Unaufrichtigkeit – Tod einer lebendigen Demokratie

Zu den Auseinandersetzungen mit Boris Palmer

Das Wichtigste, was ihr verstehen müsst, ist,
dass ein Beweis immer eine Herleitung braucht.
(Lehrerin im Film ‚Das Lehrerzimmer‘, 2023)

Warum mich die Geschicke des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer so sehr beschäftigen? Ich weiß es nicht wirklich. Dass ich Bürger der Stadt Tübingen bin und Palmers vielfältige Leistungen sehr schätze auf dem Gebiet der Ökologie und Kultur, des sozialen Zusammenlebens und der Ausländerpolitik, der kreativen Interventionsbereitschaft in außerordentlichen Situationen, des allgemeinen politischen Diskurses überhaupt, – das alles fließt in mein Gesamturteil ein, setzt aber eine vorgegebene Sympathie voraus. Dabei bin ich ihm nur selten persönlich begegnet, war auch nicht parteipolitisch aktiv, da ich mich – nach langer Tätigkeit im Ausland – erst 2005 endgültig in Tübingen niederließ. Eine Rolle mag eine alte Sympathie zu seinem Vater spielen: zu Helmut, dem sozial orientierten Menschen, dem bodenständigen Gärtner, Spezialisten für Apfelbäume, Gemüsehändler, Bürgerrechtler und „Remstalrebell“, der – wie wir in jungen Jahren fanden – für jede Provokation zu haben war, der behördliches Fehlhandeln entlarvte und den Politikern mit oft überdeutlichen Worten die Meinung steckte.

Der Vater Helmut

Allerdings hat mich die wohlfeile Stammtisch-Sympathie für diesen Haudegen nie wirklich überzeugt. Zu schnell wurde sein Verhalten zu unterhaltsamen Anekdoten missbraucht, zum allgemeinen Amüsement berichtet. Die ernsten Hintergründe seines schwierigen, von Unfrieden und Protest getriebenen Charakters wurden tunlichst verschwiegen. Dieses Verschweigen verwundert mich noch heute, zumal ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger gerne auf den Vater verweisen. „Ich habe ihn auf dem Rathausplatz erlebt“, „Mich hat er nicht bedient, weil ich nur eine Plastiktüte hatte“. „289-mal hat er erfolglos als Bürgermeister kandidiert“, „Zum Tübinger Bürgermeister schrie er von seinem Gemüsestand hinauf: ‚Du Sesselfurzer‘“. „Sein Boris musste mit ihm Bäume schneiden.“ …

Dass Helmut Palmer (1930 geboren) während des Nationalsozialismus – als unehelicher, von der Mutter später zu den Großeltern abgeschobener Sohn eines jüdischen Vaters – ständigen Bedrohungen, Demütigungen und Angriffen ausgesetzt war, dass er „Moses“ gerufen wurde, Schule und Jugendgruppen ihm oft zur Hölle wurden, weil sie ihn ausgrenzten, dass er schließlich an einem Ort aufwuchs, an dessen Eingängen Schilder prangten mit der Aufschrift: „Hier sind Juden unerwünscht!“, davon war nie die Rede. Kaum jemand hat wohl darüber nachgedacht, welch schreckliches Erbe dieser Mann mitschleppen und ertragen musste. Man hätte ihn dafür bewundern müssen, dass er sich trotz einer Kindheit in Anfeindung so intensiv für das Gemeinwohl engagierte und Deutschland nicht den Rücken kehrte. Man hätte sich seines Schicksals durch Zuwendung und Zuhören annehmen, ihn nachhaltig unterstützen müssen. Aber das war im Nachkriegsdeutschland wohl nicht opportun. Vielerorts wünschte man sich Versöhnung, aber nicht unbedingt im pietistischen Geradstetten, das ihm wohl zur Hölle wurde, und seiner schwäbischen Umgebung. Oder kennt man einen Bürgermeister oder Schulleiter, der ihn einmal in eine Schule oder zu einem öffentlichen Auftritt eingeladen hätte?

Hermann Liggesmeyer (Tübingen) berichtet in einem Leserbrief (10.05.23) über Helmut Palmer: „In Schmähbriefen wurde er unter anderem als ‚Remstaljude‘ verunglimpft. Zur ‚fachlichen Auseinandersetzung‘ mit dem neuartigen Baumschnitt gab es auch eine Schrift, die mit den Worten begann: ‚Helmut Palmer, der uneheliche Sohn eines …‘. Die Botschaft war eindeutig: ‚Du gehörst nicht zu uns, wir machen dich fertig.‘ Bei Helmut Palmer haben sie es geschafft und faktisch seine wirtschaftliche Existenz vernichtet.“ Vor Gericht musste er sogar um die ihm zustehende Entschädigung für ein Grundstück kämpfen, das ihm in Köngen (Kreis Esslingen) enteignet wurde. Liggesmeyer versteht deshalb, weshalb Boris Palmer in Frankfurt „dünnhäutig“ reagierte. Ich verstehe hingegen, weshalb er höchst sensibel reagiert auf jeden latenten und offenkundigen Rassismus (gleich ob antisemitisch oder nicht), auch dann, wenn ihn ein autoritärer Moralismus mit ständigem Kesseltreiben zum Rassisten stempeln will.

Jüdische Gemeinschaft in Königsbach

Später erfuhr ich: Der Vater von Helmut Palmer, also der jüdische Großvater von Boris, hatte ursprünglich eine Metzgerei in der wohlhabenden Stadt Pforzheim, in dessen Nähe ich aufwuchs. Er (und seine Vorfahren) stammten aus einer jüdischen Gemeinde im benachbarten badischen Ort Königsbach (heute: Königsbach-Stein). Schemenhafte Erinnerungen aus meiner Kindheit tauchen auf, so etwa eine Kolonne von Männern mit Schaufeln und Spaten auf dem Rücken. Meine Mutter erklärte mir, das seien Juden, die zur Arbeit geführt wurden. Diese Information erstaunte mich, denn mein Großvater, wohlhabender Bauer und Inhaber einer Gaststätte im katholischen Nachbarort Kämpfelbach-Bilfingen, hatte einige Zeit früher von seinen vielfältigen Beziehungen zu den Königsbacher Juden berichtet. In seinen Erzählungen waren es keine Landarbeiter, vielmehr handelten sie mit Vieh und Zigarren. Mein Großvater bewirtete sie in seiner Gaststätte regelmäßig, gerne und mit Gewinn.

Es muss Ende 1944 gewesen sein, da berichtete mir meine Mutter auf meine Frage hin, jetzt seien alle Juden verschwunden. Wohin? Das wisse sie nicht. Heute erinnert an die ausgerottete jüdische Gemeinschaft noch ein kleiner Friedhof: versteckt, vor einigen Jahren mit Hakenkreuzen geschändet, nur über einen Trampelpfad erreichbar (so in Wikipedia zu lesen), das Zugangstor verschlossen. So mutierte dieser verwunschene Ort meiner kindlichen Phantasie zu einem Ort der Leere, dann zu einem Ort der Schande, dem sich die Bewohnerschaft von Königsbach offensichtlich – lange Zeit jedenfalls – nicht stellen wollte.

Epidemische Antipathie

Mit diesem beunruhigenden Hintergrundwissen versuchte ich später, den Tübinger OB mit seinen Ecken und Kanten, den ständigen Konflikten und Auseinandersetzungen zu verstehen. Die nachhaltige Verbissenheit, mit der man ihn kritisierte, oft schmähte, weckte meine Neugier. Fast nie waren mir die Motive und inhaltlichen Gründe, die zu diesen Explosionen von Beleidigung und Ablehnung gegen ihn führten, wirklich klar. Noch weniger verstand ich, wie sich im Laufe seiner Amtsjahre die Streitkulisse verselbständigte, in den Leserbriefen des Tagblatts zu bizarren, nach meinem Urteil pathologischen Auswüchsen führte sowie zu organisierten Kampagnen mit hohem moralischem Anspruch, als ob B. Palmer eine Bedrohung für unsere Demokratie darstellte (man erinnert sich an die Vorurteile gegen seinen Vater).

Besonders irritierte mich die Kritiklust des Schwäbischen Tagblatts, das ihn mit Hingabe als einen Besserwisser, als geltungssüchtigen und reizbaren Zeitgenossen darstellte, bisweilen selbst seine moralischen Qualitäten und Kompetenzen in Zweifel zog. Die Kommentare zu seinem alltäglichen Handeln relativierten mit Vorzug die positiven Aspekte, akzentuierten die negativen umso mehr. Der Akzent lag oft nicht auf den Fakten, sondern auf einer missmutigen, meist grenzwertigen Begleitmusik. Hinzu kam, dass der intellektuelle Debatter vielen seiner KontrahentInnen überlegen war; das begünstigte eine aggressive Stimmung. Schließlich erhoben ihn seine Gegner zum Feind und machten ihn zur Bug-Figur ihrer politischen Aggressionen. War er zu einer TV-Veranstaltung eingeladen, gereichte ihm das zur Aufforderung, er solle sich mehr um die Stadt kümmern. Nahm er nach dem Geschmack seiner Antifront zu viel Einfluss auf die stadtinterne Diskussion, hieß es, er solle sich mehr um konkrete Sachprobleme kümmern. Bat er um Entschuldigung dafür, dass er über das Ziel hinausgeschossen sei, legte man die Platte von einem ständig wiederkehrenden Muster auf: bewusste Provokation, Rückrudern, gesteigerte Provokation usw. Das ist bis heute so geblieben und mancher aktuelle Leserbrief liest sich wie die leicht modifizierte Abschrift von Texten aus den vergangenen Jahren.

Einen bizarren Höhepunkt erreichte die Auseinandersetzung im Wahlkampf um das Amt des Oberbürgermeisters im Oktober 2022. Zwei Konkurrentinnen (von den Grünen bzw. der SPD unterstützt) definierten ihre Kandidatur mit Vorrang als Alternative zu Palmer, so sehr war er zum Buhmann geworden. Genuin eigene Ideen zu entwickeln, dazu war ihr Ehrgeiz offensichtlich nicht groß genug. Sie wollten zugänglicher, freundlicher, kommunikativer sein und niemanden ausschließen. Absurd war schließlich ein Aktionskomitee ohne eigenen Kandidaten, das mit hohem moralischem Anspruch nur Palmers Wiederwahl verhindern wollte, als ob die Geltung des Grundgesetzes oder die politische Kultur Tübingens zur Debatte stünde (auch das erinnert an seinen Vater). Über allgemeine moralische Verurteilungen kam keine Gruppe hinaus. Seine kommunalpolitischen Leistungen an konkreten Punkten zu bemängeln, das fiel wohl schwer. In den letzten Wochen des überhitzten Wahlkampfs gaben Palmers Befürworter ihre eigenen Leserbriefaktivitäten getrost auf; zu peinlich war das erreichte Niveau. Sie hatten einen guten Instinkt, denn in Konkurrenz mit drei weiteren kandidierenden Personen erreichte Palmer auf Anhieb 52,6 Prozent. Palmer hatte sich durchgesetzt, die Grünen waren gespaltener denn je, die SPD ratlos. Die Lage schien sich zu beruhigen.

