Im 4. Jahrhundert vollzog sich für das Christentum im weiten Machtraum des römisch-byzantinischen Reichs ein gewaltiger Umbruch. Die klassischen Stadtreligionen verloren an innerer Kraft, neuere gnostische, aszetische und mystische Strömungen konnten die Lücke wohl nicht füllen, dem Reich keinen geistigen Zusammenhalt mehr bieten. Doch das Christentum hatte nahezu 300 Jahre Zeit, um eine starke und reichsweite gesellschaftspolitische Potenz zu entwickeln; es konnte die weltanschauliche Lücke füllen. Die Kaiser Konstantin (gest. 337) und Theodosius I. (gest. 395) unterstützten diese Entwicklung nach Kräften, indem sie das Christentum stufenweise zur offiziellen Staatsreligion erhoben. Dem Christentum, das sich auf dem gesamten Reichsgebiet etabliert hatte, musste es jetzt darum gehen, sich in die kulturellen, mentalen und sozialpolitischen Grundlagen der damaligen „hellenistischen“ Kultur einzuleben und hineinzudenken, sich also nach Kräften diesem ganz und gar unjüdischen und unjesuanischen Kontext anzuverwandeln.
1. Ein neues Paradigma
Doch war schon nach dem Tod Alexanders des Großen (323 v. Chr.) ein hochkomplexer kultureller Prozess angestoßen worden; in ihn waren politische, anthropologisch-ethische, spirituelle und religiös-philosophische Aspekte verwoben. Im neuen politischen Großraum wuchsen kontinuierlich der Einfluss der griechischen Sprache und der Austausch mit der griechischen Kultur. Bald war die griechische Philosophie allseits bekannt und akzeptiert. Jetzt, nach gut 600 Jahren, war dies für das griechisch-hellenistische Denken die Chance schlechthin. Die genialen Denkansätze von Aristoteles und Platon bewiesen – in neuem Gewande – ihre intellektuelle Überlegenheit. Das Christentum freundete sich mit diesem faszinierenden Angebot an, um schließlich als ebenbürtiger Partner aufzutreten.
Es ging auf dem ersten gesamtkirchlichen (von Konstantin einberufenen und gesteuerten) Konzil von 325 nicht darum, einige isolierte Sonderfragen zum Wesen von Jesus, dem Christus zu lösen oder um einige intelligente Konzepte vom Bord des Hellenismus zu holen. Vielmehr wollte man den kulturellen Diskurs auf Augenhöhe mitgestalten, dies genau in dem Augenblick, da man höchste kaiserliche Anerkennung fand und die eigene Hierarchie mit hierarchischer Würde ausgestattet sah. So konnte man (ganz nebenbei) den Ruch einer engen, geschlossenen, provinziellen Denk- und Sprachwelt überwinden (was nichts mit Antisemitismus zu tun hatte). Faktisch verabschiedete man sich von unterlegenen Denk- und Sprachformen und überhöhte die biblischen Geschichten zugleich in metaphorische Höhen. Deshalb war es wichtig, entschlossen in dieses neue Philosophieren einzutauchen, es theologisch und kulturell neu durchzuarbeiten und zu überformen.
Genau genommen fand im Christentum also keine lineare theologische Weiterentwicklung statt, die nur zu bisher unbekannten Konsequenzen führte. Es ging vielmehr um die Suche nach einer neuen Grundlegung der eigenen theologischen Lehre. Sie führte zu zahllosen Konflikten und erhielt nie eine in sich widerspruchsfreie Gestalt. Dennoch setzte sie sich durch. Alexandrien wurde zum Quellort dieses neuen Denkens. Das scheint mir bezeichnend, denn dort war auch die hoheitliche Theologie des Pharaonentums gegenwärtig (W. Oelmüller) und aus Konkurrenzgründen profilierte es sich gerne gegen das eher biblisch, mehr traditionell orientierte Antiochien.
