Motive – Grundentscheidungen – Visionen
Sie haben mich nach Luzern, einen der entscheidenden Lebensorte von Hans Küng, zu einem Vortrag eingeladen, der die Reihe der Hans Küng – Weltethos Lectures eröffnet. Dafür danke ich Ihnen sehr, für mich ist das eine Ehre und Herausforderung zugleich.
Dabei ist mir klar, dass Hans Küng vom bloßen Wiederkäuen alter Ideen nicht viel hielt. Dennoch ist es sinnvoll, zu Beginn dieser Reihe noch einmal den Blick auf diesen großen Menschen und Theologen zu lenken. Ich stelle die Frage: Welche Motive, Grundentscheidungen und Visionen haben seinen außerordentlichen Weg geebnet, den er trotz massivster Widerstände gegangen ist? Sein Weg war ja von einer ungezähmten Vorwärtsbewegung gekennzeichnet, die schließlich auf die Weltethosidee übersprang, sich in ihr verwirklich hat.
Der Ökumeniker des ersten Jahrzehnts beschäftigte sich bald mit Fragen der Kirchenreform. Welchen Kosmos von Fragen sie auslösen sollten, war noch nicht abzusehen. In den 1970er Jahren ging er den Grundlagenfragen des christlichen Glaubens nach: in der Geschichte Jesu, der Frage nach Gott und der christlichen Anthropologie. Nach Roms großem Lehrbann (1979/80), der für ihn den großen „Sprung nach vorn“ bedeutete (den Johannes XXIII. schon angemahnt hatte), wandte er sich in exakt geplanten Schritten den Weltreligionen zu. Dort sollten sich seine neuen Koordinaten bewähren. Auch hielt die Arbeit ihn nicht einfach am Schreibtisch, sondern führte ihn zu ungezählten weltweiten Begegnungen und schließlich zum großen Medienprojekt der Spurensuche (2005), die in Sachen Religion alles enthält, „was jeder Zeitgenosse wissen sollte, wenn er oder sie im heutigen Zeitgeschehen einigermaßen kundig mitreden möchte“.[1] Unterdessen wurden Küngs Bemühungen um den moralischen Zustand der Welt unter dem Namen Projekt Weltethos (1990) aus der Taufe gehoben.[2] 1993 erhielt dieses Projekt mit der Erklärung zum Weltethos in Chicago seine weltreligiöse Bestätigung.[3]
In der Außenperspektive folgte also Durchbruch auf Durchbruch, doch die Innenperspektive zeigt eine erstaunliche Kontinuität. Diese innere Einheit und Kontinuität möchte ich zur Darstellung bringen und damit zugleich die Dynamik des Projekts Weltethos als den Integrations- und Kulminationspunkt von Küngs Werdegang beschreiben, der seine Motive, Grundentscheidungen und Visionen perfekt abbildet.
I. Motive
Es zeigt sich ja: Der Wissenschaftler Küng jagte nie komplizierten Sonderrätseln nach, von denen unsere Theologie ja voll ist. Ihn leiteten ganzheitliche, wirklichkeitsrelevante, zutiefst menschliche Motive, Gesamtvisionen. Ein seelsorgerlicher Elan prägt schon seine Luzerner Vikarsjahre. Bei der Vorbereitung des 2. Vatikanum interessiert ihn das gesamte kirchliche Reformprogramm. Die umfassenden Bücher Christ sein und Existiert Gott entspringen dem ursprünglichen Plan, junge Menschen an den christlichen Glauben heranzuführen. Das Interesse an den Weltreligionen beginnt schon früh mit der elementaren Frage, was denn das Judentum für den christlichen Glauben bedeutet. Seine ethischen Interessen entzünden sich zunächst an konkreten medizinischen und ökonomischen Themen. Es sind, so der Anschein, immer Zufälle, doch in der Summe fügen sie sich zu einer einheitlichen Dynamik.
1978 charakterisierte sich dieser unruhige Geist als „unendlich lernbereit“, wobei viele ihn unbelehrbar nannten, auf alles habe er einen Kommentar parat. Sie übersahen jedoch: Bevor er selbst redete, hatte er immer schon zahllose Gespräche geführt, unendlich viel studiert, saß er morgens um sieben Uhr am Schreibtisch, auch wenn er spät am Abend von einer Weltreise zurückkam. So kann er immer aus einer Fülle von Empfangenem und Erfahrenem wiedergeben.
Motiv 1: Politische Neugier
Ein erstes Motiv, das seine theologisch-religiösen und weltlichen Interessen zusammenschweißt, ist sein wertegetragenes politisches Interesse. Für mich ist er immer der hellwache Junge geblieben, der mit 10 Jahren schon regelmäßig die Zeitung liest und mit 12 Jahren über die deutschen Ereignisse einen Schulaufsatz von 32 Seiten schreibt, weil er sich über die gefährlichen politischen Umtriebe des Faschismus maßlos erregen kann.[4] Dieses leidenschaftlich kritische Interesse überträgt er später auf seine eigene Kirche, deren autoritären Missstände er ein Leben lang anprangert. Er belässt es nie bei theoretischen Anklagen, sondern argumentiert konkret, arbeitet einzelne Fehlentwicklungen auf und fordert zielführende Lösungen ein. Seine aufsehenerregende Kritik am Verbot künstlicher Geburtenregelung sowie am römischen Unfehlbarkeitsverständnis sind im Buch Die Kirche gründlich vorbereitet.[5] Es ist strukturorientiert, von einem intensiven und unbestechlichen Studium der Schrift und Kirchengeschichte getragen. Konkreter Reformwille prägt seine Auseinandersetzung mit der Christus- und der Gottesfrage. Er behält immer einen vital kritischen Blick, in dem das Publikum die eigenen Probleme wiedererkennt.
