Wenn jemand eine Reise tut …

Predigt zu Christi Himmelfahrt

1. Wenn jemand eine Reise tut , dann kann er was erzählen

Dieses Motto gilt nicht nur für unsere Urlaubsreisen, vielleicht über den Atlantik, nach Fernasien oder aus alter Gewohnheit ans sonnige Mittelmeer, nach Italien oder Griechenland. Das Motto gilt auch für die Lebensreisen, die wir allein oder zusammen mit anderen unternehmen. Genauer müsste man sagen: Wenn jemand eine Reise getan und sie abgeschlossen hat, dann ist es Zeit, Bilanz zu ziehen. Dann hat sich eine Lebensgeschichte gerundet und geht in die Erinnerung der Nachkommen ein. Ich möchte etwas über die Hoffnungen und Schicksale unserer Lebensreisen sagen. Den Anlass dazu gibt mir das Fest der Himmelfahrt Christi, das wir heute feiern.

Wir gedenken heute seines Abschieds von dieser Erde. Endgültig entzieht er sich unseren Blicken und Lukas, sein engagierter Biograph, zieht eine letzte Bilanz. Alles sei gemäß den Schriften, d.h. gemäß Gottes Willen verlaufen, sodass er jetzt zur Rechten Gottes Platz nehmen kann. So lautet sein entscheidender Kommentar. Ansonsten reduziert Lukas diese Abschiedsgeschichte auf ein Minimum. Keine gewaltige Inszenierung wie bei Elischa mit feurigem Wagen, schnaubenden Rossen und machtvollem Sturmwind. Kein vorausahnender Himmelsblick wie bei Stephanus, der seine Mörder so empörte. Mit seinen Jüngern begibt sich Jesus zu einem seiner früheren Lieblingsorte Bethanien. Dann geht alles schnell und ohne Pathos. Jesus „erhob seine Hände, segnete sie und wurde zum Himmel emporgehoben. Sie fielen vor ihm nieder.“ Doch zwei weißgekleidete Männer holen ihre Blicke zurück: „Was steht ihr da und schaut zum Himmel empor?“ Sie kehrten um nach Jerusalem, um jetzt selbst zu handeln, die Nachfolge in ihre eigenen Hände zu nehmen, ihren eigenen Weg zu gehen.

Ist das nicht zu viel der Reduktion? Hätte Lukas diesen Abschied nicht feierlicher gestalten können? Nicht unbedingt, denn die Evangelien verarbeiten Jesu Tod ja in drei Botschaften, die zusammengehören.

Die Osterbotschaft bespricht ‑ im Gestus des Protests und ganz kontrafaktisch ‑ die Überwindung von Jesu Tod; es gibt eine Liebe, die stärker ist als dieser Tod; dennoch bleibt der Tod noch Gegenwart.

Die Pfingstbotschaft rückt – zukunftsgerichtet und im Gestus der Hoffnung ‑ die bleibende Wirkung Jesu in den Mittelpunkt; dennoch ist die Weltgeschichte noch unentschieden.

Die Botschaft der Himmelfahrt bringt ‑ bei all dem enthusiastischen Überschuss ‑ die widerständige Tatsache eines leiblichen Abschieds, das physische Verschwinden Jesu zur Sprache. Er ist nicht mehr da und hinterlässt eine Lücke. Er fehlt den Jüngern, denen nichts anderes übrig bleibt, als ab sofort ihre eigenen Lebenswege zu gehen. Steht nicht herum, nehmt euer Leben in die Hand. Nachfolge ist jetzt weder Mit- noch Nachmacherei, sondern eigene Lebensgestaltung. Jetzt wird es eure Reise sein.

Damit unterstreicht Lukas, der gleich zweimal über diesen Lebensabschluss berichtet, dass Auferstehung und Geistsendung diesen endgültigen Abschied nicht relativieren können. Ihm, der recht unfrisiert über die ersten Probleme und Konflikte der jungen Bewegung berichten wird, ist das offensichtlich wichtig. Die Hinterbliebenen haben ihren eigenen Weg zu gehen. Es geht darum, dass wir unsere eigenen Menschenleben in die Hand nehmen und es dem maßgebenden Vorbild gleichtun. Ein jedes Menschenleben hat seine eigene würdevolle Geschichte und ein Anrecht darauf, dass die Zeugen dieses Lebens später etwas Gutes zu erzählen haben. Irgendwann steht dieser Abschied einem jeden Menschenleben bevor. Dann geht es in die große Lebensgeschichte der Menschheit ein und erhält einen Platz unter all den Namen, von denen in der zukünftigen Welt berichtet wird.

