Spiritualität und Lebensstil einer christlichen Gemeinde

Noch immer bilden unsere Kirch- oder Pfarrgemeinden die elementarste und primäre Form christlich-kirchlicher Gemeinschaften. Damit stehen sie in Kontinuität zur Urform christlichen Zusammenseins überhaupt. Ohne andere christliche Gemeinschaften auszuschließen (wie Klöster, Orden, Kongregationen, alters- oder berufsbezogene Gemeinschaften und andere soziale oder religiöse Vereinigungen), hat man sich immer vor Ort, im Rahmen von Stadt- und Landgemeinden getroffen. In Bedeutung und Funktion sind sie vergleichbar mit den im Neuen Testament genannten Gemeinden, der „Kirche“ von Jerusalem, Korinth, Galatien, Thessalonich, Philippi oder Kolossä). Auch heute sind die weitaus meisten ChristInnen Mitglieder einer Kirchgemeinde. Alle menschlichen Lebenssituationen sind in diesen Gemeinschaften präsent.

In unserem Kulturkreis (auf den sich dieser Text beschränkt) stehen die christlichen Kirch- oder Pfarrgemeinden unter besonderem Druck. Ähnlich wie die gesamte Gesellschaft durchlaufen sie einen unerhörten kulturellen Umbruch. Er stellt selbst die geistigen Grundlagen der Spätantike in Frage, ohne die sich die europäische Kultur bislang nicht denken ließ. Deshalb geraten sogar die klassischen Bekenntnisformeln in Diskussion, weil sie durchweg von hellenistischen Vorstellungen geprägt sind, heute nicht mehr verstanden werden und in unserer Gegenwart irrtümliche Signale aussenden.

In dieser Situation sollten sich Kirch- oder Pfarrgemeinden nicht vorschnell und in kurzatmigen Reaktionen verausgaben, die dann doch nur oberflächlich und rein taktisch wirken. Vielmehr sollten sie sich alle Zeit nehmen, um möglichst konkret ihre Lebenspraxis und geistigen Grundlagen zu erkunden und daraus tragfähige Schlüsse zu ziehen. In diesem Zusammenhang geraten auch die dogmatischen und strukturellen Grundlagen der römisch-katholischen Kirche unter Kritik und wir sollten versuchen, für eine neue Zukunft den Weizen von der Spreu zu trennen. Dies geht nur, wenn wir in großer Gelassenheit und nach bestem Wissen und Gewissen versuchen, die urchristlichen Jesusimpulse zu entdecken und zu einem neuen Leben zu erwecken.

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Den Interessierten zur Orientierung

Dieser Text enthält sieben Teile. Jeder beginnt mit mehr grundsätzlichen Überlegungen (Abschnitt A), aus denen dann Folgerungen gezogen werden (Abschnitt B).
Inhalt:
I. Religion und Gesellschaft
– A: Erfahrung und Solidarität
– B: Gegenwart im Sozialraum
II. Nachfolge Jesu
– A: Jesuanische Impulse
– B: Innere Freiheit und Konsequenz
III. Religiöser Horizont
– A: Geheimnis des Göttlichen
– B: Die Mystik oder das Rätsel der Gottesfrage
IV. Gottes Reich beginnt
– A: Reich Gottes und Kirche
– B: Kirchengemeinde und säkularisierte Gesellschaft
V. Mündige Gemeinde
– A: „Ortskirchen“ vor Ort
– B: Selbstautorisierung
VI. Kirchliche Ämter
– A: Formen von Gemeindeleitung und Gemeindediensten
– B: Gemeindeleitung erneuern
VII. Herausforderungen
– A: Aktuelle Krise
– B: Kreative Wege

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In der Nachfolge Jesu Christi
kann der Mensch in der Welt von heute
wahrhaft menschlich leben,
handeln, leiden und sterben:
in Glück und Unglück, Leben und Tod
gehalten von Gott und hilfreich den Menschen.
(Hans Küng)

I. Religion und Gesellschaft

I.A: Erfahrung und Solidarität

1. Jede Religion und jede religiös orientierte Gemeinschaft schöpft ihre Identität aus einer konkreten Ursprungserfahrung, die ihre Anhänger in inneren Haltungen, einem werteorientierten Handeln und in spezifischen Selbstdarstellungen vergegenwärtigt. Dazu gehören Erzählung und Bekenntnis, Meditation, Gebet und Gottesdienst sowie eine vielfach normierte Lebenspraxis.

2.  Doch sind die unterschiedlichen Ursprungserfahrungen letztlich von einem gemeinsamen humanen Grundimpuls getragen, der z.B. in der Goldenen Regel zum Ausdruck kommt oder in bestimmten Basiswerten ausformuliert wird (Gewaltlosigkeit und Respekt vor dem Leben, Solidarität und Fairness, Wahrhaftigkeit und Toleranz, verantwortungsvolles Miteinander, Bewahrung der Schöpfung). Daraus folgen innerhalb einer globalisierten Weltgesellschaft ein interreligiöser Austausch ebenso wie eine konsequente Offenheit gegenüber Mitmenschen und Gesellschaft.

3. Religionen und religiöse Gemeinschaften nehmen sich selbst und einander nur dann ernst, wenn sie mit Leidenschaft ihre Grunderfahrungen nicht nur reproduzieren, sondern auch konsequent verwirklichen, Anstöße also zu Haltungen umformen. Alle weiteren Maßstäbe (Gewohnheiten und Traditionen, kulturelle oder machtgestützte Ausgestaltungen) müssen nicht bedeutungslos sein und faktisch wird es sie immer geben. Sie sind aber sekundär, können auch nichtssagend oder irreführend werden. Umgekehrt muss ihre Ablehnung für die Gegenwart noch keine Kritik an früheren Gewohnheiten bedeuten.

4. Beim aktuellen Relevanzverlust der christlichen Kirchen und Gemeinschaften bedeutet dies: Christliche Kirchen und Gemeinschaften können in dem Maße erwarten, dass man sie wertschätzt, als sie in solidarischer Aktivität mit ihrem Umfeld verwoben sind und auf gleicher Augenhöhe agieren. Wie wir wissen, entspricht dieser Maßstab dem Grundimpuls der jesuanischen Botschaft. Christliche Gemeinschaften leben aus ihrer empathischen Kraft. Sie kommen nur zu sich selbst, wenn sie sich nicht als eine auserwählte Sondergemeinschaft verstehen. Sie sind eine Gemeinschaft von Menschen, die wie selbstverständlich für das Wohl der Mitmenschen eintreten. Allerdings bedarf es eines sehr langen Atems, bis sich eine neue Wertschätzung entwickelt hat.

I.B: Gegenwart im Sozialraum – empathisches Zusammenleben

Jede christliche Gemeinde sollte ihr Handeln primär im Sozialraum ausrichten, in dem sie lebt. Sie sollte die Menschen und ihre Probleme akzeptieren und sich für die Verbesserung der allgemeinen und persönlichen Lebensbedingungen einsetzen, Probleme aufspüren und sich besonders um Diejenigen kümmern, die auf Hilfe angewiesen sind. Alle Notleidenden sollten wissen, dass sie bei dieser Gemeinschaft und ihren Angehörigen ein offenes Ohr finden.

1. Konkret können das Handeln und die Initiativen einer christlichen Gemeinde nur werden, wenn sie in ihrem Sozialraum wirklich zuhause ist, also weiß, welche Mechanismen, Chancen und Gefahren in diesem Lebensraum wirksam sind. Die jesuanische Reich-Gottes-Botschaft ist kein jenseitiges, sondern ein diesseitiges, zwischenmenschliches, ein soziales, geradezu ein politisches Programm, das sich vor Ort verwirklichen will.

2. Einer konfessionell-katholischen Tradition zufolge wird die regelmäßige Eucharistiefeier als entscheidender Mittelpunkt der christlichen Gemeinde verstanden. Doch diese Gemeinden gleichen eher einer Ellipse mit zwei Brennpunkten oder einer Parabel, deren zweiter Brennpunkt weit außerhalb ihrer liegt, gar ins Endlose der Gesellschaft verlagert ist. Wenn eine christliche Gemeinde zu sich kommen will, kann sie sich nie wirklich abgrenzen.

3. Umgekehrt wird eine Gemeinde von ihrem Sozialraum nur wirklich ernst genommen, wenn sie sich mit ihrem Lebensraum unumwunden, sozusagen distanzlos identifiziert. So hört eine Gemeinde nie auf zu lernen: Je mehr die Solidarität nach außen ihr Denken, ihre Planungen und ihr Handeln bestimmt, umso mehr Hand und Fuß erhalten auch ihr spezifisch christliches Handeln und ihr Glaube. Denn Glaube und Säkularisierung sind keine Gegensätze, sondern enge Partner, Diakonie deshalb keine zusätzliche Pflicht, sondern der fundamentale Antrieb allen Handelns.