Diese Hintergründe sollten wir also nicht vergessen: Die christliche Glaubensbotschaft war schon vor Nizäa und den Folgekonzilien vollgültig entwickelt. Die Kritik an ihnen darf sich also nicht darauf beschränken, dass man die Sprache von damals nicht mehr verstehe, wo sie doch die vorhergehende Theologie perfekt vollendete. Wir müssen nachdrücklich auf die Verluste hinweisen, auf die sich Nizäa eingelassen hat, das bis heute starke Defizite aufweist. Wir haben die Pflicht, die gravierenden Mängel von damals grundlegend zu thematisieren und an einem neuen Paradigma (besser: an neuen zeitgemäßen, kulturgemäßen, kontext- und gendergemäßen Paradigmen) zu arbeiten. Der Glaubwürdigkeitstest der Gegenwart bemisst sich nicht an einer einheitlichen Unterordnung unter ein griechisch-platonisches Denken, sondern in der Vielfalt eines kontext-gerechten Verstehens, das die hellenistischen Defizite, also die Geringschätzung von Altem und Neuem Testament nach Möglichkeit wieder ausgleicht.
2. Definitionen und kontrollierbare Lehre
Natürlich können eine solche Charakterisierung und Beschreibung als „Paradigma“ nur unvollständig sein. Sie müssen zuspitzen, stark vereinfachen und die Mängel an den gegenwärtigen Bedürfnissen spiegeln. Unter diesem Vorbehalt nenne ich vier neuralgische Punkte:
2.1 Begriffe und Definitionen
Das hellenistische Paradigma will die Wirklichkeit von der menschlichen Rationalität, dem eigenen Intellekt her ordnen und definieren. Es erarbeitet sich also „objektive“, d.h. subjektunabhängige Beschreibungen, die die Sache in den „Griff“, d.h. in den „Be-griff“ bekommen. Wie wir heute wissen, begeht diese Art von Analyse übergriffige Hoheitsakte. Politisch folgt diese Inbesitznahme den damaligen politischen Prozessen und Funktionen, einer Erweiterung und Universalisierung von Machträumen, die ein neues ordnendes System benötigten und zur einer wirksamen Kontrolle führten; bald ließen sich die neuen Bekenntnissätze als juristische Kontrollmittel einsetzen. Der theologische Reiz dieses Denkens liegt zudem in der Tatsache, dass sich religiöse Erfahrungen immer durch universale Perspektiven, also von grenzverlegenden Aspekten angesprochen fühlen. Religion hat immer Universalität im Blick. Dabei kommen konkrete Einzelereignisse unter massiven Begründungsdruck. Was soll denn (um ein Beispiel zu nennen) die Heilung eines einzelnen Kranken angesichts der gesamten (damals bekannten) Menschheit bedeuten?
2.2 Geschichten statt Analysen
Tendenziell werden deshalb alle veränderlichen, beginnenden und wieder endenden Einzelprozesse relativiert, weil sie nicht als zeitlos gelten. Geschichte, die eine stetige Änderung, Beginn und Ende einer Sache einschließt, entzieht ja allem Bleibenden und Unveränderlichen den Boden. Deshalb verlieren auch die Ereignisse der Bibel und des Lebens Jesu ihre unmittelbare Bedeutung. Sie werden natürlich nicht geleugnet, aber in dominante übergeschichtlichen Deutungshorizonte überführt. Bleibend ist nur ihr unveränderlicher Rahmen, sodass – wie etwa im Apostolischen und im Nizänischen Glaubensbekenntnis – die Einzelgeschichten Jesu verschwinden können.
2.3 Suche nach dem Wesen
Angesichts dieses übergeschichtlichen, in Wirklichkeit ungeschichtlichen, meta-physischen Denkens wird die gesamte Wahrnehmung und Deutung der Wirklichkeit nicht von ihrer vielfältigen Konkretheit her definiert, sondern von ihrem abstrakten Wesen her. Man sucht geradezu fieberhaft nicht nach eindrucksvollen Geschichten, sondern nach Wesens-Definitionen, denn nur in ihnen kann man bleibende Wahrheit finden. Man muss das Wesen des Menschen (animal rationale) und das Wesen Gottes (esse subsistens), also auch das Wesen von Jesus Christus kennen, die in der Bibel alle gerade nicht definiert, sondern in konkreten Situationen dargestellt werden. Es geht um Substanz und Subsistenz, um Natur, Wesen und Person, um Hypostasen, um Zeugen, Schaffen und Hauchen, um En- oder Anhypostasie. Aus den genannten Gründen müssen genau diese Wesensdefinitionen Veränderungen ausschließen. Das führt u.a. zur (nach heutigen Maßstäben absurden) Behauptung Gott und Jesus seien „wesenseins“ (homo-ousios), oder Gott sei ein Wesen in drei Personen. Was die Evangelien in Geschichten und erkennbaren Metaphern mühelos deutlich machten, gerät jetzt zur komplizierten und missverständlichen, im Grunde übergriffigen Begriffsoperation, etwa einer über-reflektierten Trinitätslehre, die eher im Philosophenhimmel zu Hause ist als im himmlischen Paradies.