Ermordung von Basiru Jallow

Doch neue Irritationen brechen auf.
Am 30.03.2023 wird im Alten Botanischen Garten (Bota) der aus Gambia geflüchtete Basiru Jallow ermordet. Am ersten Tag würdigt B. Palmer als Oberbürgermeister den Ermordeten, den Vater eines jungen Sohnes, in angemessener Weise; das wird jedoch schnell vergessen, denn unmittelbar danach kommt er warnend auf die Drogensituation im Bota zu sprechen, in dem der Mord geschah. Er teilt unvorteilhafte Details aus dem Tübinger Vorleben des Ermordeten mit und legt am folgenden Tag die Gründe für seine Intervention dar. Mich überzeugt diese Intervention, doch prompt bricht ein Sturm der Entrüstung los. Ignoriert wird Palmers leidenschaftliches Anliegen, die öffentliche Ordnung des Bota wiederherzustellen, nachdem einige Teile von ihm zum Umschlagplatz von Drogen geworden sind und Frauen sich abends nicht mehr in den Park trauen. Einige Tage später erklärt im Tagblatt ein schwachbrüstiger Kommentar, wenn man dort die Drogendealer vertreibe, tauchten sie nur andernorts auf. Was wieder einmal bleibt, ist der sichtlich begründungsfreie Vorwurf, in rassistischer Absicht habe Palmer das Andenken an einen Toten verunglimpft.

Der MdB-Abgeordnete Dr. Martin Rosemann wird später den gegenstandslosen Vorwurf nachschieben, „vermutlich“[!] habe Palmer u.a. den Datenschutz verletzt. Warum hat er ihn dann nicht angezeigt? Erneut steht der Standardvorwurf des Rassismus im Raum und die Presse bläst munter in dasselbe Horn. Dabei bin ich auch jetzt davon überzeugt, dass Palmer weder rassistisch gehandelt noch rassistisch geredet, auch jetzt niemanden auf Grund seiner/ihrer allochthonen Herkunft diskriminiert, oder einer bestimmten Menschengruppe negative Eigenschaften zugeschrieben, gar Menschen als Angehörige einer bestimmten Gruppe identifiziert hat, um sie dadurch zu diskriminieren.

Doch wurde mir endgültig klar, dass Boris Palmer – falls sich die Diskussion nicht fundamental ändert – in diesem öffentlichen Umfeld keine Chance mehr hat, denn seine KritikerInnen in Presse und sozialen Medien fühlen sich für ihre Vorwürfe schon lange nicht mehr begründungspflichtig. Zwar stehen ihre Anwürfe auf äußerst schwachen Füßen, doch können sie sich auf die verbreiteten Angriffe aus früherer Zeit berufen. Für sie gewinnt eine Kritik an Überzeugungskraft, je öfter sie wiederholt wird; bei jeder Kontroverse bleibt etwas hängen. Der offene Brief der MdB Dr. Martin Rosemann (SPD) vom 06.05.2023 zeigt, wie sich die Konfrontation verhärtet hat und wie selbst ein Bundestagsabgeordneter ungestraft beleidigende und unrichtige Behauptungen in die Welt setzen kann.

Eklat in Frankfurt

Dann folgt in Frankfurt am 28.4. 2023 der vorläufig letzte Akt: Boris Palmer wird an einem Symposion zu Fragen des Umgang mit Flüchtenden teilnehmen. Der Ablauf des Symposions ist mir nicht bekannt. Das Fernsehen verbreitet später zwei private Smartphone-Aufnahmen.

– Die eine gibt ein Statement von Palmer wieder, in dem er sich (wohl während des Symposions) zum Umgang mit dem bekannten N-Wort äußert. Seine Position scheint mir überzeugend: Entscheidend, so Palmer, ist der Kontext seiner Verwendung. Die Beschimpfung einer Person mit diesem Wort stehe außer Diskussion. Das Wort, das nicht zu einem gängigen Wortschatz gehöre, dürfe aber dann ausgesprochen werden, wenn es um die Diskussion über das Wort als solches gehe, seine Bedeutung und Verwendung also reflektiert werde. Zudem hält er es nicht für sinnvoll, das Wort aus früher erschienen Texten zu streichen. Als Beispiel dient ihm u.a. Pippi Langstrumpf von Astrid Lindgren. Er bekräftigt seine Position, indem er in diesem reflektierenden Kontext das Wort auch tatsächlich ausspricht. Was daran skandalös sein soll, ist mir nicht einsichtig. Umso mehr fällt mir auf: In zahllosen Kommentaren wird nur berichtet, wie oft Palmer das ominöse Wort benutzt hat. Die Frage nach dem Kontext wird also schlicht unterschlagen. Wenn das keine böswillige Absicht war, dann mindestens unverzeihlicher Leichtsinn, wenn nicht gar bodenlose Dummheit.

– Die andere Aufnahme zeigt Palmers Ankunft vor dem Uni-Gebäude. Eine Gruppe von Studierenden fängt ihn ab; ein dunkelhäutiger junger Mann fordert ihn offensichtlich dazu auf, das N.-Wort auszusprechen (biblisch gesprochen: er stellt ihm eine Falle). Palmer tut es, in diesem Kontext hat das Wort ja keinerlei beleidigenden Charakter, sondern leitet eine Reflexion über das Wort ein und beginnt seine Position zu erklären. Doch das interessiert die Studierenden wenig. Sie hatten ja nur auf das Wort gewartet und wie auf Kommando beginnen sie zu klatschen und zu johlen: „Nazis raus, Nazis raus“. Um ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen, klatscht Palmer zunächst mit, denn auch er ist gegen die Nazis. Dann aber reagiert er ernst und versucht, seine Position argumentativ zu verteidigen. Als man ihn noch immer nicht hören will (und klar ist, dass sie keine Argumente hören wollen) geht er zur Gegenkritik über.

Jetzt aktiviert sich sein traumatisches Familienerbe. Seinen Vorfahren zwang man den Judenstern auf, um sie in der Öffentlichkeit zu diskriminieren (man erinnere sich: sein Vater musste in einem „judenfreien Dorf“ aufwachsen). Jetzt versucht man, ihm die Plakette „Rassist“ aufzudrücken, um ihn als politische Unperson kaltzustellen. Presse und Personen des öffentlichen Lebens empören sich über diesen Vergleich, denn er relativiere das Schicksal der Juden. Warum aber darf er das nicht sagen? Warum nicht darauf verweisen, dass man die Grabsteine seiner Vorfahren mit Hakenkreuzen beschmiert hat, um die Toten diskriminieren? Wie wagt man es, einem Nachfahren von Juden, (deren nationalsozialistisches Schicksal in seine Familiengeschichte intensiv eingeschrieben ist) zu verbieten, dass er Dritte bei ihrer Diskriminierungsaktion mit diesem Zusammenhang konfrontiert? Macht man ihm das Schicksal zum Vorwurf, was Deutsche seinen jüdischen Vorfahren angetan haben? Den Skandal dieser Konfrontation sehe ich darin, dass seine Reaktion in der Öffentlichkeit skandalisiert, sogar von seinem „Freund“ Kretschmann massiv kritisiert und von seinem Anwalt rüde sanktioniert wird.

Folgerungen

Ich halte ein, um Klarheit zu gewinnen und ermahne mich zur Vorsicht, denn Fehlverhalten stellt sich wohl nie ohne Anlass ein. Natürlich muss auch ein angebbarer Grund für diese katastrophale Entwicklung zu finden sein, dass Boris Palmer nämlich so infam (wie ich empfinde) behandelt wird. Die ihn kritisieren, müssen keine verachtenswerten Menschen sein, obwohl manches verachtenswerte Wort gefallen ist, das besser nicht gefallen wäre, weil es eine üble Langwirkung erzielt. Warum also wird dem Vollblutpolitiker Boris Palmer neben Arroganz und Unbeherrschtheit regelmäßig Rassismus vorgeworfen?

Im Vergleich zum politisch korrekten Mainstream sehe ich bei ihm ein wichtiges Merkmal. Wer in Deutschland (und angesichts unserer Geschichte) politisch korrekt sein will, sei es aus Überzeugung oder aus Opportunismus, wird schon jeden Anlass zu einem rassistischen Missverständnis vermeiden, also schon im Vorfeld präventive Weichen stellen.

(1) Zum Beispiel wird diese Person das N-Wort in jedem Fall, auch in analysierenden und literarischen Kontexten vermeiden, obwohl dies zu merkwürdigen Effekten führen kann. Häufig wird um den heißen Brei herumgeredet, um peinlichen Situationen zu auszuweichen. Wenn aber die geradezu religiöse Tabuisierung sensibler Wörter konsequent fortgesetzt wird, wissen jüngere Menschen bald nicht mehr, wie dieses N-Wort überhaupt heißt. Deshalb kann nur noch eine vermeintlich rassistische Regelverletzung ihrem Unwissen abhelfen. Ich erinnere mich an die skurrile Situation eines Kindes, das seine Mutter als „A.-L.“ beschimpfte. Darauf erklärte die Mutter, dieses Wort gebe es überhaupt nicht. Doch das Kind bestand zu Mutters Ärger darauf, dass sie es in der Kita gehört habe. Hätte die Mutter ihrem Kind das Wort nicht besser erklären, also in den Mund nehmen, ihm dessen bösen Sinn erschließen und klarmachen sollen, dass es damit keine anderen Menschen beschimpfen sollte? Man kann also darauf warten, bis das Wort „N-Wort“ selbst tabuisiert wird, da es ja das N-Wort vollinhaltlich vertritt, also nicht mehr benutzt werden darf (Anhang 2).

(2) Diese Person wird über konkrete Mitmenschen mit dunkler Hautfarbe nie eine negative Aussage machen, auch wenn sie nicht rassistisch ist, weil andere diese Intervention als Wasser auf die Mühlen ihres eigenen Rassismus lenken und unkontrolliert für ihren Fremdenhass ausnutzen könnten. Ist damit deren Rassismus aber geheilt oder nur in ein weiteres dunkles Verlies abgedrängt, wo es weitergären kann? Wer das Gefühl bekommt, er dürfe bestimmte Inhalte nicht mehr aussprechen, wird nicht zum bedachtsamen Kommunikator, sondern zum missmutigen oder misstrauischen Mitmenschen. Genau das möchte B. Palmer vermeiden.

