Ich freue mich sehr und betrachte es als eine große Ehre, dass Ihr mich zum 25./26. Geburtstag von Wir sind Kirche eingeladen und dieses Referat als „Festvortrag“ angekündigt habt. Uns alle verbindet eine große Leidenschaft für unsere Kirche, die sich römisch-katholisch nennt. Eine ökumenisch christliche wäre uns lieber, aber in der vorgegebenen Identität haben wir sie irgendwann liebgewonnen, auch wenn wir sie nicht mehr – wie mancher Römer noch immer meint ‑ als die einzig wahre, gar als die alleinseligmachende betrachten und manche sich schon mit Scheidungsgedanken von ihr getragen haben.
Uns alle verbindet ein Unbehagen, nein, Ärger und wachsende Wut darüber, dass sich unsere Reformhoffnungen auch nicht annähernd erfüllt haben. Seit 26 Jahren kämpft Wir sind Kirche für Erneuerung und ein menschliches Gesicht. Andere Gruppen taten und tun dies schon länger. Dennoch haben wir einen Kipppunkt erreicht, der – jedenfalls in unserem Kulturraum – unumkehrbar zum Zusammenbruch dieses römisch-katholischen Kirchensystems führen kann. Die aktuell heiß diskutierten Skandale – Sexualverbrechen und ihre Vertuschung, Diskriminierung von Frauen, Verachtung vieler Menschenrechte – sind keine extravaganten Auswüchse, sondern die schlimmen Symptome eines unchristlich gewordenen Gesamtsystems.
Vor einigen Tagen las ich den Satz eines deutschen Politikers „Nicht nur jetzt, sondern seit Jahren verlieren wir an Akzeptanz. Das Problem muss also tiefer liegen.“[1] Das gilt auch für unsere Kirche. Die Probleme kamen nicht mit der Missbrauchsdebatte. Wo verorten wir ihr tieferes Problem? Darüber wird oft in ermüdenden Wiederholungen diskutiert. Ich möchte hier eine neue Perspektive in die Diskussion einführen und bitte Euch, diesen – vielleicht einseitigen – Versuch mit Wohlwollen zu betrachten. Schon aus ökumenischen Gründen halte ich ihn für wichtig. Es geht mir um das Wort, um einen Missbrauch und eine Instrumentalisierung der Sprache, die uns den Zugang zu den Kernproblemen verwehren. Den Text gliedere ich in sechs Punkte:
1. Warum die Sprache so wichtig ist (Einleitung)
2. Konfusion der Inhalte – Beliebigkeit statt Sachinformation
3. Mangel an Ehrlichkeit – Blockade statt eines offenen Dialogs
4. Verlust an Überzeugungskraft – Weltferne statt Weltentlarvung
5. Entleerte Grenzüberschreitung – Macht der Symbole
6. Zu Wächtern der Sprache werden (Schluss)
7. Im Anfang war das Wort (Nachwort)
1. Warum die Sprache so wichtig ist (Einleitung)
1.1 Die Sprache bestimmt Denken und Wirklichkeit
An diesem Tag der Rückbesinnung möchte ich mit Euch darüber nachdenken, in und mit welchen Sprachformen unser Erneuerungskampf geschieht und welche Sprachformen ihn verhindern. Was haben sie mit uns gemacht und wie sind wir mit ihnen umgegangen? Die Struktur der römisch-katholischen Kirche bringt es mit sich, dass Bischöfe und Papst (samt dazugehörigen Behörden) im Mittelpunt dieser Auseinandersetzung stehen; unsere Kernprobleme lassen sich an ihnen gut darstellen. So bitte sie jetzt schon um Verständnis dafür, dass sie im Zentrum meiner Auseinandersetzung stehen. Ich erwarte, dass mit diesem Vorgehen Neues entdecken zu können. Ich beginne mit vier Vorbemerkungen.
Erstens, der Zusammenhang zwischen Denken und Sprache ist ganz einfach, möchte man sagen: Ändern wir doch unser Denken, dann ändert sich auch die Sprache; sie spiegelt ja nur, was wir denken. Doch so simpel funktioniert das nicht, denn unsere Sprache, die unserem Denken vorangeht, hat unsere Welt schon immer in bestimmter Weise interpretiert; damit hat sie bei unserer Entwicklung eine quasi-genetische Funktion. Sie schafft in uns eine konkrete, uns vorgegebene Wirklichkeit und an sie halten wir uns, sobald wir (als Kinder schon) ihre Sprachfiguren verwenden. Dabei interpretieren wir nicht nur, vielmehr projizieren und fingieren wir neue Wirklichkeiten sozusagen in unseren sprachlich geprägten Kulturraum, die wir ihm schon entnommen haben. Einmal öffentlich formuliert stehen diese uns zur Verfügung, und bevor wir eigenständig denken (was äußerst schwierig ist), greifen wir auf sie zurück. Faktisch wird unser Denken gesteuert von den Sprachmöglichkeiten, den frames im Sinne von Bedeutungsrahmen, die uns immer schon vorgegeben sind. Hinterrücks bringen sie zahllose Ideologien ins Haus, denn sie bieten den unbewusst prägenden Hintergrund für das, was wir denkend zu leben beginnen.
Zweitens, eine Sprache bildet immer schon kollektive Denkfiguren, weil sie ein zwischenmenschliches Medium ist. Den monologischen Selbstdenker gibt es nicht. Im elementarsten Fall repetieren wir nur, was wir gehört haben; denken Sie an Kleinkinder. Im komplizierteren Fall denken wir Erwachsene etwas Neues hinzu, das aber von den ursprünglichen Sprachfiguren nie einfach loskommt. Dadurch entsteht eine kollektive Stabilität, die wir gerne als kulturelle Kontinuität wahrnehmen, Besonders gut lässt sie sich bei römisch-katholischen Sprachfiguren beobachten. Ich denke an die Sprache der klassischen Dogmatik oder von stilprägenden Theologinnen und Theologen. Man denke an bestimmte Sprachregelungen, die – ich beschränke mich auf den katholischen Raum – manche von Karl Rahner, andere von Josef Ratzinger, wieder Andere von der feministischen Theologie, der Befreiungstheologie oder vom Katholischen Katechismus übernehmen.
Drittens, allerdings wird dieses Spiel der ständigen Wiederholung von umfassenden kulturellen (sozialen, politischen, ideologischen) Kontexten unterminiert, denn Kontinuität bedeutet nicht einfach Repetition. Manche Begriffsbedeutungen werden unbemerkt verändert, weil sich unsere Lebenswelt und Lebenspraxis ändern. Andere werden schlicht außer Kraft gesetzt. Wer immer dasselbe wiederholt, entschwindet irgendwann in die Vergangenheit. So nannte man in den 1950er Jahren die Hierarchie noch gerne „Oberleitung“. Der Begriff verschwand in dem Maße, als die Bundesbahn ihre Strecken elektrifizierte Das ist das Schicksal der Reaktionäre und ihres zeitlosen Dogmatismus, aber auch vieler, die nur inkonsequent progressiv sind. Auch in der Kirche duldet der Strom der Geschichte keinen Stillstand.
Schließlich gibt ein vierter Gesichtspunkt zu denken, den auch die Linguistik lange verdrängte: Sprache kann ein zauberhaftes Eigenleben entfalten. Sie macht sich selbständig, schafft neue Wirklichkeitsräume, lebt in Träumen und Fiktionen weiter, projiziert Sehnsüchte und verwickelt sich in umfassende Deutungswelten, die alle Wirklichkeit überschreiten. Ich meine die stets wirksamen Grenzerweiterungen nicht nur in Religionen und Kunst, sondern auch im Alltag. Sie können misslingen, dann zersetzen sie sich zu puren Illusionen, die wir gerne „Aberglaube“ nennen. Wenn sie aber gelingen, bieten sie sich als frei schwebende Sehnsuchtsorte an und sind für unseren Umgang mit Welt und Mensch unverzichtbar. In aller Regel gilt das für die Hoffnungswelten der Religionen, auch wenn diese oft von wirklichkeitsfernen Illusionen umhüllt sind.
1.2 Neue Aufmerksamkeit für Religion und Sprache
Diese fundamentale Bedeutung der Sprache kommt exemplarisch im Johannesprolog zum Ausdruck, der sich auf die Weisheitsliteratur Israels berufen kann: „Im Anfang das das Wort.“ Die einseitige römisch-katholische Akzentverlagerung vom Wort zum Sakrament, die katholischerseits in den vergangenen Jahrzehnten – trotz ökumenischer Annäherungen – neu stabilisiert wurde, folgt einer interessenbedingten, gegenüber der evangelischen Christenheit ziemlich unfreundlichen Verengung. Primär ist Kirche creatura verbi, Geschöpf des Wortes, ein Sprachkörper also. Er entsteht aus Erzählungen, berichteten Erfahrungen, Erklärungen und Weltdeutungen, aus Fiktionen und ausformulierten Hoffnungen, aus Gebeten, Poesien und einem Schweigen, das ebenfalls kommuniziert wird.
Deshalb ist es gut, dass die Interaktion von Sprache und Religion neue Aufmerksamkeit erhält. Ich nenne hier neuere Bücher von Fedderson-Gessler[2], Erik Flügge[3], Peter Sloterdijk[4], Hubertus Halbfas[5], Norbert Lüdecke[6], und als interessanten Denkanstoß einen Artikel von Michael Schrom über den „dunkelgrünen Glauben.[7] Sie alle leiten zu einer nüchternen Diagnose der Sprachpraxis an, die sich unsere Kirche in den vergangenen Jahrzehnten eingebürgert hat, unsere Reformbewegungen eingeschlossen. Dass Wir sind Kirche Teil dieser Sprachbewegung ist, zeichnet sie aus; sie zeigt damit, dass sie sich den aktuellen Reformdiskussionen nicht versperrt.
So wird auch von uns ein selbstkritischer Umgang mit der Kirchensprache erwartet. Schließlich haben auch die Verurteilungen prominenter Theologinnen und Theologen mit ihren sprachlichen Zugängen zu tun. Ich nenne nur Hubertus Halbfas, Leonardo Boff, Hans Küng, Eugen Drewermann, Gustavo Gutiérrez sowie die Protagonistinnen der Feministischen Theologie[8] sowie den absurden, aber unerbittlichen Feldzug gegen Gendertheorien und eine gendergerechte Sprache. „So kann man das doch nicht sagen; es widerspricht doch der theologischen Tradition“, lautet eine Standardkritik.
