Worte zur Corona-Krise 10: Verunsicherung und Gleichgewicht

Liebe Freundinnen und Freunde,
Wie finden wir unser Gleichgewicht?

August 2020, seit nahezu sechs Monaten hält uns die Corona-Krise im Bann. Wiederholt habe ich von verlorenen Sicherheiten gesprochen und an das Grundvertrauen appelliert, ohne das niemand von uns ausgewogen leben kann. Ich verwies auf die Alternative von Leben und Tod, die vor allem die Älteren unter uns herausfordert. Natürlich habe ich die Frage gestellt, ob wir uns wirklich in den Händen Gottes oder einer letzten Instanz wissen. Jetzt komme ich noch einmal zurück auf dieses Grundthema, denn inzwischen hat uns die tiefe Verunsicherung nicht nur als einzelne Personen erreicht, sondern auch zu kollektiven Auswirkungen geführt. Es geschah etwas mit unserer Gemeinschaft.

1. Erfahrung, die uns verbindet

Die Öffentlichkeit, unsere gesamte Gesellschaft, unsere Gemeinschaften und das Geflecht unserer Beziehungen haben sich wie über Nacht verändert. Ganze Gruppen, wenn nicht gar ganze Staaten verlieren die Fassung. Die Regierenden reagieren hellwach, nervös oder verärgert. Bei anderen hat längst schon eine scheinheilige aber höchst wirksame Suche nach Schuldigen begonnen. Wir machen Gruppen oder geheime Mächte für die direkten und indirekten Irritationen verantwortlich. Man fühlt sich und seine Gemeinschaft in ihrer Freiheit bedroht. Gesichtsmasken und andere hygienische Maßregeln weckten massive emotionale Widerstände; die individuelle Freiheit galt als bedroht. An Wochenenden kommen Tausende von Mitbürgerinnen und Mitbürger zusammen zu allgemeinen Kundgebungen in Berlin, München, Stuttgart oder dem Ruhrgebiet, um gegen geheime oder bekannte Kräfte zu demonstrieren.

Wogegen demonstrieren sie wirklich und was sind ihre genauen Motive gegen das Virus Covid 19? Ein solcher Protest wäre sinnlos. Gegen den chinesischen Tiermarkt, dem wir das Virus möglicherweise verdanken? Dieses Aggressionsfeld überlassen sie lieber Donald Trump. Gegen Mundschutz und Abstandregeln? Ja, ein großer Teil, doch gegenüber der persönlichen Gefahr verpufft diese Protestvariante schnell. Nein, die „Querdenker“, die sich den großen Überblick zutrauen, wehren sich gegen die großen Mächte, die im Hintergrund die Fäden ziehen und sich gegen die Gesellschaft verschworen haben; ihr Kampffeld hat etwas Magisches. Ihre Feinde können Bill Gates sein oder die Mächtigen der Impfindustrie, Herren der Globalfinanz, politische Geheimzirkel oder mal wieder die Juden. Selbst katholisch-kirchliche Kreise haben sich diesen Phantasien mit der archaischen Behauptung angeschlossen, Menschenfeinde wollten unsere Freiheit zerstören.

Noch erstaunlicher ist ein anderes Phänomen: Bei diesen Demonstrationen tauchen vermehrt Wutbürger unterschiedlichster Art auf, die man schon früher kannte: Reichsbürger, Pegida-Freunde oder Sympathisanten der AfD, Impfgegner und Kritiker neuer Internetsysteme, Identitäre und Gegner einer offenen Fremdenpolitik, Schweigende, die einfach stumm bleiben mit dem Argument, die Presse sei eingekauft und man dürfe ohnehin nichts sagen. Täuschen wir uns nicht, darunter sind auch Menschen, die sich voller Überzeugung Christen nennen oder um die Erhaltung des christlichen Abendlandes fürchten.