4. Viele Gemeinden entwickeln gegen eine solche Strategie oft Widerstände, weil sie in einer säkularisierten Gesellschaft den Verlust aller christlichen bzw. religiösen Substanz befürchten. In den vergangenen Jahrzehnten hat diese Angst eher zugenommen, doch wird sie damit nicht viel erreichen. Im Gegenteil, seit gut 150 Jahren haben sich die Kirchen Westeuropas erfolglos gegen die vielfältigen Säkularisierungsprozesse gestemmt und damit sich selbst geschadet. Insbesondere hat Rom bis in die 1960er Jahre hinein systematisch einen kompromisslosen „Antimodernismus“ propagiert, selbst nach dem 2. Vatikanum (1962-65) noch an ihm festgehalten und genau dadurch eine massive Ent-kirchlichung verursacht.
Wer dagegen in allen Menschen Gottes Geheimnis erwartet und Christi Gegenwart gerade in den Geringsten unserer Schwestern und Brüder entdeckt, wer zudem nicht vergisst, dass auch die Gemeinde ein ebenbürtiger Teil ihres Sozialraums ist (sich gegen diesen also nicht „immunisieren“ kann), muss zu gegenteiligen Schlüssen kommen. Mit anderen zu leben, mit ihnen also das Leben zu teilen, ist für einen gelungenen christlichen Lebensstil keine Pflicht, sondern ein spontan vollzogener Ausgangspunkt.

5. Zur gelebten Gegenwart im Sozialraum gehört auch die Zusammenarbeit mit anderen Religionen, Konfessionen, Behörden und Gliederungen der zivilen Gesellschaft. Um diese Ziele zu erreichen, sind drei Schritte nötig:
5.1 Regelmäßig thematisiert eine christliche Gemeinde in inhaltlich orientierten Zusammenkünften Situation, Probleme und Chancen ihres Sozialraums. Sie sollte sich also systematisch in die Kernprobleme ihres Sozialraums einüben und dabei lernen, sie vorbehaltlos zu akzeptieren.
5.2 Die Gemeinde sorgt für einen professionell agierenden Kompetenzpool, der die Entscheidungen der Gemeinde argumentativ begleiten, warnen und ermutigen, gegebenenfalls das Handeln der Gemeinde auch verteidigen kann.
5.3 Die Entwicklung zu einem Handeln, das den Sozialraum glaubwürdig in den Mittelpunkt ihres Handelns stellt, verlangt Geduld und eine beharrliche Ausdauer. Es ist deshalb gut, diesen prinzipiellen Schritt von langer Hand vorzubereiten und sorgfältig durchzuplanen.

II. Nachfolge Jesu

II.A: Jesuanische Impulse

1. Die maßgebende und aktive Kernerfahrung christlicher Gemeinschaften wird mit guten Gründen als Nachfolge Jesu Christi beschrieben. Für Einzelne und Gemeinschaften gilt das Schriftwort: „Komm und folge mir nach“ (Mk 10,21). Sie suchen ihre entscheidende Kraftquelle und Orientierung in der engagierten Erinnerung an Jesus von Nazareth, den sie als Licht und unverzichtbaren Weg ihrer Daseinsgestaltung begreifen. Er soll zum Narrativ ihres Lebens werden.
Seine zentrale Bedeutung wurde schon früh mit Ehrentiteln herausgehoben, die sich aus der jüdischen Tradition ergaben: Messias (der Gesalbte, Christus), Prophet, Sohn Gottes (der Titel der Könige und von Gott Auserwählten), Menschensohn, Knecht oder Diener Gottes, Herr (kyrios). Am dichtesten wird diese christliche Kernerfahrung jedoch nicht in diesen zusammenfassenden Titeln greifbar, sondern in den vier literarisch gestalteten Großerzählungen, den Evangelien von Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Die christliche Wahrheit wird in erster Linie nicht gelehrt, sondern erzählt und im Handeln erfahren.

2. Die übrigen neutestamentlichen Texte legen sich wie ein Netzwerk um diese Kernerzählungen herum. Sie beleuchten Voraussetzungen, Folgerungen und klärende Interpretationen der elementaren Jesuserinnerung. Die Texte des jüdischen Testaments beleuchten die tiefe und umfassende Einbettung der christlichen Botschaft in den Werdegang des jüdischen Volks und lassen dessen dramatische, äußerst vielschichtige Glaubensgeschichte erkennen. Jesus und der christliche Glaube erhalten von ihrem jüdischen Ursprung her ihre Tiefenstruktur.

II.B: Innere Freiheit und Konsequenz

1. Parallel zu den umfassenden gesellschaftlichen Säkularisierungsprozessen hat sich in den Kirchen eine vielschichtige und tiefgreifende Umorientierung vollzogen. Zumal an der Basis ist ein vitales Interesse an Jesus von Nazareth erwacht. Mit Hilfe einer höchst differenzierten Exegese können wir uns seiner ursprünglichen Gestalt in zahllosen Details und mit übergreifenden Perspektiven mehr annähern, als dies je gelungen ist.
Heute bildet unser Wissen um Jesus von Nazareth ungewollt einen deutlichen Gegenpol zur klassischen, im Glaubensbekenntnis überlieferten Lehre von Christus und Erlösung. Diese tiefgreifende Umorientierung ruft auch viele Widerstände hervor, mit denen geduldig umzugehen ist.

2. Die Auswirkungen auf die inneren Maßstäbe christlicher Gemeinden sind erheblich und noch nicht an ihr Ende gekommen. Relativiert wurden die machtvollen Hoheitstitel Christi, mit ihnen auch die kritiklose Hochschätzung kirchlicher Macht. Korrigiert wurde die Fixierung auf eine Opfertheologie in Gottesdiensten und auf magische Vorstellungen vom Heil der Menschen. Wir orientieren unser Leben nicht mehr am Richter über Erwählung und Verdammung, sondern am Menschen und unverbrüchlichen Freund, dem Kritiker von Selbstgerechtigkeit und sozialem Unrecht. In seinem irdischen Handeln entdecken wir Gottes vorbehaltlose Güte selbst.
Diese Neuentdeckung hat für die christlichen Gemeinden weittragende Konsequenzen. Die Teilung der Kirche in Kleriker und „Laien“ ist nicht mehr überzeugend, ebenso wenig die Rolle des ordinierten Priesters, dem exklusive sakramentale Kompetenzen zugesprochen werden.

3. Doch reicht es nicht, unter Berufung auf Jesus dogmatisierte Lehrsätze und traditionelle Machtpositionen abzuschaffen, um sie vielleicht durch andere zu ersetzen. Eine Gemeinde kann Jesus nur dann wirklich entdecken, wenn sie sich in einem spirituell gesteuerten Prozess – auch dem Geist seiner Worte und Taten nähert. Nachfolge Jesu bedeutet
3.1 Achtsamkeit auf zwischenmenschliche Beziehungen: Der Geist Jesu zeigt sich in seinen Gleichnissen (Suchen und Finden, Zerwürfnis und Versöhnung, Enttäuschung und Neuentdeckung, Einsatz und Belohnung, Verdorren und Wachstum). Hat die Gemeinde einen Blick auf die konkreten Beziehungsabläufe, die das Miteinander der Menschen bestimmen?
 3.2 Konsequentes Verhalten: Der Geist Jesu zeigt sich in der Bergpredigt, die alle Verhaltensregeln auf die Frage ausleuchtet, worauf es wirklich ankommt. Die Bergpredigt zeichnet sich nicht durch eine überzogene Radikalität aus, sondern nur durch eine unbestechliche Konsequenz. Es stellt sich die Frage: Sind christliche Gemeinden dazu entschlossen und geistig vorbereitet, die Grundfragen nach Gut und Böse, Versöhnung und Feindschaft, Akzeptanz und Ausschluss in immer neuen Situationen grundsätzlich und ohne falsche Kompromisse zu lösen?
3.3 Unangepasste Selbständigkeit: Jesus lässt sich mit keiner gesellschaftlich relevanten Gruppierung einfach identifizieren (vgl. Pharisäer, Sadduzäer, Zeloten, Essener). Zugleich achtet er auf die Grenzen und Gefahren der eigenen hochethischen Tradition, sodass er von seinen Kritikern als Gesetzesbrecher und Gottloser denunziert werden kann. So kam er politisch und religiös unter die Räder und hat schließlich seine Entschiedenheit mit dem Leben bezahlt.
 3.4 Zusammenfassend lässt sich dieses Verhalten als eine vorbehaltlose Pro-Existenz verstehen, die für ihn – der vom baldigen Weltende überzeugt war – das Reich Gottes gegenwärtig setzen kann und tatsächlich setzt, weil ihm die Solidarität mit den Menschen als einziges Kriterium gilt. Aus dieser Reich-Gottes-Praxis ist alle Machtförmigkeit verschwunden.