Umgekehrt lässt sich die Macht einer neuen Sprache nicht durch ihre empörte Verurteilung vernichten, denn die gelebte Wirklichkeit weiß, Schale um Schale die Irreführungen des offiziell geschützten Sprachraums zu entblättern. So hat sich aus dem geometrisch perfekt geschlossenen, sich um sich drehenden Sprachkreis eines unfehlbaren Dogmatismus schon lange ein ellipsoides Gebilde mit einem zweiten Brennpunkt, wenn nicht gar eine offene Parabel entwickelt, in der zwei oder mehr Sprachwelten miteinander ringen. Es reicht schon lange nicht mehr, frühere und neuere Sprachgewohnheiten rein formallogisch miteinander zu vergleichen, denn es sind umfassende Sprachspiele und Vorstellungswelten, die mit eigenen Gesetzen miteinander in Konflikt geraten sind.
1.3 Zerfallslinien an der Oberfläche
Feddersen und Gessler nehmen die blutleere Kirchensprache aufs Korn, ihre Unschärfe, ihre „Sozialpädagogisierung“, ihre überzogene Empathie- und Poesiearmut. Ferner beobachte ich in der Catholica einen konfessionell dumpfen Stallgeruch sowie die Vertuschung der autoritären Innenverhältnisse. Feddersen und Gessler erinnern mich an das Jahr 1980, als ich mich auf langen Autofahrten in die niederländische Sprache einhörte. Inhaltlich verstand ich zunächst nur wenig, doch vom ersten Tag an erkannte ich konfessionsübergreifend den pathetischen Sprachstil von Predigten. Unablässig wurden Würde, Feierlichkeit und Erhabenheit zelebriert; offensichtlich war man schon damals nicht mehr von dieser Welt. Immer mehr wurde eine überraschende, informative oder inhaltsreiche Sprache zur Ausnahme. Ein schleichender Zerfall setzte sich fort und splitterte sich in einzelne Depravationslinien auf, auf deren Gründe ich später eingehen möchte. Hier skizziere ich nur eine vorläufige Oberflächendiagnose.
Wir kennen erstens eine Kirchensprache, die massiv auf Vergangenheit, Autorität und dogmatische Lehren fixiert ist. Sie ist verkoppelt mit einem kirchenoffiziellen Narzissmus, der vom Glanz und Ruhm einer dominierenden Kirche sowie vom untrüglichen Petrusfelsen träumt. Es ist die Sprache der Reaktionäre, die nur noch ihren Kirchenapparat beweihräuchern können. „Ein Haus voll Glorie schauet“ ist das Lieblingslied von Josef Ratzinger (wie Wolfgang Beinert berichtet) und kurz vor seinem Amtsrücktritt erklärte er in unüberbietbarer Selbstsuggestion, ein Papst sei nie allein weil Christus immer bei ihm sei. Wirklich?
Wir kennen zweitens eine Sprache der Frommen. Sie zeigt sich verständnisvoll und offen, wirkt aber nostalgisch und recht unpolitisch. Sie scheut jede Strukturkritik, zieht sich stattdessen in stille Nischen der Innerlichkeit und eines tieferen Verstehens zurück. Es ist die Sprache der Konservativen. Ihr Motto lautet: „Und wäre Christus tausendmal in Bethlehem geboren, und nicht in dir: Du bliebest doch in alle Ewigkeit verloren.“ Dabei verstehen sie Angelus Silesius wohl falsch. Er besteht auf Verinnerlichung, nicht auf den Abschied von dieser Welt. So gesehen ist es gut, die Sprache der Reaktionäre vom Denken der Konservativen zu unterscheiden.
Seit einiger Zeit kennen wir drittens eine etwas hochgeschraubte Intellektuellensprache. Ihre genauen Standpunkte sind oft schwierig auszumachen. Sie präsentiert ein hermeneutisch aufgeputztes, doch wohlbekanntes, ebenfalls nostalgisches Narrativ darüber, wie es nachkonziliar zum Verlust der katholischen Milieus kam, wie man das Konzil anders auslegen könnte und welche Hermeneutiken anzuwenden sind. Diese Sprache der kritisch Reflektierten wirkt auf mich oft hilflos und resigniert. Anstatt sich ich zu widerstandsfähigem Leder gerben lassen, lassen sie sich die Felle davon schwimmen. Ein falsches Harmonieverständnis scheut sich vor klarer Kritik und eindeutigen Postulaten. Die Sprache verschiedener Synodenpapiere ist davon nicht frei.
Natürlich kennen wir viertens eine Sprache der konfliktbereiten Kirchenreform. Allerdings leidet inzwischen auch sie, wie mir scheint, an der steten Wiederholung ihrer Inhalte, die oft zu Formeln, eben zu Gegenformeln geworden sind: „Freiheit der Kinder Gottes“, „Gottesvolk“, „Geist des Konzils“, „Frohbotschaft“, „Geistkraft“; oft haben auch diese Schlag-Worte Kraft und Feuer verloren. Bitterkeit und Resignation lauern in den Ecken. Zu unserem Schicksal könnte das Hamsterrad solcher Signalformeln werden. Immer schneller rotieren sie, ihr Weg aber führt uns weder zur Mitte noch ins Offene. Auch wir sind nicht gefeit gegen die ewige Wiederkehr des Gleichen, die schon Nietzsche erblassen ließ. Gewiss, diese Wiederkehr ist dem massiven Reformstillstand geschuldet, den wir nicht verursacht haben. Dennoch sollten wir über einen Strategiewechsel nachdenken, wenn wir uns schon in einem Paradigmenwechsel befinden.
Wie wurde dieser Sprachzerfall von allen Seiten möglich und wie können wir ihm begegnen? Darauf möchte ich ein Paket von vier Antworten schnüren.
2. Konfusion der Inhalte – Beliebigkeit statt Sachinformation
2.1 Sprache als Mitteilung
Auf den ersten Blick präsentiert sich die Sprache als ein Instrument der Mitteilung, der Information („Illokution“). Sie spiegelt oder präsentiert Sachverhalte. Zu Recht können wir uns ihnen so nähern und sie begreifen; nur den geringsten Teil unseres Wissens haben wir unmittelbar erlebt. Auf dieser Funktionsbeschreibung fußt die klassische Definition von Wahrheit, die uns allen eingeimpft ist. Wir verstehen Wahrheit als die Übereinstimmung von Verstehen und Sache, die Angleichung des Erkennens an die Wirklichkeit (adaequatio intellectus ad rem).
Die hinterhältige neuzeitliche Frage aber lautet: Ist diese Angleichung überhaupt möglich? Wo liegen ihre Grenzen? Was genau an Sachverhalten und Menschen begreifen wir und ist unser Begreifen nicht immer schon von Perspektiven, Verengungen, wenn nicht gar Täuschungen durchdrungen? Können wir ausgerechnet von den Religionen eine absolute Wahrheit erwarten, die ebenfalls Koprodukte der Sprache sind? Schließlich ist deren zentrale Wirklichkeit „Gott“ im strengsten und absoluten Wortsinn ein Geheimnis. Sprache hat also achtsam und aufmerksam zu sein. Die Sprechenden sollten sich das Wort des genialen Sprachwissenschaftlers Ludwig Wittgenstein (1889-1951) zu Eigen machen. „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“[9]
2.2 Abstraktes Reden
Sie kennen vielleicht folgende Anekdote der Brüder Karl und Hugo Rahner: 1938 veröffentlichte Karl seine Worte ins Schweigen, ein Jahr später sein Standardwerk Geist in Welt. Daraufhin fragte Hugo den jüngeren Karl, ob sein nächstes Buch denn „Aal in Soße“ heiße. Hugo, als Historiker an konkreten Ereignissen interessiert, hatte ein gutes Gespür für die Schwächen solch abgehobener Titel. Natürlich, so feixten wir Jungjesuiten noch 25 Jahre später, konnte es nicht „Aal in Soße“ heißen, das wäre für Karl ja viel zu konkret gewesen. Schließlich erreicht seine transzendentale Theologie schon definitionsgemäß ihre Höchstleistungen erst in höchst abstrakten Möglichkeitsbedingungen (im absolutum concretissimum). Ihr Gütesiegel sollte ja genau in ihrer Abkehr und Überwindung von den empirischen Wissenschaften liegen, denn nur Abstraktes kann alles Konkrete einschließen und überrunden, es mit einem tieferen Licht überstrahlen: mit Gottes „Selbstoffenbarung“ (was das auch immer ist), und dem „ungegenständlichen Horizont“ der absoluten göttlichen Nähe, die bei Ignatius von Loyola noch schlicht „geistlicher Trost“ hieß.
Dieser abstrakte Sprachabsolutismus musste zu Problemen führen, denn ein Abstraktes, das vor lauter Universalität nichts Konkretes mehr berührt, verliert letztlich alle Informations- und Beschreibungskraft. Dass alle Menschen sterblich sind, sagt gerade nichts über das konkrete Los der Sterblichkeit. 1941 spricht Karl Rahner vom Hörer des[!] Wortes und 1976 verfasst er den in zahlreichen Entwürfen[10] vorbereiteten Grundkurs des[!] Glaubens, als ob es in Wirklichkeit das Wort, die Welt, den Glauben und das Schweigen schlechthin gäbe.[11] Letztlich ist diese Abstraktionssucht, wie mir scheint, ein Erbe der spätantiken Kirche. Immer mehr hat sie an regionaler Bodenhaftung verloren, weil sie sich an der machtgeleiteten Universalität eines Imperiums orientierte.
2.3 Sachinformation wird ausgehöhlt
So machte der deutsche Sprachraum des Katholizismus im Sog der Transzendentaltheologie einen theologischen Jargon heimisch, der sich schon im 2. Vatikanum anzeigte. Viele theologische, pastorale neue liturgische Texte gaben ihre Verankerung im Konkreten auf und lösten sich von der alltäglichen Welt- und Menschenerfahrung. Religiöse Kernpunkte wurden nicht mehr beim Namen genannt, sondern als abstrakte Möglichkeitsbedingungen postuliert:
In Synodaltexten geht es um Gnade, Umkehr, Glaubenssinn, das Wechselspiel von Vertiefung und Erneuerung, um Zeichen und Werkzeug, kirchliche Vollmacht; die Kirche sei „gleichsam[!] das Sakrament“ (LG 1), Charismen sind „inspirierte Kompetenzen“ und es geht recht blumig um das „Zueinander des gemeinsamen Priestertums aller und des besonderen Priestertums des Dienstes“.