Mit Argumenten ist ihnen nur schwer beizukommen. Verbittert erklären sie, sie könnten nur noch ihrer Intuition, ihren Gefühlen oder den sozialen Medien ihrer Wahl trauen. Anders gesagt, sie trauen niemandem mehr, der einer Mehrheitsmeinung in Politik oder Wissenschaft folgt. Auch die Leitwissenschaften und Kirchen sind in den Kreis der großen Betrügerinnen eingeschlossen. Sie glauben selbst der Polizei nicht mehr, die bei einer Versammlung etwa 20.000 Menschen schätzt. Nein, die querdenkenden Organisatoren bestehen auf 2,1 Millionen; die Grenzen zwischen Wunsch und Wirklichkeit, Fakten und Fake sind zusehends verwischt.

Doch sobald diese Grenzen zerfließen, kommt eine ganze Gesellschaft samt ihren Maßstäben ins Schwimmen. Sollten wir nicht daran festhalten, dass nur die Wahrheit frei macht, Recht und Ordnung garantiert und öffentliche Willkür in die Schranken weist? So geraten wir in eine Situation, in der der wache Sinn aller aufgerufen ist. Denn offensichtlich geht diese beängstigende Erscheinung nicht vorüber, solange die Medizin uns nicht weiterhelfen kann. So werden viele Faktoren die von der Corona-Krise jetzt nur gebündelt und zu einer unerwarteten Bewegung geschnürt. Dazu gehören:

‑ die tiefsitzenden Verletzungen der „Wiedervereinigung“ vom Jahr 1989,
‑ die wachsende Angst vor sozialem Abstieg und vor Rentenarmut,
‑ der zunehmende wirtschaftliche Leistungsdruck sowie das Gefühl, dass die Globalisierung uns erdrückt,
‑ die zunehmende Differenzierung gesellschaftlicher Verhältnisse, die viele nicht mehr überschauen,
‑ ein vitales Gespür dafür, dass wir an die Grenzen des Wachstums gekommen sind und die selbstgesteckten Ziele nicht mehr erreichen,
‑ die ernsten Sorgen um die Zukunft der Erde und des Weltklimas,
‑ die Explosion von Informationen und digitalen Medien, die uns mehr verwirren als Orientierungen bieten.
Im Hintergrund wurden die oft schützenden ethischen, weltanschaulichen und religiösen Standards massiv geschwächt. Verunsicherte Christ/innen fühlen sich hilf- und heimatlos, weil die Kirchen schwächeln und in der Öffentlichkeit immer weniger gehört werden.

Für Viele bildet diese Fülle an Schwierigkeiten plötzlich ein undurchdringliches Netz, das ihnen buchstäblich den Atem nimmt. Jetzt endlich fühlen sie sich vom Puls der Zeit abgeschnitten und bestätigen einander in dem verheerenden Eindruck: Hier fließen all diese Wasserläufe wie in einem großen Wasserfall, einem mächtigen Strom zusammen, reißen noch die letzten Wurzeln unserer Lebensgewissheiten aus dem Grund. Hinzu kommt die von Hoffen und Bangen durchzogene Frage, was sich denn nach der Corona-Krise ändert. Manche Änderungen wünschen wir uns dringend, doch ob sie wirklich eintreten, steht auf einem anderen Blatt. Im Gegenteil, es gibt Anzeichen dafür, dass die Schwachen durch die Krise noch mehr geschwächt, die Starken sie gestärkt überstehen. Es entsteht also eine neue Normalität, in der wir alle Einbußen in Kauf nehmen müssen. Nach 75 Jahren Frieden, Steigerung von Wohlstand und Wohlleben, grenzenloser Reisefreiheit und dem Triumph eines gelebten Individualismus besonders weh. Die Narzissten und Hedonisten unter uns werden besonders leiden. Was sich jedoch konkret ändern wird, welche neuen Grenzen uns die Gesellschaft aufzwingt, wie das normale Leben wirklich weitergehen wird, das steht noch in den Sternen.

