Katholischer Antisemitismus Verantwortung und Reaktionen

„Wir erleben eine Zeitenwende und das bedeutet, dass die Welt danach nicht mehr dieselbe ist wie die Welt davor.“ Diese Worte des Bundeskanzlers vom 27. Februar 2022 klingen nach und es fällt auf, wie oft sie seitdem zitiert wurden. Was manche damals für ein pathetisches Politikerwort hielten, andere aus historischen oder weltanschaulichen Gründen heftig kritisierten, das hat sich inzwischen allzu sehr bewahrheitet und es kann ruhig offen bleiben, ob wir diese Ansage nicht schon früher hätten hören sollen. Denn wie sich inzwischen zeigt, ist noch mehr aus den Fugen geraten. Das politische und wirtschaftliche Weltgefüge ordnet sich neu, die religiöse Landkarte des Westens gestaltet sich um. Die USA schlittern wohl erneut in gefährliche politische Turbulenzen. Die EU zeigt wachsende Risse und weltweit geraten demokratische Staatssysteme in die Defensive. In der BRD – auch hier aus höchst komplexen Gründen – verliert die Politik immer mehr an Vertrauen.

„Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“

1. Die Barbarei

Seitdem die Hamas am 7. Oktober vom Gaza-Streifen aus in das israelische Staatsgebiet einfiel und barbarisch wütete, durchzog ein neuer Schrecken die Weltpolitik. An diesem Schwarzen Schabbat griff sie in Israel über 1200 ahnungslose Israelis und Nicht-Israelis, jüdische und nicht-jüdische Menschen hinterrücks an, um sie zu foltern und zu vergewaltigen, zu enthaupten oder zu verbrennen, in jedem Fall zu ermorden. Selbst Kinder und Säuglinge fanden keine Schonung. Mehr als 5.400 Menschen wurden verletzt. Die Bilder des Grauens, von den Tätern selbst aufgenommen, wurden im Triumph und zur Demütigung im Internet veröffentlicht. Nach aktuellem Stand nahm die Hamas zudem 250 Menschen als Geiseln. Bewusst hat sie Zivilisten, feiernde, wehrlose und unvorbereitete Menschen getötet. Nach 1945 wurden noch nie so viele Jüdinnen und Juden zum Opfer eines Massakers. Diese Katastrophe wird nach israelischer Überzeugung als ein schwarzer Tag in die Geschichte des Landes eingehen.

Doch der Aufschrei anderer Länder gegen diese Brutalität hielt sich in Grenzen. Im Gegenteil, eine antiisraelische und antijüdische Stimmung brach sich Bahn, so als hätte man sagen wollen: Geschieht euch recht! In arabischen bzw. muslimischen Ländern erreichten die antijüdischen Demonstrationen bisweilen hysterische Ausmaße. Selbst in London kamen 100.000 Demonstrierende zur Israelkritik zusammen. Auch in anderen westlichen Ländern, Deutschland und Österreich zumal, häuften und häufen sich verdeckt und offen antisemitische Stimmen und Aktionen. Durch arabische Mitbewohnerinnen und Mitbewohner hat sie sich massiv verstärkt. Sie alle seien hier nicht aufgezählt.