2.4 Nicht falsch, aber zeitvergessen
Allerdings fällt es uns heute leicht, uns über diesen metaphysischen Denkzwang zu erheben. Wir sollten nicht vergessen, wie fundamental und umfassend er das orthodoxe und katholische, in hohem Maße auch das reformatorische und freikirchliche Denken bestimmt hat, in großen Teilen noch immer bestimmt. Dabei geht es gar nicht um die Frage, ob eine Deutung bzw. Glaubensaussage richtig oder wahr und welche falsch ist. Wahrheit an sich gibt es aus religiöser Perspektive nicht. Es gibt nur Korrespondenzen zwischen Inhalten und Kontexten, also um die Frage, gemäß welcher Auffassungsgabe eine „Wahrheit“ wiedergegeben wird. Deshalb hat sich z.B. Hans Küng, der große Kritiker hellenistischen Denkens (die er in seiner Hegelmonografie grundlegte), immer davor gehütet, die hellenistische Christus- und Gotteslehre falsch zu nennen (was den Amateurinquisitor Joseph Höffner[1] und seine Adepten zur Verzweiflung brachte, schließlich fanden sie in Christsein keinen einzigen explizit häretischen Satz. Um zwischen den Fronten ins konstruktive Gespräch zu kommen, muss es deshalb selbstkritischen VermittlerInnen gelingen, jeweils in die Haut der Kontrahenten zu schlüpfen und ein Gespräch von innen her zu eröffnen. Alle anderen Wege der Auseinandersetzung müssen scheitern.
Ich fürchte deshalb, das unsere gegenwärtige Streitkultur keinen langfristigen Erfolg erzielen kann, solange wir uns auf isolierte Einzelforderungen kaprizieren, statt uns dem fundamentalen Versagen und den fundamentalen Fragen der hellenistischen Glaubenslehre zuzuwenden. Wir reden nach wie vor aneinander vorbei. Sollten wir uns nicht endlich die Mühe eines geduldigeren und gründlicheren Nachdenkens machen, auch mal auf die Gegenargumente eingehen, die immerhin noch einen Großteil von Christinnen und Christen überzeugen?
3. Machtförmigkeit
Schon oft wurde festgestellt, dass zwischen dem hellenistischen Theologisieren und seinem machtförmigen Denken ein enger Zusammenhang besteht. Dieses Denken ergibt sich unmittelbar aus dem definierenden Zugriff des hellenistischen Denkens. Die Rede vom unbiblischen Titel „allmächtiger Gott“ wurde von Norbert Scholl schon genannt. Zu nennen wäre auch die monokratische und intolerante Rede vom „einziggeborenen“ Sohn, da sie einer jeden anderen Religion ihr inneres Recht abspricht, also einen Frieden zwischen den Religion nicht zulässt, sondern der Intoleranz Tür und Tor öffnet.
Ich sehe auch eine deutliche Kohärenz zwischen diesem machtförmigen Denken und der späteren Machtliebe, welche die Kirche zumal in ihrer amtlichen Selbstdarstellung (kaiserlicher Purpur, Stab, Mitra, liturgische Prachtentfaltung) und in Rechtsformeln im Übermaß praktiziert. Verkündigung wurde zur Belehrung, statt Zeugnis zu bleiben. Ein ausgefeiltes Strafrecht wurde entwickelt statt ermutigender und helfender Praktiken. In seiner Konsequenz führte solches mit Macht verschränkte Denken zu Unfehlbarkeit und Exkommunikation, statt zu Teilhabe, Dialog und Inklusion. Auch heute reicht es nicht, die Armut zu preisen und sich den Opfern der eigenen Geschichte zuzuwenden. Diese Zuwendung wird nur glaubwürdig, wenn das theologische Denken selbst auf den machtvollen Zugriff durch Definieren und Festlegen verzichtet und eine universal gültige Wahrheit in Frage stellt. Aus theologischen Gründen stehen deshalb unsere definierend abstrakten Denkstile in Frage. Damit berühre ich den für mich entscheidenden Kern, um den es damals beim Paradigmenwechsel zur hellenistischen Theologie ging.