2. Nüchterne Geduld

Wie sollen wir mit der großen Verunsicherung und den starken Unmutsäußerungen umgehen? Zu Recht erklärt der Journalist B. Ulrich: Es helfe nichts, die Demonstranten zu beschimpfen, uns über die Verschwörungstheoretiker aufzuregen oder den kolossalen Vereinfachern bösen Willen zu unterstellen. Mag sein, dass sie sich aufführen wie verbohrte Ideologen, denen es an primitivsten medizinischen Kenntnissen mangelt. Zwar gilt auch hier ein Paradox, das uns (wie schon bei der Flüchtlingskrise), hilflos macht: Dort wurde am meisten demonstriert, wo die wenigsten Flüchtenden waren. Dennoch gilt auch hier die Grundregel einer jeden Schmerztherapie, vielleicht einer jeden Therapie überhaupt: Zunächst sollten wir die Schmerzen, die Verletzungen und Enttäuschungen ernstnehmen und begreifen, wie sie allmählich das öffentliche Bewusstsein durchdringen. Denn es muss Gründe für die Verunsicherung geben, die so viele trifft; einige habe ich genannt.

Wir können uns fragen, warum uns diese öffentliche Empörung gerade jetzt erreicht. Warum wird ausgerechnet die Corona-Krise zum Motor eines penetranten Populismus?

‑ Vielleicht hängt es damit zusammen, dass die Spätfolgen des Zweiten Weltkriegs (1945) und die Folgen der politischen Wende (1989) immer noch nicht verarbeitet sind. Die verdrängten Versagens- und Schuldgeschichten von damals brechen noch einmal auf ‑ jetzt, wie jüdische Erfahrung bezeugt, in der dritten und vierten Generation (Ex 34,7).
‑ Vielleicht spüren wir erst jetzt, was es bedeutet, wenn einer europäischen Kultur ihre große religiöse Erinnerung abhandenkommt. Mit Nachdruck hat sie in ihren Symbolen von Rechenschaft und Strafgericht, apokalyptischen Schrecken und Vergebung kontinuierlich existentielle Angst- und Unheilserfahrungen geradezu im Übermaß verarbeitet.
‑ Vielleicht spüren umgekehrt wir Christen zum ersten Mal, dass Gott gerade nicht mit Schwert und Höllenqualen als übermächtiger Rächer und Retter auftritt, sondern uns die Freiheit zumutet, unsere Welt selbst zu gestalten und dafür gerade zu stehen.
‑ Vielleicht hat ein ganzes Staatsvolk zu lernen, dass wir immer in einer vitalen Unsicherheit und Bedrohung leben müssen, weil auch Christentum, Islam oder andere Religionen keine Lebensversicherungen, sondern Lebensbegleiterinnen sind.
‑ Vielleicht hatten auch wir Christen uns den Gang von Geschichte und Gesellschaft so optimistisch in eine gepflegte ‑ wissenschaftlich, medizinisch, technisch und machtpolitisch abgesicherte ‑ Bürgerlichkeit gepackt, dass uns alle Widerstandskraft abhanden gekommen ist und jede gesunde Angst zum reinen Schrecken wird.

Ich fürchte, dass wir zu oberflächlich geworden sind und uns den Hintergrundfragen unseres Lebens nicht mehr stellen. Viele uns haben diese Lebensaufgabe verlernt oder heben sie für die letzte Lebensstunde auf. Dabei lebten der christliche Glaube und alle großen Religionen schon immer aus der Frage, wo wir herkommen und wo wir hingehen, was der Sinn unseres Lebens ist. Mit ihren Antworten haben sie ganze Kulturen geprägt. Als Christinnen und Christen haben wir gelernt zu sagen: Wir wissen uns und die gesamte Menschheit in Gottes Händen.