2. Das Risiko der Lebensreisen

Es geht an diesem Tagen auch um die Lebensreisen der Menschen. Die biblische Tradition kennt viele Lebens-Läufe, Reisen also, freudige Aufbrüche und schmerzvolle Auszüge. In ihnen spiegelt sich die Lebensform der israelitischen Nomaden, die nicht aus Abenteurerlust, sondern aus Überlebensgründen die Weidegründe durchzogen. Abraham zieht gemäß den Erzählungen Tausende von Kilometern durch vorderasiatische Wüstenräume, die Söhne Jakobs kämpfen sich aus Gründen des Hungers, also als „Wirtschaftsflüchtlinge“ nach Ägypten durch. Das ganze Volk bricht auf, um den ägyptischen Macht- und Kulturraum zu verlassen. Als „politische Flüchtlinge“ entziehen sie sich der Unterdrückung. Eine Generation lang schlagen sie sich zum Land ihrer Träume durch, das – mehr illusionär als in Wirklichkeit – „von Milch und Honig fließt“. Gemäß der Einleitung zum jüdischen Glaubensbekenntnis war der Stammvater Israel „ein umherirrender Aramäer“ – Martin Luther übersetzt selbst zeitgemäß: „Mein Vater war ein Syrer und nahe dem Umkommen und zog hinab nach Ägypten und war daselbst ein Fremdling mit geringem Volk.“ (5 Mos 26,5) Die Christinnen und Christen der AfD sollten sich das hinter die Ohren schreiben.

Selbst die Himmelsreise Jesu weckte nicht nur freundliche Assoziationen. Man lese nur die Geheime Offenbarung, um zu ermessen, wie es zugehen kann im Himmel der jüdischen Vorstellungswelt, der von der kosmischen, lebensgefährlichen Wasserhülle des Firmaments umgeben ist, die zu Noachs Zeiten die Menschheit schon einmal an den Rand des Untergangs brachte.

Das alles sind höchst aktuelle Geschichten, denn sie erinnern an jenen ergreifenden Bericht vom 28. Februar 2016, den Francesco Montenegro (der für Lampedusa zuständige Erzbischof von Agrigent) den deutschen Bischöfen in Schöntal vortrug. Welche Lebens-, wenn nicht gar Todesreisen, und welche Kontraste! Für uns, die aus dem Norden kommen, so Montenegro, bietet das Mittelmeer Orte der strahlenden Sonne, der Erholung und Entspannung, der luxuriösen Kreuzfahrtschiffe und Jachten. Doch für die Menschen, die aus dem Maghreb und aus zentralafrikanischen Ländern kommen, ist das Mittelmeer ein Ort höchsten Risikos, für Viele werden die überladenen Boote und versagenden Motoren zum „flüssigen Grab“. Im vergangenen Jahr haben in ihm zwischen 25.000 und 40.000 Menschen (Männer, Frauen und Kinder) ihr Leben verloren. Die Schicksale der Ertrinkenden in der Ägäis kommen hinzu. Trotz dieser Todeserwartungen sprechen die Betroffenen von „Reisen der Hoffnung“, weil die Hoffnungslosen sie aus nackter Verzweiflung antreten. Denn wenn sie diese Reise ihres Lebens nicht wagen, erwartet Viele von ihnen genauso der Tod oder ein Leben, das diesen Namen nicht verdient. Gefragt, ob sie diese Reise überhaupt gut zu Ende bringen können, wissen sie keine Antwort. Aber sie haben keine andere Wahl. So wird das Meer für sie zum Symbol der weltweiten Ungerechtigkeit, deren Opfer sie sind. Diese Reisen werden zum Symbol einer zynisch erbarmungslosen Welt.

Dennoch bleibt die Lebenserwartung dieser Flüchtenden unzerstörbar; auch dies symbolisiert das Mittelmeer, das schon lange zum mare nostrum, zu „unserem gemeinsamen Meer“ der Opfer und der möglichen Retter geworden ist, von uns allen, die sich aus ihrer Verantwortung für das Geschehen nicht herausmogeln können. Niemand weiß, wie diese tödliche Bewegung zu stoppen ist. Niemand, sagt Francesco Montenegro, „kann den Wind aufhalten und niemand kann die Träume dieser Menschen aufhalten. Wir aber müssen endlich unsere Verantwortung dafür anerkennen und auf uns nehmen.“ Denn noch schlimmer ist das Los derer, die erfolglos zurückkehren. Sie sind zu Besitzlosen geworden, traumatisiert, von ihren Familien oft ausgestoßen, denn jetzt ist das Elend noch größer als zuvor.