4. In dieser Neuentdeckung Jesu liegt die große Chance der Gemeinde in einem säkularisierten Sozialraum beschlossen. Wichtig sind nicht neue Regeln oder ethische Prinzipien, die auch anderen Menschen guten Willens bekannt sind. Die spezifische Spiritualität, die sich eine Gemeinde zum Maßstab nimmt und die sie systematisch einübt, lässt sich so umschreiben: Auf zwischenmenschliche Beziehungen achten, in Sachen Solidarität konsequent sein, sich eine innere Selbständigkeit wahren und alle Machtförmigkeit konsequent ersetzen durch Geschwisterlichkeit, Vergebungsbereitschaft, Transparenz und funktionale Selbstkritik. In dieser jesuanischen Spiritualität sollte sie sich ihre Alleinstellungsmerkmale suchen.

III. Religiöser Horizont

III.A: Geheimnis des Göttlichen

1. Dem Christentum und anderen Religionen gemeinsam ist das ausdrückliche Wissen um ein letztes, unerklärliches Geheimnis, das wie ein Horizont alle Wirklichkeit umschließt, von dem alles Leben ausgeht und in das es wieder zurückkehrt. Die Religionen sprechen von „Gott“. Sie geben Ihr/Ihm bestimmte Namen, lassen dieses letzte Weltgeheimnis in einer vielfältigen Götterschar erscheinen oder zollen ihm durch striktes Schweigen ihren höchsten Respekt. Die prophetischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam) begreifen das Göttliche in erster Linie anthropomorph als ansprechbare Person, zugleich aber auch im „strikten Mysterium“ einer dreifachen Erscheinungsweise (das Göttliche über, um und in uns), ohne dadurch andere Modelle auszuschließen. Eine verdichtete Gegenwart erfährt dieses Geheimnis in Gebet, Meditation und Gottesdienst, die seit jeher als die entscheidende Kraftquelle der Religionen gelten kann.

2. Die neuzeitliche Religionsphilosophie und Religionskritik hat im westlichen Kulturraum zu kritischen Erweiterungen des leitenden christlichen Gottesbildes geführt. Projektions- und Interessentheorien, Reflexionen über Transzendenz und Immanenz, psychologische und linguistische Modelle haben zu vielfältigen Darstellungen, Grenzziehungen und Ab-straktionen des traditionellen Gottesbegriffs geführt. Zugleich hat er sich im Zuge wachsender Säkularisierung einer konkret dinglichen Darstellung des Geheimnisses entzogen: „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.“ (D. Bonhoeffer). So kann in äußerster Abstrak-tion auch die Rede sein vom „Vonwoher der Fraglichkeit“ (W. Weischedel) oder davon, dass |Gott| nur „Symbol für Gott“ sei, also nie direkt besprechbar ist.

3. Das legt nahe: Auch bei höchster Abstraktion lässt sich die Frage nach einem letzten Geheimnis nicht aus einem konsequenten Denken verabschieden. Die Nähe des letzten Geheimnisses bleibt unauflösbar als ein Fragehorizont, als eine Grenzfrage bestehen, die die gesamte Menschheit verbindet. Diese letzte Grenzfrage ist in allen Religionen gegenwärtig und sollte auch von Christen als Frage[!] ernstgenommen werden.

4. In unserem Kulturraum führte die Absetzbewegung von einer allzu selbstgewissen Verkündigung zu einer Anonymisierung und Verdrängung dieser Grenzfrage, sodass die lebensnotwendige religiöse Sensibilität für ein letztes Geheimnis vielerorts nicht mehr vorhanden ist und Religion als überflüssig gilt. Diesem Problem können christliche Gemeinden nur ein einladendes, geistig werbendes und religiös sensibles Lebensmodell entgegenhalten.

5. Hat sich die religiöse Kernfrage also allenfalls in eine vage Sinn- und Orientierungsfrage verflüchtigt? Das wäre zu wenig, denn die wachsende Globalisierung der vergangenen Jahrzehnte hat auch einen gegenläufigen Prozess in Gang gesetzt. Weltreligionen sind auch in Westeuropa sichtbarer denn je, ihre ungebrochenen politischen und ethischen Kompetenzen offensichtlich. Wir können andere Großkulturen überhaupt nicht verstehen, ohne ihre unüberwindliche religiöse Dynamik zur Kenntnis zu nehmen. Säkular orientierte Menschen reagieren darauf oft hilflos.

6. Zugleich weisen uns Religionssoziologen darauf hin: Auch innerhalb unseres Kulturraums wächst wieder das Interesse an religiösen Themen, auch wenn sie nicht in traditionell kirchlichem Gewande daherkommen. Die abstrahierten und anonymisierten Darstellungen des Göttlichen erzeugen nur noch eine diffuse, sozusagen entleerte Gestaltungskraft, doch die Frage nach den Werten des Zusammenlebens, nach der Bedeutung der Freiheit, der Menschenrechte und eines bleibenden Weltfriedens (vgl. Weltethos) wird dringlicher denn je gestellt und führt zu einer verbindenden, geradezu globalen (religiös-weltlichen) Spiritualität.
So steht unsere Epoche in einem tiefgreifenden Widerstreit zwischen einer religionsfreien (religiös „unmusikalischen“) Aufklärung und einer aufklärungswilligen Religion, die eine Mehrzahl von unterschiedlichen Gottesvorstellungen zulässt und mit enormer Kreativität pflegt. In diesem Prozess können die christlichen Gemeinden vor Ort eine Schlüsselrolle spielen.

III.B: Die Mystik oder das Rätsel der Gottesfrage

1. In ihrem Alltag stehen die christlichen Gemeinden im Zwiespalt zwischen einer Gemeinschaft, die von der täglichen Anrufung Gottes lebt, und einer Gesellschaft, der die ausdrückliche Rede von Gott abhanden gekommen ist. In ihrer Suche nach einem guten Leben lassen sie sich von diesem unaussprechlichen Geheimnis tragen, das sie in ihren Gottesdiensten feiern. Andererseits begegnen sie vielen Mitmenschen, Andersgläubigen zumal, die sich noch viel direkter und unbefangener auf das göttliche Geheimnis berufen. Zugleich bewegen sie sich – mit diesen „gläubigen“ Menschen zusammen ‑ in einer gemeinsamen Öffentlichkeit, deren säkularer Diskurs sich weithin von Gott, religiösen Sprach- und Vorstellungswelten verabschiedet hat. Politik, Wissenschaft und technisches Handeln kommen ohne Religion aus. Im Gegenteil, ein Verweis auf Gott wirkt oft wie eine störende und unsachgemäße Intervention, weil sie ihm keinen Ort mehr zuweisen können.