Im Gedächtnis blieb mir die gespenstische Rede des slowenischen Philosophen Slawoj Žižek vom 17. Oktober, die meine Emotionen hochtrieb. Ausgerechnet in der Frankfurter Paulskirche, in dem Land also, aus dem der Tod ein Meister war, ließ er diesem elementaren Erschrecken keinen Raum; für eine Analyse der Hamas-Gräuel nahm er sich keine Zeit. Zu früh und zu unvermittelt drosch er empathielos und undifferenziert auf die Politik des Staates Israel ein, so als wolle er – trotz gegenteiliger Behauptung – den Terrorismus der Hamas eben doch in einem Augenblick rechtfertigen, an dem es nichts zu rechtfertigen gab. Denn er griff auf keine der wichtigen Unterscheidungen zurück, mit deren Hilfe man das komplexe Geschehen nur einordnen kann, sei es zwischen dem Judentum und dem Staat Israel, zwischen dem Existenzrecht dieses Staates und seiner aktuellen Politik, zwischen jüdischen Befürwortern und kompromisslosen Gegnern Netanjahus, zwischen den Bewohnern Palästinas oder des Gazastreifens und der Hamas, zwischen den jüdischen Jüdinnen und Juden jeden Alters, die zusammen mit Palästinenserinnen und Palästinensern schon seit Jahrzehnten an einer gegenseitigen Versöhnung arbeiten und den unseligen Scharfmachern, darunter jüdischen Siedlern, die die alten Schriften für ihre Besitzansprüche fundamentalistisch missbrauchen. Gegen diese atemlose Vermengung von politischen Taten und Untaten, von Motiven des Hasses und der Empathie, von verifizierbarem Faktenwissen und allgemeinen Verschwörungstheorien reagierte schon das Publikum in der Paulskirche mit Protesten und das war gut so. Doch Žižek brachte eine weit verbreitete israelkritische Stimmung ans Licht, ein heilloses Chaos von ungefiltertem Gerechtigkeitswillen und bodenlosem Hass, das – wenigstens in Deutschland – nur wenige vermuteten. Noch schlimmer war wohl das „dröhnende Schweigen“ und die sympathielosen Analysen, die Angehörige des Judentums in Deutschland vernahmen. So dass sie ihre Kippas verbargen und ihre Kinder nicht mehr in die Schule schickten. Der Dichter Durs Grünbein (*1962) beschrieb ein Entsetzen über die Verdrehungen: „Ungeheurlich, diese Kälte“ (SZ v. 12.11.23). Wie bei Kafka wird jede Aussage gedreht und gegen die Juden gewendet, so G. Doliwa. Was war, was ist da los?

2. Antisemitismus

„Antisemitismus“ lautet das Schlüsselwort, das die Diskussion vorantreibt und für Entzweiung sorgt. Global umfasst dieses (in sich falsche) Kunstwort alles Verhalten, alle Haltungen und Theorien, die jüdische Mitmenschen befeinden, ihre kulturellen und religiösen Traditionen diskriminieren, wenn nicht gar zum allgemeinen Judenhass anleiten. Antisemitismus zeigt sich in unterschiedlichster Intensität, von brutalem Vernichtungswillen bis zu kühler Distanz. Er wird in verschiedensten Begründungsformen weitertransportiert, von kollektiv-diffusen Erinnerungen bis zu scheinrationalen Machtanalysen. Er kann diverse Motivationsbündel schnüren, von persönlicher Aversion und gesellschaftlichem Neid über ein nachgeholtes anti-koloniales Engagement bis hin zu anonymen Klischees, die unerwartet sogar in asiatischen Kulturräumen auftauchen, wie sich 2022 in Kassel zeigte, wo diskriminierende Juden- und Nazisymbole gemeinsam erschienen. Gibt es bei uns nicht einen indirekten und verdeckten Antisemitismus, einen auffallenden Empathiemangel, der sich nun unerwartet in breiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit zeigt?

Von enormer Bedeutung sind noch immer die religiös gespeisten Giftquellen, die in Christentum und Islam zu Hause sind; darauf komme ich später zurück. Präsent sind auch die überlieferten, geradezu standardisierten Angstprojektionen und Verschwörungsmythen aus der europäischen Geschichte, die alles Jüdische wegen seiner Andersheit verurteilen, die man diesem Volk, stets als minderwertige Minderheit präsentiert hat, im Mittelalter und in der Neuzeit Europas, auch unter muslimischer Herrschaft aufgezwungen hat. Es waren bei uns diejenigen, die außerhalb der Stadtmauern leben mussten, keiner Zunft beitreten durften und keinen Grundbesitz erwerben konnten, denen man in Zeiten des Zinsverbotes gerne die Finanzwelt überließ und über deren finanzielle Erfolge man sich später mächtig aufregte. Sie, die in vergangenen Jahrhunderten regelmäßig als Brunnenvergifter, Kindermörder, zumindest als hinterhältige Händler beäugt wurden, sie übersäte man nach ihrer gesellschaftlichen Emanzipation im 19. Jahrhundert umso brutaler mit Missgunst und Neid, als sie sich als leistungsfähig erwiesen. Man gönnte ihnen keine Erfolge[1]. Bald galten sie – in bewährter Kontinuität mit vormodernen Zeiten – als die Feinde der Weltgesellschaft. Nachdem sie sich in Wirtschaft und Wissenschaft nur mit höheren Leistungen durchsetzen konnten, dichtete man den Erfolgreichen unterirdische und volksschädliche Machenschaften an. So galten sie buchstäblich als die raffgierigen Finanzmagnaten und Parvenus im Großbürgertum, als Diamantenbosse und Kunstbesitzer, die sich ihren Reichtum nur durch Volksdiebstahl zusammenrafften. Der Geldsack des Judas mit seinen 30 Silberlingen war schon lange ihr Symbol. Auf solch tödliche Vorurteile konnten die Nationalsozialisten in der Pogromnacht von 9. November 1938 und beim späteren Genozid in den KZ’s aufbauen. Seit vielen Generationen und in zahllosen Klischees waren (und sind wohl) solche moralischen und politischen Vorurteile in den Köpfen vieler verankert und sie lebten nach 1945 weiter, gerade weil man sie öffentlich tabuisierte.