So bildet sich eine geschmeidig anspruchsvolle, zugleich gegenstandslose und interpretationsbedürftige Sprache heraus, die alles verflüssigt, metaphorisiert und abstrahiert, deshalb in wirklich kritischen Fragen um den Brei herumreden kann, bisweilen in eine leere Befindlichkeitslyrik absinkt. Auf die Dauer, so meine These, führt dieser Sprachstil zu religiöser Willkür und interessengeleiteter Beliebigkeit, weil er sich nach Belieben kneten lässt. Auch viele Konzilstexte sind in sich unangreifbar, vielleicht auch schön, aber eben vielfältig interpretierbar. Wie will man denn das zweite und dritte Kapitel der Kirchenkonstitution, also die Aussagen zu Volk Gottes und bischöflicher Hierarchie, unter einen Hut bringen? Sie produzierten eine polarisierte Kirche. Max Seckler bescheinigt den Konzilstexten nicht selten einen Kompromiss des „kontradiktorischen Pluralismus“.[12] Man muss sich diesen Begriff auf der Zunge zergehen lassen. Aus diesem Konzil wurde die katholische Interpretationskunst deutlich überdehnt. Im Klartext: Eklatante Widersprüche werden als Kompromisse verkauft.
Doch wirklich neu war diese irritierende Beschreibungstechnik nun auch wieder nicht. Seit gut 100 Jahren rettete die katholische Theologie ihre Inhalte vom Stockwerk der Natur, wie man dies nannte, in das Stockwerk der Gnade, die sie verräterisch „Übernatur“ nannte. Diese Übernatur wurde zum unbeirrbar schwebenden Raumschiff. Die Glaubenstreuen schauten demütig nach oben oder verstrickten sich selbst in eine lebensferne Sprachlyrik. Was man nicht mehr verstand, überhöhte man zum Geheimnis.
So fiel diese unkonkrete, oft weltflüchtige Sondersprache auch den Reflektierteren unter den Fachleuten lange nicht auf. Doch hinter diesen Schleiern konnte sich umso ungestörter eine rational abgedichtete, dogmatisch glasklare und verhärtete Kirchenlehre behaupten. Unter den beiden Vorgängerpäpsten feierte sie neue Triumphe und selbst Bischof Voderholzer kann sich den Ausbruch aus diesem Gehäuse nur als destruktive Instrumentalisierung für niedrige Interessen erklären, womit er viele Reformwillige im Grund beleidigt.
Schon seit Konzilszeiten gab es warnende Stimmen. Hans Küng diagnostizierte 1968 in nicht verklausulierter Sprache: „Die Wahrheit wird in den Dienst des Systems gestellt und politisch gehandhabt. Die Worte werden nicht zur Kommunikation, sondern zur Domination verwendet. Die Sprache wird korrumpiert, durch taktische Zweideutigkeit, sachliche Unwahrheit, schiefe Rhetorik und hohles Pathos. Unklares kann somit als klar und Klares als unklar hingestellt werden. Die eigene Position wird hinauf gelobt und der Gegner ohne ernsthafte Begründung abgeurteilt. Die fehlende Kontinuität wird durch Auslassungen und Harmonisierungen beschafft. Das Eingeständnis und die Korrektur von Irrtümern werden strikt vermieden und dafür eine praktische Allwissenheit der Autorität insinuiert. Nicht mehr um unermüdliche Wahrheitssuche geht es, sondern um den trägen, eingebildeten und mit allen Machtmitteln aufrechterhaltenen Wahrheitsbesitz.“[13]
2.4 Freundliche Verhüllungen
Seitdem aus Rom ein milderer Wind weht, entwickelt sich unter den Bischöfen ein verstörendes Doppelspiel von einerseits knallhart formulierenden Lehrherren (Walter Brandmüller, Gerhard L. Müller, Stefan Oster, Rudolf Voderholzer, Rainer M. Woelki), die ich sehr ernst nehme, und andererseits einer soften Flexibilität von vermittelnden Bischöfen (Stephan Ackermann, Franz-Josef Bode, Georg Bätzing, Peter Kohlgraf, Reinhard Marx). Dies macht eine reformorientierte Kommunikation mit den Hierarchen noch komplizierter. Sollen wir die autoritäre Schurigelei der Einen für bare Münze nehmen oder der weichen Umwerbetaktik der Anderen trauen?
Bischof Bätzing erklärte zu Beginn der bischöflichen Herbstvollversammlung (20.09. 2021) mit entschiedener Unklarheit: Ziel des Synodalen Wegs sei es, „das Handeln der Kirche sehr konkret[?] zu verändern“. „Wir wollen Perspektiven nach vorn[?] entwickeln.“ Es gehe nicht um einen kleineren Außenanstrich, sondern um wesentliche[?] Veränderungen. „Die Rolle der Frau ist … die entscheidende Zukunftsfrage und eine Öffnung in die Dienste und Ämter hinein muss diskutiert[?] werden.“ Zur kirchlichen Sexualmoral sagte er: „Wir brauchen da Zeichen[?], Zeichen auch im Blick auf Partnerschaften, die nicht in einer sakramentalen Ehe beschlossen werden, ob sie gleichgeschlechtlich oder mehrgeschlechtlich sind. Wir brauchen konkrete[?] Zeichen.“[14]
2.5 Aktuelle Situation
Ja, die Sprache vieler Bischöfe hat sich erstaunlich gewandelt, warum so schnell und ohne jede Erklärung, ohne Rehabilitierung der zuvor Gemaßregelten? Haben sie ihre Glaubensinhalte wirklich umgekrempelt oder waren sie zuvor unaufrichtig? Können sie die inneren Gründe für ihren Sinneswandel benennen? Ist man vom Ordinationsverbot christlich getaufter und gefirmter Frauen wirklich überzeugt? Lehnt man es ab oder delegiert die Mehrheit der Bischöfe ihre Überzeugungen schlicht und einfach nach Rom? Ich fürchte, dass ihr formales Festhalten an der römischen Lehre alle inhaltlichen Überzeugungen überwältigt. Nur so kann ich mir ihre einhelligen Verweise auf Rom und auf die Einheit der Kirche erklären, die mehr ablenken als aufklären. Auf keinen Fall möchten sie zum Zunder einer heißen Diskussion werden. Ich neige eher zur Position: Wer in aktuell umstrittenen Fragen dezidiert keine eigene Meinung hat, sollte zurücktreten und für meinungsstarke Mitchristinnen und Mitchristen Platz machen.
Deshalb habe ich vor einigen Wochen das Verhalten von Bischof Oster gelobt, weil er die Ordination von Frauen in aller Form ablehnt und auf den Privilegien seines vermeintlichen Lehramts besteht. Und paradoxerweise muss ich um der Klarheit der Fronten willen auch Kardinal Woelkis widerborstigem Verhalten zustimmen. Sie zeigen wenigstens das offizielle römisch-lehramtliche Gesicht, das die Mehrheit ihrer Kollegen schamvoll verbirgt, statt es offen zu korrigieren.
Auch stimme ich den präzisen Sprachanalysen zu, die Norbert Lüdecke zu vier Schlüsselsituationen des deutschen Katholizismus vorgelegt hat: zur Gründung des ZdK (1952), zur Würzburger Synode (1972-1975), zum „Gesprächsprozess“ (2011-2015) und zum „Synodalen Weg“ (2020/21). In jedem Fall wurden knallharte Autoritätsstrukturen geschönt, verschleiert und in freundliche Worte gehüllt. Verstörend ist der innere Zwang, der von diesen verhüllenden Sprachgesten ausgeht; sie missbrauchen das Vertrauen zahlloser Frauen und Männer, die auf eine glaubwürdige Glaubensgestalt hoffen. Wer redet mit ihnen offen, sachbezogen und ehrlich?
Unsere Bischöfe sollten sich auch nicht mehr in die Sprache ihrer Amtstrachten verhüllen. Denn je prachtvoller ein Bischof in liturgischen Gewändern auftritt, umso mehr verrät er – unausgesprochen und verdeckt ‑ seinen authentischen Anspruch. Lüdecke spricht vom „liturgietextilen Zwiebelschalenprinzip“ (176), weil jedes Kleidungsstück einen amtlichen Anspruch vertritt. Deshalb sind diese narzisstisch ausgekleideten Amtsfiguren der natürliche Feind alles Authentischen.
Ich halte die vorherrschende Situation freundlicher Verhüllungen für tödlich. Sie erstickt offene Informationsflüsse und diskriminiert die Sprache der reformorientierten Kräfte als ideologisch und interessenbedingt. Bitte, Ihr Herren Bischöfe, vergesst nicht die Demütigungen, die ihr dem Gottesvolk zufügt. Die Entlarvung Eurer teils autoritären, teils verhüllenden Sprache wäre für die Zukunft unserer Glaubensgemeinschaften ein unverzichtbarer Dienst.
3. Mangel an Ehrlichkeit – Blockaden statt eines offenen Dialogs
3.1 Sprache als Handlung und Beziehung
Die Sprechakttheorie macht neben der Illokution auf eine weitere fundamentale Dimension der Sprache aufmerksam. Sprache will keine folgenlose Mitteilung sein, sondern Wirkungen erzeugen: Sprache eröffnet Sprachspiele (Ludwig Wittgenstein), sie handelt, fordert heraus oder beruhigt, verbindet oder polarisiert, trägt Wahrheit oder Lüge in die Welt, versöhnt oder erzeugt Hass. Sprache trägt nicht nur Vergangenes weiter, sondern eröffnet auch Zukunft. Sie verspricht, macht Treue verpflichtend, schafft Beziehungen, Gemeinsamkeit und kann sie zerstören. Es geht um Perlokution und Performanz.[15] Ohne diese wirksame Kommunikation wären menschliches Leben und eine lebensfähige Gemeinschaft schlicht unmöglich. Diese sprachlich basierten Beziehungs- und Gemeinschaftsprozesse sind in unserer Kirche schon seit Jahrzehnten, wenn nicht seit Jahrhunderten gestört.
3.2 Monologisches Reden und monologische Wahrheit
Wir kommen, wie schon gesagt, aus einer Glaubenspraxis und aus einer Theologie, die sich an einem zeitlosen, monologischen Wahrheitsideal misst. Kaum jemand hat verstanden, welch enorm destruktive Rolle dieses monologische Verstummen etwa bei der Missbrauchsepidemie und deren Vertuschungen gespielt haben. Die Weihe-Ideologie hat keine Beziehungen gefördert, sondern diese unterdrückt oder unterbrochen, einen geradezu zwanghaften Zynismus zustande gebracht.