Warum aber gibt er nach Roms entwürdigender Bestrafungsaktion nicht einfach auf? Weil er sich nie vom innerkirchlichen Erfolg, gar von bischöflicher Anerkennung abhängig macht. Jetzt, im Jahr 1980, sieht er eine sich modernisierende Welt, in der die Weltreligionen miteinander in Kontakt treten, einander gefährlich oder hilfreich werden können. Würde der 52-Jährige noch eine theologische Durchdringung dieser endlosen, neuen Themenwelt schaffen? Das Programm ist enorm. Warum aber bleibt seine Neugier so ungestillt und ungezähmt? Weil er auf das ihm Unbekannte eben immer angstfrei zugeht und in seinem politischen Instinkt alles in Augenschein nimmt, in dem er eine neue Zukunft vermutet.
Motiv 2: Vertrauen
Das 2. Motiv, Vertrauen, ist ebenfalls in Küngs Kindheit verankert und kommt zum bewussten Durchbruch, als er 1953 in Berlin-Dahlem mit einem jungen Künstler über Gott und die Welt diskutiert und ihm die Grenzen seiner römischen Gottesbeweise klar werden. Warum kann er ihn nicht überzeugen? Verunsicherung treibt ihn um. Er erinnert sich an R. Guardinis Buch Die Annahme seiner Selbst und stößt auf Pascals Gründe des Herzens. Die logische Rationalität bedarf also einer Ergänzung. Schließlich zeigt sich ihm bei einem geistlichen Gespräch blitzartig die Lösung ein. Ich zitiere:
„Wage ein Ja! Statt eines abgründigen Misstrauens wage ein grundlegendes Vertrauen zu dieser abgründigen Wirklichkeit! Statt eines Grundmisstrauens ein Grundvertrauen: zu dir selbst, zu den anderen Menschen, zur Welt, zum Leben, zur fraglichen Wirklichkeit überhaupt! Und Sinn scheint auf, macht hell, wird Licht …“.
Vertrauen ist also angesagt und er erinnert sich an die ersten kindlichen Schwimmversuche im heimatlichen See, wie er damals ins Wasser springt und ‑ oh Wunder ‑ vom Wasser getragen wird, wenn er sich nur richtig bewegt. Dann spricht er, der immer nüchtern argumentierende Theologe, von unbändiger Freude, von realisierter Freiheit, vom aufrechten Gang.[6]
Eine ausführliche rationale Analyse dieses Zusammenhang legt er in Existiert Gott? vor.[7] Schon im Rechtfertigungsbuch war die Vertrauensfrage angeklungen.[8] Das Motiv einer vertrauenden Hoffnung durchzieht seine Schriften zur Kirchenreform[9] und auf den letzten Seiten seiner Memoiren erscheint der Gebetstext:
„Auf dich, Herr habe ich vertraut, in Ewigkeit werde ich nicht verloren gehen (Ps 71,1)“.[10]
In der Tat, diese frei bejahte Vertrauenshaltung, dieses Grundvertrauen macht ihn unüberwindlich, wird zur unversieglichen Triebfeder seiner Neugier, seines wachsenden Interesses auch für säkulare Themen und eine säkulare Welt, in der die Menschen schließlich leben. Er fürchtet nie um den Verlust seiner inneren religiösen Verankerung, sondern entfaltet gerade als Glaubender eine stets präsente Unbekümmertheit gegenüber Mitmenschen, Kulturen, Religionen, der Welt und ihrer Schönheit. Er bleibt ein Generalist, ein Virtuose der Zusammenfassungen und Übersichten, der dennoch zielsicher zum Wesenskern seiner spannenden Themen durchstößt.
Auch das Projekt Weltethos ist von dieser globalen, konkreten und werteorientierten Neugier geprägt und wohl hat es nur dann eine Zukunft, wenn es von dieser unbegrenzten Neugier getrieben bleibt. Es ist prinzipiell offen, erweiterbar, in jedem Jahrzehnt neu zu gestalten, denn jede ihrer Weisungen zielt aufs Ganze mit seinen je neuen Gestalten und Konstellationen.
II. Grundentscheidungen
Motive versetzen Menschen in Unruhe, lassen aber die Frage offen, was wir aus ihnen machen. Sie können niederdrücken oder beleben, Intoleranz oder eine vitale Offenheit erzeugen. Zu fragen ist also, welche Entscheidungen sich angesichts der genannten Motive fällen lassen. Bei Hans Küng fällt diese Unterscheidung zwischen Motiven und Grundentscheidungen ins Gewicht, denn mehr als einmal musste er sich fragen: Wie soll ich reagieren, wie gehe ich mit enormen Widerständen und verführerischen Erwartungen um? Und die Antworten waren nicht immer selbstverständlich: jedenfalls hat er es so erlebt. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit ihm bei einer Autofahrt in den frühen siebziger Jahren, als er vor einer wichtigen persönlichen Entscheidung stand. Zu meinem Erschrecken erklärte mir rundum, mit seinem Charakter hätte er auch zu einem Verbrecher werden können. Dieser leidenschaftliche junge Mann, dem die Welt zu Füßen lag, wusste sehr wohl, dass er sich zu steuern und zu disziplinieren, seine Antriebe zu kultivieren und höheren Maßstäben unterzuordnen hatte.
Auch erinnere ich mich, als ihn vor seiner Weltreise im Sommer 1972 intensiv die Frage beschäftigte, was ihm ein möglicher Tod bedeute. Glaubwürdig ist also die Haltung, die er selbst für das Jahr 1985 dokumentiert:
„Wir stehen am hellen Vormittag um etwa 11 Uhr auf dem großen Platz – und da plötzlich von ganz nahe der ohrenbetäubende Knall einer Bombe mit einer aufsteigenden riesigen schwarzen Rauchwolke! Die Iraker bombardieren Isfahan! Ein Schrecken, aber er hält sich in Grenzen und hindert mich nicht daran, kurz darauf am selben Platz eine jener schönen persischen Miniaturen zu kaufen. Ich glaube mich ja in Gottes Hand und kann in Deutschland ebenso gut wie im Iran mein Leben verlieren. So dachte ich schon, als ich mich zu dieser Iranreise entschloss.“[11]
Er fällte also Grundentscheidungen, ordnete sein Handeln ausdrücklich in existentielle Horizonte ein. Daraus erwuchs später wohl seine enorme Stabilität und Gewissheit. Ich nenne drei dieser Grundentscheidungen und versuche zu zeigen, wie sie sich im Projekt Weltethos als Erbe und als Aufgabe spiegeln: Wahrhaftigkeit, Menschlichkeit und weltweite Solidarität.