2. Dieser religiöse Verlust von Sprache und Wirklichkeit bildet für die christlichen Gemeinden die schärfste Herausforderung der Gegenwart. Deshalb sollten sie ihre Bewältigung nicht der Alltagsroutine überlassen, sondern sich systematisch in die Schule einer säkularen Rede einüben, die das Grundvertrauen in ein letztes Geheimnis aktiviert, ohne auf ausdrücklich religiöse Begriffe und Vorstellungsweisen zurückzugreifen. Nur wer so von der Welt reden kann, dass dabei das Geheimnis der Welt zur Sprache kommt, kann auch von Gott reden, ohne dabei missverstanden zu werden. Dabei könnten folgende Regeln hilfreich sein:
2.1 Im säkularen Raum wird Gott weder erwartet noch weltanschaulich eingeordnet. Aber faktisch kann Gott als überraschendes Ereignis, als erfahrener Mangel oder als offene Frage sichtbar werden. Wir sollten deshalb lernen, die Menschen nicht zu belehren, sondern mit ihnen Überraschungen zu entdecken, auf Unerwartetes hinzuweisen und Enttäuschungen auszuhalten. Gott und sein Geheimnis sind nie als gegenüberstehendes Wesen, sondern in Ereignissen anwesend.
2.2 Gott existiert nicht an sich, sondern ereignet sich in unserer Wirklichkeit. Deshalb belehrt Jesus nicht in platter Direktheit über den Inhalt des Gottesreichs, sondern erzählt von ihm in profaner Anschauung (Gleichnisse vom Säen und Ernten, von Unkraut und Weizen, vom Wachstum des Kleinen, vom Verlieren und Finden, von Zerwürfnis und Versöhnung, Arbeit und Lohn, einer Einladung zum Festmahl). Auf den ersten Blick zeigt er nicht, wer Gott ist, sondern wo etwas Unerwartetes, Wohltuendes, Überraschendes geschieht. Eine christliche Gemeinde muss lernen, von der Wirklichkeit der Menschen zu berichten, weil das Geheimnis der Welt geschieht. Gott ist, wie gesagt, immer schon sein eigenes Symbol (Tillich).
2.3 Auf Grund ihrer Lebenserfahrung wissen christliche Gemeinden nicht mehr über Gott und sein Geheimnis als andere Menschen. Obwohl sie sich ausdrücklich damit beschäftigen, bleiben sie genauso Fragende, Überraschte, solidarisch Aushaltende. Mehr noch, nur wer die Fragen und die Orientierungssuche der anderen mitträgt und weiß, dass das Geheimnis für alle Menschen unaussprechlich bleibt, kann die Suche nach Orientierung und Lebenssinn der Fragen glaubwürdig begleiten.
2.4 Ebenso wie die christliche Religion, so bieten auch andere Religionen einen reichen Schatz von Vorstellungs-, Symbol- und Sprechwelten, um das Geheimnis des Göttlichen zu verlebendigen. Christliche Gemeinden tun gut daran, sich auch in sie zu vertiefen, ihre eigene Vorstellungswelt zu erweitern und dadurch ihren religiösen Erfahrungsraum zu vertiefen. Dafür können wir dankbar sein.
2.5 „Im Anfang war das Wort“. Ausdrücklich kann Gott in der Sprache und in anderen menschlichen Ausdrucksweisen anwesend sein. Nur dort „gibt es“ Gott, ohne dass dadurch das Geheimnis selbst verfügbar wird. Deshalb ist es wichtig, dass christliche Gemeinden nicht „plappern wie die Heiden“, sondern in äußerster Sorgfalt mit der religiösen Sprache und ihrer religiösen Ästhetik umgehen, denn kraft dieser Zeichen liegt das Göttliche in ihren Händen. Die Sprache und ihre Darstellungswelten können die Kraft haben, dem Göttlichen die Ehrfurcht zu erweisen oder es zu verderben. Diese Achtsamkeit um die religiöse Darstellungswelt ist sowie die Beschäftigung mit Literatur und Kunst sind einer säkularisierten Gesellschaft wichtiger denn je. Sie alle können – ausdrücklich oder anonym ‑zu Botinnen des Göttlichen werden.
2.6 Die größte Gefahr für eine überzeugende Gottesrede in einer säkularisierten Gesellschaft sind die Kategorien des (philosophisch analysierten) Wesens und der Macht (Effektivität, Hoheit, Stärke). Deshalb sind diese Wesensaussagen von ihrer Entstehung her zu relativieren und machtförmige Elemente der christlichen Tradition mit höchster Konsequenz zu überwinden. Dazu gehören die Unterscheidungen von Natur und Person, von Einheit und Dreifaltigkeit sowie die Rede vom allmächtigen Gott und Allherrscher Christus, vom souveränen Weltenrichter und einer alleinseligmachenden Kirche, von sakramentalen Privilegien und einer prachtvollen Selbstdarstellung des kirchlichen Amts. Vermutlich haben sie alle am modernen Niedergang des Christentums in der westlichen Kultur einen erheblichen Anteil.
2.7 Die genannten Gesichtspunkte sollen nicht nur eine intellektuelle Aufarbeitung anregen, sondern müssen auch zu einem Verhaltens- und Lebensstil führen, der allmählich wachsen muss. Man kann die erstrebte Grundhaltung mystisch nennen, weil sie mit der ständigen, aber verborgenen Gegenwart des göttlichen Geheimnisses rechnet und dennoch um dessen Verborgenheit weiß. Sie durchlebt geradezu die Spannungen zwischen einer auf Gott vertrauenden glaubenden Gemeinde und dem Gottesschweigen in unserer Gesellschaft, die sich den Sinnfragen immer mehr öffnet. Sie erlebt die Dynamik des Ungesagten auch als Ansporn zu einem wissenden Umgang mit dieser Spannung.
2.8 Die Präsenz der christlichen Gemeinden in einer säkularisierten Gesellschaft ermöglich es ihnen, eine wichtige Botschaft zu vermitteln: Gott und das göttliche Geheimnis sind (auch für ChristInnen) immer dort zu Hause, wo Grenzen und unaussprechliche Fülle, Horizonte und Abgrund, Beschenken und Mangel zusammenkommen. Kein Bild und keine Beschreibung Gottes können eine objektive Information oder Belehrung sein; sie sind in sich stumme Angebote, die in Gemeinschaften zu Wort kommen. Auch keine Gemeinde kann sich selbst oder ihren Mitmenschen einfach sagen, wer Gott ist; sie kann ihre Erfahrungen höchstens teilen. Deshalb muss sie ständig Lebensfragen sammeln und aushalten, die zwar auf Gott hindeuten und zugleich für seine Verneinung plädieren. Das Unzutreffende in einer menschlichen Aussage von Gott ist immer größer als das, was zutrifft (vgl. Negative Theologie). Deshalb brauchen wir einen mystischen Zugang und ein mystisches Denken, das sich den ständigen Unterbrechungen, Enttäuschungen, Glücks- oder Grenzerfahrungen stellt.

IV. Gottes Reich beginnt

IV.A: Reich Gottes und Kirche

Gemäß einem breiten wissenschaftlichen Konsens hat Jesus keine Kirche im unmittelbaren Wortsinn gegründet. Ebenso unbestritten ist, dass Jesu Anhängerinnen und Anhänger sich nach seinem Tod wieder zusammengefunden haben, um ihre Lebensvision in seinem lebendigen und belebenden Geist unter neuen Bedingungen zu beleben. Für sie war er nicht im Tode geblieben, sondern hat ihnen – so der realitätsstiftende Gründungsmythos ‑ seinen Geist gesandt. Seine Vision erwies sich als stärker als sein Tod. In diesem Sinne gilt die Geistsendung von Pfingsten als das Geburtsfest der Kirche.

Jesu Vision lautete: Gottes Reich kann hier und jetzt beginnen. Gemäß der jüdisch-prophetischen Tradition meinte er damit ein friedliches und versöhntes Zusammenleben, in dem die Gerechtigkeit voll hergestellt ist, in dem also das göttliche Weltgeheimnis Wirklichkeit wird. Deshalb wird der Bericht von Jesu Handeln und Verkündigung, tödlichem Scheitern und unerwarteter Auferstehung zum großen Zeichen, zur unvergesslichen Vorwegnahme dieser Vision. Die neue Gemeinschaft sieht sich in ihrer Überzeugung bestätigt, dass Jesu Hoffnung durch die Gegenwart Gottes unbesiegbar ist. Deshalb stellt sie sich kompromisslos in den Dienst dieser Vision, also der Sache Jesu. Dieses Vertrauen auf Gottes Reich erfahren sie als einzige Legitimation auf Leben und Tod.

1. Dies führte die christlichen Gemeinden bis heute in eine bleibende Spannung: Einerseits nehmen sie in zahllosen Erfahrungen und Ereignissen die Gegenwart des Gottesreiches vorweg. Bis heute können ihre Angehörigen in Gottesdiensten und Gesprächen, in gegenseitigen Begegnungen und gemeinsamem Handeln die Gegenwart eines tiefen Friedens und einen Lebenssinn erfahren, den sie bei bestem Gewissen göttlich nennen können. Aus christlicher Perspektive ist dies wohl der Grund, weshalb christliche Gemeinden ihre Hoffnung auch unter widrigsten Umständen nie aufgegeben haben. Zumal in Zeiten der Krise und eines gesellschaftlichen Relevanzverlusts können sie Inseln einer tiefen Sinnerfahrung bleiben. Wem solche geistlichen Erfahrungen geschenkt wurden, wird sie wohl nie vergessen und sie mit der Erfahrung von „Kirche“ im besten Wortsinn verbinden.

2. Andererseits verführen solche erfüllende Erfahrungen oft zu einer vorschnellen Identifikation von Gottesreich und Kirche. Kirchengemeinschaften schleichen sich in das erwartete Reich Gottes ein. Dieser naheliegende, aber gefährliche Prozess lässt sich an der Geschichte der Eucharistiefeier illustrieren. Indem sich eine Kirche oder Gemeinde ganz in die Erinnerung an das letzte Mahl Jesu verliert, präsentiert sie sich selbst als göttliches Geheimnis und neigt dazu, dieses heilige Geschehen gegen störende Erfahrungen abzuriegeln. So entstanden wohl die ersten Sätze heiligen Rechts und erhielten kirchliche Leitungsämter eine heilige Würde. Im mittelalterlichen Rom wurde ausgerechnet der Gründonnerstag zum Tag der großen Exkommunikationen. Je mehr sich die Kirche unter den beiden vergangenen Päpsten immer ausschließlicher als Sakrament verstand (und den Stellenwert der Wortes verdrängte), umso autoritärer handelten die sakral legitimierten Institutionen. Das gibt zu denken.

3. Hier soll nicht das katholische Amtsverständnis pauschal kritisiert, sondern auf eine innere Dialektik hingewiesen werden, die die Vision vom Reich Gottes immer wieder zu einem narzisstischen Verständnis von Macht und Institutionen pervertierte. Dies zeigt sich an den politisch-sozialen Machtansprüchen, die das Bischofsamt seit dem 4. Jh. übernahm, an den heilsvermittelnd sakramentalen Kompetenzen, die dem Priesteramt bis heute zugeordnet werden, sowie an der Umstrukturierung einer Heilsgemeinschaft („Leib Christi“) zu einer durchstrukturierten Rechtsgemeinschaft („mystischer Leib“) seit den Gregorianischen Reformen, die alle Heilsbedingungen in eigener Regie regelt.