3. Ziel der Lebenswege

Wo enden diese Lebensreisen und was für Reiseerzählungen in Richtung Europa gehen in die Menschheitsgeschichte ein? Ist deren Ziel, der vermeintliche, trügerische Himmel Europa, wirklich erreichbar? Oder geraten die Schutzsuchenden und Fliehenden nur in einen Mechanismus von ständigen Hindernissen? „Du kommst bei der ersten Zahlstelle an,“ sagt Montenegro, „dann musst du dein Ticket ziehen, musst dafür etwas bezahlen. Dann kommt die nächste Zahlstelle. Da ist wieder jemand, der dich deine Rechnung bezahlen lässt, und wenn du alle Zahlstellen überwunden hast, dann schaffst du’s vielleicht. Aber viele kommen eben gar nicht so weit.“

Ich breche hier ab. Wir alle können die Erzählungen mit täglichen Medienberichten fortsetzen. Viele – leider auch Christinnen und Christen – meinen noch immer, sie könnten noch wegschauen und angesichts der 5 Millionen mit uns lebenden Muslime uns immer noch mit der scheinheiligen Frage ablenken, ob der Islam zu Deutschland gehört. Gut 800.000 Mitbewohner aus dem afrikanischen Raum kommen hinzu. Weltweit waren 2015  255 Millionen Menschen unterwegs. Wie wollen wir unsere eigenen Lebensgeschichten mit den Lebensgeschichten dieser Verlorenen in Einklag bringen? Lassen sie sich angesichts der Lebensgeschichte Jesu überhaupt voneinander trennen?

Als ich mit der Predigtvorbereitung begann, nahm ich mir vor, darüber zu reden, dass das Reiseziel Jesu, von dem Lukas heute berichtet, natürlich unser aller Lebensziel ist. Gewiss, Jesu Lebensweg endet in Frieden und Erfüllung und wir hoffen, dass unsere Lebenswege in den Frieden Gottes münden. Ich möchte mir diese Hoffnung nicht nehmen lassen; angesichts der biblischen oder muslimischen Botschaft, aber auch angesichts anderer religiöser Heilsvisionen habe ich dazu kein Recht. Das gibt uns aber nicht das Recht, uns aus der Verantwortung zu stehlen.

Dennoch frage ich mich, welchen fürchterlichen Missklang wir in den Himmel tragen, wenn dort all diese katastrophalen Reiseskripte verlesen werden, die wir – direkt oder indirekt – mitgeschrieben haben. Nicht als ob sie alle, diese Verlorenen, Vergessenen oder bewusst Ignorierten ihr Reiseziel verfehlen könnten. Das wird nicht geschehen. Gott ist ein Vater der Verlorenen; dessen können wir uns gewiss sein. Aber ob und wie wir diesen Kindern, Frauen und Männern offen ins Gesicht schauen können, deren Lebensläufe vorschnell zerstört, in diese Gräber des Mittelmeers, der Ägäis, der Verlassenheit gestoßen wurden, darauf habe ich im Augenblick keine Antwort. Denn was bleibt von den schönen Skripten unserer christlichen, bürgerlichen, wohlsituierten Lebensreisen übrig, wenn sie mit den Lebenstexten dieser Geschundenen in Berührung kommen, von ihnen angefressen und in ein hässliches Licht gerückt werden? Die Antwort auf diese Frage fehlt mir auch im Jahr der Barmherzigkeit, das gerade gefeiert wird. Mir wird zu viel geredet von einer Barmherzigkeit, die sich selbst lobt, statt von einer Barmherzigkeit, die wir anderen gewähren sollen, also zu wenig von einer Barmherzigkeit, auf die auch wir in diesem Augenblick der Weltgeschichte angewiesen sind.

Gewiss, Gottes österliche Heilsmacht ist allemal stärker als der Tod, auf den Geist Gottes und Jesu können wir auch in Zukunft hoffen. Doch diese Hoffnungsaspekte können unser Versagen angesichts unserer öffentlichen Verantwortung nicht ungeschehen machen; wir müssen sie verantworten. Wir sind uns dessen gewiss, dass Gottes Gnade gerade den Geschundenen zugute kommt. Da kann ich nur sagen: Gott sei auch uns gnädig, die wir aus der Seite der Gewinner stehen. Sonst Gnade uns Gott. Amen.