Grundentscheidung 1: Wahrhaftigkeit
Teheran, im März 1985, Hans Küng ist auf dem Weg zu Mohammad Chatami (geb. 1943) dem späteren Staatpräsidenten (2001-2005), damals noch Minister für islamische Kultur. Der deutsche Botschaftsrat, der ihn begleitet, ermahnt ihn, sich bitte vorsichtig zu äußern. Hans Küng:
„Ich komme aus dem Lande Wilhelm Tells und bin gewohnt, offen und deutlich zu reden.“
Er wolle auch das Schicksal der Bahais ansprechen, die hier verfolgt werden. Der Botschaftsrat schlägt die Hände über dem Kopf zusammen und warnt ihn. Hans Küng spricht das Thema bei Chatami dennoch an und bringt diesen unter Rechtfertigungsdruck.[12]
Küng ist ein Leben lang gewohnt, offen und deutlich zu reden, gegenüber Kollegen und Hierarchen, auch gegenüber Befreundeten und Studierenden. Das führt zu manchen Konflikten, wer hat sie nicht erlebt. Doch immer weiß man genau, was er denkt. Er hat sich für den aufrechten Gang entschieden, man lese nur seine Ausführungen zu Thomas More.
Was bedeutet ihm Wahrhaftigkeit? Seiner Generation hatte man noch einen Wahrheitsbegriff antrainiert, der sich streng auf inhaltliche Informationen konzentrierte. Es ging um objektive Genauigkeit und logische Korrektheit. Damit wurde alles zum Fakt, den es gibt oder nicht gibt: die Sünde und die Freiheit, die Seele, die Hoffnung und selbst Gott. In dieser Situation wird dem Sartre-Kenner (dessen Lizentiatsarbeit über Sartre leider verschollen ist) existenzphilosophisches Denken wichtig. Jetzt wird das Geäußerte in dem Maße relevant, als es eine Beziehung zur menschlichen Existenz eingeht. Wahrheit setzt die Wahrhaftigkeit eines Menschen voraus. Das ist Küngs Punkt, als er 1968 das Buch „Wahrhaftigkeit“ schreibt und diese Tugend – auch als eine nahezu traumatische Erinnerung an die Konzilsjahre ‑ einfordert:
„Die Wahrheit wird in den Dienst des Systems gestellt und politisch gehandhabt. Die Worte werden nicht zur Kommunikation, sondern zur Domination verwendet. Die Sprache wird korrumpiert, durch taktische Zweideutigkeit, sachliche Unwahrheit, schiefe Rhetorik und hohles Pathos. Unklares kann somit als klar und Klares als unklar hingestellt werden. Die eigene Position wird hinauf gelobt und der Gegner ohne ernsthafte Begründung abgeurteilt. Die fehlende Kontinuität wird durch Auslassungen und Harmonisierungen beschafft.“[13]
Man sieht diesem Text nicht mehr an, dass er ursprünglich die Sprachschändung durch römische Instanzen meint. Küng weiß, was die Linguistik allmählich herausarbeiten wird: Sprache hat immer eine performative Dimension, denn Wörter und Sprache sind handelnde Organe, die Menschen beeinflussen, zur Durchsetzung von Interessen stimulieren. Keine Ideologie und kein überhebliches Herrschaftssystem kommt ohne eine Sprache zustande, die zur Not die Wahrheit verdrängt, verfälscht oder zum Schweigen bringt.
Küngs Sorgfalt um eine wahrhaftige Sprache erinnert auch an George Steiner[14], der in der öffentlichen Sprache von Wissenschaft und Politik zunehmend „die reale Gegenwart“ vermisst. Dazu zähle ich auch den Realitätsverlust einer aufgeblasenen religiösen Sprache. Die Gründe dafür mögen in der sich steigernden Differenzierung und Pluralisierung unserer Gesellschaften sowie ihrer digitalen Möglichkeiten liegen; in gewissem Sinn ist seine solche Entwicklung unvermeidlich. Doch im Zuge dieser Beliebigkeit gibt es auch die zynischen Spezialisten, die heutzutage im Internet mit höchster Raffinesse auf ihren Robots tausendfach Desinformation, Lügen verbreiten. Wir befinden uns in einem konfliktreichen, politisch hochrelevanten, wohl noch unentschiedenen Prozess.
Rüdiger Safranski hat darauf hingewiesen, dass wir Menschen von der Wahrheit nicht loskommen.[15] Wir brauchen Orientierung, wenn wir nicht scheitern wollen. Deshalb lenkt Hans Küng mit seinem Projekt alle Aufmerksamkeit auf einen wahrhaftigen Umgang mit Mitmenschen, Kulturen und Welt. Es geht ihm darum, der umfassenden Weltsituation gerade nicht auszuweichen, sie nicht schön zu reden, sondern sich mit ihr ehrlich konfrontieren lassen, mit ihr notfalls das Leben zu riskieren. Er spricht von einer Kultur der Wahrhaftigkeit.
Diese Hinweise sind aktueller denn je. Am 30. 09. 2022 erklärte Wladimir Putin am Abschluss der gespenstischen Annexionsfeierlichkeiten in Moskau: „Wir sind stärker geworden, weil wir zusammenstehen. Wir haben die Wahrheit hinter uns, in der Wahrheit aber liegt die Kraft, also der Sieg.“ Solchem Zynismus haben sich human orientierte Weltanschauungen und Religionen klar und offen entgegenzustellen. In dieser Situation muss sich das Projekt Weltethos erweisen als auf den Punkt gebrachter Realitätsernst; es hat mit dem erklärten und konsequenten Ausschluss aller verdunkelnden Haltungen und Motive zu beginnen. Eine Gesellschaft kann nur dann zu sich kommen, wenn ihre Angehörigen einander vertrauen, weil sie wissen, dass sie sich aufeinander verlassen können. Von diesem Bewusstsein muss ihre Verantwortung getragen sein. Deshalb ist dieses Bewusstsein zu wecken.