Dafür gibt es einen wichtigen Grund: Spätestens seit dem 4. Jahrhundert – ich erinnere stellvertretend an das erste allgemeinkirchliche Konzil von Nikaia (325) – wurde die Kirchenlehre im normativen Kern nicht mehr durch Erzählungen und Zeugnisse, sondern mit den Stützpfeilern einer objektivierenden Sprachlogik im Lot gehalten, die jede Sprachbeziehung ignoriert. So war es nur konsequent, wenn der damalige Kardinal Ratzinger 2020 es in Missachtung einer jeden Kommunikationskultur untersagte, mit Nichtchristen einen ergebnisoffenen Dialog zu führen; bis heute trainiert die katholisch-theologische Ausbildung noch an vielen Orten ihre Adepten in diesem beziehungstödlichen Immobilismus. Man lernt zu repetieren und zu dozieren, nicht, sich auszutauschen und zu diskutieren. Gerhard L. Müller ist dafür ein hervorstechendes Beispiel. Er kann nur das Seine lehren, das Andere verurteilen, nie aber verletzlich seine eigene Haut zu Markte tragen, seine persönliche Überzeugung zur Diskussion stellen. Doch performatives Reden muss authentisch sein oder es verfehlt sich selbst.
3.3 Monolog der Zweiständekirche
Der schlimmste Feind dieses authentischen Redens ist die Zweiständekirche, die streng zwischen dem Klerus und dem Rest der Kirchenmitglieder unterscheidet, sie zu Hörenden degradiert. Im Grunde verhindert sie, dass sich Lehrende und Hörende austauschen können. Deshalb ist sie auch der Feind einer jeden Synodalität. Die Hierarchie redet definitionsgemäß nicht mit dem Volk, sondern zu ihm. „Verkündigung“ ist zu einer autoritären Belehrung degeneriert.
Zu Opfern dieses Missstands werden oft pastoral gesonnene Seelsorgerinnen und Seelsorger des „niederen“ Klerus, die den Menschen nahe sind, wirklich hören und authentisch reagieren. Wir kennen Franz Meurer in Köln, Rainer M. Schießler aus München oder Roland Breitenbach (Bad Kissingen, verst. 2020), im eigenen Erfahrungskreis viele kirchliche Bezugspersonen, auch die Bischöfe Jacques Gaillot von Partenia, der „Diözese ohne Grenzen“, und Felix M. Davídek aus der tschechischen Untergrundkirche (gest. 1988). Offiziell hat man sie in die Ecke gedrängt, weil sie dem Monolog gefährlich werden. So mutiert die katholische Kirche im Rahmen von Bildungsgesellschaften und demokratischen Gesellschaftssystemen zu einem erratischen Block. Sie gerät zum Paradoxon voller innerer Widersprüche. In den Augen vieler wird sie zu einem toxischen System, der hierarchische Unfehlbarkeitsanspruch zum Symbol für die Unfähigkeit zu einer wirklichen Kommunikation.
Machen wir uns nichts vor, offiziell hat ein kirchentreuer Bischof noch immer von einer Lehrkompetenz auszugehen, die alle möglichen Kompetenzen von nicht-ordinierten Frauen und Männern, selbst von spirituell hochkompetenten Nonnen oder Mönchen, Theologinnen und Theologen qualitativ übersteigt. In letzten Wahrheitsfragen kann er ihre Argumente und Erfahrungen souverän missachten; ihnen gegenüber ist er keine authentische Rechenschaft schuldig.
Bischof Michael Gerber etwa verkündete am 21.06.2021 großmütig auf die Frage nach seinen ersten Erfahrungen als Bischof von Fulda: „Ich habe die Menschen schätzen gelernt“. Doch auf aktuelle Probleme angesprochen verwies er beschwichtigend auf die großen Probleme, die es auch in der Gesellschaft gebe und dem Ordinationsverbot von Frauen wich er mit leeren Sprachfloskeln aus. Diese Frage sei „hochrelevant“ und habe „viel zu tun mit dem Leitungsverständnis. Verstehe ich Leitung eher als Verwaltung oder vor allem als Entwicklung?“ Im Bistum Fulda würden zum Beispiel die Bereiche Entwicklung und Innovation von Frauen geleitet. Dann pries er das „Zueinander“[?] von Frau und Mann zwischen Bonifatius und Lioba, Franziskus und Klara, um seine Ausflüchte mit der Bemerkung zu beenden, die aller Ehrlichkeit ausweicht: „Als Bischof habe ich ja die Verantwortung, dass die Kirche von Fulda Teil der Weltkirche bleibt.“ (20.06.2021)
3.4 Zerstört Dialog und zwingt zu einem Zweizungensystem
Auch die beißende Kritik von Papst Franziskus am Klerikalismus lässt das sakramental geschützte Zweiklassensystem unberührt. Dass die Bischöfe zudem in den Synodalen Weg eine Sperrminorität einbauten, hat auch bei den „progressiven“ Bischöfen keinen Widerspruch provoziert. Sie alle übersehen, dass sie damit die authentisch aufrichtige Sprachgemeinschaft des Glaubens und damit den Glauben selbst zerstören.
So kenne ich keinen Bischof, der es konsequent wagt, aus objektivierten Sprachregelungen auszubrechen. Dennoch möchte man höflich bleiben. Dies führt zu einem Zweizungensystem. Die Ausweichkommunikation meidet den direkten Blick in die Augen des Gegenübers. Diese Gespaltenheit ist auch im päpstlichen Brief vom 29. Juni 2020 zu finden, der zwischen Ermutigung und massiver Warnung schwankt. Augenfällig gespalten ist auch die jüngste Unterscheidung zwischen einer Synodalität „von unten nach oben“ und einer Synodalität „von oben nach unten“, die den Grundgedanken einer Synode ruiniert.
Wie unsensibel, geradezu unfähig die offizielle Kirchensprache gegenüber einer jeden Kommunikation ist, lässt sich am Rücktrittsangebot von Kardinal Reinhard Marx in seinem Brief vom 21. Mai 2021 an den Papst illustrieren.[16] Der Text klingt dramatisch und niemand möchte seinem Verfasser die Seriosität seiner Worte abstreiten. Doch es sind die vorgegebenen Rechtsverhältnisse und die gängigen Strukturen, die den Brief von vorne herein ins Leere laufen ließen.
Zum ersten kann ein Bischof aus eigenen Stücken nicht zurücktreten; er muss den Papst um Erlaubnis bitten. Damit ist diesem Schritt sein letzter Ernst genommen.
Zum zweiten delegiert dieser Schritt die Letztverantwortung für das Handeln der Münchener Kardinals an den Papst. Damit erhält der amtliche Gehorsam einen höheren Stellenwert als das öffentlich zu verantwortende Gewissen einer Person.
Zum dritten bleibt nach Abschluss des Vorgangs das schale Gefühl eines amtsinternen Machtspiels, das die monologischen Verhältnisse stabilisieren und eine jede Kommunikation mit Männern und Frauen aus dem Laienstand unterbinden sollte; der Papst repräsentiert eine höhere, sozusagen über-demokratische Autorität.
Zum vierten ist Kardinal Marx nach der Ablehnung des Gesuchs durch den Papst faktisch unangreifbar; Stimmen aus seinem Bistum sind zum Verstummen gebracht.
Schließlich ist beim Verhalten des Kardinals auch bei anderen Konflikten keine tiefgreifende Veränderung erkennbar. In Kernfragen ist seine Amtsführung – der Amtsführung von Kardinal Woelki vergleichbar – nach wie vor monologisch geblieben. Wie in einem absolutistischen Staatsgefüge bleibt er der ungeschmälerte Herr des Verfahrens. Versuche, die innerkirchliche Öffentlichkeit einzubeziehen, sind nicht erkennbar.
3.5 Folgen beim Synodalen Weg
Ich betrachte die hier vollzogene Aushöhlung von Ehrlichkeit als die gefährlichste unter den aktuellen Krisensymptomen, weil sie die Grundlagen des innerkirchlichen Vertrauens und damit auch die Vertrauensstruktur des katholisch inkulturierten Glaubens unterläuft. Erst wenn die Scheindialoge entlarvt und überwunden sind, hat ein weiteres Gespräch einen Sinn. Die Verteidiger dieses Zweizungensystems aber weise ich auf den wachsenden Kirchenexit hin. Er zeigt: Jährlich verzweifeln etwa 200.000 Weggefährtinnen und Weggefährten an diesem Ehrlichkeitsfiasko, das alle Wahrheit – wenn es gut kommt – zu einem zähen Brei von halbehrlichen und halbopportunistischen Worten implodieren lässt.
4. Verlust an Überzeugungskraft – Weltferne statt Weltentlarvung
4.1 Sprache: Wirklichkeitsbezug und Integration
Gemäß allen Standards, die wir kennen, vermag es die Sprache, die Wirklichkeit in all ihren Dimensionen einzubeziehen. Sie vermittelt umso mehr Leben, als sie diese vielfältige, in sich vielleicht widersprüchliche Wirklichkeit integriert. Eine vitale Sprache vereint realistische Züge und Ideale, ethische Herausforderungen und gelebte Vielfalt, präzise Zugriffe und die Freiheit zur Interpretation, Reflexion und Emotionen, Nüchternheit, Spiritualität und Offenheit für das Geheimnis. Je mehr Vielfalt sie eröffnet, umso mehr vermag sie es, die Fülle des Lebens auszuschöpfen. Weisheit und Poesie, Fiktion und Religion spielen dabei eine hervorragende Rolle.[17]
4.2 Missachtung der Kontexte
Alle diese Dimensionen lassen sich auch im Christentum finden. Dennoch waren die institutionalisierten Großkirchen schon immer von einem starken Intellektualismus geprägt; der während des 19. und 20. Jahrhunderts im Westen starke rationalistische Züge annahm. Der Katechismus der Katholischen Kirche[18] genießt mit seinen 2865 theoretischen Merksätzen ebenso höchstes Ansehen wie der „Denzinger-Hünermann“.[19] Dieser stellt mit seinen 1700 Seiten bzw. 5000 Lehrnummern ein nie dagewesenes Monstrum von Doktrinalisierung dar; die oft kritisierten 613 Toragebote des Judentums können da nicht mithalten. Noch heute vermag die Konzeption beider Werke durch höchste Klarheit zu bestechen, doch diese wird erkauft durch die konsequente Verdrängung aller Kontexte, die man sich denken kann: der geschichtlichen, kulturellen, sozialen Ingredienzien, aller Macht-, Geschlechter- und Rassismusfragen. So entsteht die trügerische Illusion einer vom Heiligen Geist gelenkten reinen Wahrheitsinstitution, als ob diese Kraft über den Herzen und nicht in ihnen wirke.