4. Haben oder Sein
Um einen definierenden und einen erzählenden Zugang miteinander zu vergleichen, greife ich auf Erich Fromms Polarität der beiden Grundhaltungen von Haben oder Sein zurück. Will ich eine Erkenntnis besitzen und mit ihr Macht ausüben, auch das glaubende Vertrauen zu einem Wissen verhärten, obwohl wir Gott und sein heilendes Handeln als ein unendliches Geheimnis erfahren? Oder wollen wir die Aspekte der Hoffnung und des vorbehaltlosen Vertrauens stärken, statt ständig zu haben, zu verfügen, zu kontrollieren, zu erzwingen und auszuschließen? Wer hingegen von berührenden Ereignissen berichtet, etwa die Geschichten des Lebens Jesu erzählt, verfügt nicht über die Inhalte, sondern identifiziert sich mit ihnen, macht sich mit ihnen auch verletzlich, weil er sich existentiell mit ihnen identifiziert und an ihre Stelle tritt. Bei jeder Wiederholung dieser Geschichte entsteht diese in neuer Authentizität. In kleinsten Schritten wird zudem ihr Kontext unbewusst, aber unaufhörlich modifiziert. Jeder neue Erzählakt aktiviert eine vitale Resonanz zur aktuellen Lebenswelt derer, die erzählen und die hören. Theologisch sprechen wir vom Wirken des Geistes.
Neben seinen starken mythisch-metaphorischen Komponenten lebt das Neue Testament in hohem Maße aus diesen Erinnerungen, die immer neu zu erzählen sind. Diese Erzählungen leben in hoher Unmittelbarkeit aus dem, was Jesus und seine Jünger gesagt, getan und erlitten haben. Dabei hilft es zu wissen, dass die Evangelien selbst schon eine erste Reaktion auf bekennende, oft formelhafte oder mythisch ausgekleidete Glaubenstexte sind. In ihren Erzählungen korrigieren und deuten sie, rücken sie die hohen Bekenntnisse auf den nüchternen Boden des Geschehenen und dessen, was die von Jesus Berührten erhoffen. Da ist nichts Definitorisches, nichts Festlegendes mehr dabei, das die Glaubensaussagen stillgestellt hätte. Nein, wer sich in den Sprachduktus der Evangelien stellt, agiert subjektiv, sozusagen in direkter Authentizität. Denn sie geben konkrete Erfahrungen wieder und berichten Geschehenes oder Ersehntes. Wer sich von diesem elementaren Geschehen bestimmen lässt, entwickelt eine Haltung der Begegnung, des Hörens, der Liebe zum Konkreten und einer Demut, die in diesem Geschehen unmittelbar Gottes Gegenwart entdeckt.
5. Schlüsselfunktion für alle gegenwärtigen Kirchenreformen
Vermutlich befinden sich die christlichen Kirchen im massivsten kulturellen Umbruch seit 1700 Jahren. In den westeuropäischen Ländern ist er am schmerzlichsten spürbar; der Relevanzverlust zumal unserer Großkirchen ist in aller Munde. So geraten bei uns viele pflicht- und traditionsbewusste ChristInnen in tiefe Ängste. Sie fürchten einen katastrophalen Niedergang, wenn nicht gar das gänzliche Verschwinden der christlichen Botschaft. Und in der Tat, im innerkirchlichen wie im säkular kulturellen Gedächtnis lösen sich viele christliche Erinnerungen auf, die bislang als unaufgebbar galten.
Für andere hingegen hat die aktuelle Kippsituation etwas Verführerisches in sich. Das Wort von der Freiheit der Christen erhält eine neue, geradezu euphorische Qualität. Bei ihnen keimt die Hoffnung, der Zusammenbruch der klassischen Glaubensformen könne die Lösung aller Probleme, ein ganz neues Christsein bringen.
Beide Gruppen haben Gründe, die ernst zu nehmen sind. Doch nicht zu vergessen ist die vielleicht größte Gruppe von ChristInnen, denen unsere hitzigen Bemühungen um Erneuerungen nur wenig sagen. Aus nachvollziehbaren Gründen distanzieren sie sich von der offiziellen Glaubenssprache und Kirchenpraxis ebenso von vielen halbherzigen Aufrufen zu einer Erneuerung, denen eine letzte kirchenkritische Konsequenz fehlt. Auch sie warten zu. Unsere Reformdebatten sind ihnen zu ideologisch und ergebnisfern geworden.