(3) Diese Person wird über schädliche Missstände lieber schweigen, als gegebenenfalls eine Person mit dunkler Hautfarbe zu kritisieren, auch wenn die Kritik aus wichtigen Gründen (etwa der öffentlichen Ordnung) ausgesprochen werden müsste. Im Grund führt diese Intransparenz zur Benachteiligung anderer allochthoner Mitmenschen, die sich z.B. gesetzestreu verhalten, denn mit einer konkreten, sachbezogenen öffentlichen Kritik wird auch ihr Schutz aktiviert, rational unterbaut.

An diesen Punkten liegt der neuralgische Dissens, den Palmer aus eigener Verantwortung nicht übergehen kann. Die meisten Deutschen bauen in ihrer eigenen Psyche einen massiven Schutzschild vor dem Rassismus auf, weil sie ihn als ihre eigene Verlockung erkennen und fürchten, sodass sie ihn sicherheitshalber auch bei anderen vermuten. Sie kämpfen mit einer latenten Infektion, die immer neue Abwehrkräfte erfordert. So stellt sich, Corona vergleichbar, ein möglichst klarer und großer Sicherheitsabstand vor diesem Abgrund ein, der ständig im öffentlichen Diskurs lauert. Wer den Abstand nicht einhält, gilt zumindest als fahrlässig, wenn nicht gar als Rassist.

Boris Palmer hingegen, der kraft familienbedingter Identität schon lange massive antisemitische (sprich: rassistische) Verwundungen in sich verarbeitet hat, kennt diese Ängste – noch zum Zeitpunkt der Frankfurter Auseinandersetzung – nicht, muss sie auch nicht haben. Er sieht keinen Anlass, mit der deutschen Öffentlichkeit in therapeutischer Vorsicht umzugehen. Rassistische Folgerungen, die sich nicht aus seinen Äußerungen ergeben, bedeuten für ihn kein Tabu. Im Gegenteil, er erwartet in allen Diskussionen schlicht absolute Ehrlichkeit. Jedes unehrliche und intransparente, verdeckende und verdrängende Verhalten, auch das präventive Schweigen nimmt er als Beschädigung mitmenschlicher bzw. gesellschaftlicher Beziehungen wahr, weil es eine Intransparenz in Kauf nimmt. Das Gedächtnis seiner Familie hat diese Frage schon hinreichend verhandelt. Deshalb schreckt er auch nicht mehr vor den angestammten Deutschen zurück, die aus scheinbar antirassistischen Motiven seine Herkunft mit brutalsten Mitteln zu zerstören drohten und massenweise zerstört haben. Er kann nur noch ein ‚Ja-Ja‘ oder ein ‚Nein-Nein‘ dulden. Mehr noch, Boris Palmer kann es den angestammten Deutschen nicht ersparen, dass sie sich endlich die Präzision der absoluten Ehrlichkeit erarbeiten. Drei Beispiele können es illustrieren:

– Als Angela Merkel angesichts der Flüchtlingskrise von 2015 erklärt: ‚Wir schaffen das!‘ und damit eine emotional wirksame Losung in politische Bewusstsein lanciert, reagiert Boris Palmer mit dem Buchtitel ‚Wir können nicht alles!‘ Er will damit Merkel nicht blockieren, sondern korrigieren, sie nicht ins Unrecht setzen, aber differenzieren. Er stellt dem emotionalen Appel eine rational akzentuierte Aussage entgegen, die die vorhersehbaren Probleme nicht verschleiert; unbestritten ist, dass er in seiner Stadt die Herausforderungen des damaligen Zustroms vorbildlich löste. Kurz, er erweist sich als Anwalt der Aufrichtigkeit; seine Kritiker wittern hingegen nur Kritik um der Kritik willen.

– Als die Deutsche Bahn ein Reklamebild mit mehrheitlich nicht-weißen Mitbürgern in einem Zugabteil zeigt, fragt er kritisch zurück, ob diese Darstellung die aktuelle Situation widerspiegle. Er möchte nicht, dass ein geschöntes Bild gezeichnet wird, auch wenn es vielleicht positive Emotionen aufrufen sollte. Prompt wird ihm dies als Rassismus ausgelegt.

– Als er einen dunkelhäutigen Mitbürger mit dessen eigenen rassistischen Äußerungen konfrontiert (indem er einfach dessen brutale Worte zitiert), können seine KritikerInnen diese entlarvende Technik nicht einmal erkennen, – für mich ein weiteres Armutszeugnis für ihre Fähigkeit zur Kommunikation.

So gesehen ist Palmer für die deutsche Kommunalpolitik, auch für einen korrekten Umgang mit Allochthonen, ein Glücksfall. Man muss auch rassistische bzw. antisemitische Worte nennen und benennen dürfen, um ein klares, unmissverständliches Verhältnis zum Rassismus zu erzielen und diesem die Fratze vom Gesicht zu reißen. Irgendwann mussten und müssen jüdische Eltern ihren Kindern erklären, was es heißt: „Juda verrecke“, „Judensau“ oder „Saujude“. Wer die Erinnerungen an solche existentielle Bedrohungen in sich trägt und durchgestanden hat, hat keine Berührungsängste mehr, auch wenn die deutsche Öffentlichkeit vor dieser Angst fliehen will und deshalb lieber ins fruchtlose Schweigen verfällt. Palmers Vorfahren sind durch das Stahlbad antisemitischer Mordlust gegangen; er ist hinreichend gegen jeden Rassismus gestählt, dem nur noch eine letzte Aufrichtigkeit Widerstand leisten kann. Boris Palmer weiß besser als seine schreienden Kritikerinnen und Kritiker, was Antisemitismus und Rassismus bedeuten. Vermutlich macht gerade das seine Kontrahentinnen so wütend und hilflos, obwohl sie sich eine moralische Überlegenheit einbilden, die Ihresgleichen sucht.

Dass die schwäbische Öffentlichkeit darüber noch nie nachgedacht hat, empfinde ich als Symptom eines sträflichen Empathiemangels. Wenn etwa ein Journalist erklärt, Palmer solle endlich die Klappe handeln, dann spürt er wohl nicht, wie hässlich sich sein eigenes Mundwerk gebärdet. Wer so primitiv bellt, gibt damit nur zu erkennen, wie empfindlich er selbst durch diese rückhaltlose Offenheit getroffen ist. Wer mit Häme gegen B. Palmer erklärt, der Kontext von Palmers Auseinandersetzung in Frankfurt sei keine Sachanalyse gewesen, sondern Geschrei, verfälscht hinterhältig einen Kontext, in dem die rational vermittelnden Erklärungsversuche von Palmer schlicht niedergeschrien wurden. Kassandra wird zum Opfer des Unheils gemacht, das sie anderen mitteilt.

Den Höhepunkt der Anmaßung und des Zynismus (nicht unbedingt gewollt, treffsicher aber in seiner Wirkung) finde ich in der Tatsache, dass man nach dem Frankfurter Eklat dem Betroffenen einen Vergleich mit Nazivorwurf und Judenstern verboten hat. Doch Palmer hat schlicht erklärt, damals habe man seinen Vorfahren den Judenstern als Etikett aufgezwungen; heute heiße das Etikett, das man ihm aufdrückt „Nazi“ bzw. „Rassist“. Die Replik der ehrbaren Damen und Herren, er relativiere damit die Schoah, ist pure Heuchelei, von selbstgerechten Weltverbesserern vorgetragen, die sich um die Identität und den Erfahrungshorizont ihres Kontrahenten um keinen Deut kümmern.

Die anerkannte Migrationsforscherin Susanne Schröter, die B. Palmer zur skandalträchtigen Konferenz „Migration steuern, Pluralität gestalten“ in Frankfurt eingeladen hatte und von puristischen Gruppen ebenfalls als Rassistin unter massiven Beschuss genommen wurde, erklärte später: Beim Versuch, die Konfrontation vor dem Gebäude den Konferenzteilnehmern zu erklären, habe Palmer das N-Wort „immer wieder“ wiederholt. „Ich war wie vom Donner gerührt: Was macht der Mann da?“ Warum aber war sie wie vom Donner gerührt? Hat er das umstrittene Wort denn im Sinne einer Diskriminierung verwendet? Mitnichten, er verblieb in einem analysierenden Kontext, machte sich also keiner Regelverletzung schuldig. Dass Frau Schröter dennoch irritiert war, kann ich jedoch nachvollziehen, denn das Wort ist und bleibt für das Sprachgefühl der Deutschen unschön, hässlich, und man sollte es auch in legitimen Zusammenhängen nur sparsam verwenden.

Warum aber ist das der Fall? Weil dieses böse Wort uns mit einem hässlichen Teil unserer eigenen Vergangenheit konfrontiert, die wir nicht einfach auslöschen können; es ist ein Stück dieser geronnenen Geschichte mit ihren destruktiven Nachwirkungen bis heute. Deshalb erinnert es uns unbarmherzig an einen Rassismus und einen Imperialismus, für den wir uns zu Recht schämen. Deshalb bildet es auch einen ständigen Anstoß (= Skandal) zur Auseinandersetzung mit unserer Identität. Man kann kaum erwarten, dass Boris Palmer mit seiner Erinnerungslast von dieser Scham geleitet wird. Darauf mit Aggression zu reagieren, zeugt kaum von einem reifen politischen und solidarischen Bewusstsein, sondern beweist nur, dass wir mit den Brüchen unserer eigenen Identität nicht umgehen können.

Ich fasse zusammen:

In der der aktuellen Diskussionen um Boris Palmer ist ein Virus wirksam, der die Kommunikation vergiftet, schrittweise zerstört und sich nicht schämt, einen vitalen Politiker nur deshalb in die Knie zu zwingen, weil er ein entscheidendes Defizit entlarvt, nämlich eine tiefsitzende, als Moralismus verbrämte Unaufrichtigkeit. Dieser Virus ist vor lauter Selbstschutz weder willens noch fähig, sich der eigentlichen Herausforderung zu stellen, mit der sie dieser herausragende Lokalpolitiker konfrontiert.

Vielleicht ist es gut, dass Palmer nun selbst seine jüdische Herkunft jetzt in die Diskussion eingebracht hat. So wird endlich der Stachel sichtbar, der schon lange hinter den beschämenden Auseinandersetzungen lauert. Sichtbar wird endlich auch die Infamie von TV-Beiträgen, die in dummer Arroganz Berichte über Boris Palmer mit unterirdischen Reportagen über seinen Vater mischen. Vielleicht wird man jetzt auch den Karikaturisten den Strich verbieten, wenn sie Boris Palmer mit Hakennase zeichnen. Bislang hat sie dafür nie jemand zur Rechenschaft gezogen. Nach Daniel Neumann sind die Deutschen der Überzeugung, jetzt auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Das sei der Grund dafür, dass sie nun umso redseliger anderen die Welt erklären und „im Konzert der Moralisten die erste Geige spielen wollen“ (vgl. Anne Strotmann in Publik Forum 10/2023).