4. Angesichts dieser Fehlentwicklung, die im 11. Jahrhundert begann, kommt den Säkularisierungsprozessen eine geradezu von der Vorsehung gewollte Bedeutung zu. Sie legen diesen Missstand kompromisslos offen und zwingen die Kirchen bzw. christlichen Gemeinschaften dazu, ihr Handeln und ihre Ansprüche ohne sakral „übernatürliche“ Beigaben zu legitimieren. Die Säkularisierung hat Gottes Reich als ein Reich der Freiheit, Gerechtigkeit und Versöhnung dekodiert, lässt ideologiekritische Überlegungen zu und misst die christlichen Gemeinschaften an ihren empirisch greifbaren Absichten und Wirkungen. Christliche Gemeinschaften können aus diesem Feuerbad der Entmythisierung nur gereinigt hervorgehen.

5. Empirische und religionsanalytische Untersuchungen sprechen dafür, dass sich in säkularisierten Gesellschaften ein neues Interesse an Fragen nach Herkunft und Zukunft, nach dem Sinn und den Werten der Wirklichkeit zeigt. Die Grenzen rein empirischer Weltinterpretationen werden offenkundig. Umgekehrt ist in christlichen Gemeinschaften die Offenheit für einen genauer kontrollierten Umgang mit explizit religiösen Sprachwelten gewachsen. Gerade weil Gott in Raum und Zeit, in Beziehungen und existentiellen Erfahrungen allgegenwärtig ist, hängt die Gegenwart dieses Geheimnisses nicht von seiner ausdrücklichen Nennung ab. Die Gottesverehrung ist implizit schon im Respekt vor der Wirklichkeit und den Mitmenschen garantiert.

6. Deshalb ist in einer säkularisierten Gesellschaft die ausdrückliche Nennung Gottes und seiner Geheimnisse nicht notwendig. Sinnvoll ist jedoch – etwa in Gebet und Gottesdienst ‑ das souveräne Spiel zwischen dem (weltlichen) Respekt vor den Menschen und der (religiösen) Feier des letzten Geheimnisses durch Menschen, denen dieser Zusammenhang bewusst geworden ist. Wer die Sprache (und das Handeln) einer säkularen Gesellschaft achtet und nach religiösen Maßstäben deutet, verneint und kritisiert diese nicht, sondern erweitert sie. So gesehen behalten religiöse Gemeinschaften nach wie vor die Aufgabe, als solidarische Deute- und Hilfsgemeinschaften ihre säkularisierte Gesellschaft zu begleiten.

IV.B: Kirchgemeinde und säkularisierte Gesellschaft

Angesichts der skizzierten Zusammenhänge lebt die aktuelle Glaubwürdigkeit von Kirchengemeinden davon, dass sie das Vermächtnis Jesu nicht zur eigenen Rechtfertigung und zum eigenen Vorteil instrumentalisieren. Es wäre zynisch, wollte sie daraus gar kirchliche Vorrechte oder Heilsgarantien ableiten. Aus diesem Grund ist jeder Verselbständigung kirchlicher Macht und jeder Machtförmigkeit der Verkündigung zu widerstehen, denn sie konterkarieren die jesuanische Heilsbotschaft. Daraus folgt:

1. Christliche Gemeinschaften, welcher Art auch immer, haben eine sachbezogen dienende Aufgabe. Ihre Ämter sind streng funktional, d.h. von der Frage her zu beurteilen, ob sie der Gemeinschaft dienen. Zumal in einem säkularisierten Kontext schadet (wie beschrieben) jede Isolierung, gar Sakralisierung innerkirchlicher Amtsautorität dem ursprünglichen jesuanischen Impuls; sie darf in keinen Ämtersystemen zur Selbstläuferin werden.
Daraus folgt nicht nur die konsequente Kritik aller verselbständigten innerkirchlichen Amtsautorität, sondern auch die innere Befreiung der Gemeinden von formalen Autoritätsansprüchen, die ohne inhaltlich überzeugende Begründung an sie herangetragen werden. Nur unter dieser Voraussetzung können die Gemeinden zu einem gelassenen, aggressionsfreien und wohlabgewogenen Umgang mit kirchlichen Amtsträgern finden. Dies erfordert zumal in römisch-katholischen Kirchengemeinden eine intensive innere Lernschule und Disziplin. Dazu gehört, dass christliche Gemeinden die Eigenwerte säkularisierter Gesellschaften und ihrer Einzelsektoren von innen heraus kennen und respektieren.

2. In der Regel verfügen christliche Gemeinden zur inhaltlichen Beurteilung amtskirchlicher Erwartungen oder Verordnungen über die notwendige Kompetenz. Ihr Ziel solle es nicht sein, kirchliche Strukturen abzuschaffen, sondern – u.a. im Geist demokratischer Meinungsfindung, Beteiligung und Transparenz – Entscheidungen selbst zu treffen bzw. funktional und personell nachzujustieren und sich zu Eigen zu machen: Respekt vor dem Gewissen ist dabei eine primäre, Gehorsam eine sekundäre Tugend. Die hebräischen Schriften sprechen in der Regel nicht von „Gehorsam“, sondern vom „Hören“, d.h. von einem aktiven Prozess des Aufnehmens, Mitdenkens und der angemessenen Reaktion.

3. Christliche Gemeinden überprüfen und justieren ihre Vision vom Reich Gottes in [1] den Schriften, [2] der offiziellen kirchlichen Tradition, [3] dem Sprachraum ihrer eigenen Gemeinde(n) sowie [4] den „Zeichen der Zeit“ bzw. dem „Zeitgeist“, wie er ihnen in ihren Sozialräumen begegnet.
In Wirklichkeit ist dieses althergebrachte Konzept der christlichen Wahrheitsfindung kein Harmonie-, sondern ein Konfliktmodell, das nie zur Ruhe kommen wird. Es hat dafür zu sorgen, dass anfallende Konflikte zu konstruktiven Ergebnissen führen. Zudem beschreibt es keine zeitliche Abfolge der Wahrheitsfindung, denn die genannten „Orte“ sind immer und ganzheitlich präsent. Im Gegenteil, faktisch orientieren sich viele Einzelentscheidungen zunächst an den Zeichen der Zeit [4] und/oder dem Sprachraum der Gemeinde [3], denn auch die Wahrheitszeichen säkularisierter Gesellschaften sind in den christlichen Gemeinden präsent. Dann kommen die eingeübten Gewohnheiten ins Spiel [2]. Erst zuletzt werden sie mit der biblischen Botschaft konfrontiert [1b], diese schließlich an den spezifischen jesuanischen Impulsen ausgerichtet [1a]. Dass eine theoretisch reflektierende Theologie diesen Prozess in der umgekehrten Reihenfolge (1a-4) begleitet, ist ihrer wissenschaftlichen Funktion geschuldet. Sie ist aber nicht mit der Verkündigung und der gottesdienstlichen Sprache zu verwechseln.

4. Mehr noch, dieser argumentative (theologisch immer wieder durchbrochene) Durchgang lässt sich vielfach wiederholen (und spirituell ausloten), bis sich schließlich ein Konsens herausschält, der zu einem klaren Konsens oder zu unterschiedlichen Positionen führt, die sich die Waage halten. Dann ist es Sache der Gemeinde bzw. der gemeindeleitenden Gremien, im Geist gegenseitiger Akzeptanz entweder endgültige Entscheidungen zu treffen oder festzustellen, welcher Grad der Verbindlichkeit einer Position zukommt. Auch sollte keine Gemeinde von einer Schwestergemeinde dominiert, sondern gegebenenfalls im Dialog überzeugt werden.

5. Dieser Geist des gegenseitigen intensiven Austauschs und Dialogs setzt voraus, dass örtliche, regionale und überregionale Kirchenleitungen unter glaubwürdiger Beteiligung aller betroffenen Gemeinden zu wählen sind. Der größte Teil aktueller, teils krisenhafter Auseinandersetzung ist der Tatsache geschuldet, dass Gemeinde- und Kirchenleitungen prinzipiell von oben her ernannt werden.

6. Angesichts der langen Geschichte und schieren Größe der römisch-katholischen Kirche wird immer eine Tendenz zu einer starken, formal mächtigen Struktur von Ämtern bestehen. Umso wichtiger ist ein Gegenpol zu stärken, den ein partizipativer und geschwisterlicher Geist belebt. Die Gemeinden müssen sich diesen Geist verinnerlichen, damit die Erneuerungsprozesse nicht zu bloßen Machtübernahmen führen.

V. Mündige Gemeinde

V.A: „Ortskirchen“ vor Ort

Jede Gruppierung, deren Mitglieder sich der christlichen Sache voll und freiwillig verpflichtet wissen, die also den Namen einer eigenständigen Gemeinschaft von Christinnen und Christen verdient (weil sie im Namen Jesu zusammenkommt und umfassend handelt), kann in uneingeschränkter Weise als christliche Gemeinschaft gelten. Paulus nennt nicht nur die Gemeinschaft von Rom, sondern auch die von ihm gegründeten Gemeinschaften von Thessalonich, Korinth, Galatien und Philippi mit großer Selbstverständlichkeit „Kirche“.