Auch Philosophien und andere Weltanschauungen haben sich dieser Frage gestellt. Leibniz erklärte uns, dass wir in jedem Fall in der besten aller möglichen Welten leben; diese Antwort kommt uns illusorisch vor, doch er hat sie sich nicht leicht gemacht. Kant glaubte an die Macht der „reinen Vernunft“ und Hegel an den Weltgeist, der alles zu einem guten Ende führt. Die Wende setzte nach dem Zweiten Weltkrieg ein, als wir diese Lösungen vergaßen und unser Vertrauen ausschließlich auf den steten Fortschritt von Wissenschaft und Gesellschaft, sowie auf eine neo-liberale Politik setzten, die alles den freien konkurrierenden Kräften überließ. Wir erzielten Erfolge und begannen schließlich, uns gedankenlos den Wunderwelten einer digital gesteuerten Technik, der Hochleistungsmedizin, einer global vernetzten Ökonomie und der künstlichen Intelligenz anzuvertrauen. Wir pflanzten die ersten Chips in unsere Körper und dachten über die Steuerung unserer Gehirne nach. Dieses Mal, so redeten wir uns ein, wird das Projekt Frankenstein gelingen; wir haben uns selbst in der Hand.

3. Eine Kultur des Vertrauens

Plötzlich stellt ein Virus dies alles in Frage. Es zeigt unseren Gemeinschaften und der gesamten Menschheit, dass wir über diese Welt, unser Zusammenleben, unsere organischen Lebensgrundlagen und unsere Zukunft eben nicht souverän verfügen können, sondern in sie eingebettet sind. Schon ein halbes Jahr strenger Selbstdisziplin und der Bewegungsblockaden bringen Sicherheitsgefühle und innere Ausgewogenheit einer ganzen Gesellschaft ins Wanken. Plötzlich erschrecken wir nicht nur vor unseren persönlichen, sondern auch vor unseren gemeinsamen Abgründen, im Grunde auch über uns selbst. Das erfordert ein gemeinsames solidarisches Denken.

Was bleibt zu tun? Wir sollten den Dreischritt wagen, mit dem jede Sanierung eines baufälligen Hauses beginnt. Es gilt …
‑ genau hinzuschauen und aufeinander einzugehen, in aller Geduld zu verstehen, was unsere Öffentlichkeit und Gesellschaft ins Wanken bringt und ihre demokratischen Grundfesten bedroht. Einige Hinweise habe ich hier oben gegeben.
‑ zu einem weiterführenden Urteil zu kommen. Wir sollten sachgemäße und kluge Fragen entwickeln, die uns weiterführen. Je unangenehmer sie sind, umso näher bringen sie uns wohl zur wirklichen Sache: Warum eigentlich nehmen die irrationalen Reaktionen überhand und fallen uns nüchtern Dialoge so schwer? Warum drohen wir als Gesellschaft ausgerechnet jetzt an einer Krise zu scheitern, an deren Beginn kein böser Wille steht? Warum führt ausgerechnet Covid 4 zur Projektion von Sündenböcken, hinter denen sich ein ganz anderes Versagen verbirgt? Geht es vielleicht um unser eigenes Versagen? Wo und wie können wir gemeinsame Anker werfen, auf die keine Gesellschaft verzichten kann, wenn sie nach einer krisenfesten Stabilität und Solidarität sucht? Die großen religiösen Traditionen stellen viele Antworten bereit. Es gilt nur, sie in eine zeitgemäße Form zu bringen.
‑ unverzüglich zu handeln. Dabei ist außer Solidarität kein neuer Aktionismus verlangt, sondern die Entwicklung von ehrlichen und stabilen Antworten, die gemeinsam zu erarbeiten, zu besprechen und zu erproben sind.

Die Fragen sind, wie gesagt, nicht neu und Antworten hat es schon früher gegeben. Die jüdische, christliche und muslimische Tradition spricht von guten und bösen Geistern, von Engeln und den Einflüsterungen Satans. Christen kennen die dringende Warnung vor dem Antichrist, vor apokalyptischen Kriegen und Gewaltorgien, Hungersnöten und Pestepidemien. Immer wieder bricht die Erfahrung durch, dass Menschen solchen Mächten ausgeliefert sind und uns nur noch der Schrei nach einem göttlichen Schutz übrig bleibt.