Deshalb funktioniert in reaktionären (auch in evangelikalen) Kreisen oft nur noch eine Interpretationstechnik, die sich so flach wie möglich an die primären Wort- und Satzbedeutungen hält. Nur wer sein Weltbild auf diese kalkulierbare, weil ort- und kontextlose Rationalität reduziert, kann darin Frieden finden. Zugleich aber produzieren sie und er ein autistisches, berechenbares, beziehungs- und kontextloses Kalkül. Für die vorgegebene, immer hochkomplexe Wirklichkeit bleibt kein Raum mehr. Für mich ist dies eine der Vorbedingungen, die es in Sachen Sexualität und autoritärem Dogmatismus so weit kommen ließen, wie wir es heute erleben. Man hat vergessen, dass Sprache nur dann überzeugt, wenn sie sich in ständiger Dynamik mit der Wirklichkeit auseinandersetzt, statt über ihr zu schweben.
4.3 Weltferne des Lehramts …
Bei dieser Weltferne geht alle Überzeugungskraft verloren, denn abgeblendet ist die Wirklichkeit, die sich in der Sprache abbilden soll, die sie interessant macht, die sie verarbeitet und ausagiert. E. Jüngel sagte einmal: „‘Gott ist die Liebe’ ist nur dann ein wahrer menschlicher Satz, wenn Gott als Liebe unter Menschen Ereignis ist.“ Kontextlose Sätze haben nur wenig mit der Wirklichkeit zu tun; sie wollen nichts mit ihr zu tun haben. Dies sei z.B. Bischof Vorderholzer gesagt, und es ist ein Skandal, wenn Kirchenleitungen ihre Buchstaben mit der Menschenwirklichkeit verwechseln. Dieser Skandal gerät zum zynischen Kabarett, etwa wenn G. L. Müller sich in einem „Selbstexperiment“ zum Apostelschüler macht, der im 1. Jahrhundert seine christliche Dogmatik doziert.[20]
4.4 … bis hin zur Verachtung der Gegenwart
Dieses Generalversagen, diese gewollte Blindheit für die Gegenwart, führt zur globalen Diffamierung des Zeitgeistes, wie sie etwa Bischof Oster so gerne betreibt; er lebt noch immer aus den zeitlos konservierenden Dosen einer spätantiken und spätmittelalterlichen Herrschaftsromantik. Weltfern und vatikannah bezweifelt Kardinal W. Kasper doch tatsächlich, dass Zölibat und Frauenordination fundamentale Probleme darstellen.[21] Doch in der jüngsten rhetorischen Entwicklung, die mit dem 2. Vatikanum begann, haben sich die alten unversöhnlichen Differenzen neu herauskristallisiert, dies vor dem Hintergrund der Postmoderne, die man nicht einmal mehr verstehen will.
Diese neuen Gegensätze lassen sich durch keine inhaltlichen Abstraktionen mehr ausgleichen, weil sich nur noch eine Minderheit für diese kirchlichen Inhalte interessiert. So werden der Mangel an Ehrlichkeit und der Realitätsverlust nicht einmal mehr sichtbar. Viele Interessierte nehmen nur noch leere Worthülsen wahr. Für viele Zeitgenossen, Männer wie Frauen, hat die Zeit der nicht-christlichen Alternativen, gegebenenfalls eines schmerzlichen Abschieds, schon lange begonnen. Darauf wurden wir in den 26 Jahren entbehrungsreicher, oft demütigender Versuche hinreichend vorbereitet. Jetzt gilt es, Farbe zu bekennen.
Wie wir nach einem halben Jahrhundert endlich zugeben sollten, ist auch dem 2. Vatikanischen Konzil keine tiefgreifende Korrektur gelungen. Seine Überlegenheitsgesten und sein höfischer Stil des Belehrens haben schon manche Ehrenrettung zum Verzweifeln gebracht. Nach wie vor verstand sich die Kirche als „Mutter und Lehrerin“. Deshalb blieben die vielen Versuche, eine lebendige Kirchensprache zurückzugewinnen, mit Bremsklötzen versehen. Noch immer werden Neuansätze als unverbindliche Anwendungen, Illustrationen oder bloße Gebrauchsanweisungen relativiert; Kreativität verfällt dem Boykott. Einege Namen sind schon genannt. Ich füge hier Vertreterinnen der feministischen Theologie sowie jene Frauen und Männer, z.B. Ordensschwestern in Afrika hinzu, die den Menschen konsequente Lebenshilfe anboten und dafür büßen mussten.
Trotz aller Reformbemühungen kann diese massive Weltdistanz einen massiven, geradezu epidemischen Verlust an Glaubwürdigkeit ungehindert vorantreiben. Die offizielle kirchliche Sprache der Dogmen, Doktrinen und der Kirchenfürsten wird sein Momentum nicht schmälern. Luthers Appell, man möge dem Volk doch bitte aufs Maul schauen, ist großflächig abgeschmettert. Von der bemerkenswerten Forderung des Essener Bischof Franz-Josef Overbeck (02.10.2021), das einzige unfehlbare Lehramt komme den Leidenden zu, sind wir weit entfernt.
Gewiss, viele widerstandsfähige Personen gewinnen an Einfluss. Das ist gut so. Doch solange sie die Ausnahmen bleiben, haben wir noch keinen Durchbruch erreicht. Ich erwarte, dass die Sprachkritik endlich aufgegriffen und verstärkt wird. Wir haben also darüber nachzudenken, wie wir diese Barriere konsequent überwinden und zu einer Gegen-Sprache finden, die unsere Wirklichkeit wiederspiegelt.
4.5 Zeichen der Hoffnung?
Natürlich kennen wir die großen theologischen Konzeptionen, die Kontexte gegenwärtig setzen und zum Tanzen bringen. Das sind narrative, befreiungs-, gender- und ethno-theologische Entwürfe. Doch bleiben sie inkonsequent, wenn sie die Kritik an den kontextlosen Vorgaben der kirchlichen Lehre ignorieren. Kontexte lassen sich nicht halbieren. Dabei denke ich leider an Papst Franziskus als das prominenteste Beispiel. Trotz spirituell intensiv erarbeiteter kontextkritischer Ansätze lässt er die kontextfreie Dogmatik unberührt. So bietet er auch vielen Bischöfen einen wohlfeilen Ausweg, die gerne das soziale Unrecht, den Sexismus und Rassismus nach außen geißeln, nach innen aber an keinen Korrekturen interessiert sind.
Das bereitet den reformorientierten Kräften besondere Probleme, denn ständig bleiben sie mit inneren Widersprüchen konfrontiert und immer neu müssen sie sich auf kontext-sterile Sprachebenen begeben, und sei es, um der Klasse der Bischöfe von innen her zu zeigen, dass deren Argumentationsräume aus sich heraus widerlegbar sind. Doch solange wir uns der Sprache der leitenden Glaubensformeln beugen, beugen wir uns dem massiven Kontroll- und Steuerungsdruck, der von dieser Sprache ausgeht.[22]
Wie soll es gelingen, ihnen die biblischen Narrative, vor allem das Narrativ Jesu neu vorzubuchstabieren? Nach wie vor sind es ja diese Kontextferne, die Zeit-, Geschichts- und Beziehungslosigkeit der kirchlichen Sprache, die sie zwangsläufig zum Kontrollinstrument machen.
5. Entleerte Grenzüberschreitung – Macht der Symbole
Bislang haben wir unsere Sprache in drei Grundfunktionen betrachtet und kamen zu enttäuschenden Folgerungen. Auf der Mitteilungsebene führt die Amtskirche zu einer Atmosphäre der Unklarheit und Irreführung. Auf der Handlungsebene initiiert sie kein verbindlich authentisches Sprechen und ihr faktischer Wirklichkeitsbezug ist erschreckend ausgedünnt. Die entsprechenden Defizite sind für ein christlich orientiertes Gottvertrauen tödlich. Schließlich wirken kontextlose Sprachen immer wie ausweglose Ideologiemaschinen. Sind sie nicht zum Fallbeil eines zukunftsfähigen Glaubens geworden? Oder ist eine Selbstheilung möglich?
5.1 Sprachkompetenz: Analogie und Grenzerweiterung
Bislang ließen wir eine entscheidende Dimension außer Acht. Das ist die geradezu anarchische Kompetenz der Sprache zu Analogie, Grenzerweiterung und Selbstüberschreitung, zum Symbol, zur kreativen Rekonstruktion von Wirklichkeit in Erzählung und Fiktion. Die Sprache kann ihre Bedeutungsräume erweitern, die Grenzen der unmittelbaren Beobachtung, der direkten Beziehungen und der definierbaren Integration von Kontexten überschreiten. Offensichtlich kommt diese Kraft aus Wurzeln, die seit dem Ursprung menschlichen Lebens wirken und unsere Menschwerdung begleiten; im Anfang war das Wort.
Ursprünglich bilden Vorstellung, Benennung und Erfahrung ja eine Einheit, die vor-bewusste Erfahrungen im Dauerstress aktiviert. Diese Symbolik kommt bevorzugt in Kunst und Religion zu sich. Sie bringt Unsagbares zum Ausdruck. Sie lotet Tiefen- und Grenzerfahrungen aus, die das Verfügbare überwinden. Auf Grund ihrer analogischen Kompetenzen gibt es so etwas wie eine religiöse Sprache, die göttlich-Jenseitiges vergegenwärtigt, ohne es übergriffig zu definieren. Ein Schüler soll einmal erklärt haben: „Fiktion ist eine Lüge, die die Wahrheit sagt“ (Simon Stephens). Man könnte auch erklären: “Fiktion ist eine Wahrheit, die die Grenzen und die Lügen eines falsch verstandenen Lebens aufdeckt.“
5.2 Traditionelle Symbolwelt der Kirche
Auch unsere Kirchensprache verfügt über eine reiche Symbolerfahrung. Allerdings pulsiert ihr offizielles Kirchenbild noch in der Metaphernwelt von organischen Abhängigkeiten und einer mythischen Übermacht. Die beschworenen Verhältnisse sprechen von Gott, dem Vater, und der Mutter Kirche, von Zeugung und Geburt, also einer vorgegebenen Familie, deren Grundstruktur ich nicht ändern kann. Sie sprechen von Hirten und Schafen, von Opfertod und Jüngstem Gericht, von Pantokrator, Herz Jesu und dem Herz Mariens. Hinzu kommen die sich unabänderlich wiederholenden Konstellationen des Jahresablaufs, von Sonne, Mond und dem gestirnten Kosmos. Präsentiert werden Ewigkeit und vorgegebene Ordnung, schließlich die Attribute der Herrschaft wie König, Herr, Allherrscher, Richter. Sie passten zu den Interessen einer vormodernen, unveränderlichen Institution. Die übrige reiche Symbolwelt, die wir aus der Schrift und der Mystik kennen, wird diesen Leitsymbolen untergeordnet. Selbst das Ur-Symbol der Heiligkeit wird in der katholischen Tradition von einer hochautoritären „kirchlichen Gesinnung“ aufgesogen. Das römische Selbstlobkollektiv erhebt den alles andere als heiligen Karol Wojtyła schon sechs bzw. neun Jahre nach seinem Tod zur Ehre der Altäre.[23]
Inzwischen erhielt diese zutiefst archaische und patriarchale Symbolik vitale Konkurrenzen, dies nicht nur aus östlichen Religionen, während unsere Symbole der Vorzeit ihrem Verschleiß erliegen. Wie konnte es so weit kommen?