3. Verdrängtes Gedächtnis

Weniger bekannt sind vielleicht die Geschichten und Mythen, die man auch nach 1945 noch in dörflichen Verhältnissen kolportierte. Der damals älteste Bewohner meines Heimatdorfs, ehemals ein hoch angesehener Bürger (begüterter Bauer, anerkannter Dorfwirt mit Theatersaal, zeitweise Bürgermeister und lange Zeit Feuerwehrkommandant) kaufte von den seit 400 Jahren ansässigen jüdischen Händlern des Nachbarorts regelmäßig seine Pferde, das Vieh und die Tabakwaren für seine Gaststätte. Seine jüdischen Geschäftspartner waren oft in seiner Wirtschaft zu Gast. Doch jetzt berichtete er uns Kindern ungeniert, wie er beim Viehkauf ständig betrogen und übervorteilt wurde und wie diese „Juden“ (die plötzlich keine Namen mehr trugen) immer mit Sonderwünschen kamen und absichtlich seine Klosetts verschmutzten. Seine Frau erklärte uns, jüdische Männer hätten regelmäßig die „christlichen Jungfrauen“ vergewaltigt und ihr Mann habe öfters in das für sie bereitete Mahl gespuckt. Warum, so unsere Kinderfrage, blieb er trotzdem ihr Geschäftspartner und warum erteilte er ihnen kein Hausverbot? Darauf hörten wir keine Antwort, sondern nur weitere unterirdische Geschichten, in denen sich die Mischung von Ablehnung und Faszination, von Interesse und schlechtem Gewissen noch mehr verschwisterten. Zu später Stunde etwa wurden am Stammtisch öfters die Zaubersprüche des Sechsten und Siebten Mosebuchs gelesen (die man für jüdische Produkte hielt). Eines Nachts hätten vermummte Gestalten vor dem Wirtshaus mit großen Besen die Straße gekehrt und die Stammtischbrüder so in Angst und Schrecken gejagt, dass sie diese Judenbücher nie mehr anschauten.

Vom 10. November 1938, als die Synagoge des Nachbarorts zerstört und jüdische Mitbürger übel verprügelt wurden, hörten wir Kinder nichts. Auf meine Kinderfrage einige Jahre später, wo denn „die Juden“ hingegangen seien (im Oktober 1940 nach Gurs, Südfrankreich deportiert), hörte ich nur, sie seien „verschwunden“. Mehr wusste niemand zu berichten. Das große Schweigen begann und setzte sich Jahrzehnte fort. Es dauerte Jahrzehnte, bis im Nachbarort diese Geschichte des Entsetzens aufgearbeitet wurde und in Wikipedia nachzulesen ist.

Warum erzähle ich diese zufälligen, vielleicht belanglosen Anekdoten? Weil sie so belanglos gar nicht sind und weil man sie in der Gegend noch heute kennt. Auch heute verfehlen sie nicht ihre Wirkung, ebenso wenig wie die Berichte von früheren Bezeichnungen, die man heute so nicht mehr benutzen dürfe, aber dennoch lustig findet: „Judenfürze“ für kleine Knallkörper oder „Juden verbrennen“ für das große Feuer, mit dem in einem katholischen Nachbarort während der Osternacht vor der Kirche die verdorrten Grabkränze des Friedhofs abgefackelt wurden. Man weiß rational, dass das alles nicht in Ordnung war, aber diese Wortwahl weckt auch heute keinen Abscheu und viele junge Menschen ziehen daraus auch heute noch – mehr unbewusst als rational – die Lehre, die auch ich als Kind gezogen hatte: So grausam die Judenvernichtung auch war, ganz grundlos kann sie nicht gewesen sein; zugleich hätte sie nicht geschehen dürfen.