Zudem fällt die Vielfalt der Diskussionen auf. Erstaunlich viele Disziplinen mischen sich ein: Philosophie und Soziologie, Geschichtswissenschaft und Psychologie, Kulturkritik und Sprachwissenschaften, Feminismus sowie Organisations- und Institutionstheorie. Bereichern diese säkularen Diskussionen unsere kirchlichen Debatten oder umgekehrt die kirchlichen Impulse den säkularen Diskurs? Wird gerade das Ende der Religionen eingeläutet oder erleben wir eine umfassende und säkular geöffnete, wenn auch zeitraubende Metamorphose?
Diese Frage lässt sich kaum beantworten und in der Tat sind die aktuellen Wandlungsprozesse hochkompliziert. Wie in Wissenschaft und Kultur so haben sie auch in den Religionen eine lange Dauer, weil sie ganzen Epochen ihre Kontinuität verleihen. Das gilt auch für das hier verhandelte hellenistische Paradigma des Christentums. Immerhin billigen wir ihm in unserem Kulturraum schon eine Lebensdauer von gut eineinhalb Jahrtausenden zu. Andererseits unterliegen vitale Paradigmen einem ständigen Wandel in oft unscheinbaren Schritten; kein Jahrhundert gleicht dem andern.
Zudem gibt es außer den hellenistischen noch weitere Kernpositionen, welche die christliche bzw. die katholische Identität mitbestimmen, so z.B. der Einfluss von Augustinus und seiner Erbsündentheorie, die nachhaltige Wirksamkeit des Thomas von Aquin, die alten Theorien von Opfer, Sühne, Rechtfertigung und Erlösung, eine vitale Praxis der Marien- und Heiligenverehrung, ein tief sitzendes Patriarchentum, die ausufernde Sakramentalisierung katholischer Frömmigkeit sowie die mächtigen Impulse von Zentralismus und päpstlicher Monokratie.
Faktisch bestimmen sie unsere Identität in gegenseitiger Wechselwirkung. Doch die Lehrsätze von Nizäa verleihen dieser Vielfalt einen prägenden Grundton, einen cantus firmus, die entscheidende Modalität, eben die Grundformel für den kirchlichen Gott- und Christusglauben. Sie überwölben alle anderen Entwicklungen, haben manche Fehlentwicklung initiiert und steuern sie bis heute, sind tief ins vitale christliche Bewusstsein eingedrungen. Nach 1700 Jahren gilt es, diese Schlüsselrolle selbstkritisch zu entdecken. Wer in unseren Kirchen wirksame Reformschritte einleiten will, darf die Schlüsselrolle von Nizäa nicht übersehen.
6. Was tun?
Schon immer lebte die Menschheit mit verschiedenen Sprachen, Denkformen und Weltanschauungen sowie in unterschiedlichen politischen, sozialen, genderbedingten und großkulturellen Räumen. Der Weltdialog stößt schon immer an vorgegebene Grenzen, weil wir nie ganz bei uns sind. Die Geschichte vom Turmbau zu Babel (Gen 11, 1-9) zeigt dieses Menschheitsgeschick seit unvordenklichen Zeiten. Sie deutet es als eine von Gott auferlegte gegenseitige Verwirrung und Entfremdung. Doch die Pfingstgeschichte (Apg 2) kehrt das Geschehen um. Alle Ethnien verstehen die jüdisch sprechenden Apostel: Der Geist vermag es, Verwirrung zu überwinden. Diese Pfingstbotschaft ist aktueller denn je. Zwar kannte die Menschheitsgeschichte schon immer wieder sanfte und kräftige, still wachsende und gewaltsam forcierte Globalisierungsschübe. Doch dank neuer Techniken in Verkehr und Kommunikation sind wir einander enger denn je auf den Leib gerückt. Das kann eine gegenseitige Vernichtung ebenso provozieren wie ein gegenseitiges Verstehen ermöglichen.