5.3 Biblische und gegenwärtige Symbolwelt
Stark verdrängt wurden die jüdischen Wegmarken von Freiheitsentscheidungen und Aufbruch, von endlosen Wanderungen und Wüstensituation, vom Scheitern und Versagen der Stämme, der prophetischen Provokation, der Urflut und den Davongekommenen, die sich in die Arche flüchteten, dem zentralen Schrei nach Gerechtigkeit. Unterbelichtet blieben zeitgenössische Symbolwelten von Bewegung und Polarität, von Freiheit, Unentscheidbarkeit, Wagnis und Katastrophe, vom Nichts und pulsierenden Weltall, der Evolution des Lebens, von ökologischen Katastrophen und vom Geheimnis der Energie. Gegenüber Kunst und Literatur sind luftdichte Filter eingebaut. Wann werden einschlägige Texte von Rose Ausländer, Paul Celan, Hilde Domin oder anderen Personen aufgenommen und wann kann sich das Bewusstsein durchsetzen, dass die Sprachgattungen der Erzählung und symbolischen Verdichtung gegenüber dogmatischen Ableitungen einen qualitativen Vorrang haben? Sie nämlich präsentieren keine entleerte Fiktion, sondern eine im Jenseits berstende Wirklichkeit.
In dieser statisch traditionalen Symbolwelt verflachte auch jede gegenwartsbezogene, gesellschaftskritische Apokalyptik zum jenseitigen Schreckensszenario von Höllenfeuer und Strafgericht. Sie und der Blick auf eine zutiefst gestörte Welt haben keine wahrheitskritische Bedeutung mehr; die kirchlichen Institutionen schoben sich ins Zentrum der Grenzverlegungen und hoben diese narzisstisch auf. So konnte Kardinal Woelki – völlig verquer – an Weihnachten 2020 eine Nebel- und Nabelschau dokumentieren, indem er die Missbrauchsopfer für das um Entschuldigung bat, was sie „insbesondere auch an der Kritik an meiner Person ertragen mussten: Für all das bitte ich Sie um Verzeihung.“ Genialer hätte er die egozentrische Verquerung seiner Amtsauffassung nicht entlarven können, die sich einbildet, gläubige Gedemütigte bangten um seine Würde.
5.4 Paradoxer Überfluss
Doch reden wir auch vom Gegenteil: In seinem Buch Den Himmel zu Sprechen bringen hat Peter Sloterdijk den Finger auf diese Wunde gelegt und in ihr den Kern des aktuellen Religionsverlusts diagnostiziert. Die Definitionswut der Vergangenheit hat die Symbolwelt gegängelt und ihr – sowie den Gleichnissen und Erzählungen – das Leben ausgeblasen; dabei verbirgt Sloterdijk seinen Zynismus des entleerten Himmels nicht. Aber er hat nicht der Religion (wie manche behaupten), sondern ihrer kirchlich gegängelten Symbolwelt den Abschied gegeben. Ihn lässt der utopische Gedanke nicht los, der auch uns begeistern könnte: Genau ein entleerter „Himmel“, also ein neu befreiter Zugang zu unseren elementaren Erzählungen und Symbolen, kann unsere Sinnressourcen wieder zum Sprechen bringen.
Wie aber soll dies möglich sein? Sloterdijk versteht die aktuelle Krise als Chance. Je mehr die traditionellen Glaubensfiguren aus ihren institutionellen Bindungen herausfallen, je irrelevanter also unser Kirchenapparat wird, umso kreativer kann unsere religiöse Sprache wieder werden. „Das sichere Zeichen der jungen Freiheit für die Religion ist ihre überraschende, erhebende, skandalöse Nutzlosigkeit; sie ist überflüssig wie Musik; doch: ‚Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum‘.“[24] So kann das entleerte Symbol des Himmels zum Raum einer neuen, wirklich der entgrenzenden Sinnfrage werden. Im Grunde haben die Religionen einen anarchischen Kern, der sich diametral zu den Interessen einer geheiligten Institution verhält.
So erweist sich die gegenwärtige Kirchen- und Glaubenskrise nicht als ein lästiges, sondern als ein notwendiges Ereignis. Wir können sie überwinden, wenn wir hinter den instrumentalisierten Sprachebenen von (1) Legitimität, (2) Akzeptanz und (3) Realitätsnähe auch der (4) Symbolebene ihren notwendigen Raum zugestehen. Nur so können wir dem fruchtlosen Hamsterrad entkommen.
Symbole liegen immer quer, so wie das Ursymbol „Gott“ auch immer quer liegt. Eberhard Jüngel erklärte einmal, Gott sei „mehr als notwendig“[25] und ich füge hinzu: Gott lässt sich weder in eine eindeutige Sprache noch in ein rational geschlossenes Denken zwängen. Selbst „Gott“ ist Symbol für Gott, wie Paul Tillich sagt. Er ist nach Sloterdijk weder ein Deus ex machina noch ein Deus ex cathedra. Doch diesem Satz fügt er das bemerkenswerte Schriftzitat hinzu: „…und er sprach zu ihnen nicht, es sei denn in Gleichnissen.“ (Mt 13,34). Die Zuflucht zur Sprache des Symbols kann gegenüber unseren Sprachverkrampfungen als paradox befreiende Intervention dienen.
5.5 Beispiel Marc Chagall
Zur Illustration dieser überbordenden Symbolwelten wären zahllose Beispiele aus Literatur, darstellender Kunst, aber auch aus der Musik möglich, warum auch nicht aus der Liturgie von Christentum und Weltreligionen? Ich suche wie zufällig Zuflucht bei einem Bild von Marc Chagall über die Schöpfung des Menschen, das seit den 1980er Jahren in Mainz, St. Stephan zu sehen ist. Sein großes Vorgängerbild aus dem Jahr 1958 habe ich im sonnendurchstrahlten Nizza bestaunt: Ein herabschwebender Engel trägt auf seinen Armen den nackt, hilflos und ohnmächtig dahingestreckt liegenden Menschen im unendlich strahlenden Blau des Himmels zu uns herab. Wie ein schlafendes Kleinkind lässt dieses Menschlein den Kopf nach unten hängen. Doch diese Kreatur muss sich nicht fürchten, denn der Engel, dessen Flügel noch das Göttliche streifen, birgt sie. In diesem Bild leuchtet ein tiefes Ausgeliefertsein, das in eine Geborgenheit übergeht. Ein unerschüttertes Vertrauen atmet bestimmt die Atmosphäre. Das Geheimnis menschlicher Schwäche wächst hinein in die Kraft des göttlichen Beschütztseins. Beide sind eng ineinander verwoben. Wer sollte die wortlose, aber Bände sprechende Botschaft dieses Bildes nicht verstehen?
Weitere Beispiele könnten Bibliotheken füllen und ich möchte Euren religiösen Erfahrungen im Umgang mit Symbolen nicht vorgreifen. Erinnert Euch an sie, denkt über Eure Erfahrungen mit Musik, bildender Kunst, Literatur und Bildern nach. Mehr noch, übt Euch auch in der Kunst ein, die dogmatische Sprachwelt wieder als Symbolwelten zu verstehen. So wird sie ihre Wahrheit nicht verlieren, sondern neu gewinnen.
6. Zu Wächtern der Sprache werden
6.1 Spracherneuerung geht aller Kirchenreform voraus
Wir blicken dankbar, aber auch ernüchtert auf 25+1 Jahre kirchlicher Reformarbeit zurück. Meine kritischen Ausführungen sollten das Erreichte nicht schlechtreden oder gar ungeschehen machen, aber auf gefährliche Defizite hinweisen, die unsere Kirche heute bedrohen, die sie aber auch überwinden kann.
Allerdings ist Nüchternheit am Platz. Mary McAleese, ehemalige irische Staatspräsidentin, erzählte auf ihrer großen Rede vom 10.09.2021 in Bristol einen alten irischen Witz: Ausländische Touristen haben sich auf dem Land verirrt und fragen einen einheimischen Bauern nach dem Weg zur Stadt. Er antwortet: „Nun, wenn Sie dorthin wollen, würde ich an Ihrer Stelle nicht von hier aus starten!“ Für McAleese beschreibt diese Geschichte sehr genau die „unorganisierte, nicht kartografierte Reise von Papst Franziskus in Richtung einer synodalen Kirche.“ Wir brauchen, so ihre Botschaft, endlich realistische Wege mit klar definierten Ausgangs- und Zielpunkten. Deshalb müssen wir lernen, klar, miteinander und sachbezogen zu reden. So schlage ich auch für unseren Weg einen Strategiewechsel vor.
Dazu wollte ich einen Gesichtspunkt herausarbeiten, den ich für unverzichtbar halte: Kirchenreformen setzen eine klare, unverhohlene und ganzheitliche Kommunikation voraus. Bislang konnte sie sich so erfolglos voranschleppen, weil keine Transparenz und keine Vision gegeben war. Geräuschvoll, aber orientierungslos redeten und reden wir aneinander vorbei.
Anders gesagt: Die Reformsprache muss transparent werden und vorbehaltlos klären, was genau in der Glaubensgemeinschaft geschehen soll. Dies betrifft die sachliche Sprachinformation, die personale und kollektive Sprachwirkung sowie das Gesamtfeld der Kontexte. Schließlich ist die grenzverlegende Kraft zu beschreiben, die uns motiviert. Die ganzheitliche Konzentration auf diese Aspekte erfordert einen Strategiewechsel. Dies scheint mir der oft genannte Paradigmenwechsel zu einer zukunftsfähigen Kirche zu beinhalten.
6.2 Kategorische Rückfragen sind unerlässlich
Wir müssen zu Wächtern der kirchlichen Sprache werden, weil nur eine angemessene Sprache Erneuerung und Verständigung ermöglicht. Stellen wir den Bischöfen und anderen Trägerinnen oder Trägern von Entscheidungen klärende Fragen:
(1) Was meinen Sie konkret?