Deshalb gehen Verdrängung und Relativierung im Unbewussten noch heute Hand in Hand und dieser Kreislauf könnte nur durch ein offensives emotionales Gegenengagement, etwa mit wirksamen empathischen Gegengeschichten oder durch konsequente Begegnungen durchbrochen werden. Andernfalls dreht er sich toxisch weiter, wenn auch anonymer (und umso empathieloser), da jede Erinnerung an diese Verbrechen ein höchst unangenehmes schlechtes Gewissen wachruft. Natürlich will niemand ein Menschenfeind, auch kein Judenfeind sein. Doch viele transportieren das Gefühl (dass mit den Juden etwas nicht stimme, gleich ob sie oder wir dafür die Schuld tragen) auch in die Gegenwart und dieses Gefühl wird etwa durch die israelische Siedlungspolitik und die rechtsextreme Härte der Regierung Netanjahu verstärkt, obwohl seit Monaten ein Großteil der israelischen Bevölkerung seiner Politik Widerstand leistet. Dieses höchst verwickelte Dilemma, nur selten genau ausformuliert, wirkt sich verheerend aus. Je weniger man sich von solchen Vorbehalten leiten lassen will, umso gründlicher werden die unangenehmen Emotionen mit ambivalenten Gefühlen tabuisiert. Wer kann ohne innere Friktionen jüdischer Verhalten kritisieren und zugleich Celans Todesfuge lesen? Die Fachwelt spricht von einem „Entlastungs-Antisemitismus“, der mit dem allem nichts mehr hören kann und zu tun haben will, da wir genügend anderes zu ertragen haben. Diese Tabuisierung war bis in die 1968er Jahre die Hauptkrankheit nicht nur in Deutschland und Österreich, sondern bis 1965 auch die Hauptkrankheit der römisch-katholischen Kirche und in beiden Institutionen hat sie damals nicht aufgehört, sie wurde vielmehr verdrängt.

Von nur geringem Wert scheint mir die Unterscheidung zu sein zwischen einem Antijudaismus, von dem sich die Kirchen durch die Jahrhunderte leiten ließen, und dem Antisemitismus, von dem erst seit dem 19. Jahrhundert die Rede ist. Denn faktisch richtete sich auch der Antijudaismus gegen die gesamte jüdische Kultur und seine Menschen. Auch er kann christliche Aversionen nicht verharmlosen, denn das Judentum stand in jedem Fall im Fadenkreuz der Ablehnung. Dass sich hingegen bis heute der an sich falsche Begriff des „Antisemitismus“ halten konnte, diese Begriffswucht zeigt nur, dass die Judengegner – Begrifflichkeit hin oder her – immer schon genau wissen, wen sie im Visier haben. Bis heute kommt ihnen der leicht verschleiernde Effekt des Begriffs nur zugute, da er so schön universal und wissenschaftlich klingt.

4. Das unreflektierte christliche Erbe

Wie wir wissen, reicht Kritik am Judentum bis in die Antike zurück. Grund dafür war wohl die schon frühe prophetische, also die politik- und machtkritische Dimension dieser einzigartigen Tradition, die sich fremden Göttern und Machthabern nie unterwarf. Ob sie so zur ersten Religion mit einem exklusiven Wahrheitsanspruch wurde, sei dahingestellt; diese von Hugo Assmann behutsam vorgetragene Diskussion sei hier nicht weiter verfolgt. Unbestreitbar ist allerdings: Die Kritik am Judentum erreichte eine gefährliche, bis heute virulente Dimension, nachdem das Christentum seinen jüdischen Wurzelgrund verließ, sich im 4. Jh. mit dem römisch-byzantinischen Machtsystem verband und den monotheistischen Wahrheitsanspruch in einen politischen Machtanspruch übersetzte. Mit seiner Einbettung in den spätantiken Cäsarismus war die Tragik des jüdischen Volkes bis in die Gegenwart vorgezeichnet. Hinfort galt es als defizitär, ungläubig und gottesmörderisch; in christlichen Augen war es mit dem Blut des Gottessohnes gebrandmarkt. „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“ ist eines der schicksalsträchtigsten Worte der Evangelien.

Was sich durch Jahrhunderte hin immer in Wellen der Judenverfolgung zeigte, hat im nationalsozialistischen Genozid seinen brutalsten Tiefpunkt erreicht. Die konkrete Geschichte von Diskriminierung und Ghettoisierungen, von Aggressionen und Pogromen (russisch = Demolierung, Zerstörung, Verwüstung), von sozialer und wirtschaftlicher Verelendung, von politischer sowie religiöser Unterdrückung, Verfolgung und Ausrottung, diese Geschichte lässt sich bis heute nicht durch die Erfolgsgeschichten vereinzelter jüdischer Familien oder Gruppen aufwiegen. Das weiterwuchernde Brandmal führte im Kulturbruch der Shoa zur schlimmstmöglichen Vernichtungsorgie der uns bekannten Weltgeschichte. Durch diese Geschichte bleibt das jüdische Schicksal für immer auf die tödliche Judenideologie der christlichen Kirchen bezogen, durch diese Vernichtungsgeschichte gezeichnet.