Grundentscheidung 2: Menschlichkeit
Im Jahr 2013 schreibt Hans Küng:
„Aber letztlich sehe ich meine letzten drei Jahrzehnte in einem durchaus positiven Licht. Ich habe viel Menschlichkeit im wahrsten Sinn des Wortes erfahren und durfte mich, gegen alle Formen von Unmenschlichkeit, einsetzen für mehr Menschlichkeit in der Menschheit: für die Einheit der christlichen Kirchen, für den Frieden der Religionen, für die Gemeinschaft der Nationen. Und es macht mir schlicht Freude zu berichten, wie sehr vieles sich in meinem Leben und Wirken bei allen Kämpfen hoffnungsvoll entwickelt hat.“[16]
Für ihn, der sein Weltvertrauen schon immer in strukturelle und gesellschaftlich-politische Zusammenhänge einbettet, entschlüsselt sich Menschlichkeit in seiner Leidenschaft für gute, d.h. für friedensfähige, gerechte und partnerschaftliche Verhältnisse. Diese Leidenschaft zeigt sich schon in Küngs praxisorientierten Arbeiten zu Gestalt und Ideologie der katholischen Kirche. Sie bildet auch das entscheidende Leitmotiv seiner interreligiösen Forschungen und kommt im Projekt Weltethos ganz zu sich. Sie stimuliert ein wachsendes moralisches Bewusstsein in der Öffentlichkeit, erarbeitet einen frappierenden Gleichklang der Religionen und belebt ein ethisches Bewusstsein in zivilem, ökonomischem und staatsbürgerlichem Verhalten, stimuliert ein vor-religiöses haltungsorientiertes Wissen in Bildung, Ausbildung und Spiritualität.
Eine enorme Mühe und Kleinarbeit zeigt sich schon in den diagnostischen Teilen der Weltethos-Erklärung. Weltweite Skandale, Verwerfungen, systemische Fehlstrukturen werden systematisch und umfassend benannt sowie Auswege beschrieben. Auch dies hat in der Gegenwart eine bislang unbekannte Relevanz. Ich gebe nur drei Hinweise
Hinweis 1:
Wahrheitsverfall begegnet uns tagtäglich im Alltag und in den sozialen Medien. Zunehmend haben wir es zu tun mit einer, respekt- und anstandslosen, gewaltaffinen Sprachverwilderung, mit einem gefährdenden Hate Speech. Im Endeffekt führen sie zu einem allgemeinen Vertrauensverlust gegenüber Mitmenschen und Politik; sie initiieren Brutalität und Gewalt. Die Sprache, dieses erhabene Medium der Wahrheit, kann zur schlimmsten Ursache der Entmenschlichung verkommen. Umso mehr Gewicht kommt die Einübung eines humanen Verhaltens in Bildung und Ausbildung zu. Es ist Zeit, dieses Ziel wieder ausdrücklich in Erinnerung zu rufen.
Hinweis 2:
Im Gedächtnis bleibt mir das fulminante Buch von Frank Schirmachter: EGO. Das Spiel des Lebens (2013).[17] Manche haben es alarmistisch genannt, doch die globalen ökonomischen Entwicklungen rechtfertigen seine Gefahrenmeldung in höchster Stufe. Zunächst fand ich den Hinweis absurd, dass ausgerechnet Spieltheorien zu einem Leitmodell globaler fiskalischer Strategien geworden sind, und warum, so meine Frage, haben im Jahr 1994 ausgerechtet drei Spieltheoretiker den Nobelpreis erhalten?[18] Inzwischen verstehe ich den a-moralischen Ansatz dieses Regelwerks, das den Gegner als Überlebensgegner rundum aus dem Feld schlagen will. Es siegt, so Schirrmachers Schlussfolgerung, auch in der Weltpolitik das EGO, das nur den eigenen Gewinn im Auge hat. Lebensschutz, Gerechtigkeit, Wahrheit und Solidarität, gehen bei diesem Vernichtungsspiel, das sich Lebensspiel nennt, unter. Je mehr dieses Verhalten die Weltpolitik bestimmt, umso alarmierter sollten wir reagieren. Das Weltethosprojekt hat eine wichtige politische Funktion.
Hinweis 3:
Den angesagten Hohn über jede Menschlichkeit erleben wir im Augenblick in Russland. 2013 erschien in deutscher Übersetzung Die Vierte Politische Theorie[19] des einflussreichen Ideologen Alexander Dugin. In seinem Furor gegen die dekadente Postmoderne erklärt er das Ende der großen weltpolitischen Theorien, des Liberalismus, Marxismus und Faschismus, denen jetzt das Modell der „Russischen Welt“ (Russki Mir) folgt. Es kämpft gegen den Westen, die liberale Demokratie, gegen Moderne und Postmoderne. Alle können sich an diesem „antiglobalistischen“ und „antiimperialistischen“ Kampf beteiligen. Hauptsache, sie verbünden sich gegen die Dekadenz der USA.[20] An anderem Ort phantasiert Dugin von einem „Eurasismus“, der von Dublin bis Wladiwostok reichen kann.
Es fällt schwer, die innere Konsistenz von Dugins Analysen ernst zu nehmen, doch seit Ende Februar sehen wir, welche unmenschlichen Früchte diese Vierte Theorie zeitigt. Leider wissen wir auch um die religiöse Komponente dieser menschenverachtenden Machtphantasie, die von Kyrill I., dem Patriarchen des Dritten, als des letztgültigen Rom, vertreten wird. Zu Beginn des Kriegs gegen die Ukraine konnte Putin erklären: „Eine größere Liebe hat niemand als die, dass er sein Leben hingibt für seine Freunde“. (Joh 15.13) Niemand hat dieses Zitat als Blasphemie gebrandmarkt. Ein neues, von Empathie getragenes Wissen und Weltverständnis ist notwendiger denn je.