1. Nach unbestrittener Überzeugung ist der Geist Christi als göttliche Kraft in jeder Gemeinde gegenwärtig. Deshalb steht es ihr zu, in eigener Verantwortung die Nachfolge Jesu zu gestalten, die Erinnerung an Jesus als Propheten und Gottes Sohn wachzuhalten, in Bekenntnis, Gottesdienst und Gebet sein Erbe zu vergegenwärtigen, also mit Leidenschaft an der Gegenwart des Reiches Gottes zu arbeiten. Diese Gemeinsamkeit hat die Spannungen zwischen den damaligen Gemeinden nicht verhindert, aber überbrückt und innere Horizonte erweitert.

2. Schon die frühen Auseinandersetzungen zwischen jüdischem und hellenistischem Christentum haben dazu geführt, dass die schwerwiegenden Konflikte im gemeinsamen Gespräch auf gleicher Augenhöhe ausgefochten wurden. Sie führten von Anfang zu innerer Pluralität, für die in der biblischen Erinnerung Petrus und Paulus stehen. Keine Gemeinde hat der anderen die eigene Würde abgesprochen.

3. Die spätere Struktur einer in Patriarchate, Metropolen, Erzbistümer und Bistümer geordneten Kirche war damals verständlich, weil sie den politischen Verhältnissen entsprach, und hat ihr eine langfristige Stabilität verliehen. Doch diese Gesamtstruktur war zeitbedingt und muss Reformen offenstehen.
Ein besonderes Problem stellt das massive Ungleichgewicht zwischen den traditionellen Bistümern und ihren Kirch- bzw. Pfarrgemeinden dar. Genau besehen (und entgegen der Terminologie des 2. Vaticanum) steht nicht den Bistümern, sondern den Pfarrgemeinden der Ehrentitel einer „Ortskirche“ zu. Die von einer Gemeinde bestellten Gemeindeleiterinnen oder Gemeindeleiter haben die elementare Kompetenz und Aufgabe, für die (diakonische, bezeugende liturgische, koordinierende und administrative) Handlungsfähigkeit zu sorgen und die Gemeinde nach innen und außen zu repräsentieren. Dies gilt uneingeschränkt auch für die wöchentliche Feier der Eucharistie und es pervertiert den Sinn wöchentlicher Zusammenkunft, wenn die Zahl der Eucharistiefeiern von der Summe der verfügbaren Priester abhängt.

V.B: Selbstautorisierung

Aus dem Gesagten ergibt sich die Forderung nach mündigen Gemeinden, die aus autoritären Strukturen ausbrechen und sich selbst – sozusagen täglich ‑ zu christlichem Handeln ermächtigen. Diese Forderung ist nicht primär der Ausfluss einer linksorientierten Gesinnung, die den Machtkampf von unten zum Selbstzweck erklärt, sondern die Folge der vorgelegten Überlegungen zum authentischen Stellenwert einer christlichen Gemeinde, die ernst macht mit der Gegenwart des Geistes Jesu in allen getauften Christinnen und Christen sowie in allen Gemeinden, in denen sie leben. Die Charismenlehre des Paulus bietet dafür eine maßgebliche Illustration. Dabei sind folgende Aspekte zu bedenken:

1. Jede christliche Gemeinde ist im uneingeschränkten Sinn Kirche vor Ort, also in ihrer Kommune, ihrem Stadtteil oder ihrer Stadt. Zusammenschlüsse von bestehenden Gemeinden sind sinnvoll, wenn sich die Aktivitäten intensivieren lassen, eine Übersichtlichkeit gewahrt bleibt und ein überzeugender Zusammenhalt gestärkt wird.

2. Eine mündige Gemeinde setzt mündige, in der Nachfolge Jesu gefestigte Gemeindemitglieder voraus. Wie eine Demokratie an nicht-demokratischen Menschen scheitert, so scheitern mündige Gemeinden an unmündigen Mitgliedern. Der Weg zu einer mündigen Gemeinde beginnt deshalb mit der Selbsterziehung ihrer Mitglieder zu innerlich selbständigen, spirituell gereiften Menschen, die streng ihrem (christlich orientierten) Gewissen verantwortlich sind und sich nicht einfach von antiautoritären oder reaktionären Gefühlen leiten lassen. Mündigkeit ist kein wohlfeiles Schlagwort, sondern für Christinnen und Christen eine höchst anspruchsvolle Glaubenshaltung, die der „Freiheit der Kinder Gottes“ entspringt.

3. Unbeschadet ihrer elementaren Selbständigkeit ist einer mündigen Gemeinde an einem vertrauensvollen Verhältnis zu ihren Schwestergemeinden gelegen. Die Koordination bei bestimmen Aufgaben ist pragmatisch und nach funktionalen Gesichtspunkten zu regeln. Der kontinuierliche Austausch über Fragen des Glaubens, der innerkirchlichen Praxis und von Verhaltensregeln ist im Sinne einer synodalen Gesinnung wünschenswert.

4. Eine mündige Gemeinde muss lernen, ihre Beziehungen zu ihrem Bischof und anderen übergeordneten Instanzen zugleich klug und eindeutig zu regeln. Konflikte sind nicht zu suchen, aber klar durchzuarbeiten. Gegebenenfalls gilt es, zwischen zentralen und zweitrangigen Konfliktpunkten zu unterscheiden. Appelle an die gesamtkirchliche Öffentlichkeit sind angebracht, wenn ein kollegiales Gespräch mit dem Bischof nicht mehr möglich ist. Dem Bischof muss klar sein, dass er die Grundsatzentscheidungen der Gemeinden mit Respekt zu behandeln hat. Rechtlich und strukturell ist die Autorität der gewählten Gemeindeleitungen ‑ in Analogie zur aktuellen Autorität von Ortsbischöfen ‑ auszugestalten. Dieselben Umgangsregeln gelten für das allgemeine Kirchenrecht, das in vielen Details nicht mehr überzeugen und im Gewissen binden kann. Diese innere Freiheit schließt nicht aus, dass eine kluge und besonnene Handhabung dieser Regeln sinnvoll ist.

5. Die Gemeinden haben das Recht und die Pflicht, ihre Kommunikation mit der Öffentlichkeit und ihre Wirkungsmöglichkeiten in ihr nach bestem Wissen und Vermögen zu gestalten. Nur so können sie ihr Ansehen und ihre Rolle in der zivilen Gesellschaft angemessen pflegen.

VI. Kirchliche Ämter

VI.A: Formen von Gemeindeleitung und Gemeindediensten

1. Aus den Anfängen des Christentums sind für die Strukturen und Leitungen der Gemeinden keine allgemein verbindlichen Modelle bekannt. Grundlegend sind die Ausführungen von Paulus zu den Charismen (1Kor 12). Mit pragmatischem Blick erkennt er alle gemeindefördernden Fähigkeiten von Gemeindemitgliedern als Gottesgaben (Charismen) an. Als einziger Qualitätsmaßstab gelten für ihn das Wohl der Gemeinde und die Bereitschaft, sich in den Dienst ihrer Sache zu stellen. Ansonsten ist kein einheitlich verbindlicher Kanon für die Gestaltung von Gemeindeämtern zu erkennen. So gesehen haben bestimmte Gemeindestrukturen keine besondere theologische Qualität. Hier und dort nimmt man je nach Kontext Anleihe bei der jüdischen oder außerjüdischen Umwelt.

2. In den ersten Jahrhunderten bildete sich eine Drei-Ämter-Struktur von Bischof, Presbyter und Diakon heraus, die heute noch in vielen Kirchen Gültigkeit hat.
2.1 Dabei spielt der Bischof (episkopos = Aufseher) die prominenteste Rolle. Er ist der eigentliche Gemeindeleiter und zieht bald eine Fülle weiterer Funktionen an sich. Zu ihnen gehören die Leitung der Gemeinde und die Verantwortung für das apostolische Glaubenserbe, aus dem sich später das „Lehramt“ entwickelt. Seit der Konstantinischen Wende wurde dieses Amt durch öffentliche Befugnisse im Rahmen einer sakralen Machtsphäre überhöht. Sie geht vom Byzantinischen Kaiserhof aus und wird bald als prägendes Modell kirchlicher Macht wahrgenommen. Seitdem gilt das Bischofsamt als das zentrale kirchliche Amt schlechthin. Auch bei den weiteren Ausweitungen der Ämterstruktur nach oben (über Erzbischof, Metropolit bis hin zum Patriarchen bzw. Papst) blieb das bischöfliche Amt als höchste sakramentale Stufe erhalten.
2.2 Diese Entwicklung hat das Selbst- und Machtverständnis von Kirche tiefgreifend bestimmt. Unter anderem wurde die Erinnerung daran verdrängt, dass in der frühen Kirche auch Frauen Kirchengemeinden leiteten und „apostolische“ Funktionen versahen. Zu nennen sind ‑ neben der ersten Apostelin Maria von Magdala – die Gemeindeleiterin Lydia, die prominente Diakonin und Paulusinterpretin Phöbe sowie die Apostelin Junia, die später zu „Junias“ vermännlicht wurde. Diese Tradition ist wieder zu beleben, weil sie unserem selbstverständlichen Gerechtigkeitsgefühl entspricht und von einer der ältesten Taufformeln gedeckt ist: „Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau. Denn ihr seid alle eins in Christus Jesus.“ (Gal 3,28).