5. Katholische Verirrungen

Beschränken wir uns im Folgenden auf die Fehleinschätzungen und Diffamierungen durch die römisch-katholische Kirche. Ich erinnere mich an das beschämende Schauspiel, das das 2. Vatikanum (1962-65) beim Umgang mit dem geplanten Dekret über die Juden bot. Was man später als großen Durchbruch anpries, war die stark geschwächte und peinlich ausgedünnte Version, mit der die Vorkämpfer einer jüdisch-katholischen Aussöhnung ursprünglich antraten. Sitzungs- um Sitzungsperiode wurde eine vorgesehene „Erklärung über die Juden“ blockiert. Man zögerte sie hinaus und integrierte sie auf der letzten Sitzung in die Erklärung zu den nichtchristlichen Religionen insgesamt (Nostra aetate, 1965). Trotz gegenteiliger Beteuerung wurde die christliche Sonderstellung des Judentums minimiert. Erst 1993, also 28 Jahre später, legte man für diplomatische Beziehungen zwischen dem Vatikan und dem Staat Israel die Grundlagen.

Angesichts dieser offenkundigen Distanz und des anhaltenden Schweigens thematisierte Hans Küng in seinem Buch Die Kirche (1967) die christliche Schuldgeschichte gegenüber dem Judentum (später wird er sie noch ausführlicher analysieren). Er behandelte sie nicht nebenbei, sondern als konstitutiven Teil eines systematischen Kirchentraktats und erhielt prompt einen schweren Tadel von Julius Döpfner (gest. 1976), dem damals als liberal geltenden Münchener Kardinal. Die Strategie, die auch bei anderen Fällen gehandhabt wird, war klar: Zum Schutz des kirchlichen Ansehens ist früheres Versagen möglichst unter den Teppich zu kehren. Die Tabuisierung des nationalistischen Genozids passte ohnehin in den damaligen Konsens der westdeutschen und österreichischen Öffentlichkeit. Erst allmählich kamen die kirchlichen Geschichten des Versagens ans Licht. Paradigmatisch dafür ist die zähe Diskussion um das zweideutige Verhalten Pius XII. Erst seit kurzem sind die einschlägigen vatikanischen Archive zugänglich.

Auch andere Beispiele ließen sich anführen. Besonders am Tübinger Dogmatiker Karl Adam (1876-1966) lässt sich die Ambivalenz der damaligen Theologie demonstrieren. Lucia Scherzberg lieferte eine vorzügliche Analyse seiner nationalistischen Theologie (Karl Adam und der Nationalsozialismus, 2011/22023). Er zählte sich zu den reformorientierten Theologen, war im katholischen Raum nicht nur während der Nazizeit hochgeachtet, sondern blieb es auch nach 2011, als in Tübingen die „Karl-Adam Straße“ unter dem Druck der Entdeckungen in „Johannes-Reuchlin-Straße“ umbenannt wurde. Walter Kasper pries ihn noch 1974 als Erneuerer der kirchlich-dogmatischen Christologie. Der emeritierte Weihbischof Hans Kreidler rühmte 1993 seinen „christozentrischen Durchbruch“. Selbst noch im Jahr 2007 zählte J. Ratzinger/Benedikt XVI. Adam zu den immer noch maßgeblichen Jesusinterpreten. Wofür war man blind?

Karl Adam schwebte für den deutschen Sprachraum eine menschennahe Erneuerung des Glaubens vor Augen, vielleicht zu Recht. Doch faktisch wurden für ihn das Deutschtum und das arische Blut zum normativen Kontext dieser Reform, die ihn zur Bejahung des Nationalsozialismus führte und von dem (so Adams Theorie) die übernatürliche Gnade verschont blieb. In seinem einflussreichen Jesusbuch (1933, 81945) rühmte Adam an Jesus das „Gesunde, Kraftbeschwingte, Disziplinierte“ seiner Erscheinung. „Das Heldische ist ihm das Selbstverständliche.“ Ihn ziere das „zielklar Männliche, das durchgreifend Wahrhaftige, das herb Aufrechte“. Überhaupt sei er eine „Herrennatur“. In einem programmatischen Vortrag von 1939 stellt er dann die Vereinbarkeit von kirchlicher Lehre und den Positionen des Nationalsozialismus fest. Dafür erhielt er die begeisterte Zustimmung von auffallend vielen Kollegen, unter ihnen auch Michael Schmaus und der noch junge Alfons Auer.