Diese drastischen Vorstellungswelten und ihre Symbolik sind weitgehend verschwunden, doch die lebensnahen Geschichten aus der frühen jüdischen und christlichen Tradition sind geblieben:

Der qualvolle Durchzug des jüdischen Volkes durch die Wüste und der überraschende Durchzug durchs Rote Meer, die Plagen, denen das ägyptische Volk ausgeliefert war, die Klagelieder des Jeremia und die Weherufe Jesu, der grauenhafte Weg Jesu in einen schmachvollen und fürchterlichen Tod, sein Abstieg in das letzte Elend der Unterwelt und als Gegenpol die Errettung und Erweckung Jesu aus der Nacht des Todes, die ständige Konfrontation ungezählter Glaubenszeugen mit einen Martyrium, das oft mit dem Tod endet und dennoch als Sieg über das Böe verstanden wird, das triumphierende Wort des Paulus: „Tod, wo ist dein Sieg, Hölle, wo ist dein Stachel?“ (1 Kor 15,55).

Aus diesen Erzählungen und Worten spricht ein unglaublicher Wille zu Widerstand und Durchhaltevermögen. Es sind machtvolle Gegenwelten von Siegesbewusstsein und Aufbruch. Doch ich spüre den Widerspruch, gleich ob wir dem christlichen Glauben verbunden sind oder sich als neutrale Beobachter fühlen. Ich erwarte zwei Gegenargumente: Erstens, diese Bilder sprechen von meiner ganz persönlichen Hoffnung auf ein Ewiges Leben. Sie berichten von einem Jenseits, das mit der irdischen Wirklichkeit nichts zu tun hat. Zweitens, schon lange haben diese Bilder ihre kulturelle und politische Kraft verloren, bringen uns als Gemeinschaften und als Gesellschaft also nicht weiter.

Ich kann diesen Einwänden nicht einfach widersprechen. Doch ich bedaure, dass sich unsere Kirchen die politische Kraft dieser Bilder entgleiten ließen. Jesus und die biblische Botschaft sprechen ja nicht von einem wirklichkeitsfernen Himmel, sondern vom Reich der Gerechtigkeit, das hier und jetzt beginnt. Ohne Einschränkung werden die Armen, die Hungernden und die Ausgestoßenen glücklich genannt (vgl. Lk 6, 20-22), weil sie eine konkrete Hoffnung trägt. Nach Anselm Grün entsteht beim Bergsteigen dann ein Lagerkoller, wenn kein Ziel zu sehen ist. Ähnlich wie andere Religionen muss der christliche Glaube wieder zu einer inneren Kraft finden, die konkrete Zukunftsvisionen eröffnet und vor den Widerständen des Alltags nicht schlapp macht. Deshalb greift zu kurz, wer nur an ein persönliches Urvertrauen appelliert.

In Europa hängt die Zukunft der Religionen davon ab, wie griffig und entschlossen ihre widerständigen Zukunftsvisionen sind. In den vergangenen Jahrzehnten wurde eine gute Richtung eingeleitet. Wir kämpften für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung. Wir haben universal gültige Bausteine für die Menschheit der Zukunft entdeckt: Menschenwürde, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und gegenseitige Treue. Jetzt kommt es darauf an, für diese Entdeckungen mit hohem Elan, auch mit religiöser Leidenschaft zu kämpfen. Spätestens jetzt müssen auch die kirchlichen Gemeinden und Gemeinschaften aufwachen, um vor Ort und mit wachsender Bestimmtheit über unsere Zukunftserwartungen zu reden. Wir haben ein Ziel anzubieten, das zu verwirklichen sich lohnt.