Die Herausforderungen im Namen der Menschlichkeit – der Humanität, die sich in den Religionen als Goldene Regel ihren Ausdruck verschafft hat – sind also enorm. Wir brauchen laute Stimmen, die sich weltweit als Wächterinnen einer bewusst akzeptierten Humanität verstehen.
Grundentscheidung 3: Solidarität
Sie alle kennen die Losung:
„Kein Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen“
Ausführlicher schreibt Küng in seinen Memoiren:
„Interreligiöser ökumenischer Dialog ist heute alles andere als die Spezialität einiger weltfremder religiöser Ireniker, sondern hat heute zum erstenmal in der Geschichte den Charakter eines auch weltpolitisch vordringlichen Desiderats; er kann helfen, unsere Erde bewohnbarer, weil friedlicher und versöhnter, zu machen.“[21]
Ich fasse diese entschiedene Grundhaltung Hans Küngs und des Projekts Weltethos unter dem Begriff der Solidarität zusammen. Sie ist die andere, die kulturell-universale, auf eine weltgesellschaftliche und weltpolitische Ebene übersetzte Seite der Humanität. Gerade in diesem Willen zur Entgrenzung spiegelt das Weltethosprojekt Küngs persönlichen Werdegang und fasst es in ein ganzheitlich operationsfähiges Programm zusammen. Zu den Höhepunkten seiner Wirksamkeit gehört wohl sein Statement vom 9. November 2001 vor der UN Vollversammlung, zwei Monate nach der Zerstörung der beiden Türme des World Trade Center.
„Gerade im Zeitalter der Globalisierung“, sagt er, „ist ein solches globales Ethos absolut notwendig … Die Globalisierung braucht ein globales Ethos, nicht als zusätzliche Last, sondern als Grundlage und Hilfe für die Menschen, für die Zivilgesellschaft … Einige Politologen sagen für das 21. Jahrhundert einen ‚Zusammenprall der Kulturen‘ voraus. Dagegen setzen wir unsere andersgeartete Zukunftsvision; nicht einfach ein optimistisches Ideal, sondern eine realistische Hoffnungsvision: Die Religionen und Kulturen der Welt, im Zusammenspiel mit allen Menschen guten Willens, können einen solchen Zusammenprall vermeiden helfen.“[22]
Die Intervention war begleitet von Kofi Annans Initiative, einem Manifest für den Dialog der Kulturen.[23]
Dieses Programm des christlichen Theologen hat keine religiösen, kulturellen oder geografischen Grenzen mehr. Nur wenn ein solidarischer Zusammenschluss der Menschheit gelingt, ist noch Hoffnung möglich. Wir können die Welt vernichten. Im Gegenzug wird diese weltethische Utopie zum alles übergreifenden Lebensprojekt, in das die Teillinien dieses Lebens zusammenlaufen. Es geht darum, diese Utopie als eine große, als die einzige alternative Möglichkeit zu entdecken und seiner Verwirklichung nahezubringen.
Das ist auch der Grund, weshalb Küng sich wiederholt gegen die Thesen Samuel Hutingtons zum Clash der Kulturen stellt. Er wirft Huntington nicht vor, dass er eine Szenerie vorwegnimmt, die in der Tat eintreten könnte. Er wirft ihm vor, dass er die inneren Differenzierungen der Religionen mit ihren enormen Friedenspotentialen ignoriert, also keine Gegenkräfte gegen die zu erwartenden tödlichen und katastrophalen Konflikte benennt und mobilisiert. So hat jede Humanwissenschaft auch die humanen und friedlichen Potentiale der Prozesse freizulegen und zu honorieren, denn sie sind ebenso real wie ihre Perversionen. Um sie muss wissen, wer zu einem wertebasierten friedlichen Zusammenleben kommen und dem Unheil etwas entgegensetzen will.
In den Wissenschaften, die sich mit menschlichem und gesellschaftlichem Verhalten beschäftigen, setzt jede ernstgemeinte Solidarität diese Hoffnungsperspektive als Grundentscheidung voraus. Es geht um keine traditionellen Wesensbestimmungen, sondern um empirische, wenn auch empathische und solidarische Kenntnisnahmen von Verhaltenscodes, Weltanschauung oder Religion. So gesehen ist das Projekt Weltethos ein postmodernes Projekt. Nur so werden ein partnerschaftlicher Dialog und eine Versöhnung möglich, eine Vorgabe, die den streng monotheistischen Religionen besonders schwerfällt.
Diese epochale Wende lässt sich mit der Metapher des Rhizoms illustrieren, also des Wurzelwerk (etwa bei Büschen, Pilzen oder Bambusgras), die Gilles Deleuze und Félix Guattari in die Wissenschaftsdiskussion eingeführt haben.[24] Es geht um Flechtwerke, Verkreuzungen und Knoten. Aus ihrem Chaos entsteht eine Vielfalt von verschiedenen, dennoch gleichartigen Sprösslingen, die individuell alle schwach und verletzlich, insgesamt aber kaum auszurotten sind. In diesem Sinn nimmt das Projekt Weltethos alle religiösen und weltanschaulichen Phänomene aus sich heraus ernst. Auch die fünf weltethischen Weisungen (Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Gleichberechtigung und Partnerschaft, Ökologische Verantwortung, vom Gebot der Menschlichkeit bzw. Goldenen Regel justiert) dürfen den Blick auf die endlose Vielfalt ihrer Ausprägungen nicht unterdrücken. Sie sind nur im unaufhaltsamen Dialog gegenseitigen Hörens zu bewältigen, wie Hans Küng schon 1978 schreibt:
„Und wir sind auf dem Weg nicht allein, sondern mit Abermillionen anderer Menschen aus allen möglichen Konfessionen und Religionen, die ihren eigenen Weg gehen, aber mit denen je länger desto mehr in einem Kommunikationsprozess stehen, wo man sich nicht um Mein und Dein, meine Wahrheit – deine Wahrheit, streiten sollte; wo man vielmehr, unendlich lernbereit, von der Wahrheit der anderen aufnehmen und von seiner eigenen Wahrheit neidlos mitteilen sollte“.[25]
Allerdings kann eine weltethisch solidarische Dynamik ihr Gleichgewicht nur behalten, wenn Solidarität zur Grundhaltung aller menschlichen Kulturen wird, die es auch versteht, mit Konflikten umzugehen. So beinhaltet das Weltethos den Aufruf einer demokratischen Gesinnung, zur Stärkung ziviler Gesellschaften in ihrer Vielfalt. Jüngst hat die Corona-Krise zur Frage geführt, was in unseren Gesellschaften eigentlich schief läuft. Die Antworten lauteten: übermäßige Beschleunigung, Zerrissenheit, Werteverfall, taumelnde Orientierungsarmut, der drohende Absturz von bedeutenden Staaten in eine gelenkte oder „illiberale“ Demokratie, in die Diktatur.