In Zusammenarbeit mit Kollegen versuchte er später, gut antisemitisch, die arische Abstammung Jesu zu begründen, doch mit nur mäßigem Erfolg. 1943 wählte er dann einen anderen, höchst absurden pseudo-dogmatischen Weg: „Es ist dieses Dogma von der immaculata conceptio [unbefleckten Empfängnis] Mariens, welches alle böswilligen Fragen und Klagen, als ob wir in Jesus trotz all seiner Vorzüge einen ‚Juden-Stämmling’ erkennen müssten, in katholischer Sicht zu einer völlig abwegigen Frage macht. Denn es bezeugt uns, dass Jesu Mutter Maria in keinerlei physischem und moralischem Zusammenhang mit jenen hässlichen Anlagen und Kräften stand, die wir am Vollblutjuden verurteilen. Sie ist durch Gottes Gnadenwunder jenseits dieser jüdischen Erbanlagen, eine überjüdische Gestalt. Und was von der Mutter gilt, gilt umso mehr von der menschlichen Natur ihres Sohnes.“

Das monströse Zitat offenbart nicht nur ein bizarres Biologieverständnis, sondern auch das tief eingesessene Ressentiment gegen das jüdische Volk und den jüdischen Glauben, das offensichtlich seinen Anhängern auch später noch eingeschrieben ist, sonst hätten Adams Verwirrungen auffallen müssen. Genau besehen bleibt der klassischen Dogmatik ja ein Distanzgebot eingeschrieben. Wenn nämlich Jesus Christus seiner Natur und seinem Wesen nach (so der entscheidende Glaubenssatz) der einzige, der einzig wahre Sohn Gottes ist, dann sind nichtchristliche Religionen, die jüdische eingeschlossen, der christlichen untergeordnet; ein Dialog mit ihnen ist nur bedingt möglich. Zudem wird die Kreuzigung Jesu prinzipiell zum abscheulichsten Kapitalverbrechen der Weltgeschichte. Diese Auffassung prägt auch Joseph Ratzinger. Gemäß seiner päpstlichen Anordnung werden die Juden in der Osternacht zwar nicht mehr als „perfide“ beschimpft, doch die katholische Kirche erwartet, dass sie sich bekehren: dass „Gott ihre Herzen erleuchte, damit sie Jesus Christus als den Heiland aller Menschen anerkennen.“

Kein Affront also, aber ein Überlegenheitsanspruch wird zum Ausdruck gebracht. Jedenfalls verbirgt sich dahinter die undurchsichtig-doppeldeutige Grundhaltung des Christentums, das durch die Jahrhunderte das Judentum nicht ausrotten, aber kleinhalten, als inferior kennzeichnen wollte. In schweren Konflikten stand ohnehin das Bild von den Gottesmördern bereit, die Gottes Fluch zu ertragen hätten. Sie wurden zum Ahasver, der Jesus verjagte und deshalb ruhelos auf der Erde umherirren muss.

Nicht als ob dieser Fluch noch immer propagiert würde, auch sind nur noch in fundamentalistischen Kreisen judenfeindliche Predigten zu hören. Judenkritik ist also seit einigen Jahrzehnten verstummt, doch sie wird kaum offensiv, proaktiv und öffentlichkeitswirksam widerlegt. Die Würde des Kreuzesopfers scheint es zu verhindern. Noch im Jahr 2019 weigerte sich Kardinal Lehmann, zusammen mit dem muslimischen Schriftsteller Navid Kermani den Hessischen Kulturpreis zu empfangen, weil dieser die muslimische Ablehnung des Kreuzes zur Sprache brachte (und zugleich hinterfragte). Er könne nicht mit Kermani auftreten und zugleich das Kreuz in der jährlichen Karfreitagsliturgie verehren. Dieser Vorfall zeigt, wie diese Judenkritik auch eine fundamentale Kritik am Islam einschließt.