4. Ein Weg zur Normalität

Ich komme zur Ausgangsfrage zurück: Wie geht die Corona-Krise zu Ende und wann wird das öffentliche Leben wieder normal? Niemand weiß es im Augenblick zu sagen; alle warten ganz nüchtern auf hilfreiche Medikamente und einen wirksamen Impfstoff. Erst dann lässt sich das öffentliche Leben wieder in geregelte Bahnen lenken. Doch das ist nur die erste, sozusagen die technische Antwort, denn die Erinnerung an den öffentlichen Schock wird nachwirken. Uns allen wurde klar, dass eine vergleichbare Bedrohung jederzeit zurückkommen kann. Wir sind brutal auf unsere Kreatürlichkeit und Kontingenz zurückgeworfen. Langfristig erfahren wir diese Krise – nach Galileo Galilei, Sigmund Freud und Charles Darwin – vielleicht als unsere vierte große Kränkung. Wir stehen nicht mehr im Mittelpunkt des Universums, sind nicht mehr souverän über die Tierwelt erhaben, verfügen nicht mehr frei über unser Verhalten und bekommen jetzt endgültig bescheinigt: Trotz höchster medizinischer Standards bekommen wir die Bedingungen für unsere Gesundheit nie wirklich in den Griff. Niemand weiß, wann die nächste Epidemie kommt. Zugleich müssen wir uns sagen lassen: Wir hätten besser darauf vorbereitet sein können, denn erst allmählich tritt die Geschichte der großen Pestpandemien und ihrer katastrophalen Folgen von der Bronzezeit bis zur Spanischen Grippe (1918) wieder ins Bewusstsein.

Sie alle waren organisch, meist viral bedingt. So müssen sich die Verschwörungsgläubigen auch dieses Mal korrigieren. Manche werden vermutlich nicht aufgeben, sondern mit sich selbst in Streit geraten oder auf andere Sündenböcke ausweichen, denn ihre Grunderfahrungen von Hilflosigkeit und Machtverlust bleiben bestehen und neuerdings bieten die sozialen Medien für ihre Projektionen aktive weltweite Resonanzräume. Weiter führt uns nur die Entdeckung: Hinter den Frustrationen einer Pandemie lauert letztlich eine Hintergrundfrage, die bestehen bleibt. Es geht um die Erklärung und den Sinn eines ständig bedrohten und kontingenten, eines unberechenbaren Lebens, das sich unserer Kontrolle entzieht. Zur neuen Normalität gehört in jedem Fall der Verlust absoluter Sicherheit, dies nicht nur im privaten, sondern auch im öffentlich gemeinsamen Bewusstsein. Wir können uns von dieser Sinnfrage nicht mehr durch eine gesteigerte Existenzsicherung ablenken, wie wir es in den vergangenen Jahrzehnten getan haben.

Dennoch bleibt der Weg zu einer neuen Zukunftsvision steinig, auch wir Christen haben dabei zu lernen. Die Zeiten, in denen unsere Kirchen als die großen Belehrer und Bekehrer auftraten, sind vorbei. In der Bundesrepublik sinkt die Anzahl der Kirchenmitglieder bald unter die 50% Marke. Gewiss, unsere Botschaft ist wichtiger denn je, doch das konkrete Angebot muss sich mit anderen Angeboten messen, sich mit ihnen beraten, von ihnen lernen, ihnen manchmal den Vortritt lassen. Auch können wir nicht erwarten, dass alle Welt jetzt auf besonnene Gottesgläubige, Philosophen oder Religionswissenschaftler hört. Der Weg in die Zukunft bringt auch harte Widerstände und Auseinandersetzungen mit sich. Schon jetzt zeigt sich, dass die Corona-Krise kein bekehrtes Deutschland oder Europa hinterlässt. Im Gegenteil, weltanschauliche und ideologische Gegensätze können wachsen, der Ärger der Benachteiligten kann sich steigern, der Eigennutz der ohnehin Starken noch unbarmherziger zur Geltung kommen; neue Verteilungskämpfe sind jetzt schon entbrannt. Wir müssen wachsam sein.

Deshalb brauchen wir im Rahmen einer starken Zivilgesellschaft auch christliche und muslimische Gemeinden, vielleicht auch die Gemeinschaften anderer Religionen, die hellwach, im besten Sinn des Wortes politisch werden sowie für eine sinnerfüllte Lebenspraxis werben und dafür eintreten. Die positiven Kräfte sind zu bündeln, um die Zweifler sollten wir werben, die Opponenten nicht abschreiben. Wir haben uns auf eine Auseinandersetzung einzulassen, die Bescheidenheit, Solidarität und eine zähe Geduld einfordert.