Die Grünen aber, die Palmers Abschied aus ihrer Partei irgendwann bereuen werden, sollten sich die Verteidigungsschrift von Rezzo Schlauch noch einmal zu Gemüte führen. „Unzweifelhaft“ so Palmers damaliger Anwalt, ist es „der Tatkraft, dem Ideenreichtum, der Konfliktfreudigkeit und der Risikobereitschaft von Tübingens Oberbürgermeister zu verdanken, dass die Stadt in so vielen Feldern viel beachtete Pionierarbeit leistet.“ Dazu gehören auch Palmers Klärungsversuche für einen aufrecht humanen Umgang mit den kulturell und sprachlich unterschiedlichsten Mitmenschen, die in unserer Gesellschaft endlich ankommen möchten.

27.05.2023
Hermann Häring

PS vom 08.06.2023:

In einer Diskussion um die deutsche Asylpolitik erklärte am 06.06.03 die Bildungsministerin von Schleswig-Holstein und stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU, Karin Prien einem Radio-Beitrag über eine Neubewertung sicherer Herkunftsländer über die Grünen-Politikerin Aminata Touré gesagt: „Natürlich ist Aminata Touré durch ihre eigene Fluchtgeschichte geprägt [sie ist 1992 in Neumünster als Tochter malischer Eltern geboren]. Aber am Ende muss man in der Lage sein, als Politiker sich auch von seinem eigenen Schicksal ein Stück weit zu lösen und sich auch neben sich zu stellen und auch Entscheidungen mitzutragen, die einem persönlich wehtun.« Man darf gespannt sein, bis solche Überlegungen auch auf B. Palmer angewandt werden. Dabei ist hat Karin Prien jüdische Wurzeln; ihre Eltern hatten den Nationalsozialismus in den Niederlanden überlebt.

PS vom 02.08.2023:

Am 31. August wurde Boris Palmer, der nach der Frankfurter Auseinandersetzung eine vierwöchige „Aus-Zeit“ von seinen Amtsaufgaben genommen hatte, von Markus Lanz zu seiner jetzigen Situation und Position gefragt. Er erklärte u.a., dass er künftig vom Gebrauch der fraglichen, politisch tabuisierten Wörter Abstand nehmen werde. Damit akzeptierte er die verständlichen Vorbehalte vieler Deutscher gegen solche Wortwahlen. Dieser Entschluss verdient allerhöchsten Respekt. Doch er nannte auch die hochsensiblen Hintergründe seiner Familiengeschichte, von denen er sich nicht trennen kann, und illustrierte sie mit drei traumatisierenden Besuchen seines Vaters im Gefängnis von Stammheim mit peinlicher Kontrolle von seiner Mutter, seinem Bruder und ihm (Ausziehen bis zur Unterhose). Mir wird dabei noch deutlicher als früher: Faktisch wird er – wie viele andere – mit seinem Erbe alleingelassen, das ihm die deutsche Geschichte eingebrockt hat. In unserem Land können kulturelle, insbesondere jüdische Minderheiten, offensichtlich nicht mit öffentlicher Empathie rechnen, erst recht nicht solche Personen, die ihr schweres kulturelles Erbe nicht an die große Glocke hängen, sondern in sich selbst verarbeiten wollen und eine eigene willens- und tatkräftige Identität aufgebaut haben.

Anhang 1: Mail vom 21.04,2022 an MdB Dr. Martin Rosemann

Sehr geehrter Herr Dr. Rosemann,
Ihre Kritik an OB Palmer und Ihre angekündigte Kontaktverweigerung stößt auf mein Unverständnis, dies aus folgenden Gründen:
1. Sie beschimpfen BP als Rassisten. Diese Behauptung ist nachweislich falsch und unbegründet; damit bricht der Sinn der ganzen Aktion in sich zusammen.
2. Sie werfen ihm zu Unrecht mehrere Rechtsverstöße vor. Warum gehen Sie nicht gerichtlich gegen ihn vor, statt diese Vorwürfe im Raum ihrer Vermutungen stehen zu lassen?
3. Sie unterstellen BP Motive, die nur lächerlich und nicht nachvollziehbar sind. Er ist ein leidenschaftlicher Kämpfer für das Wohl und für lebensfreundliche Verhältnisse unserer Stadt. Dass er zudem sozial denkt und sich um Geflüchtete große Verdienste erworben hat, lässt sich nicht leugnen.
4. Auch Sie verfallen dem moralistischen Trugschluss, bei Geflüchteten und Allochthonen müssten gegebenenfalls Fakten verschwiegen werden, die zwar richtig, aber unbequem sind.
5. Sie übernehmen das Reservoir der Vorwürfe, die vor der Wahl abstruse Dimensionen angenommen hatten und in Leserbriefkampagnen systematisch geschürt wurden. Mit einem selbständigen Urteilsvermögen hatte und hat dies nur noch wenig zu tun.
6. Mit der pathetischen Ankündigung, sämtliche Kommunikationen mit B. Palmer abzubrechen und der Neujahresversammlung der Stadt Tübingen fernzubleiben, überschätzen Sie Ihre Wirkung. Vor diesem Hintergrund hat der Angegriffene souverän reagiert: Sie dürfen ruhig wegbleiben.
7. Gehen Sie bitte davon aus, dass sich auch Palmers Wählerinnen und Wähler von Maß, Vernunft und moralischen Maßstäben haben leiten lassen, dies nicht zu Ihrer Irritation, sondern als wertvoller Lernimpuls auch für Sie.
8. Der Moralismus, von denen Sie sich leiten lassen, bringt uns nicht weiter. Bei den Einen halte ich ihn für heuchlerisch, bei an Anderen für wenig durchdacht.

Mit freundlichen Grüßen

Anhang 2: Ulla Steuernagel (Schwäb. Tagbl. 22.05.2023)

Die Abkürzung schafft neue Präsenz

Langsam frage ich mich, was die dauernde Verwendung „N-Wort“ mit einem macht. Ich kannte eigentlich niemanden, der oder die den unabgekürzten Namen überhaupt noch verwendet hätte. Er unterlief manchen nur noch in der zusammengesetzten Form der mittlerweile zum Schokokuss eingebürgerten Süßware.

Und nun lese ich andauernd ,,N-Wort“, und wenn ich mich dazwischen noch im Wirrwarr aus ,,W-Wort“, ,,Z-Wort“ oder ,,I-Wort“ und all den anderen zum Anfangsbuchstaben enttriggerten Tabu-Wörter zurechtfinden muss, bin ich fast gezwungen, sie mir wieder rück zu übersetzen. Psycholinguisten haben vielleicht schlaue Erklärungen dafür, was das im Gehirn anrichtet. Ich finde: nichts Gutes.

Ich weiß, es ist ein überaus vermintes Gebiet, und ich habe keine Freude daran, es zu betreten und eine Mine hochgehen zu lassen. Ich möchte auch nicht in die gleiche Kerbe wie diejenigen hauen, die die Debatten um Abkürzungswörter und Gendersprache genussvoll nutzen, um ihre eigene Oberlehrersicht auf die Welt auszubreiten und all die bedrohlichen Denkverbote zu kritisieren. Ich meine im Gegenteil, dass dieses sogenannte Denkverbot durch das Abkürzungsdiktat unterwandert wird.

Als „N-Wort“ wird der herabsetzende Name zwar auf die Metaebene geholt. Es wird dann also über die Bezeichnung gesprochen, das Schimpfwort wird als Wort gedacht. Aber es bekommt dennoch eine Präsenz, die es in keinster Weise verdient hat. Die Ersatz-Formulierung verhält sich also seltsam übergriffig und trägt zu einer Unsicherheit in alltäglichen Begegnungen bei, die vielleicht schon überwunden war. Ich kann jetzt so viel falsch machen. Ist Schwarzer oder Schwarze noch angemessen? Oder spreche ich von PoC, also People of Color? Mittlerweile ist diese, wie ich finde nicht gerade respektvoll klingende Bezeichnung erweitert worden zu BIPoC, also um Black und Indigenous ergänzt worden. Damit sind dann nicht etwa verschiedene Hautfarben gemeint, sondern Rassismus-Erfahrungen verschiedener Herkünfte. Es gibt dafür keine Übersetzung ins Deutsche.

Nehmen wir die ebenfalls tabuisierte Frage nach der Herkunft. Sie ist häufig Thema in fortschrittlich gesinnten Gruppen. Die Debatte beginnt gewöhnlich mit einem Dialog zwischen einem Biodeutschen (auch so ein furchtbares Wort) und einem BIPoC, der, auf die Herkunftsfrage „Gütersloh“ oder ähnliches antwortet und dann gefragt wird, woher er denn „ursprünglich“ komme. Einigkeit wird in den Diskussionsrunden immer darin erzielt, dass es auf die jeweilige Situation und ein echtes Interesse des Fragenden ankomme und niemand ein generelles Frageverbot will. Beim inkriminierten „N“ verhält es .sich anders, das sollte außer den Betroffenen, wenn sie es sich in einem Akt der Selbstermächtigung zurückholen, niemand mehr sagen. Die vielen Debatten darüber – nicht die notwendigen in den Schulen – öffnen dem Platzhalter-Wort alle Türen, und so schlüpft das gecancelte Wort mit hinein.

 

Der Preis der christlichen Freiheit Was eine neue gesellschaftliche Relevanz kostet

Die Meldung hat die Bischöfe erschüttert, als ob man sie nicht vorhergesehen hätte. Im Jahr 2022 verzeichnete die römisch-katholische Kirche mehr als 530.000 Austritte und alles steht dafür, dass dieser Trend sich 2023 fortsetzen wird. Offensichtlich hatte man an ein Wunder geglaubt, denn gemäß bekanntem Hierarchenjargon zeigt sich Kardinal Marx über diese Information „zutiefst bewegt“: „Was kann ich tun?“, fragt er sich, „was ist meine Aufgabe? Was ist unsere Aufgabe, unser gemeinsames Wirken?“ Diese Reaktion des neben dem Kölner Kollegen ranghöchsten Katholiken scheint mir phantasie- und orientierungslos. Weiterlesen

Machtorientierte Theologie – Zum Problem der offiziellen Trinitätslehre

Unter dem Titel „Die kirchliche Trinitätslehre ist überholt“ veröffentlichte Publik-Forum (10/2023) meine Reaktion auf die Beiträge, die Joachim Negel zur christlichen Lehre vom dreifaltigen Gott geschrieben hatte. Diese Beiträge, meine Antwort sowie eine Replik von Joachim Negel sind in www.publik-forum.de dokumentiert. Angesichts der gravierenden Missverständnisse, die Negel meiner Antwort entgegenbringt, soll eine nochmalige Antwort meinen eigenen Standpunkt genauer klären. Die entscheidenden Inhalte sind auch ohne Kenntnis der vorhergehenden Debatte verständlich.