Gewiss, das ist nur eine Vorfrage, für sich allein bliebe sie uninteressant, höchstens ein intellektuelles Geplänkel. Doch jede begründbare Folgerung setzt ihre klare Beantwortung voraus. Wir wollen wissen, woran wir sind. Das Kölner Stadtarchiv versank ins Bodenlose, weil sich sein Grund in einem amorphen Sandschlamm aufgelöst hatte. Deshalb ist bei jedem Diskussionspunkt zunächst auf eine sachliche, konkrete und belastbare Auskunft über das wirklich Gemeinte zu bestehen. Wir geben uns mit keinen abstrakten, diffusen oder verhüllenden Ziel- und Handlungsangaben mehr zufrieden.
Der bloße Hinweis auf einen tieferen oder höheren Sinn sowie auf den guten Willen der Macher bereiten nur spätere Irrführungen und die Vortäuschung unhaltbarer Erwartungen vor. Deshalb verlangen wir von unseren Kirchenleitungen, dass sie sich einer konkreten und sachbezogenen Sprache bedienen. Moralisierende und pseudospirituelle Diskurse haben keine Reaktion mehr verdient. Solange ihre Sprache unklar bleibt, müssen wir der Wahrheit wegen verstummen.
(2) Können Sie Ihre Aussage bzw. Absicht auch persönlich begründen?
In Reformfragen sind unsere Kirchenleitungen meist Partei oder sie stehen in einem Zweifrontenkrieg. Deshalb müssen wir wissen, wo ihre nicht austauschbaren Gewissensüberzeugungen wirklich stehen. Welche Spannungen gibt es zwischen ihren amtlichen und ihren persönlichen Positionen? Können sie darüber Auskunft geben? Wie sieht es aus hinter ihren – von uns vielfach erlittenen – Techniken des Vermittelns oder Hinhaltens, Besänftigens oder Täuschens, ihrer Wahrheitsbekundung oder verschwiegenen Vorbehalte (im kirchlichen Fachjargon revervatio mentalis genannt)? Es gilt, diese Mauern zu durchbrechen, die nur autoritäre Härte oder sublime Irreführung demonstrieren. Andernfalls wirken alle formalen Hinweise auf offizielle Überzeugungen und kirchliche Dogmen, auf römische Vorbehalte oder die kirchliche Einheit kontraproduktiv.
Anders gesagt, Reformdebatten sind nicht für Frauen und Männer, Etablierte und Deklassierte zu führen, sondern mit ihnen. Deshalb sind die Kontroversen authentisch auszuhandeln, haben sich in Rede und Gegenrede zu bewähren. Dies ist das Kernmotiv aller konsequenten Synodalität. Wir fordern, dass auch die hierarchie-internen Debatten – genauso wie in Parlamenten – transparent werden, sich nach außen öffnen. Wir möchten, wir müssen wissen, was hinter den kirchenamtlichen Kulissen verhandelt und wie dort argumentiert wird. Nur auf diese Weise lassen sich die oft ruinösen Reformdiskussionen entgiften.
(3) Greifen Sie wirkliche Fragen der Gegenwart auf?
Nachdem die Authentizität eines Gesprächs hergestellt ist, folgt naturgemäß die nächste Frage, die wir im Idealfall zusammen mit den Kirchenleitungen stellen können: Wenn die Kirche wirklich für die Menschen da ist und nicht umgekehrt, öffnen sich dann die fälligen Reformgespräche für die sozialen und sexuellen, gesellschaftlichen und kulturellen, regionalen und globalen Kontexte oder sollen sie noch immer mit ideologischen, vormodernen, sexistischen oder autoritären Vorgaben übertüncht werden? Ist die menschenfeindliche Wirkung von scheinbar überweltlichen, kontextfreien, zeitlosen und unfehlbaren Wahrheiten entlarvt? Vergessen wir nicht: Nur was die Lebenswelt von Mensch und Gesellschaft wirklich berührt und zum Besseren hin gestaltet, verdient Beachtung.
(4) Wie betten Sie Ihr Verhalten in die großen Visionen unseres christlichen Glaubens ein?
Das muss nicht die erste der genannten Testfragen sein, doch aus christlich-religiöser Perspektive ist sie die wichtigste, deshalb hier letzte, die ich hier stelle. Bislang endeten viele Reformdebatten problematisch. Sie wurden auf doktrinale oder strukturelle Einzelfragen verengt, erschöpften sich in menschenrechtlichen Perspektiven oder erhitzten sich zu einem fundamentalistischen Gefecht. Deshalb ist nachdrücklicher denn je an den umfassend visionären Horizont des Gottesreichs zu erinnern: Werden die tragenden Impulse der biblischen Schriften und der jesuanischen Erinnerungen wirklich ernstgenommen? Gehen wir kreativ mit den großen Menschheitsvisionen um, die immer neu in der Welt unserer Kulturen entstehen? Gelingt uns sogar ein verständnisvoller Einblick in die gewaltige Symbolwelt anderer Religionen?
Langfristig lassen sich die Fragen der Kirchenreform nicht gegen unsere und andere Glaubensvisionen ausspielen. Umgekehrt verlieren sich Glaubensvisionen in Spinnerei oder Fanatismus, wenn wir sie nicht rückkoppeln auf die Fragen nach einer humanen Gestaltung von Kirchen und Welt. Ihr verbindlicher Bezug zur Kirchenreform ist herzustellen. Keine Kirchenreform ohne Glaubensvision. Von welchen Visionen als leben unsere Bischöfe?
Diese vier Postulate mögen bischöflichen hierarchischen Unmut provozieren, wohl schlägt ihnen zu viel Misstrauen entgegen. Doch ich formuliere diese Postulate erst nach großer erwiesener Geduld, nach Jahrzehnten anmaßender Reformverweigerung, nach einem Unmaß an Verurteilungen und Sanktionen, nach der entehrenden Entlassung von Frauen und Männern aus dem kirchlichen, theologischen oder sozialen Dienst. Angesichts der dramatischen Folgen dieser erwiesenen hierarchischen Widerborstigkeit füge ich hinzu: Die aktuell verweigerten oder missbrauchten Antworten besiegeln nur den faktischen Verlust bischöflicher Autorität. Nicht die Reformkräfte, sondern die hierarchische Untätigkeit hat den Ruf der Bischöfe ruiniert.
6.3 Selbständige Glaubensgemeinschaften begleiten
Natürlich gelten diese vier Testfragen nicht nur für die Auseinandersetzungen mit Bischöfen, die ich hier als Exempel herangezogen habe. Oft ist das Kirchenvolk nicht auskunftsfreudiger, kooperativer oder authentischer. In der Hierarchie zeigen sich dieses Missstände nur deutlicher, weil sie im Rahmen einer absolutistischen Struktur agieren. Wir müssten die vier Fragen in jedem Reform- oder Glaubensgespräch zur Geltung bringen und dieses Vorhaben wäre eine eigene Arbeit wert.
Zugleich möchte wir es nicht leugnen: Wir sind keine naiven Anfänger mehr und haben uns schon oft darin üben müssen, unsere Hoffnungen in realistischer Weise zu zügeln und zu härten. Jahrzehnte der Reformverweigerung haben uns nicht in die Resignation oder Verbitterung getrieben, aber gezeichnet. Wir nehmen zur Kenntnis, dass man das Gottesvolk über die Maßen verachtet und seine Loyalität missbraucht hat. So ist denn der Kirchenexit in vollem Gang. Verweigerte Antworten schaffen deshalb keine neue Situation mehr, sondern besiegeln, wie gesagt, nur den faktischen Autoritätsverlust, den die Hierarchie seit Jahrzehnten erlitten hat.
Zu fragen ist deshalb nicht mehr, ob wir unseren Bischöfen unsere Loyalität aufsagen dürfen. Angesichts des enormen Ansehensverlusts für die christliche Botschaft stellt sich vielmehr die Frage: Können wir eine weitere Loyalität zum hierarchischen Kirchenapparat mit unserem christlich orientierten Gewissen noch vereinbaren? Wir sollten uns darauf vorbereiten, auch die entstehenden Glaubensgemeinschaften außerhalb des traditionellen Kirchenraums spirituell zu begleiten. Wie können wir für sie geistliche Dämme aufwerfen, damit sie weder in die Bedeutungslosigkeit absinken noch die Zersplitterung der Kirchen weiter vorantreiben? In seiner Ansprache zur Eröffnung der weltweiten Synode zitierte Papst Franziskus den französischen Theologen Y. Congar, der 1950 erklärte: „Wir müssen nicht noch eine Kirche, aber eine andere Kirche erschaffen.“[26] Für sie, nicht mehr für die alte, treten wir ein.
So gesehen, steht uns in diesem Jubiläum ein hohes Maß an Ernst und neuer Entschlossenheit zu Gesicht. Wir vergessen aber nicht die Dankbarkeit, die wir der Volksbewegung Wir sind Kirche, unseren Vorgängerinnen und Vorgängern, den aktuellen Protagonisten und all denen schulden, die die Last in früheren Jahren tapfer getragen haben.
7. Nachwort: Im Anfang war das Wort
Die harte Kritik an der römisch-katholischen Hierarchie hat unwiderlegbare Gründe; in meinem Vortrag habe ich ihre sprachlichen Strukturen skizziert. Doch auch Reformgruppen sind nicht gegen autoritäre Neigungen gefeit. Das verrät die gängige Vorstellung, gutwillige Päpste oder Bischöfe könnten die Kirche von oben her erneuern; sie müssten nur transparenter handeln, die Ordination von Frauen zulassen, den Zölibat abschaffen, die evangelischen Kirchen rundum anerkennen und überhaupt den Klerikern mehr Demut anerziehen. Doch diese Rechnung geht nicht auf. Warum schrumpfen auch die evangelischen Kirchen massiv? Gibt es in ihnen nicht auch autoritäres Verhalten, ein unbegreiflich stures Denken, langweilige Predigten und Lehrtexte, sexuellen und spirituellen Missbrauch?
Noch verwirrter wird die Diskussion, sobald Reformkritiker die strukturellen Reformprojekte gegen eine verinnerlichte Glaubenserneuerung ausspielen. Eure Reformvorhaben, heißt es dann, sind oberflächlich, kümmert Euch lieber um das Gebet, die Gottesfrage und die Pflege Eurer Seelen. Leider unterstützt Papst Franziskus dieses Verwirrspiel, denn einerseits fordert er eine erneuerte Spiritualität (wogegen nichts zu sagen ist), andererseits bleiben die Kernfragen von Struktur und Lehraussagen tabu. So hat es Kardinal Kasper leicht, gegen Erneuerungsprojekte Misstrauen zu säen. Da können Progressive noch so oft zeigen, wie sehr verfehlte Strukturen die Glaubenspraxis beschädigen, gegen die schrecklichen Vereinfacher kommen sie nicht an.
