19
[1] Josef Joffe, Fluch der Ideologie. Schuld an der islamischen Gewalt trägt nicht ein Kampf der Kulturen, sondern eine Kultur des Kampfes, DIE ZEIT vom 15.01.2015, S. 6.
[2] Christian Ehring am 22.01.2015 in der Wiwaldi-Show.
[3] Yvonne Haddad, Professorin für Islamgeschichte an der Georgetown Universität in Washington, in der FAZ vom 18.09.2001.
[4] Nancy und Maya Yamout interviewten im berüchtigten Roumieh-Gefängnis von Beirut 20 wegen Terrorismus verurteilte junge Männer. Keiner kam aus einem intakten Elternhaus. Alle haben sich Ersatzväter gesucht und fanden sie in Osama Bin Laden oder in Abu Bakr al-Badhdadi, dem Chef der IS. Vom Islam haben sie nur sehr oberflächliche Kenntnisse (Spiegel-Online vom 10.12.2014).
[5] Hans G. Kippenberg, Gewalt als Gottesdienst, München 2009.
[6] Ulrich Greiner, Freiheit hat ihren Preis, DIE ZEIT vom 22.01.2015, S. 52.
[7] Wolfgang Wippermann, Radikale Strömungen in den Weltreligionen, Freiburg 2013.
[8] Karen Armstrong, Im Kampf für Gott. Fundamentalismus in Christentum, Judentum und Islam, München 2004.
[9] Die Korrespondenz mit der Moderne trifft nur bedingt auf den Wahhabismus zu, dessen Wurzeln schon im 18. Jahrhundert zu suchen sind. Sein Gründer, Abd al-Wahhab entwickelte seine Lehre ab 1731.
[10] Hans Küng, Ist die Kirche noch zu retten?, München 2011; Hubert Wolf, Krypta. Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte, München 2015.
[11] Hermann Häring, Versuchung Fundamentalismus. Glaube und Vernunft in einer säkularen Gesellschaft, Gütersloh 2013.
[12] (1) Irrtumslosigkeit der Bibel, (2) Gottheit Jesu Christi, (3) Jungfrauengeburt und Wunder, (4) Erlösungstod Christi, (5) seine Auferstehung und Wiederkunft zum Letzten Gericht. Bald kam eine wörtliche Auslegung der Schöpfungsgeschichte in Konfrontation mit Darwins Evolutionstheorie hinzu.
[13] Karl-Heinz Deschner, Kriminalgeschichte des Christentums, insgesamt 9 Bände (Hamburg 1986-2013), zitiert zu Beginn seiner Einleitung in das Gesamtwerk G. Ch. Lichtenberg: „Im Namen des Herrn segnen, im Namen des Herrn brennen, modern und dem Teufel übergeben, alles im Namen des Herrn“ (Band I, S. 11). Dieses Zitat soll hier nicht den christlichen Glauben oder das Christentum an sich belegen, sondern zeigen, welches erschreckende kollektive Gedächtnis die real existierenden Kirchen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erzeugt hatten. (Deschner zitiert aus F. H. Mautner [Hg.], G. S. Lichtenberg, Sudelbücher, Frankfurt 1984, S. 423). Ebenso wenig sei Deschner als Gesamtbeschreibung der Christentumsgeschichte zitiert, sondern als ein Forscher, der die kriminelle Gewaltseite des Christentums unwiderleglich dokumentiert.
[14] Zum Normen- und Wertediskurs hat das Projekt Weltethos hinreichend für Deutlichkeit gesorgt.
[15] Das Wort prägte der damalige Kardinalsdekan Joseph Ratzinger am 18. April 2005, einen Tag vor seiner Wahl zum Papst. Dadurch erhielt es programmatische Bedeutung.
[16] „Gewiss, die Ritter Christi schlagen guten Gewissens die Schlachten ihres Herrn, fürchten dabei keine Sünde beim Tod der Feinde, keine Gefahr bei ihrem eigenen Tod, denn der Tod wird für Christus zugefügt oder erlitten; daran klebt kein Verbrechen, vielmehr höchster Ruhm wird erworben. Gewinn erbracht wird für Christus beim Töten, beim eigenen Tod wird Christus gewonnen, denn er nimmt gerne den Tod des Feindes zur Rache an, noch lieber gewährt er sich dem Ritter zum Trost. Ein Ritter Christi, sage ich, tötet mit sicherem [gutem] Gewissen, noch sicherer [ruhiger] stirbt er. Er nützt sich selbst, wenn er stirbt, nützt Christus, wenn er tötet. Denn nicht ohne Grund trägt er das Schwert: Gottes Diener ist er nämlich zur Rache für die Übeltaten und zum Lob der guten Taten.“ (De laude novae militiae [Lob auf das neue Rittertum], Cap III, 4; SBO III, 217; BvC SWI, S. 276f; hier zitiert aus Sources Chrétiennes, Nr. 367 (Paris 1990), S. 58). Die Predigt 4 wurde 1146 in Vézeley gehalten.
[17] In dieser Entdeckung liegt die epochale Leistung des Projekt Weltethos.
[18] Gesendet am 27.01.2015 anlässlich des 70. Gedenktags der Befreiung aus den dortigen Konzentrationslagern durch das russische Militär.