Sechs Tage nach meiner Geburt wurde ich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes getauft und ich habe versucht, mein Leben nach diesem biblischen Dreiklang zu gestalten. Dass Kollege Negel mir vorhält, ich verabschiede mich vom „innersten Kern des neutestamentlichen Glaubensbekenntnisses“ und ich beerdige eine „bald 2000-jährige, überaus reiche Denk- und Frömmigkeitstradition“, das halte ich, gelinde gesagt, für übergriffig. Doch auch vom Kirchenvolk scheint er keine gute Meinung zu haben. So klagt er, Worte wie Gnade, Erlösung oder Menschwerdung Gottes würden kaum mehr verstanden; nach den Gründen dieses Sprachverlustes fragt er nicht. Hans Küng, der ein Leben lang den irrationalen Lehrstrategien von Bischöfen und Päpsten widerstand, bezichtigt er kaltblütig eines Rationalismus, der (oh Schreck!) auch mich in den Abgrund gezogen hat. Seit etwa 10 Jahren dachte ich, wir hätten die Zeiten der Glaubensbelehrer überstanden. Vielleicht ließ sich Negel vom Titel meines Beitrags irreführen. Wirklich gelesen und verstanden hat er ihn wohl nicht. Weiterlesen

Stark wie der Tod? Wie die Kirchen Ostern feiern

Den kirchlichen Verlustängsten zum Trotz bleiben die jährlichen Osterfeste am Leben, auch in unserer säkularisierten Gesellschaft. Im Laufe der Jahrhunderte wurden sie zu einem reichhaltigen Nährboden für zahllose kirchliche und säkulare, kollektive und private Bräuche, vom Osterfeuer und Gang zum Friedhof über den Osterspaziergang und den Osterurlaub, der Suche von Eiern und Schokoladehasen bis hin zu Osterbesuchen und dem Osternest bei Oma und Opa, die mit Geschenken nicht geizen. Seit einigen Jahren belebt die Kommerz die Sache nach Kräften. Weiterlesen

Zum zwiespältigen Ergebnis des Synodalen Wegs

„Ein Friedhof ist kein Lunapark“
(E. Kästner)

Zu wenig Mut – zu viel Loyalität

 Am Ende der letzten Synodalversammlung (März 2023) haben sie geklatscht und Fahnen geschwenkt, einander umarmt und Tränen gewischt. Sind sie aus Erleichterung oder aus Enttäuschung geflossen? Nach dem Debakel mit dem Grundlagentext „Leben in gelingenden Beziehungen“ (Sept. 2022) wurden die später behandelten Texte angenommen. Kamen die Bischöfe danach zur Besinnung oder hat ihr Warnschuss zur Zähmung des laikalen Übermuts genügt? Weiterlesen

Die Kurzmeditation des Alltags wird zum Gewinn

Günther Doliwa, Hätte aber die Liebe nicht ‑ Zeichen der Zeit ‑ Anders unterwegs sein, DO‑Verlag, Ostern 2020, 276 Seiten, ISBN 978-3-939258-26-1

Das ist ein erfrischendes Buch, genauer: eine wild erfrischende Mischung von ziemlich vielfältigen, immer überraschenden Texten. Günther Doliwa ist ein Meister kleiner Textformen und nachdenklicher Gedichte, aufmunternd und quer-orientiert, fromm und weltverliebt zugleich. Nicht dass ihn oft Fragen von Glauben und Lebenssinn beschäftigen, ist sein besonderes Merkmal, sondern dass er sie nicht in einer muffigen Vergangenheit, vielmehr in der Welt, in menschlichen Abgründen oder mitreißenden Zukunftsphantasien findet: „Christen müssten Zeitung lesen“ (103). Weiterlesen

Psychiater Lütz behandelt die Falschen. Wie ein Nachruf im Verteidigungsdruck implodiert

Beginn Februar 2023 veröffentlichte die NZZ einen Gastbeitrag des Psychiaters und Theologen Manfred Lütz über Joseph Ratzinger/Benedikt XVI.. Bei manchen Verehrerinnen und Verehrern des Verstorbenen löste der Text Begeisterung aus, doch andere ließ er ratlos zurück. Zwar versuchte er einen Lobpreis, doch wider Willen demontierte er seinen Helden. Was hat Lütz von seiner Überfigur zu berichten? Weiterlesen

Joseph Ratzinger – Die Tragik einer überforderten Karriere

Ein prominentes und anspruchsvolles, arbeitsreiches und bewegtes Leben ist zu Ende gegangen. Natürlich gehört es sich, den emeritierten Papst wie alle anderen, die von uns gehen, der vorbehaltlosen Güte Gottes anzubefehlen. Mögen ihn die Engel, wie die katholische Liturgie singen lässt, ins Paradies begleiten und möge die Wahrheit seines Lebens so zur Geltung kommen, wie er sie in seinen besten Absichten angestrebt hat. Weiterlesen

Thesen zur Überwindung des Erbsündendogmas

Die einen nennen die Erbsünde eine Lachnummer, die anderen verharmlosen sie zum „kollektiven Unheilszusammenhang“, in dem wir doch alle leben (Joachim Negel in Publik-Forum 16/2022). Das ist unbestritten und es gibt genügend Grund, sich aus christlicher Perspektive intensiv damit zu beschäftigen. Doch es wird endlich auch Zeit, die destruktiven und traumatisierenden Anteile des Erbsündendogmas zu entdecken und entschieden zurückzuweisen. Nur so lässt sich die aktuelle Kirchenkrise nachhaltig überwinden. Weiterlesen

Zur inneren Dynamik und zukünftigen Relevanz von Hans Küngs Werk

Motive – Grundentscheidungen – Visionen

Sie haben mich nach Luzern, einen der entscheidenden Lebensorte von Hans Küng, zu einem Vortrag eingeladen, der die Reihe der Hans KüngWeltethos Lectures eröffnet. Dafür danke ich Ihnen sehr, für mich ist das eine Ehre und Herausforderung zugleich.

Dabei ist mir klar, dass Hans Küng vom bloßen Wiederkäuen alter Ideen nicht viel hielt. Dennoch ist es sinnvoll, zu Beginn dieser Reihe noch einmal den Blick auf diesen großen Menschen und Theologen zu lenken. Ich stelle die Frage: Welche Motive, Grundentscheidungen und Visionen haben seinen außerordentlichen Weg geebnet, den er trotz massivster Widerstände gegangen ist? Weiterlesen

Hat die Institution Kirche im 21. Jahrhundert ausgedient?

Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: In unserem Kulturkreis stecken die christlichen Kirchen in einer tiefen Krise. Viele Buchtitel bezeugen es, die ich hier wahllos aufreihe: Geht Gott verloren? (F. Ringler), Ehe alles zu spät ist (E. Teufel), Missbrauchte Kirche (W.F. Rothe), Entmachtet diese Kirche – und gebt sie den Menschen zurück (M. Mesrian, L. Kötter), Weiterlesen

Das verhängnisvolle Vatikanum 2 – Ein Nachruf

Das 2. Vatikanische Konzil wurde im Oktober 1962, also vor 60 Jahren eröffnet, dauerte 3 Jahre und gilt als wichtigster Einschnitt in der jüngsten Geschichte der römisch-katholischen Kirche. Es greife gesellschaftliche Tendenzen der Erneuerung auf, öffne den Blick auf andere Religionen und erkenne zum ersten Mal das Grundrecht der Religionsfreiheit an, könne sogar als Vorläufer der gegenwärtigen Bestrebungen für eine Synodale Kirche gelten. So beurteilt in einem Interview der Jesuit Andreas Battlog dieses Ereignis. Weiterlesen

Die Reformziele des Synodalen Wegs sind steigerungsfähig

Seit drei Jahren bemüht sich der Synodale Weg [SW] darum, die aktuelle Krise der katholischen Kirche in geduldiger Konsensbildung zu überwinden. Viele TeilnehmerInnen haben diese zeit- und kräfteraubende Arbeit aus freien Stücken auf sich genommen und dafür ist ihnen zu danken. Doch inzwischen werden sie von deutschen, römischen und ausländischen Purpurträgern mit engstirnigen Argumenten massiv kritisiert. Weiterlesen

Priestertum – Schmelztiegel christlicher Heilserwartung

 

„Brauchen wir sie noch, die Priester*innen?“ Wir sind Kirche Österreich hat sich damit in unaufgeregter und differenzierter Weise auseinandergesetzt und ist zu einem ausgewogenen Ergebnis gekommen, in das viele Aspekte eingeflossen sind. Priesterliche Dienste, so die Folgerung, bleiben wichtig für einzelne Menschen, Gemeinden und Welt. Sie sollten sakramental gestärkt, aber nicht unnötig sakralisiert werden. Weiterlesen

Zeit zu predigen – Beobachtungen zum Synodalen Weg

Sie haben sich angestrengt, kollegial zusammengearbeitet, anspruchsvolle Papiere geschrieben und diese sorgfältig redigiert, mit unterschiedlichsten Interessen abgestimmt und sich von Halbsatz zu Halbsatz durchgearbeitet. Mit dem bischöflichen Vetorecht hatten sie sich schon zu Beginn des Großprojekts auf eine überholte Autoritätsstruktur, eine Selbstdemütigung gar, eingelassen und wohl übersehen, wie rom- und amtsabhängig die deutschen Bischöfe in Wirklichkeit sind. Weiterlesen

Wider das destruktive Menschenbild der römisch-katholischen Kirche. Warum eine neue Sexualmoral nicht ausreicht

„Leben in gelingenden Beziehungen“, diesen sympathischen Titel gab Forum IV des Synodalen Weges (SW) seinem Basistext zu Fragen der Sexualität (in zweiter Lesung verfügbar). Zu Beginn geht er kurz auf die skandalösen Anlässe ein, die zum SW führten, dann bemüht er sich möglichst kontextfrei um eine prinzipielle, theologisch und anthropologisch verantwortete Stellungnahme. Die klassischen römisch-katholischen Diskussionspunkte werden zurückhaltend besprochen. Es geht um das neutestamentliche Eheverständnis, die genitale Fixierung der kirchlichen Sexualfragen, aber auch um die positiven und gesamtmenschlichen Seiten der Sexualität, die verschiedenen Geschlechtsidentitäten, auch über Sinn und Grenzen des katholischen Eheverständnisses sowie um die leidige Frage nach der künstlichen Geburtenregelung. So ist dem Forum ein weit gespannter und zeitgemäßer Entwurf gelungen. Weiterlesen

Spiritualität und Lebensstil einer christlichen Gemeinde

Noch immer bilden unsere Kirch- oder Pfarrgemeinden die elementarste und primäre Form christlich-kirchlicher Gemeinschaften. Damit stehen sie in Kontinuität zur Urform christlichen Zusammenseins überhaupt. Ohne andere christliche Gemeinschaften auszuschließen (wie Klöster, Orden, Kongregationen, alters- oder berufsbezogene Gemeinschaften und andere soziale oder religiöse Vereinigungen), hat man sich immer vor Ort, im Rahmen von Stadt- und Landgemeinden getroffen. In Bedeutung und Funktion sind sie vergleichbar mit den im Neuen Testament genannten Gemeinden, der „Kirche“ von Jerusalem, Korinth, Galatien, Thessalonich, Philippi oder Kolossä). Auch heute sind die weitaus meisten ChristInnen Mitglieder einer Kirchgemeinde. Alle menschlichen Lebenssituationen sind in diesen Gemeinschaften präsent.