Heute leben wir in mehreren Krisen zugleich. Deshalb brauchen wir einen tiefer greifenden Sanierungsansatz, der den einzelnen Symptomen vorausgeht. Das Projekt Weltethos muss endgültig zur weltweit präsenten Agentur für ein friedensfähiges, alle Kulturen umfassendes Zusammenleben in Vielfalt werden. Es muss die Religionen zu Leuchttürmen einer zukunftsfähigen Welt machen. Seine staatspolitischen Potentiale sind auszuloten, denn die Verantwortungspraxis des Programms hat einen globalen Horizont, der die konkreten, kontextuell begrenzten Horizonte unserer Kulturen, Religionen, auch Machtblöcke zu integrieren vermag. Das führt mich – nach Hans Küngs Motiven und Grundentscheidungen – zum dritten, abschließenden Punkt.
III. Visionen
Hans Küngs Denken war visionär. Seine Ziele gingen immer über das aktuell Erreichbare hinaus und suchten große Horizonte. Demensprechend haben sich seine Zukunftserwartungen stets ausgeweitet mit den Schritten Katholizismus, Ökumene, Christentum, Religionen und Gesellschaft, globale Welt. In dieser Entwicklung bildet das Projekt Weltethos eine Endstufe, die die Vorstufen bruchlos integriert und sich in den großen Sektoren ihren Ausdruck verschafft, in: Religion, Politik, Wirtschaft, Recht, Schule und Bildung, Kultur und Sport.
1. Säkularer Blick
Doch schloss dieser visionäre Charakter bei Hans Küng eine bleibende Bodenständigkeit nicht aus. Auch als er in seinen letzten Lebensjahren mit schweren körperlichen Gebrechen zu kämpfen hatte, verbrachte er die Sommermonate regelmäßig in seinem „Seehus“ am Ufer des Sempachersees. Der Kontakt mit seiner Familie war bei ihm, dem die Welt zur Gemeinde geworden war, nie abgebrochen. Für mich ist dies ein Zeichen für den realen Ernst, aus dem sich seine Visionen speisten. Dies erinnert mich an die fiktive Grabschrift des Ignatius von Loyola, die später als Motto über Hölderlins Hyperion auftaucht: Wahrhaft göttlich sei es, „nicht umschlossen zu werden vom Größten, sich aber umschließen zu lassen vom Kleinsten“ (Non coerceri maximo, contineri tamen a minimo divinum est).
Dieses Projekt zeichnet sich ja aus durch ein erstaunliches Paradox zwischen einem weltumspannenden Horizont und konkreter Detailarbeit vor Ort. Da ist die Werkgruppe, die jungen Geflüchteten zu mehr Selbstachtung verhilft und in sozialen Brennpunkten für Gewaltprävention sorgt, in einer Kleinstadt oder einem Stadtteil interreligiöse Begegnungen organisiert und zu einer Vorkämpferin für den Weltethosgedanken in Schule, Erziehung und religiösem Bewusstsein wird. Da sind die Weltethos-Schulen, in denen sich Lehrkräfte, Eltern und SchülerInnen um eine Schulkultur gelebter Weltethos-Werte und -prinzipien bemüht. Da sehe ich in Hamburg-Blankenese eine Pfarrei, die sich Weltethos-Gemeinde nennt. Da sehe ich in Tübingen zugleich das worldlab, das sich für respektvollen Umgang und die Stärkung der Demokratiekompetenzen einsetzt. Und da sind zugleich die großräumigen Analysen zu den Weltreligionen, den Verwandtschaften zwischen Bibel und Koran sowie zur politischen Gewalt, wie nach Küng auch Kuschel, Schlensog und andere sie vorangetrieben haben. Zusammen kommen diese Gegensätze in der Vision dieses Unternehmens, das von der ständigen Expansion, der je aktuellen Unruhe, den großen Weltfragen lebt, zuletzt noch Fragen der Ökologie in ihren Grundlagentext aufgenommen hat.
2. Ende des Narzissmus
Zu Recht lebt das Projekt stark, wenn auch nicht ausschließlich, aus einem interreligiösen Engagement, denn die Religionen sind noch immer die Agenturen für ein unverbrüchliches Weltvertrauen. Zugleich realisiert es sich in der Weltgestaltung, im sozialen Zusammenleben, der Pädagogik und Bildung, der Ökonomie und Politik. Seine Chance besteht darin, dass Weltanschauungen zur Gesprächsfähigkeit angehalten, Religionen von ihrer Selbstbezogenheit abgelenkt, Wissenschaften zugleich ernstgenommen und mit den umfassenden Sinnfragen konfrontiert werden.
Im Laufe der Jahre erklärt Küng immer entschiedener, das Weltethosprojekt sei kein religiöses Projekt. Im Jahr 2012 formuliert er:
„Das Projekt Weltethos ist kein explizit religiöses, sondern ein allgemein ethisches Projekt. Es kann und soll sowohl von Religiösen wie von Nichtreligiösen mitgetragen werden. Philosophische Begründungen sind ebenso möglich wie theologische und religionswissenschaftliche Argumentationen.“[26]
So initiiert es unter der Hand eine dramatisch neue Sicht auf Religionen und Weltanschauungen. Es korrigiert das traditionelle, egozentrische Grundverständnis der Weltreligionen, die sich primär aus ihrem eigenen Gottes-, Menschen- oder Heilsverständnis definieren. Dies hat schon immer zu einem latenten oder gar offenen Narzissmus geführt, wie es sich am 2. Vatikanischen Konzil gut illustrieren lässt. Zwar wollte es sich programmatisch der Welt öffnen, doch ebenso programmatisch ordnete es diese fällige Weltöffnung der Frage unter: „Kirche, was sagst du von dir selbst?“ So geriet eine jede offene Aussage zu Menschen und Welt dann doch wieder zum Selbstlob.