6. Was ist zu tun?

Hans Küng schrieb 1991 eine höchst umfangreiche, ungeheuer detailreiche Monographie über das Judentum (Das Judentum). Er sparte nicht mit kritischen Anfragen, doch eine vorbehaltlose und empathische Geschwisterschaft mit dem Judentum stellte er nicht in Frage. Im Sinne seiner biblisch und historisch verantworteten Christologie schlug er vor, gemäß den biblischen Zeugnissen die klassische Dogmenbildung von der Menschwerdung Christi zu revidieren. Damit würde der tote Punkt im jüdisch-christlichen Gespräch überwunden, die entscheidende Blockade für eine fundamentale jüdisch-christliche Verständigung aus dem Weg geräumt. Leider hat dieser Vorschlag im offiziellen katholischen Raum ebenso wenig ein Echo gefunden wie in den Veröffentlichungen des in Rom maßgeblichen Kardinal Walter Kasper. Kaspers Aufruf, den Hass in Liebe zu verwandeln, klingt zwar heroisch, überwindet aber nicht die unversöhnliche dogmatische Trennmauer, die über eineinhalb Jahrtausende das Schicksal des jüdischen Volkes mitbestimmte.

Dennoch hat Kardinal Kasper für eine geschwisterliche Vision einige bedenkenswerte Aspekte entwickelt (Juden und Christen, 2020). Er benennt vielfältige Anregungen von jüdischen und christlichen Autoren gerade des 20. Jahrhunderts, auch zukunftsfähige Initiativen, die seit den 1960er Jahren entwickelt wurden. Nachdrücklich mahnt er Erinnerung an vergangenes Unrecht und Umkehr an. Zugleich thematisiert er auch das Schweigen der Öffentlichkeit bei zahllosen antijüdischen Aktionen. 1993 erklärt er in Erinnerung an die Pogromnacht von 1938: „Wir haben es heute mit einer besonders gefährlichen Form vom Gleichgültigkeit zu tun: einer Gleichgültigkeit, die weiter und tiefer reicht als der Ohne-mich-Standpunkt; einer Gleichgültigkeit, die abgründiger ist als die Meinung, man müsse sich nur aus konkret miterlebtem Unrecht heraushalten, um nicht daran teilzuhaben. Es ist jene Haltung, die nicht nur gegenüber diesem Negativen gleichgültig bleibt, sondern auch gegenüber dem Positiven, dem Guten; jene Selbstgenügsamkeit, die sich auf den eigenen Standpunkt zurückzieht und ihn zum archimedischen Punkt der eigenen Lebensgestaltung erhebt …“ (83). Wie recht er hat! Warum aber bezieht er diese Kritik nur allgemein auf „dieses Land“? Steht es denn mit seiner eigenen Kirche besser? Schließlich betreffen das viel zitierte „dröhnende Schweigen“ und die Kälte der vergangenen Wochen auch uns.

Nur zu gut weiß diese Kirche, wie unsensibel ihr spätantik-dogmatisches Denken gegenüber dem jüdischen Lebens- und Glaubensstil war und ist, wie intensiv und konsequent sie in dieser langen Zeit die Missachtung des Judentums offen oder unausgesprochen gefördert hat. Diese katholische Kirche kann nicht ignorieren, dass gerade sie am Ursprung des heute höchst komplexen religiösen, katholischen, reformatorischen, islamistischen, kolonialen und allgemein politischen Antisemitismus sowie eines sekundären Entlastungs-Antisemitismus steht, der sich in manchen Kulturräumen völlig verselbständigt hat, nicht einmal mehr Begründungen erwartet.

Die römisch-katholische Kirche könnte auch wissen: Viele theologische, lehramtliche und philosophisch aufgezäumte Vermittlungsformeln geben beim besten Willen nicht her, was sie versprechen, weil der einzige Gottes-Sohn, vor aller Zeit gezeugt, letztlich doch exklusiv als Pantokrator über aller menschlichen Wirklichkeit thront. Vor diesem Heilsanspruch verblassen auch Kaspers Formeln von einer Exklusivität, die Inklusivität einschließe (was soll das denn sein?), von einer respektvollen Überbietung der jüdischen Tradition oder vom concretum universale. Die römisch-katholische Kirche muss sich – zumal in allen deutschen Bistümern, zu deren politischem Erbe Auschwitz gehört – der Apathie stellen, mit der sie in ihrem Alltag vor dem Judenhass die Augen verschießt.