Im Eifer unserer Gefechte haben wir vielleicht eines vergessen: Natürlich müssen wir uns gegen eine Hierarchie stemmen, die uns seit Jahrzehnten ins Hamsterrad zwingt. Doch genau besehen erzeugen keine überheblichen Kirchenherren diesen Zwang. Vermutlich sind wir alle noch in unterwürfigen Mechanismen gefesselt, die Lüdecke an vier Beispielen analysiert hat. Vor 150 Jahren haben wir in Rom eine Stütze gegenüber dem deutschen Protestantismus gesucht, seitdem werfen wir mitdenkendes Hören und einklagbare Loyalität in einen Topf. Diese Mentalität steckt uns allen in den Knochen und in der Regel haben sie auch die Bischöfe schon in ihren Familien gelernt. So überlistet uns alle das Vorurteil, mit einem neuen Papst und besseren Bischöfen werde alles gut.
Doch diese übermächtige Projektionswand hat inzwischen Risse bekommen. Für einen Bruch sorgt Maria 2.0, die das strukturelle Frauendefizit prinzipiell anprangert. Den Anschein der Heiligkeit zerstört ein anderer, der seit 2010 sexuelle Gewalttaten, Vertuschungspraktiken und geistlichen Missbrauch offenlegt. Weitere Bruchlinien rücken allmählich ins öffentliche Bewusstsein: eine erbarmungslose Machtförmigkeit der Strukturen, die destruktive Unterordnung der Sakramente unter Kirchenparagraphen, die unbiblische Chimäre eines „Weiheamts“, ganz abgesehen von den inneren Verwerfungen, denen der Erlösungsgedanke ausgesetzt ist. Die glatte Oberfläche wurde zum verstörenden Krakelee. Hinzu kommt das bald 60-jährige Schauspiel einer vorgetäuschten, weil inkonsequenten Ökumene, die sich ebenso hartnäckig gegen die fällige Entmythisierung der katholischen Ämter stemmt wie sie die Schrift noch immer bevormundet. Schließlich haben Rom und die Bischöfe nicht im Entferntesten begriffen, zu welchen tiefgreifenden Umschichtungen der Dialog mit den Weltreligionen führen müsste. Die Aufgaben sind also gewaltig. Doch die wenigen Frauen und Männer, die sie bislang einforderten, hat ein narzisstisches Kirchensystem erfolgreich ins Aus manövriert.
Doch es gibt auch den wirklich großen Weg der Glaubensreform, der bislang vergessen wurde. Er beginnt, wie ich exemplarisch zu zeigen versuchte, mit einer grundlegenden Erkenntnis: Keine ausgeklügelte Glaubenslehre und keine Hochmoral, kein Aktionsprogramm und keine Kirchenstruktur verleihen dem Ich und dem Wir, unserer Weltgestaltung und unseren Visionen eine spirituelle Orientierung, denn im Anfang war das Wort. Deshalb müssen auch Kirchen- und Glaubensreform mit einer neuen Sprache beginnen, sich ihrer ganzheitlichen Dynamik überlassen; Martin Luther hat es vorexerziert. Wir müssen zu einer neuen Kultur der Sprache, des Erzählens und der Poesie finden, uns der Bibel und anderen Religionstexten so kreativ und unbefangen annähern wie der großen Weltliteratur, sowie unsere Lebensfragen in die visionären Horizonte der Gegenwart stellen. Nur daraus erwächst eine neue Freiheit, die uns aus unseren unreifen Bindungen löst. Sie ermächtigt uns und unsere Gemeinden dazu, eine zukunftsfähige Glaubenspraxis zu entwickeln. Was dann mit Hirtenbriefen und Bischofsstäben geschieht, soll nicht unsere Sorge sein. Das wird die Kraft des Geistes erweisen, die auch das Verhärtete zu biegen vermag.
Die Römisch-katholische und die evangelischen, die altkatholische und die orthodoxen Kirchen, die Freikirchen und evangelikalen Glaubensgemeinschaften, ihnen allen gehört in dem Maße die Zukunft, als sie endlich ihre welt-fernen und welt-überheblichen Sondersprachen hinter sich lassen. So gesehen steht die anstehende Reform des Christseins erst an seinem Beginn. Der wahre und globale Paradigmenwechsel zur Postmoderne steht uns bevor.
Dieser Text wurde am 16. Oktober 2021 bei einem bundesweiten Treffen von Wir sind Kirche in Ludwishafen vorgetragen. Das Nachwort (Par. 7) wurde am 11.01.2022 hinzugefügt. Inzwischen wurde der Text von Wir sind Kirche als „Gelbes Heft“ veröffentlicht.
Anmerkungen
[1] Carl Linnemann am 3.10.2021 zum Wahldebakel der CDU.
[2] Jan Feddersen und Philipp Gessler, PHRASE UNSER. Die blutleere Sprache der Kirche, München 2020.
[3] Erik Flügge, Der Jargon der Betroffenheit. Wie die Kirche an ihrer Sprache verreckt, München 2016.
[4] Peter Sloterdijk, Den Himmel zum Sprechen bringen: Elemente der Theopoesie, Berlin 2020.
[5] Hubertus Halbfas, Religiöse Sprachlehre, Düsseldorf 2021.
[6] Norbert Lüdecke, Die Täuschung. Haben Katholiken die Kirche, die sie verdienen?, Darmstadt 2021.
[7] Michael Schrom, Dunkelgrüner Glaube. Entwickelt sich aus der Klimakrise eine neue Religion?, in: Publik Forum 15/2021, 31f.
[8] Mary Daly, Rosemary Ruther, Elisabeth Gössmann, Tine Halkes, Elisabeth Schüssler-Fiorenza, Sabine Pemsel-Mair, Doris Strahm, Sonja Angelika Strube, ferner die Vorkämpferinnen für die Frauenordination Doris Müller und Ida Raming.
[9] Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus (1918/22), Frankfurt 1999, Satz 7.
[10] Zur Theologie der Menschwerdung, in: Catholica 12 (1958) 1-16, Christologie in einer evolutiven Welt, 1962, Grundlinien einer systematischen Christologie, in: Rahner-Thüsing, 1972, Reflexionen zur Problematik einer Kurzformel des Glaubens, 1970.
[11] Weitere An-sich-Titel folgten. Bei einem ersten Durchblick durch K. Rahners Bibliographie notierte ich mir gut 20 vergleichbare Titel: Öffnung des Herzens, Aufschwung des Herzens, Demütige Einsicht sowie Die Kirche der Heiligen (1955), Das Wort der Dichtung und der Christ (1960), Trost der Zeit (1961), Vom Glauben inmitten der Welt, Sendung und Gnade (1961), Der Mensch von heute und die Religion (1962/64/65), Der Auftrag des Schriftstellers und das christliche Dasein (1962), Selbstvollzug der Kirche (1995), Anfang der Herrlichkeit sowie Der Mann in der Kirche (1956), Der Leib in der Heilsordnung (1967), Der Glaube des Christen und die Lehre der Kirche (1972), Wagnis des Glaubens (1974), Ewigkeit aus Zeit (1979), Der Mensch in der Schöpfung (1998), Einheit in Vielfalt (2002), Leiblichkeit der Gnade (2003), Mensch und Sünde (2005), Priesterliche Existenz (2010), Der betende Christ (2013).
[12] Max Seckler, Über den Kompromiß in Sachen der Lehre (1972). In: ders., Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Kirche. Theologie als schöpferische Auslegung der Wirklichkeit, Freiburg 1980, 99-103.
[13] Hans Küng, Wahrhaftigkeit. Zur Zukunft der Kirche (Freiburg 1968, S. 181) SW 5, 41-183, S. 181f.
[14] G. Bätzing, Pressekonferenz zu Beginn der Herbstvollversammlung der deutschen Bischöfe am 20.09.2021.
[15] John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words), Stuttgart 1972.
[16] Angesichts der desolaten Gesamtsituation der katholischen Kirche in Deutschland, die an einem „toten Punkt“ angelangt sei, bat Kardinal Marx in einem Brief vom 21. Mai 2021 dem Papst seinen Rücktritt an. Genauer sagt: Gemäß den offiziellen Regelungen muss ein Bischof den Papst zu diesem Schritt um Erlaubnis bitten.
[17] Vgl. George Steiner, Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?, München 1990.
[18] Der katholische „Weltkatechismus“ (deutsche Ausgabe München 1993) wurde grundlegend konzipiert und redigiert von J. Ratzinger, 1992 von Johannes Paul II. veröffentlicht und in Kraft gesetzt. Er versteht sich als »Darlegung des Glaubens der Kirche und der katholischen Lehre, wie sie von der Heiligen Schrift, der apostolischen Überlieferung und vom Lehramt der Kirche bezeugt oder erleuchtet wird« (Fidei depositum, Nr. 4).
[19] Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. 2017 ist die 47. Auflage (Freiburg) erschienen.
[20] Gerhard Kardinal Müller, Was ist katholisch?, Freiburg 2021, 176-199.
[21] Vgl. die von Voderholzer betreute Homepage: www.synodale-beitraege.de.
[22] Wir können den Druck nur neutralisieren, indem wir neue, beziehungsoffene und kontextsensible Sprachformen entwickeln. Schon die ersten christologischen Dogmen von Nikaia (325), Konstantinopel (381), Ephesus (431), und Chalzedon (451), vor denen wir uns heute noch in Ehrfurcht neigen, waren als wohl definierte Reichsgesetze konzipiert und zur Wahrung der öffentlichen Ordnung einsetzbar. Das Schlüsselwort von der „Homo-usie“ (Wesensgleichheit) wurde vermutlich vom Kaiser selbst eingeführt. Primär war eine imperiale Definitionsmacht, nicht die glaubende Gemeinschaft am Werk.
[23] Als heilig gelten mit ganz wenigen Ausnahmgen die ersten ca. 50 offiziell anerkannten Päpste bis Gelasius I. (gest.496) und Symmachus (gest. 514, hl.). Bis zum 19. Jh. folgen etwa 30 heiliggesprochene Päpste. Dann folgen Pius IX. (gest. 1878, sel. 2000), Pius X. (gest. 2017, hl. 1954), Pius XII. (gest. 1958, „Ehrw. Diener Gottes“ 2009), Johannes XXIII. (gest. 1963, sel. 2000, hl. 2014), Paul VI. (gest. 1978, sel. 2014, hl. 2018) und Johannes Paul II. (gest. 2005, sel. 2011, hl. 2014).
[24] Sloterdijk, Himmel S. 335.
[25] Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 21977, 30.
[26] Yves Congar, Vraie et fausse réforme dans l’Eglise, Paris 1950