3. Diese vielfache Verfestigung des bischöflichen Amtes hat für das Rollenverständnis des Presbyters („Ältesten“) tiefgreifende Folgen. Ursprünglich waren die Presbyter (Männer und Frauen?) Mitglieder eines beratenden bischöflichen Kollegialorgans und konnten wohl auf vielen Gebieten in bischöflichem Namen agieren. Doch seit dem 3. Jahrhundert (die Quellenlage ist dünn) wuchsen sie in eine neue Funktion hinein. Sie wurde immer wichtiger, je mehr sich auch außerhalb der Städte Gemeinden bildeten, ein Prozess, der sich zum beginnenden Mittelalter hin nach Norden verlagert und intensiviert.
3.1 Im Namen ihres Bischofs übernahmen sie in fester Anstellung die Aufgaben der Predigt, der seelsorgerlichen Begleitung sowie der Vermittlung sakramentaler Gnaden in Taufe und sonntäglicher Eucharistie, später auch bei der Beichte. Ihre ursprüngliche Ordination zur kollegialen Gemeindeleitung wurde zunehmend von dieser Zielsetzung liturgisch und sakral überdeckt. Aus der Anstellung zum Leitungsamt („Ordination“) wurde die Priesterweihe.
3.2 Zwei weitere Entwicklungen verstärkten zusätzlich diese Entwicklung. Zum einen wurde aus den verschwindenden vor-christlichen Stadtreligionen mit ihren öffentlichen Opferkulten das Rollenbild des Priesters, also eines Kultdieners übernommen, zum andern erhielt eine christliche Sühne- und Opfertheologie enorm an Bedeutung; Jesus wurde zum Sühneopfer für unsere Sünden stilisiert, sein Opfer bei der Eucharistiefeier wiederholt. Übersehen hat man bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, wie sehr diese Sühne- und Priestertheologie die Reich-Gottes-Botschaft Jesu verfremdete und die Menschen zu heilsabhängigen, prinzipiell sündigen Heilsempfängern degradierte (vgl. Erbsündentheorie). Angesichts der aktuellen Krise sind diese Fehlentwicklungen konsequent zu korrigieren. Die Eucharistie ist als „Danksagung“ und als Erinnerung an Jesu Mahlhalten zu feiern.

4. Hand in Hand mit der Entwicklung zur priesterlichen Opfertheologie fixierte sich das katholische Kirchenbild immer mehr auf die archaischen Tendenzen einer männerzentrierten Struktur, die ihren Sog durch die Gregorianischen Reformen, die Ablehnung des Konstanzer Konzils, das globale Nein zur Reformation und den neuzeitlichen Antimodernismus in geradezu unkontrollierter Weise verstärkten.
4.1 Schließlich zeigten sie sich in einem männerbündisch strukturierten Klerus, einer verdeckten oder offenen Frauenverachtung (Zölibat und Verbot der Frauenordination), in höchst autoritären innerkirchlichen Verhältnissen, dem mangelndem Respekt vor Gewissen und Intimität von Mitmenschen, einer Fixierung auf geradezu absolutistische Strukturen (seit 1870), einer Geringschätzung anderer Religionen sowie im offiziellen Anspruch einer alleinseligmachenden Institution, die Benedikt XVI. im Jahr 2000 noch offen propagierte.
4.2 Im Jahr 2009 zitierte Papst Benedikt Jean-Marie Vianney (Pfarrer von Ars) mit den Worten: „Nach Gott ist der Priester alles! Ohne den Priester würden der Tod und das Leiden unseres Herrn zu nichts nützen. Der Priester ist es, der das Werk der Erlösung auf Erden fortführt.“ Solche Sätze sind inzwischen in Misskredit geraten, doch ihre Nachwirkungen sind im römisch-katholischen Unterbewusstsein keineswegs überwunden.

VI.B: Gemeindeleitung erneuern

Die letzten Hinweise können zeigen, wie viel bei einer Sanierung der Gemeindestruktur auf dem Spiel steht. Bei ihr ist auf drei Gesichtspunkte zu achten, die eng miteinander zusammenhängen: die Ent-Mächtigung des bischöflichen Amts, die Ent-Sakralisierung der priesterlichen Funktion (des „Weihe-Amts“) sowie die Neubelebung der Leitungsstruktur.

1. Bischöfe waren schon in vorkonstantinischer Zeit die (von den Gemeinden gewählten) Leiter der Stadtgemeinden, d.h. der Gemeinden, die zu einer autonomen Selbstverwaltung und Ausübung der kirchlichen Vollzüge fähig waren. Ihnen kamen die Verkündigung des Wortes, der Vorsitz in den Gottesdiensten sowie die Repräsentation der Gemeinde nach außen zu. Durch die Konstantinische Wende wurde dieses Amt durch öffentliche Befugnisse, durch eine sakral-poltische Macht überhöht und durch das Tragen von Purpur öffentlich legitimiert. Weitere Hoheitszeichen kamen hinzu. Diese kontextuell, also zeitlich bedingten Überhöhungen sind als Zeugen einer monarchischen bzw. feudalen Kultur zurückzunehmen.
Zudem ist über Position und theologische Wertung des bischöflichen Amtes neu nachzudenken. In seiner gegenwärtigen Form behindert es massiv demokatrisch-synodale Kirchenstrukturen ebenso wie die gebotene Mündigkeit der christlichen Gemeinden. Beides beschädigt die Sendung der christlichen Gemeinden, die vor Ort für die Sache des Gottesreichs einstehen.

2. Faktisch haben die Leiterinnen und Leiter von Gemeinden (gleich, ob in individueller oder kollegialer Funktion) schon lange die Aufgaben übernommen, die ursprünglich von den Stadtbischöfen ausgeübt wurden. Deshalb sind die christlichen Gemeinden vor Ort im vollen Wortsinn als „Ortskirche“ zu verstehen. Das Verhältnis zwischen Bischöfen und Pfarrern (bald auch Bischöfinnen und Pfarrerinnen) kann nicht mehr auf eine Gehorsamsbeziehung reduziert werden; es muss kollegial ausgestaltet sein, da dem Bischof nur eine überregionale Führungsaufgabe zukommt. Dies erfordert auf der Ebene der Bistümer und der Ortsgemeinden ein behutsames, aber auch gründliches Umdenken. Die Zuständigkeit für Entscheidungen sowie der Katalog bischöflicher Tätigkeiten ist neu zu regeln.

3. Zu überwinden sind die archaische Sakralisierung und Fixierung des Priesteramtes auf Sakramentenspendung und die Feier der Eucharistie, die mit der Überordnung der sakramentalen Vollzüge über die umfassende Gemeindeleitung verkoppelt ist. Die Gemeindeleitung hat die umfassende Aufgabe, die keine andere Tätigkeit in einer Gemeinde überragen kann. Unbestritten gehört zur Gemeindeleitung auch der Vorsitz bei den eucharistischen Gottesdiensten. Andere als priesterlich geltende Aufgaben (Seelsorge, geistliche Begleitung, Kriseninterventionen, Besuchsdienste, Katechese und diakonische Dienste) können je nach Charismenlage auf andere Gemeindemitglieder verteilt werden; sie sind nicht an eine sakramentale Weihe, sondern an die gemeinsame Taufe und die gemeinsame Jesusnachfolge gebunden, die alle Gemeindemitglieder verbindet.

4. Die konsequente Entsakralisierung des Priesteramtes, das primär als Gemeindeleitung zu bestimmen ist, kann dabei helfen, traditionelle und ideologische Blockaden zu überwinden: den Pflichtzölibat und den Ausschluss von Frauen aus dem Amt der Gemeindeleitung. Außerdem würde diese Neuorientierung die Beziehungen mit dem reformatorischen Kirchen wesentlich erleichtern.

VII. Herausforderungen

VII.A: Aktuelle Krise

Die aktuelle Krise der römisch-katholischen Kirche, die sich u.a. im westlichen Kulturraum zeigt, hat noch keine angemessene Antwort gefunden. Nicht einmal das Ausmaß der Einbrüche und erforderlichen Reformen ist abzusehen. Vermutlich sind die aktuellen Missbrauchs- und Vertuschungsaffären, die wachsenden Autoritätsprobleme, die massiv sinkenden Priesterzahlen und der gesellschaftliche Relevanzverlust nur die Symptome für ein tiefer liegendes Problem, das die Verantwortlichen noch nicht in den Blick genommen haben und von dem auch die Kirchen der Reformation betroffen sind. Das ist die Kehrseite der Ökumene; auch in Sachen Krise sitzen wir im selben Boot und wir sollten uns gemeinsam auf die Suche machen. Wenigstens aus dieser Perspektive sollten wir lernen, wie nahe wir uns sind.