Vor diesem Hintergrund wirft die Hellenisierung des antiken Christentums hochkomplexe Fragen auf. Seit gut 100 Jahren werden sie heiß diskutiert, doch gegenwärtig ist die Auseinandersetzung unabweisbar, weil die Relevanz von Christentum und Kirche in unserem Kulturraum zu zerbröseln scheint. So möchte ich diesen Text abschließen mit einigen Bemerkungen zur Frage: Wie sollen wir uns zu unserem spätantiken Erbe verhalten und wie verhalten wir uns zum Glaubensbekenntnis von Nizäa?
6.1 Mitsprache und Gehör
Unsere Kirchen verstehen alle Menschen als eine Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern, weil wir alle Kinder Gottes sind. So sind wir mehr denn je gehalten, das Pfingstereignis als ein universales Geschehen zu vergegenwärtigen, allen Menschen ein Heimatrecht mit Mitsprache und Gehör zu gewähren. In einer globalisierten Welt lässt sich dies (innerhalb und außerhalb der Kirchen) nur in gegenseitigem Respekt vor Individuen und Kulturen, nur durch eine vielstimmige und dialogbereite Einigkeit erreichen. Die Suche nach einem begegnungsfreundlichen Glaubensbekenntnis hat eine neue Dringlichkeit erhalten.
Wie aber kann das geschehen? Jedes Bekenntnis ist durch seine Kontexte begrenzt. So hat keines das Recht auf ein Monopol, das uns nur nach Babylon zurückführen könnte. Deshalb sind verschiedene Glaubensbekenntnisse (wie schon gesagt) nicht nur erlaubt oder zu dulden, sondern dringend geboten. Unseren unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften kommt es zu, primär ihre eigenen Bekenntnisse zu formulieren, sie dann auf ihre ökumenische Resonanz zu testen und im Dialog zu erproben. Bauen wir unsere Glaubenssprachen also von unten auf. Rom muss sein überkommenes Wächteramt endlich als einen Schutz der gebotenen Verschiedenheit begreifen.
6.2 Neue Wege des Glaubens
In unserem Kulturkreis sind die inneren Grenzen und Defizite des nizänischen Glaubenskonzepts sattsam analysiert und weitgehend anerkannt. Wichtiger noch: seit vielen Jahren schon werden vor Ort neue Glaubensbekenntnisse formuliert. Sie sind meist biblisch, psychologisch oder kosmologisch, mystisch oder revolutionär (= „eschatologisch“) orientiert und setzen sich intensiv (und oft in hoher sprachlicher Sensibilität) mit den Leitfragen nach Gott, der Jesusgeschichte und den fundamentalen Grenzerfahrungen unseres menschlichen Daseins auseinander. Unbemerkt hat schon vor Jahrzehnten eine neue Tradition von Glaubenstexten (von Kurzformeln bis zu kleinen Traktaten) begonnen. Es ist an der Zeit, diese Texte zu inventarisieren, eine zeitgemäße Grammatik des Glaubens zu entwickeln und die entdeckten Grundzüge zu thematisieren.
Wir können die Fülle der neuen Texte nur willkommen heißen, sie als Angebot zum Dialog akzeptieren und mit besonderem Nachdruck auf die Texte achten, die eine verbindende, gemeinschaftsbildende und weltoffene Kraft ausstrahlen und die in unserer Kultur eine qualifizierte Resonanz erzeugen. Vorbildlich geglückte Texte sollten als gemeinsame Bekenntnisse überprüft, gegebenenfalls akzeptiert werden, denn im Idealfall können ganze Kirchenregionen und Kulturräume in ihnen ihre Identität entdecken.
6.3 Respekt vor dem Erbe
Dabei wäre es weder realistisch noch angemessen, die altkirchlichen, ökumenisch akzeptierten und verbindenden Bekenntnistexte einfach auszubooten. Über eineinhalb Jahrtausende lang haben sie die Identität der Kirchen geschützt. Sie sind (wie schon gesagt) nicht einfach falsch, auch wenn sie mit unserer Gegenwart fremdeln. Sie sind nicht rundum autoritär und machtbesessen, auch wenn sie neuzeitliche und gegenwärtige Kontexte abblenden. Sie sind nicht einfach unbiblisch, auch wenn sie unser Schriftverständnis oft missachten.