Das Weltethosprojekt schiebt dieser Art von Ichbezogenheit einen Riegel vor, indem es alle Religionen und Weltanschauungen den Maßstäben einer gesellschaftlich widerständigen Humanität unterstellt. Sie sind also nicht zu werten am Maß ihrer Selbstgarantie; Religionen dürfen nicht zu identitären Institutionen degenerieren. Eine zeitgemäße Glaubenslehre muss ihren dogmatischen, also normativen Mittelpunkt nicht etwa in ihrer Gottes- und Heilslehre finden, sondern in ihrem Beitrag zu einer gewaltfreien und versöhnten Welt. „An ihren Früchten“, nicht an ihrem Dogma, „werdet ihr sie erkennen.“
Zu fragen bleibt, warum das nicht geschehen ist; ich beschränke mich auf das Erbe meiner eigenen Kirche. Warum gelten gerade heute Länder mit einer starken katholischen bzw. christlichen Tradition als ausgesprochen konservativ, wenn nicht als undemokratisch? Wir kennen die Namen der staatsleitenden Personen, die sich ausdrücklich christlich, orthodox oder katholisch nannten bzw. nennen: António de Oliveira Salazar und Francisco Franco, Augusto Pinochet und Jorge Videla, Wladimir Putin und Pariarch Kyrill Gundjajew (mit einem geschätzten Privatvermögen von 4 Mrd. Dollar), Viktor Orbán, Donald Trump (der sich mit der Bibel ablichten lässt), Jair Bolsonaro und Giorgia Meloni, nicht zu vergessen Jean-Marie Le Pen sowie dessen Tochter Marine und Enkelin Marion, die zu Gunsten extrem rechter Ziele ihre katholische Karte spielten und spielen. Offensichtlich hat die offizielle Glaubenslehre seit Jahrhunderten nicht mehr die Kraft, die zentralen Impulse der jesuanischen Botschaft unmissverständlich zu übersetzen. Wir brauchen endlich ein entlarvendes und erneuerndes Gegengift, das Wahrhaftigkeit, Menschlichkeit und Solidarität zur Sprache bringt und vielfältig initiiert.
Deshalb bin ich unumstößlich von der erneuernden Kraft des Projekts Weltethos überzeugt: im Blick auf Christentum und andere Religionen sowie im Blick auf human orientierte Weltanschauungen bzw. gesellschaftliche Handlungsprogramme, auf ihre Wertegrundlagen für Bildung, Politik, Wirtschaft, Finanzgebaren, Recht und Erziehung. Und ich scheue mich nicht, von einem grandiosen Paradigmenwechsel zu sprechen, der nicht nur die Religionen, sondern auch die Handlungsmaximen aller Kulturen und Zivilgesellschaften der Welt in ihren Bann ziehen muss, wenn uns denn eine lebbare Zukunft gegeben sein soll.
3. Verantwortung – Bewusstsein – Praxis
Von daher lässt sich die Vision, die Küng dem Projekt mitgegeben hat, noch einmal anders formulieren. Es geht um eine aktive, offensive, allen Menschen zukommende Verantwortung für Gesellschaften, Kulturen und Welt, die in die Epoche der Globalisierung eingetreten ist. Dabei kommt dem Weltethosprojekt kein Monopol, wohl aber eine einzigartige Ausstrahlung und maßstäbliche Wirkung zu. Seine Ziele sind: ein umfassendes Verantwortungsbewusstsein, ein immer lernendes Verantwortungswissen und eine exemplarische Verantwortungspraxis.
Zum Bewusstsein gehört eine wahrhaftige Grundhaltung, die sich der abgründigen Weltsituation stellt. Zum Verantwortungswissen gehört eine menschliche Empathie, die bereit ist, von den Menschen, ihren Kulturen, Nöten und Hoffnungen zu lernen. Zur Verantwortungspraxis gehört die unbedingte Entschlossenheit und Ungeduld, die es zur Praxis drängt. Aus diesen Gründen kann das Projekt dann funktionieren, wenn es dezentral als eine Summe von Netzwerken kooperiert, sich gegenseitig inspiriert, aber nicht von oben her dominiert. Ausgehend vom Gründungsort Tübingen wissen wir um weltethische Aktivitäten in vielen Ländern, nicht zu vergessen in Österreich, an vielen Orten Deutschlands und nicht zuletzt hier in der Schweiz.
Die Ziele sprechen für sich selbst. Wer ihre Grundidee übernimmt, hält sie geradezu für selbstverständlich. Deshalb sollte auch klar sein, dass die Weltethosidee schon lange seine anonymen Pfade geht, und es ist nicht die Frage wert, ob der Gedanke einer globalen Humanität von diesem Projekt initiiert oder aus anderen Gründen entwickelt wurde. Es gibt keine Patentrechte. Dies entspricht durchaus der Metapher vom Rhizom, von dem schon die Rede war. Doch gerade wegen dieser Selbstverständlichkeit ist seine Relevanz durch Wort, Tat sowie Beispiele zu stärken und lebendig zu halten. Von besonderer Bedeutung scheint mir zu sein, dass die Weltreligionen diesen Gedanken nicht als Konkurrenz, sondern als die innere Erhellung ihrer besten Intentionen erfahren, nachdem wir wissen, dass die Goldene Regel in allen Religionen beheimatet ist und die Gleichstellung zwischen Gottes- und Nächstenliebe bei allen in der Luft liegt.