In unserem Kulturkreis (auf den sich dieser Text beschränkt) stehen die christlichen Kirch- oder Pfarrgemeinden unter besonderem Druck. Ähnlich wie die gesamte Gesellschaft durchlaufen sie einen unerhörten kulturellen Umbruch. Er stellt selbst die geistigen Grundlagen der Spätantike in Frage, ohne die sich die europäische Kultur bislang nicht denken ließ. Deshalb geraten sogar die klassischen Bekenntnisformeln in Diskussion, weil sie durchweg von hellenistischen Vorstellungen geprägt sind, heute nicht mehr verstanden werden und in unserer Gegenwart irrtümliche Signale aussenden. Weiterlesen

Rom enthüllt sein autoritäres Gesicht

Der Heilige Stuhl hat geschrieben. Rein technisch ist das natürlich nicht möglich, denn von schreibenden Stühlen weiß nicht einmal die Märchenwelt. Doch wer kennt sich in der atavistischen Rhetorik der vatikanischen Diplomaten- und Behördensprache schon aus? Weiterlesen

Gebt sie den Menschen zurück

Dieses schlanke und handliche Buch hat es in sich. Geschrieben wurde es von der Theologin und Journalistin Maria Mesrian aus Köln sowie der Künstlerin Lisa Kötter aus Münster, zwei bekannten Vorkämpferinnen für Maria 2.0. Sie sind jeweils verheiratet, haben mehrere Kinder und wohnen in urkatholischen Städten. Sie sind also in Kirchenfragen unangreifbar und wissen, wovon sie reden. Sie präsentieren nicht einfach ein weiteres kirchenkritisches Buch, sondern formulieren Erfahrungen und Perspektiven aus, die zahllosen Enttäuschten aus dem Herzen sprechen: Ihr habt uns die Kirche weggenommen, gebt sie uns bitte zurück. Sie wenden sich gegen eine Kirchenmacht, die zu einer selbstverliebten Selbstläuferin geworden ist und den Menschen die „Grundnahrungsmittel ihres Lebens“ genommen hat. Die inneren Verdrehungen der real existierenden Kirche zeigen sie an Hand der Kernbegriffe Liebe, Gemeinschaft, Freiheit und Gerechtigkeit. Kirchliche Aussagen und Praktiken werden entlarvt, etwa der herablassende Ton eines Bischofs, gemäß dem sich eine barmherzige Kirche „erniedrigt“ oder das Spiel mit der Angst vor der ewigen Verdammnis. Überzeugt hat mich die aufmerksame und anschauliche Sprache, die sich angenehm vom technischen Fachjargon vieler Veröffentlichungen zur Kirchenreform unterscheidet. Wohltuend ist der Reichtum an sprechenden Beispielen und überraschenden Bildern. Sie alle orientieren sich – überzeugend und von innen heraus ‑ an der „Spur, die unser Bruder Jesus fürsorglich für uns alle gelegt hat“.

Maria Mesrian & Lisa Kötter, Entmachtet diese Kirche und gebt sie den Menschen zurück, bene! Verlag 2022, ISBN 978-3-96340-228-9

Testfall für den Synodalen Weg: Macht und Gewaltenteilung in der Kirche.

Die viel beachtete und weitgehend bejahte Auffassung, beide Kirchentümer seien einig in der Rechtfertigungslehre, … scheint ein Strohfeuer gewesen zu sein, das mit dem feinen, aber permanenten Strahl kirchlichen Weihwassers zum Verlöschen gebracht wird.
E. Jüngel, Die Kirche als Sakrament?, ZThK 80 (1983), 432.

Ein innerchristliches Gespräch?

Bei einer genaueren Analyse erschließt sich die Krise der römisch-katholischen Kirche als ein Schwelbrand von mehreren, gravierenden Unkulturen und Missständen, die ineinander verwoben sind. Alle wissen das, doch auch in Reformkreisen wird die Frage nach ihrem gemeinsamen tieferen Grund tunlichst vermieden. Man wagt sie nicht zu stellen, denn sie könnte irritierende, tief eingefleischte Verirrungen in kirchlicher Lehre, Theologie und Disziplin offenlegen. Die Tradition verborgener Missbrauchsverbrechen und einer respektlosen (geistigen und körperlichen) Übergriffigkeit gegenüber Frauen, die hartnäckige Vertuschung bzw. Verharmlosung dieser Untaten durch Kirchenleitungen, die gesetzlich verbürgte Frauendiskriminierung durch Ordinationsverbot wie überhaupt das gestörte Verhältnis zur Sexualität in der offiziellen Moral, schließlich die grassierenden Zerwürfnisse in kirchlichen Gemeinden und Organisationen, – wie kommt das alles zusammen? Weiterlesen

Orientierungsloser Orientierungstext. Ein Zwischenruf zum Synodalen Weg

Wem gehört diese Kirche?
Ist es die Kirche der Kardinäle und Bischöfe?
Nein, sie gehört uns Menschen!
Und es wird Zeit, dass wir sie in Besitz nehmen!
(Maria Mesrian und Lisa Kötter, in: Entmachtet diese Kirche, 2022)

Die Initiatoren des Synodalen Wegs (SW) haben sich viel vorgenommen. Voller Mut steckten sie die Hoffnungen so hoch, wie tief in Deutschland die römisch-katholische Kirche gesunken ist. Das Projekt soll der katholischen Kirche eine neue Zukunft eröffnen, indem es die Fragen aufarbeitet, die sich aus den Missbrauchsskandalen ergeben.

Im Dezember 2019 begann die offizielle Arbeit, nach zwei Jahren sollte sie vollendet sein. Doch die Pandemie verzögerte den Fortgang. Das hat die Arbeit nicht erleichtert und den Eindruck des Stillstands verstärkt, denn noch immer folgt eine Schreckensmeldung nach der anderen. Jedes Gutachten, jeder spektakuläre, angebotene oder vollzogene Rück- und Austritt, jedes bischöfliche Fehlverhalten, jeder dramatische Hilferuf und jeder Suizid löst neue Schockwellen aus. Dabei sprach Kardinal Marx im vergangenen April noch leichtfüßig von „Rezepten“, die einen Ausweg bringen sollen. Diese Wortwahl zeigt, dass man immer noch in Kategorien von verzeihlichem Fehlverhalten denkt. Wann endlich werden die Verbrechen ernstgenommen und die Reformschritte konkret? Weiterlesen

Die Häresie von der heiligen Macht. Wie sich die katholische Kirche neu erfinden muss

Am 1. April 2022 verbreitete Wir sind Kirche folgende Eilmeldung: „Wie wir aus speziellen Quellen erfuhren, hat Kardinal Reinhard Marx, München-Freising, sich soeben entschlossen, seinem Ruf als Reformbischof durch deutliche Taten gerecht zu werden. Angesichts der personellen Engpässe will er die Potentiale all seiner pastoralen Mitarbeiter*innen zugunsten der Gemeinden nun nutzen. Es ist ab sofort allen in der Pastoral Mitarbeitenden erlaubt, zu taufen, Eheschließungen zu assistieren, in Eucharistiefeiern zu predigen, zu beerdigen und in besonderen Fällen, die Krankensalbung zu erteilen. Um eventuell notwendige kirchenrechtliche Änderungen wird er sich dann nachträglich in Rom bemühen.“ Es war ein Aprilscherz mit doppelt entlarvender Wirkung. Zum einen wurde genannt, was selbst gemäß strenger kirchlicher Dogmatik möglich wäre. Zum andern verschwieg selbst Wir sind Kirche die noch entscheidenderen Mängel, dass nämlich zahllose ordinierte Priester unter uns leben, denen aus Gründen der Prüderie und Misogynie die Ausübung ihres Amtes verboten ist und dass zahllose kompetente Frauen unter uns leben, die in dieses Amt berufen werden könnten. Weiterlesen

Ist uns Gott verloren gegangen, welches Leben teilen wir?

In diesen Stunden geht der Katholikentag 2022 zu Ende. Er war wie immer bunt und vielfältig, obwohl er weniger Menschen zusammenführte als erwartet. Er hat versucht, ein wunderbares Motto zu entfalten: Leben teilen. In mancher Veranstaltung mag das gelungen sein, doch an mehr als an einer Stelle war darüber zu klagen, dass auf unserer Erde das Leben eben nicht immer geteilt, sondern geneidet, klein gehalten, abgewürgt und vernichtet wird, in und außerhalb der Kirchen. Weiterlesen

Trauma – Konstruktionsprinzip einer zeitgemäßen Theologie. Zu einem bahnbrechenden Buch von Michael Pflaum

Als systematischer Theologe beschäftige ich mich intensiv mit Kirchenbildern und Kirchenreform; dabei gehe ich gerne theologiegeschichtlichen, hermeneutischen und ideologiekritischen Fragen nach. Seit 2010 ist das kein langweiliges Geschäft mehr, denn im deutschen Katholizismus wurden unversehens die unsäglichen Verbrechen von Missbrauch und deren Vertuschung auf breiter Front präsent, während die Bischöfe und Insider schon seit 1995, spätestens 2001/02 über den weltweiten Sumpf der Skandale informiert waren. Weiterlesen

Zum Überfall der Ukraine durch Putins Militär

Wladimir Putin hat in ruchloser Weise einen Krieg gegen die Ukraine eröffnet. Zahllose Länder stellen sich auf die Seite des überfallenen Landes, doch ausgerechnet Kyrill I., der Patriarch von Moskau, spricht von den Feinden Russlands und den „Mächten des Bösen“. Damit demütigt er ein Land, das in gewaltloser Weise seinen eigenen Weg wählen möchte. Weiterlesen

Als Bischof noch zu halten?