Deshalb nützen uns bei ihrer Beurteilung keine sich ausschließenden Alternativen. Die innere Kraft vieler Bilder ist immer noch stark und viele ihrer Symbole sind nach wie vor bedeutungsoffen. Auch sie bringen uns also dem göttlichen Geheimnis näher, thematisieren unsere Sehnsucht nach unzerstörbarem Heil und einer endgültigen Vergebung, das unbändige Verlangen nach Gerechtigkeit, nach Versöhnung und Frieden. Der umfassende Verlust dieser Sprachwelt würde auch zum Verlust breiter identitätsbildender Ströme führen.
Es geht also nicht um einen rücksichtslosen und unbarmherzigen Neuanfang, der nur ein Verstummen der gesamten Botschaft zur Folge hätte und jeden Dialog mit anderen Religionen zerstören würde. Vielmehr suchen wir nach einer Erweiterung der Horizonte, hin zur ursprünglichen Erinnerung und zur zeitgenössischen (auch natur- und humanwissenschaftlichen) Wahrnehmung der Welt.
6.4 Wandel braucht Zeit
Ein solcher Erneuerungsprozess sollte sich also nicht von den überlieferten Kernsymbolen des christlichen Glaubens distanzieren, sondern von einer hellenistischen Dominanz. Es bedarf sensibler Differenzierungen. Deshalb sind von einem Paradigmenwechsel keine schnellen Wunder zu erwarten. Er braucht eine Zeit, die sich weder kalkulieren noch quantifizieren lässt; diese Zeiträume sind unberechenbar. Es ist deshalb nicht sinnvoll, den Sinn einer neuen Bekenntnissprache an messbaren Erfolgen zu werten. Statt dem Wehen des Geistes Vorschriften zu machen und die Charismen amtlich zu maßregeln, bedarf es kirchlicher Gemeinschaften, die sich solchen Erneuerungsprozessen prinzipiell und ergebnisoffen stellen, notfalls auch amtliche Strukturen überlisten, einen vorauseilenden Ungehorsam ausüben.
Kurz: Wir brauchen Gemeinschaften und Kirchen für die das prophetische Wort gilt: „Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir. Weiche nicht, denn ich bin dein Gott. Ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich halte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit.“ (Jes 41,10; vgl. Luk, 5,10).
7. Schluss
Im türkischen Iznik, dem damaligen Nizäa, steht heute noch das Gotteshaus Hagia Sophia, in dem sich vor 1700 Jahren (wie man vermutet) Kaiser und Bischöfe versammelten, um die Versöhnung des christlichen Glaubens mit dem hellenistischen Erbe amtlich, geradezu staatsrechtlich zu besiegeln. Damals verordneten sie der Kirche des Ostens wie des Westens eine hochreflektierte und allgemeingültige Botschaft. Bis heute ist sie nicht zerbrochen, auch wenn sie vielfältiger Kritik ausgesetzt ist.
Im Gegenzug strahlt heute dieses Gebäude nur noch eine verstummte, in sich ruhende Würde aus. Sie ist, von frommen Muslimen regelmäßig besucht, zur Moschee geworden, deren Stille, bisweilen von melodiösen Koranzitaten und dem Geflüster von Fürbitten durchbrochen wird (so die Worte von Marian Brehmer in Publik Forum 11/2025). Dann folgt der schöne Satz, der mich nachdenklich stimmt: „Für einen Moment scheint es nebensächlich, ob hier christlich oder muslimisch gebetet wird. Die Ehrerbietung gegenüber Gott ist der rote Faden, der die Jahrhunderte dieses Raumes miteinander verwebt“. Angesichts dieser interreligiösen Perspektive zeigt sich in der Tat der Kern, um den sich alle Bekenntnisse drehen sollten: um das unaussprechliche Geheimnis, das größer ist als alle Worte, mit denen es sich bekennen und preisen lässt. Denn alles Bekennen findet, wenn man es denn ernst nimmt, im respektvollen und ehrfürchtigen Schweigen seine Erfüllung. Da ließe sich selbst die Streitfrage lösen, ob Gott einen Sohn hat.
11.06.2025
Anmerkung
[1] J. Höffner am 22.01.1977 beim Stuttgarter Kolloquium: „Wenn ich nun das ganze Buch [Christsein] durchsehe und frage mich [sic!], wo ist denn hier das „Genitum non factum“ ausgesagt, und wenn ich dann fast mit Erschrecken sagen sollte, ich finde das nicht, sondern nur die Funktionen, aber die Funktionen sind noch nicht dasselbe wie das andere …“
Letzte Änderung: 18. Juni 2025