In Christ sein schreibt Hans Küng, damals noch ganz an der christlichen Tradition orientiert, aber schon liegen der säkulare Blick und die weltethischen Intentionen auf der Lauer: Er versteht das Reich Gottes als das „Reich der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Freude und des Friedens“:
„Die Sache Gottes wird sich in der Welt durchsetzen! Von dieser Hoffnung ist die Reich-Gottes-Botschaft getragen. Im Gegensatz zur Resignation, für die Gott im Jenseits bleibt und der Lauf der Geschichte unabänderlich ist. Nicht aus dem Ressentiment, das aus der Not und Verzweiflung der Gegenwart das Bild einer völlig anderen Welt in eine rosige Zukunft hineinprojiziert, stammt diese Hoffnung. Sondern aus der Gewissheit, dass Gott bereits der Schöpfer und der verborgene Herr dieser widersprüchlichen Welt ist und dass er in der Zukunft sein Wort einlösen wird.“[27]
In der Rückschau wird der visionäre, geradezu säkulare Inhalt dieser Hoffnung auf eine gerechte Weltzukunft deutlich. Er führt durchaus zur Erklärung zum Weltethos des Parlaments der Weltreligionen vom 4. September 1993 in Chicago. Damals war der große Ost-West-Konflikt zusammengebrochen und es zeigte sich, dass die Wissenschaften nicht an seine Stelle treten konnten. Es zeigte sich ein neues Interesse an der Kraft der Religionen. Sie sollten wieder zu den „Leuchttürmen der Menschheit“ werden. Diese Hoffnung hat sich nur bedingt erfüllt, doch das Projekt Weltethos hat diesen Gedanken aufgegriffen. Walter Steinmeier, der deutsche Bundespräsident, erklärte bei seiner Tübinger Weltethos-Rede am 15.10.2019:
„Nein, die Idee des Weltethos ist keinesfalls obsolet geworden. Sie ist im Gegenteil von unerhörter historischer Dringlichkeit. Aber Welt-Ethos, Ethos überhaupt, ist nicht zuerst Schrift und Papier. Es steckt darin ein kategorischer Imperativ, der die Menschen guten Willens, der uns alle verpflichtet. Und zwar zur beharrlichen, auch beschwerlichen, zur zielgerichteten, wenn auch oft kleinteiligen Arbeit an Verständigung und Frieden. Im Lösen der verwickeltsten Knoten. Im Hören aufeinander. Im geduldigen Gespräch.“
Diesen Worten ist zuzustimmen. Es scheint mir unerlässlich, dass wir den weiten Atem des Projektes Weltethos, den Hans Küng uns geschenkt hat, weitertragen.
Anmerkungen
[1] Spurensuche. Die Weltreligionen auf dem Weg (1999), SW 14, 56. Soweit nicht anders vermeldet, sind sämtliche von Hans Küng genannten Werke im Piper-Verlag, München, erschienen. SW ist das Sigel für: Hans Küng, Sämtliche Werke, hgg. v. Hans Küng und Stephan Schlensog, 24 Bände. Freiburg 2015-2020.
[2] Projekt Weltethos (1990), SW 19, 79-160.
[3] Erklärung zum Weltethos des Parlaments der Weltreligionen (Chicago, 4.9.1993), in: Handbuch Weltethos. Eine Vision und ihre Umsetzung (2012), 171-194; SW 19, 228-246
[4] Erkämpfte Freiheit. Erinnerungen I (2002) 20-24; SW 21, 19-22.
[5] Die Kirche, Freiburg (1967); SW 3, 103-582.
[6] Erkämpfte Freiheit. Erinnerungen I (2002), 131-134; SW 21, 117-121; zit. 129.
[7] Existiert Gott? Antwort auf die Gottesfrage der Neuzeit (1978), 490-528: SW 9, 598-685.
[8] Rechtfertigung. Die Lehre Karl Barths und eine katholische Besinnung, Einsiedeln (1957) 246-250; SW 1, 239-242.
[9] Vgl. Die Hoffnung bewahren. Schriften zur Reform der Kirche (1990), 9-36, 201-206; SW 6, 121-150, 263-268.
[10] Erlebte Menschlichkeit. Erinnerungen III (2013) 702, SW 23, 664.
[11] Erlebte Menschlichkeit. Erinnerungen III, 227f.; SW 23, 213.
[12] Ebd. 228f.; SW214f.
[13] Wahrhaftigkeit. Zur Zukunft der Kirche, Freiburg (1968), zit. 181; SW 5, 41-183; zit. 151.
[14] George Steiner, Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?, München 1990.
[15] Rüdiger Safranski, Wieviel Wahrheit braucht der Mensch? Über das Denkbare und das Lebbare, München 122012.
[16] Erlebte Menschlichkeit. Erinnerungen III, 17; SW 23, 14f.
[17] Frank Schirrmacher, EGO – das Spiel des Lebens, München 2013.
[18] Er handelte sich um John Nash (Univ. Princeton), Joh C. Harsabyi (Univ. Berkeley) und Reinhard Selten (Univ. Bonn).
[19] Alexander Dugin, Die Vierte Politische Theorie, London 2013.
[20] Ebd. 213f.
[21] Erlebte Menschlichkeit. Erinnerungen III, 203f.; SW 23, 192.
[22] Erlebte Menschlichkeit. Erinnerungen III, 495; SW 23, 469.
[23] Brücken in die Zukunft. Ein Manifest für den Dialog der Kulturen. Eine Initiative von Kofi Annan, hgg. v. Giandomenico Picco, dt. Ausgabe Frankfurt 2001.
[24] Gilles Deleuze, Félix Guattari, Rhizom, Berlin 1977.
[25] Theologie im Aufbruch. Eine ökumenische Grundlegung (1987), 305; SW 13, 254.
[26] Handbuch Weltethos (mit Günther Gebhardt und Stephan Schlensog (2012), 29; SW 19, 340.
[27] Christ sein (1974), 206; SW 8, 275.
Der Text gibt einen Vortrag wieder,
der am 28.11.2022 in Luzern im Rahmen der
Hans-Küng-Weltethos lectures gehalten wurde.