5. Die Maske als Symbol

Ich fasse zusammen: Gemäß der Fachwelt gibt es für die Benutzung von Masken triftige Gründe; sie können die Infektionszahlen verringern. Dennoch wird emotional um sie gestritten: In Brasilien und den USA wurde sie geradezu zum politisch-weltanschaulichen Symbol. Die Einen fühlen sich beim Atmen und Sprechen behindert, andere sehen in ihr einen Maulkorb, die Ankündigung einer politischen Unterdrückung. Für diese Abwehr gibt es einen interessanten Grund: Das Virus ist unsichtbar und seine Wirkung noch nicht hinreichend definiert. Bringt es eine tödliche Erkrankung oder nur eine schwere Grippe? Auch kann ich nur ungenau die Bedingungen beschreiben, unter denen ich mich anstecken kann; die Wissenschaft bietet nur eine Wahrscheinlichkeit, warum soll ausgerechnet ich einer unter tausend Gefährdeten sein?

Hier liegt ein wunder Punkt. Was in unserer globalisierten, auf Events und Effekte trainierten Kultur gilt, muss sichtbar und laut, genau berechenbar und empirisch auffällig sein. Die Auseinandersetzung mit dem Unsichtbaren, mit Sinn- und Beziehungsfragen wird privatisiert und zur unverbindlichen Intuition erklärt. Wer Unsichtbares dennoch veröffentlichen möchte, sucht banal-sichtbare Stellvertreter und nimmt sie für bare Wirklichkeit: Bill Gates, Angela Merkel, das globale Finanzsystem; Transsubstantiation unter modern-medialen Bedingungen!

Früher war das anders. Natürlich haben auch die Religionen projiziert und dem Unsichtbaren ein Antlitz gegeben: Teufel waren ebenso wirksam wie ein rächender Gott, die apokalyptischen Plagen, wie Hexen, Besessene und ethnische Minderheiten, Ahasver oder der Verfluchte, der keine Grabesruhe fand. Man hat sie ebenfalls missbraucht, genauso irrational eingesetzt, mit ihrer Hilfe Menschen verteufelt, Sündenböcke fabriziert und das eigene Fehlverhalten verdrängt. Aber letztlich waren alle diese Figuren in umfassendere, sozusagen offizielle Erzählungen eingebunden, die letztlich den Sinn des Lebens schützten. Das Leiden hatte ein Ende, eine göttliche Erlösung besiegte alles Unheil, der universale Kosmos oder gar das Nirwana bürgten für eine letzte Versöhnung. Frühere Generationen hatten schwerere Krisen zu bestehen als die aktuelle Pandemie. Dennoch sorgten die großen Welterzählungen bis hin zum Christusgeheimnis dafür, dass sich eine jede Epoche immer wieder einem inneren Gleichgewicht annähern konnte. Dramatische Schreckenserfahrungen wurden von einer letzten Sinnerfahrung konterkariert. Dieses Gleichgewicht wird immer labil bleiben. Umso wichtiger sind Menschen, die das unsichtbare Ziel und die ungreifbare Quelle eines unzerstörbaren Sinns erfahrbar machen. Unsere Gesellschaft ist auf sie angewiesen. In der Antike diente die Maske nicht der Verhüllung der eigenen Identität, sondern der Klarstellung der Funktion, die ein Mensch gegenüber der Gemeinschaft von Lebenden erfüllt. Kurt Marti sagte es so:

Ihr fragt
was ist die auferstehung der toten?
ich weiß es nicht

ihr fragt
wann ist die auferstehung der toten?
ich weiß es nicht

ihr fragt
gibt’s
eine auferstehung der toten?
ich weiß es nicht

ihr fragt
gibt’s
keine auferstehung der toten?
ich weiß es nicht

ich weiß
nur
wonach ihr nicht fragt:
die auferstehung derer die leben

ich weiß
nur
wozu Er uns ruft:
zur auferstehung heute und jetzt