Die dünne, diplomatisch weichgespülte römische Reaktion auf den 7. Oktober war mehr als peinlich. Ich erwarte auch, dass unsere Bistümer endlich aufwachen, in der Öffentlichkeit ihre überragende historische Verantwortung zur Sprache bringen sowie sich laut, engagiert und nachhaltig für ihre jüdischen Geschwister einsetzen. Als Kirche haben wir keine aktuellen politischen Positionen auszuformulieren, sondern die faulen und vergifteten Früchte eines unseligen Erbes in öffentlicher Transparenz aufzuarbeiten, denn es stimmt: an ihren Früchten wird man sie erkennen.

7. Historische Verantwortung

Als ich vor 50 Jahren zum ersten Mal Israel besuchte, erzählte uns ein jüdischer Reiseführer die Parabel vom Frosch, der einen Skorpion über den Fluss trug und dabei getötet wurde. Für viele Jüdinnen und Juden spiegelt diese Geschichte noch immer die jüdischen Schreckenserfahrungen, die sie unaufhörlich seit Jahrhunderten verfolgen. Mit der Gründung des Staates Israel schien sich für viele die Vision von einem Leben in Sicherheit endgültig zu erfüllen. Doch diese Hoffnung hat sich bis heute weder in Israel noch an anderen Orten bewahrheitet. Im Gegenteil, gerade jetzt häufen sich bei uns wieder bedrohliche Anschläge. Von versöhnungswilligen jüdischen und palästinensischen Personen ist zu hören, dass sie im aktuellen Konflikt keinen Ausweg mehr wissen. Die Situation ist desolat. Warum, so die jüdische Frage, lässt man uns jetzt schon wieder allein, da die Narben unserer Geschichte noch nicht annähernd geheilt sind? Als Christen haben wir uns dieser Frage zu stellen, die uns an unsere historische Verantwortung erinnert.

Gewiss, unter dieser Voraussetzung sollte auch die palästinensische Gegenfrage erlaubt sein, die jetzt die Ereignisse im Gaza-Streifen aufwerfen: Warum werden wir, in Machtlosigkeit getrieben, vom Staat Israel schon wieder mit Gewalt und Tod überzogen? In der Tat, wir stehen vor einer Gewalt- und Todesgeschichte, die nicht nur Israel, sondern auch Palästina in einen Strudel der Vernichtung hinabreißt. Da reagiert ein verwundetes Volk mit enormer Härte, in gewissem Sinn gnadenlos. Das lässt sich nicht gutheißen, aber diese Härte spiegelt auch das jüdische Schicksal, das mit dem christlichen Antijudaismus seinen Anfang genommen hat und von diesem lange Zeit genährt wurde. Christliche Kirchen sind für die aktuelle Katastrophe nicht politisch verantwortlich, aber aus ihrer historischen Gesamtverantwortung können sie sich nicht herausstehlen. Nur wer um den fürchterlichen Fluch weiß, mit dem christliche und muslimische Kultur die Existenz des Judentums durch die Jahrhunderte hin bedroht haben, kann auch die aktuelle Härte und Aggressivität des Staates Israel (nicht des Judentums) glaubwürdig anprangern. Er weiß dann um das unauslöschliche Gedächtnis der Völker und ihrer gegenseitigen Untaten, die sich am Ende nicht mehr auseinanderdividieren lassen. „Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären.“

Vor diesem Hintergrund wende ich noch einmal den Blick auf meine Kirche zurück. Solange wir uns unserem weltgeschichtlichen Versagen nicht stellen und uns nicht daran machen, auch die anti-jüdischen theologischen Fehlentscheidungen zu korrigieren, so lange können wir vor dem weltweiten Ethos der Religionen und dem Ideal der Menschlichkeit nicht bestehen. Religionen erkennt man nicht an der Brillanz ihrer Glaubensformen und -formeln, sondern – wie schon gesagt – an ihren Früchten. Deshalb sind die Geschicke, die das Judentum weltweit erleidet, auch unsere Angelegenheit. Nur in dieser Erinnerung kann es vielleicht gelingen, das Gewalt- und Verachtungsbündel aufzulösen, von dem heute eine ganze Weltregion ausweglos infiziert ist.

Anmerkungen

[1] Zur Geschichte der Demütigungen des Judentums durch die christlichen Kirchen s. neben den einschlägigen Hinweisen in: Hans Küng, Das Judentum (1991) auch die sprachlich brillante Zusammenfassung „Über die Juden oder Es wäre bereits genug gewesen“, aus dem Roman von Günther M. Doliwa, Zoltans Ziege, Herzogenaurach 1525 (2007), Kap. 4/10, S. 305-310; (ISBN 978-3-00-021967-2).