Am 16.02.2022 erschien in der Südwestpresse ein Interview mit Dr. Gebhard Fürst, dem Bischof von Rottenburg-Stuttgart. Von sich und seiner Diözese zeigte er ein sympathisches Gesicht. Auf ihre Liberalität und Offenheit war sie schon immer stolz und das will sie auch weiterhin bleiben, doch ein solcher Stolz gebiert auch illiberale und selbstgerechte Züge. Doch der Reihe nach. Weiterlesen

Was uns Benedikts Verteidigungsbrief lehrt

Am 8. Februar 2022 hat Joseph Ratzinger auf die Einlassungen des Münchener Gutachtens vom 20. Januar 2022 zweifach geantwortet: Er präsentierte eine juristische Verteidigungsschrift, die von vier Sachkundigen erstellt wurde, sowie einen persönlich gehaltenen Brief. Weiterlesen

Ein Gespenst geht um in der Kirche, das Gespenst ihres geistigen Bankrotts

Und wenn du dich fragst: Warum hat mich das alles getroffen?, so wisse: Wegen deiner großen Schuld
(Jer 13,22)

Mit seiner Präsentation am 20.01.2022 in München hat das jüngste Missbrauchsgutachten von Westpfahl-Silker-Wastl (WSW)[1] Geschichte geschrieben; sofort begann eine bislang unbekannte Austrittswelle. Vier Tage später gestand Joseph Ratzinger seine Falschaussage mit neuen Ausflüchten ein, nach einer Woche übernahm Kardinal Marx die moralische Verantwortung für die Gräuel, die in München-Freising seit 1945 insgesamt 497 dokumentierte Opfer erdulden mussten, die hohe Dunkelziffer nicht eingerechnet. Die hartnäckigen Leugnungen und Relativierungen von Verbrechen, deren Vertuschung und die Vereitelung von Konsequenzen wurden endgültig entlarvt. Weiterlesen

Eine Kultur des Narzissmus. Was wir aus dem Missbrauchsgutachten lernen

Am 20. Januar 2022 legte die Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) ein lange erwartetes und vielbeachtetes Gutachten vor. Auf 1893 Seiten zieht es eine „Bilanz des Schreckens“, in der Hunderte von Missbrauchsverbrechen und deren konsequente Vertuschung seit 1945 zur Sprache kommen; zur Debatte stehen Vorgänge im Erzbistum München-Freising sowie die Einordnung dieser Unheilsgeschichte in das System katholische Kirche. Besondere Brisanz erhält es durch die Ausführungen zum Versagen der Kardinal-Erzbischöfe Joseph Ratzinger, Friedrich Wetter und Reinhard Marx. Weiterlesen

Ein zeitgemäßer Glaubensentwurf. Zu einem Buch von Frithjof Ringler

Unsere Kultur erfährt einen Umbruch, der keinen Stein mehr auf dem andern lässt. Mit ihm lösen sich unsere Gottesbilder auf, zumindest verlieren sie ihre Tiefenwirkung und orientierende Kraft. So erleben die Kirchen nicht nur eine äußere Erosion mit wachsenden Austrittszahlen, sondern auch einen inneren Zerfall. Ihr mentaler Zusammenhalt wird labil, denn der traditionelle Gottesglaube verflüchtigt sich, ihre Formensprache zerfällt und mit ihr ein umfassendes Wissensgebäude, das über Jahrhunderte lang Wahrheit garantiert und für Hoffnung gesorgt hat. Weiterlesen

Sprache der Kirche auf dem Prüfstand Instrument der Kontrolle oder Schlüssel zum Leben?

Ich freue mich sehr und betrachte es als eine große Ehre, dass Ihr mich zum 25./26. Geburtstag von Wir sind Kirche eingeladen und dieses Referat als „Festvortrag“ angekündigt habt. Uns alle verbindet eine große Leidenschaft für unsere Kirche, die sich römisch-katholisch nennt. Eine ökumenisch christliche wäre uns lieber, aber in der vorgegebenen Identität haben wir sie irgendwann liebgewonnen, auch wenn wir sie nicht mehr – wie mancher Römer noch immer meint ‑ als die einzig wahre, gar als die alleinseligmachende betrachten und manche sich schon mit Scheidungsgedanken von ihr getragen haben. Weiterlesen

Was macht die Corona-Pandemie mit uns, der Gesellschaft und der Kirche?

 

Einleitung:

  • Bislang liefert die Corona-Krise keine speziellen Einsichten, die es ohne Corona nicht gäbe. Als Katalysator hat sie aber bestehende Versäumnisse, Spannungen und Brüche offenkundig gemacht und verschärft. Hinzu kommt, dass sie zugleich mit anderen Krisenerfahrungen (Klimakrise, Wetterkatastrophen, politische Krisen) die Öffentlichkeit und das private Leben nachdrücklich und weltweit bestimmt. Deshalb können wir dieser Konfrontation nicht ausweichen.
  • Auch sind keine spezifischen Glaubenskrisen oder theologischen Erkenntnisse erkennbar. Die Folgen der Corona-Epidemie zeigen aber: Unsere Sinnfragen bzw. religiösen Herausforderungen sind ungelöster und akuter denn je. Sie betreffen nicht nur das religiöse Leben, sondern auch den profanen Alltag nahezu aller Menschen. Religiöse und säkulare Probleme überkreuzen sich.

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Verantwortung übernehmen – Verantwortung zeigen. Die Rolle der Religionen

Ich bin hier, um Alarm zu schlagen: Die Welt muss aufwachen. Wir stehen am Rande des Abgrunds und bewegen uns in die falsche Richtung. Unsere Welt war noch nie in größerer Gefahr und noch nie gespaltener. Wir stehen vor der größten Krisenkaskade unserer Lebenszeit. Weiterlesen

Vertrauensvorschuss oder Selbstbetrug? – Zum Buch DIE TÄUSCHUNG von Norbert Lüdecke

Es ist ein außergewöhnliches Buch. Außergewöhnlich sind sein Rigorismus und intellektueller Scharfsinn, außergewöhnlich die Präzision seiner historischen Recherchen, außergewöhnlich auch seine sprachliche Virtuosität, obwohl sich manche Begriffe überdrehen und zu selbstgefälligen Kunstprodukten stilisieren. Wir bewegen uns im Raum der römisch-katholischen Kirche Deutschlands, deren beispiellose Krise der Erklärungen bedarf. Lüdeckes These über die Unaufrichtigkeit bischöflicher Erneuerungsversprechen ist so überzeugend wie für die Bischöfe vernichtend: Weiterlesen

1900 Jahre wie ein Tag – Eindrücke zu Kardinal Müllers katholischen Projektionen

Müllers Buch Was ist katholisch? müsste für alle Reformwilligen ein Weckruf sein. Es sticht nicht nur durch die Arroganz seiner Theorien heraus, vielmehr ist sein autoritäres Kirchenbild auch seit 150 Jahren bei den Kircheneliten zu Hause. Die Impulse des 2. Vatikanischen Konzils (1662-65) haben sich nur wie ein abwaschbarer Firnis darübergelegt. Weiterlesen

Kardinal Marx überschätzt seine Rolle

Ein Gespenst geht um in Europa –
das Gespenst des Kirchenzerfalls.

Eigentlich sollte mich nach einer Skandalfolge von über 60 Jahren in meiner Kirche nichts mehr überraschen, doch das hätte ich nicht für möglich gehalten. Kardinal Marx, der sprachfreudige, optimistisch agierende Machertyp des deutschen Katholizismus, bietet dem Papst seinen Rücktritt an und steht für eine Schuld ein, in die er weniger verstrickt ist als viele seiner Kollegen. Zwar kommt sein Eingeständnis erst elf Jahre, nachdem in Sachen sexueller Gewalt die Alarmglocken anschlugen, doch es kommt in einem unerwarteten Augenblick; Überraschung gelungen. Weiterlesen

Gemeinsam glauben – Sieben Porträts von unabhängigen Kirchen

Theo van de Kerkhof

Gemeinsam glauben
Sieben Porträts von unabhängigen Kirchen

 Einleitung

Schon seit den 1960er Jahren haben sich manche katholische Gemeinschaften für eine freie, von den offiziellen Kirchenstrukturen unabhängige Stellung entschieden. In den vergangenen Jahren hat sich ihre Anzahl auffällig stark vermehrt. Im Auftrag der Marienburg-Vereinigung ging Theo van de Kerkhof diesem Phänomen nach. Er beschreibt die „neue Gemeinsamkeit”, die diese Gemeinschaften an der Basis der katholischen Kirche verbindet. Sieben Porträts von „Kirchen mit freiem Status“. Weiterlesen

Menschen aus Fleisch und Blut

 

Da wir Menschen aus Fleisch und Blut sind,
hat auch er Fleisch und Blut angenommen
(vgl. Hebr. 2.14)

Was Sexismus, Rassismus und andere Menschen-Phobien verbindet

Nein, Bischof Oster ist kein Rassist. Die Versöhnung mit Frau Prof. Dr. Rahner ging allzu geräuschlos vonstatten. Ich habe ihn für seine Offenheit gelobt und tue es noch immer. Denn je mehr er die Auseinandersetzung anheizte, umso entlarvender trat die Denkart der bischöflichen, neuscholastisch geeichten Dogmatik zutage. So erzwang er eine offene Debatte darüber, was Rassismus ausmacht und wie er mit dem Ordinationsverbot für Frauen zusammenhängt, was ich mit guten Gründen dem Sexismus zurechne. Was sind ihre entscheidenden Komponenten und was macht sie so destruktiv? Weiterlesen

Bravo, Herr Bischof! Zu den Drohworten aus Passau

Erinnerung verpflichtet

Endlich hat ein „Kirchenfürst“ wieder den Mut, aus seinem Herzen keine Mördergrube zu machen. Unverblümt will er uns zeigen, wo gemäß seiner Überzeugung die Grenzlinien reformerischer Provokation verlaufen und wo sie überschritten werden. Ist das ein neuer Ton? Im Jahr 2021 kann er schon überraschen, schließlich sind die Hierarchen in der Defensive. Wie gut, dass wenigstens einer aus der Deckung kommt. Weiterlesen

Verdrängte Blockaden der katholischen Kirche

Was die katholische Kirche noch immer verdrängt

I. HANS KÜNGS ERBE

Am 6. April 2021, heute also vor einer Woche ist Hans Küng verstorben. War er  Kirchenkritiker? Großer Theologe? Streitbarer Geist? Rastloser Sucher? Alle diese Etiketten greifen zu kurz. Hans Küng war ein Multitalent und glänzender Kommunikator, in der Gregoriana mit einem universalen Wissenskanon ausgebildet. Allerdings war ihm klar: Sämtliche Wissenssysteme waren im Umbruch, auch deren theologische Durchdringung war neu zu leisten. Mit ungeheurer Energie und einer glühenden Leidenschaft wollte er die neuen Grenzen ausloten. Weiterlesen

Zum Tod eines großen Theologen

Hans Küng und seine Kirche

Der Tod eines Menschen ändert den Blick auf ihn. Es ist, als ob ein See erstarrt, keine Wellen mehr aufwirft, nie mehr über die Ufer tritt, keine Überraschungen mehr bietet. Jetzt kann man endgültig sagen, wer dieser Mensch war und was er für die Nachwelt bedeutet. Trotz schwerer Krankheit ist Hans Küng in den vergangenen Jahren nur langsam verstummt. Noch kein Jahr ist es her, dass der letzte Band seiner Sämtlichen Werke unter dem Titel Begegnungen erschien. Nichts anderes könnte dieses überreiche, spannungsvolle und mit Konflikten überladene Leben besser charakterisieren. Weiterlesen

Die Nebel einer unmoralischen Amtsführung

Am 23.03.2021 lud Kardinal Woelki zu einer Pressekonferenz ein. G. Doliwa kommentierte sie und griff 35mal auf das Wörtchen „irgendwie“ zurück. Das war ein entlarvendes Stilmittel, denn alles, was Woelki erklärte, blieb „irgendwie“ unklar. Dabei sollte das neue Gutachten von Gercke-Wollschläger (GW) doch Zweifel ausräumen, Vorwürfe widerlegen und die Rücktrittsforderungen entkräften. Doch Woelkis Selbstverteidigung wirkte merkwürdig verwaschen und ungenau. Weiterlesen

Ist Gott wirklich Mensch geworden?