1. Der „Synodale Weg“ in Deutschland scheint keinen Ausweg zu bieten. Er hat zur Verbesserung der Situation vier wichtige, aber zufällige Problemfelder ausgewählt: Die Macht in der Kirche, die priesterliche Lebensform, die Stellung der Frau sowie die kirchliche Sexualmoral. Sie versprechen keine umfassende Situationsanalyse. Der „Orientierungstext“, der dafür einen Rahmen liefern soll, lässt ein Gespür für die Dramatik der Katastrophe ebenfalls vermissen. Auch die römische Bischofssynode 2021-2023 zur Synodalen Kirche verspricht keinen Durchbruch und mit wenigen Ausnahmen zeigt sich in den meisten Reformgesprächen eine eher verharmlosende Tendenz. Längerfristige Fragen, die die offizielle Glaubenslehre und die hierarchische Kirchenstruktur betreffen, also ans Mark gehen, werden nur noch von wenigen Gruppen (z.B. von Maria 2.0) gestellt.

2. Umso dringlicher ist eine fundamentale Auseinandersetzung über das kirchliche Reden über Gott und Welt, über Heil und Zukunftserwartungen, Individuum und Gesellschaft, Gerechtigkeit und Liebe. Ist das kirchliche Menschenbild noch glaubwürdig, entspricht es noch den ursprünglichen jesuanischen Impulsen? Kann es zu den säkularen Fragen nach der Freiheit der Würde der Menschen eine Brücke bauen, den Menschenbildern anderer Religionen standhalten und taugt es für die weltethisch angemessene Gestaltung einer globalisierten und hoch technisierten Menschheitszukunft? Je mehr diese Fundamentalfragen in unseren öffentlichen Diskursen hinter aktuellen Skandalmeldungen und Skandaldebatten verschwindet, desto unerheblicher wird eine Institution Kirche, die sich nur noch mit sich selbst beschäftigt.

3. Aus diesen Gründen ist eine Auseinandersetzung mit den genannten Fundamentalfragen wichtiger denn je. Die zivile Gesellschaft möchte wissen, was wir ihr vor Ort zu sagen haben, welchen Umgang mit Menschen wir ihr anbieten und was sie von uns erwarten kann. Je mehr die Autorität überregionaler kirchlicher Institutionen zerfällt, umso wichtiger werden die Antworten, die vor Ort die christlichen Gemeinden in Wort und Tat zu geben wissen. Die Bedeutung mündiger Gemeinden ist größer denn je.

VII.B: Kreative Wege

Die christlichen Gemeinden sind auf diesen Bedeutungszuwachs kaum eingestellt. Bei allem Bemühen um Selbständigkeit verstehen sie sich immer noch primär als Teil ihres Bistums und achten wenigstens formal darauf, dass ihre Beziehungen zu Bischof und Ordinariat „in Ordnung“ sind. Umgekehrt ist von bischöflicher Seite kein Bemühen darum zu erkennen, dass das eigene Profil der Gemeinden hervorgehoben wird und ihre Initiativen der Öffentlichkeit zu ihrem Recht kommen. Deshalb wird das Verhalten der Gemeinden nicht zur Kenntnis genommen oder – oft auch vor Ort – unterbewertet. Dem sollten die christlichen Gemeinden um der Sache willen entgegenwirken. Sie müssen endlich ihre Mündigkeit unter Beweis stellen.

1. Eine zivile Gesellschaft möchte von einer religiösen bzw. christlichen Gemeinschaft in erster Linie hören, was sie zum Menschen und zu menschlichen Werten zu sagen hat. Sensibler als viele Christinnen und Christen reagiert sie auf die Beschädigung des christlichen Menschenbildes durch die Erbsünden- und Erlösungslehre, die ins kollektive Bewusstsein unserer Gesellschaft eingegangen sind.
Anders als Jesus definiert die kirchliche Lehre, von den Kirchenleitungen unterstützt, den Menschen als ein prinzipiell schuldiges, zum Heil unfähiges Wesen, das durch den Opfertod Christi zu erlösen ist. Daran knüpft die katholische Sakramenten- und Ämterlehre an; für die Vermittlung des Heils sind sie unverzichtbar.
Entgegen aller Beteuerung von der „Freiheit der Kinder Gottes“ ist diese archaische Lehre nicht überwunden, sondern in zahllosen Erlösungstheorien, in vielen liturgischen Gebetstexten und Liedern, im Priesterbild, in vielen Predigten und Ermahnungen noch gegenwärtig, in unserem Glaubensbewusstsein in diffuser Weise wirksam. Diese Beschädigung des jesuanischen Menschenbildes ist auch der tiefste Ermöglichungsgrund der aktuellen Skandale, weil sie den prinzipiellen Respekt vor der Würde der Menschen beschädigt, Freiheit mit Misstrauen belegt und übergriffiges Verhalten begünstigt.

2. Dagegen können sich die Gemeinden in Wort und Tat bewusst präsentieren als kreative, eigenständige, in ihrem Gewissen unabhängige, solidarische und zum Guten befähigte Gemeinschaften, die die oft beschworene „Freiheit der Kinder Gottes“ auch wirklich gelernt haben.
Dazu gehört auch ihre Eigenständigkeit gegenüber ihren überregionalen kirchlichen Instanzen. Zu dieser Eigenständigkeit gehört, falls geboten, eine kritische Distanz zu kirchlich übergeordneten Verlautbarungen und Entscheidungen. Sie erklären ihren übergeordneten Instanzen, dass die Erneuerung der christlichen Botschaft in einer hochdifferenzierten Gesellschaft nicht mehr von oben, sondern von den „Ortsgemeinschaften“ ausgehen muss, weil sie als „Kirche“ mit der Wirklichkeit der Menschen konkret konfrontiert sind.
Faktisch haben sich die Freiräume der christlichen Gemeinden gegenüber ihren bischöflichen Leitungen stark ausgeweitet. Es kommt darauf an, mit Klugheit diesen Weg weiterzugehen.

3. Christliche Gemeinden können ihre Initiativen vor Ort gezielt in die Lebenswelten einbringen, indem sie sich – etwa im Sinne der Basisgemeinden – mit einem bestimmten, sozial relevanten Thema oder Anliegen beschäftigen. In Absprache mit ihren Schwestergemeinden und in einer Aufgabenverteilung mit ihnen können sie zu Pioniergemeinden werden, z.B. in sozialen, ökumenischen oder interreligiösen Fragen, in Fragen von Kindern oder Jugendlichen, Deklassierten, ausländischen Personen und Familien, von Entwurzelten oder Heimatlosen, mit besonderer Hinwendung zu ökologischen, gender-gerechten, anti-rassistischen oder weltethischen Themen. So können sie sich in der Zivilgesellschaft konkretes Gehör verschaffen.

4. Die autoritäre Struktur der römisch-katholischen Kirche führt regelmäßig zum Versuch der übergeordneten Kirchenleitungen, unkonventionell oder unbotmäßig handelnde Gemeinden bzw. Gemeindemitglieder an den Rand der Kirchengemeinschaft oder gar aus ihr hinauszudrängen. Es ist Sache einer mündigen Gemeinde, sich gegen solche Verfahren zu stellen und die eigene Wertung dagegen zu halten. Die Gemeinde entscheidet selbst, wen sie in ihre Gemeinschaft aufnimmt und/oder zur Gemeinschaft ihrer Gottesdienstfeiern zulässt. Sie kann Gottesdienste und Treffen organisieren für religiös, sozial oder weltanschaulich Interessierte, die sich nicht als ChristInnen verstehen.

5. Angesichts der innerkirchlichen Umbrüche müssen die Kirchgemeinden zu Virtuosinnen der Flexibilität und kluger Provisorien werden. Die Erinnerung an Jesus von Nazareth und die Kraft seiner Be-Geisterung wird ihnen helfen, die Stürme der Gegenwart unbeschadet zu überstehen, auch wenn noch niemandem die zukünftigen Gestalten der Kirche klar vor Augen stehen.

Angesichts unserer hochdifferenzierten Gesellschaft ist die Bedeutung der christlichen Ortsgemeinden größer denn je. In ihrer Vielfalt und Nähe zu den Menschen können sie, den urchristlichen Ursprungszeiten vergleichbar, zu den inspirierenden Zentren von Kirche werden. Sie können sich unmittelbar auf die neuen Bedingungen, Hoffnungen und Fragen der Menschen einlassen. Nicht immer sind sie darauf vorbereitet, denn allzu oft erfahren sie sich noch als die Empfängerinnen von höheren Weisungen. Umso wichtiger ist es, dass sie eine leidenschaftliche und schöpferische Vision nicht von der Kirche, sondern vom Reich Gottes entwickeln, das die Hungernden und Dürstenden umschließt. Es kann hier und jetzt bginnen und wir spüren schon seinen Atem.