Theologische Nach(t)gedanken zum Weihnachtsfest

Seit Jahrhunderten wird Weihnachten in unserem Kulturraum als ein reiches und vieldimensionales Fest erfahren. Sie wirkte als eine enorm fruchtbare Geburtsstätte von Sitte und Brauchtum. Kein anderer Tag hat im Christentum so viel Volksnähe erreicht und so bewegende Emotionen geprägt. Das spricht für das Fest, setzt es aber auch zahllosen Verfremdungen, Missverständnissen und Banalisierungen aus. Weiterlesen

Mündige Gemeinden – das Gebot der Stunde

Allmählich werde ich müde, die vielen Dokumente zu kommentieren, die uns mit schöner Regelmäßigkeit aus unseren bischöflichen Schreibstuben und aus Rom erreichen. Meist beginnen sie ermutigend und verständnisvoll, enden aber ergebnislos oder stabilisieren ein verknöchertes System. Bestätigt werden dann Pflichtzölibat und ein misogynes Ordinationsverbot (15.01.2020), man verbietet Nicht-Priester als Gemeindeleiter (29.06.2020) oder verweigert den Verzweifelten die Sakramente, die freiwillig in den Tod gehen (14.07.2020). Weiterlesen

Eine unappetitliche Geschichte Zum Konflikt eines afrikanischen Priesters mit deutschen katholischen Behörden.

Woche um Woche häufen sich in der katholischen Kirche Berichte über sexuelle Verfehlungen und Vertuschungen. Täter sind Priester, Bischöfe und Kardinäle, eingeschlossen die beiden letzten Päpste. Dabei schockieren auch die Schandtaten höchster Repräsentanten nicht mehr, angefangen vom Wiener Kardinal Groër (1995 zurückgetreten) bis hin zu seinem Kardinalskollegen in Washington McCarrick (2019 laisiert). Was uns aktuell in Atem hält, ist die Unfähigkeit von deutschen Bischöfen, offen zu ihren Verfehlungen zu stehen, ihr Versagen zuzugeben und gegebenenfalls ihren Rücktritt anzubieten, was sie dies in vergleichbaren Fällen von Politikern selbstverständlich erwarten würden. Vor wenigen Tagen ließ der Kölner Kardinal Woelki ein ihm unangenehmes Gutachten in seinen Büros verschwinden. Daniel Deckers sprach von einem „ruchlosen Kardinal“, der Jesuit B. Hagenkord im Blick auf den jüngsten Skandalreport über McCarrick von einer „Kleriker-unter-sich-Haltung“; Wir sind Kirche schließlich prangerte neben der sexuellen auch die geistliche Gewalt an, die offensichtlich immer noch zum Alltag bischöflicher Behörden und von vielen Ordensleitungen gehört; Doris Reisinger hat sie ausführlich analysiert. Weiterlesen

Gottesdienste in Corona-Zeiten – Zur bayerischen Petition um Lockerungen an Weihnachten

Am 15.12.2020 forderten die Bayrischen Bischöfe die Staatsregierung auf, für den Heiligabend die Ausgangssperre gemäß der religiösen Praxis der katholischen Bevölkerung in Bayern zu lockern. Die Petition ist veröffentlicht und Interessenten können sich ihr anschließen. Dabei berufen sich die Bischöfe auf die religiöse Praxis der katholischen Bevölkerung, auf das Grundrecht der freien Religionsausübung (Art. GG4) und den besonderen Festcharakter des Abends. Weiterlesen

Eine Enzyklika über Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft

Der bisweilen karg wirkende, aber stets freundlich gesonnene Papst Franziskus hat Sinn für Symbolik. Zum einen erkor er sich Ahmad Al-Tayyeb, den Großimam der Ashar-Moschee in Kairo und Rektor der dortigen Universität, zum offiziellen Gesprächspartner und verlieh seinem Schreiben damit einen interreligiösen Akzent. Zum anderen fuhr er von Rom eigens in das 200 km entfernte Assisi, um am Todestag am Grab seines Namenspatrons seine neue Enzyklika zu unterzeichnen. Schließlich verweist zum zweiten Mal der italienische Titel auf den Poverello. Weiterlesen

Aufruf zur Eigenverantwortung der Gemeinden

I. Entschiedenes Handeln

1. Es rumort in der römisch-katholischen Kirche. Sie hat sich in einen irreparablen Umbruch mit schweren Verlusten manövriert, die die Krise der Reformation weit übersteigen. Die hierarchische Elite samt offizieller Lehre, eine beunruhigte Theologie, das vielbeschworene Gottesvolk sowie die wachsende Masse von Ausgetretenen driften wie tektonische Platten auseinander. Ein Erdbeben jagt das andere. Sie alle hinterlassen einen dramatischen Verfall an Glaubwürdigkeit, und dies in einem Augenblick, da die Botschaft Jesu weltweit angesehener und aktueller ist denn je. Alle Kontinente sind betroffen, auch wenn das Epizentrum in Europa liegt. Weiterlesen

Worte zur Corona-Krise 10: Verunsicherung und Gleichgewicht

Liebe Freundinnen und Freunde,
Wie finden wir unser Gleichgewicht?

August 2020, seit nahezu sechs Monaten hält uns die Corona-Krise im Bann. Wiederholt habe ich von verlorenen Sicherheiten gesprochen und an das Grundvertrauen appelliert, ohne das niemand von uns ausgewogen leben kann. Ich verwies auf die Alternative von Leben und Tod, die vor allem die Älteren unter uns herausfordert. Natürlich habe ich die Frage gestellt, ob wir uns wirklich in den Händen Gottes oder einer letzten Instanz wissen. Jetzt komme ich noch einmal zurück auf dieses Grundthema, denn inzwischen hat uns die tiefe Verunsicherung nicht nur als einzelne Personen erreicht, sondern auch zu kollektiven Auswirkungen geführt. Es geschah etwas mit unserer Gemeinschaft. Weiterlesen

Worte zur Corona-Krise 9: Unsere Zukunftsträume

Liebe Freundinnen und Freunde
In der Erwartung besserer Zeiten

Das Corona-Virus hat seine Wirkung getan und wirkt noch weiter. Der Luftverkehr ist zusammengebrochen, die meisten Jets stehen eingemottet auf Abstellplätzen, die Düsenmotoren mit einem Wetterschutz abgedeckt, die Eingangsluken verschlossen und die Blinklichter erloschen. Die Rümpfe und Flügel wirken wie ein eng verzahntes und unbewegliches Linienkonstrukt. Nahezu fünf Monate dauerte der Lockdown mit seinen blockierten Gaststätten, geschlossenen Kaufläden und stillgelegten Betrieben. Beinahe vergessen blieben die zu Hause eingeschlossenen Kinder und Jugendlichen. Wir wissen jetzt, wie sich ein Homeschooling anfühlt, das täglich mit dem Homeoffice der Eltern kollidierte, noch immer kollidiert und sie an den Rand ihrer Kräfte brachte Weiterlesen

Die Angst vor den Relativierern – Zur Ratzingerbiographie von Peter Seewald

„Auch mir ist vor Kurzem der zweite Herzschrittmacher eingepflanzt worden; möge der Herr selber die Schritte des Herzens besser lenken, als es eine Maschine kann.“ (S. 759).

Vielleicht war es nur ungeschickt gewählt, denn vom so schreibfreudigen emeritierten Papst hätte man sicher ein besseres Zitat finden können. Vielleicht aber fand er es sehr treffend, Peter Seewald, Ratzinger-Verehrer von Beruf, der mit seinen 1150 Seiten ein Mammut-Werk vorlegt. Aber keine Angst, man hat es bemerkenswert schnell gelesen. Weiterlesen

Die Kurzmeditation des Alltags wird zum Gewinn

Besprechung von:

Günther Doliwa, Hätte aber die Liebe nicht ‑ Zeichen der Zeit ‑ Anders unterwegs sein, DO‑Verlag, Ostern 2020, 276 Seiten, ISBN 978-3-939258-26-1

Das ist ein erfrischendes Buch, genauer: eine wild erfrischende Mischung von ziemlich vielfältigen, immer überraschenden Texten. Günther Doliwa ist ein Meister kleiner Textformen und nachdenklicher Gedichte, aufmunternd und quer-orientiert, fromm und weltverliebt zugleich. Nicht dass ihn oft Fragen von Glauben und Lebenssinn beschäftigen, ist sein besonderes Merkmal, sondern dass er sie nicht in einer muffigen Vergangenheit, vielmehr in der Welt, in menschlichen Abgründen oder mitreißenden Zukunftsphantasien findet: „Christen müssten Zeitung lesen“ (103). Weiterlesen

Wie gehen wir mit Verschwörungstheorien um? Zur Angstmache vor einer drohenden Weltregierung

Zu Recht hat das Manifest „Die Wahrheit wird euch freimachen“ in Kirche und Gesellschaft zu einer breiten moralischen Empörung geführt. Die Reihe seiner Verdächtigungen ist absurd, die Angst vor einer Weltregierung unbegründet, das kirchliche Anspruchsdenken überheblich, der Aufruf zum Widerstand gefährlich und dazu angetan, die Menschen noch mehr zu verunsichern, als sie es in der gegenwärtigen Krise ohnehin schon sind. Eine christlich motivierte Reaktion sollte sich jedoch mit den Endzeitvorstellungen beschäftigen, die in vielen Menschen noch tief verankert sind, von Kirchen, christlichen Gemeinden und Theologie aber seit lange vernachlässigt werden. Wir brauchen eine jesuanisch inspirierte und für die Gegenwart erneuerte Erzählung über das Ziel von Menschheit und Welt. So gesehen ist eine Auseinandersetzung mit diesem Manifest selbst nicht der Mühe wert. Es braucht aber eine weiterführende Antwort. Weiterlesen

25 Jahre Erklärung des Weltparlaments der Religionen Was hat sie bewirkt – wie ist sie fortzuschreiben im Blick auf Europa?

Es mag sich zynisch anhören: Bis zum Jahr 1989 herrscht in den weltpolitischen Verhältnissen der nördlichen Halbkugel noch Ordnung. Westmächte und Ostblock waren eindeutige Zuweisungen; der Kalte Krieg sorgte innerhalb der beiden Machtsphären für Disziplin. Doch in den 1980er Jahren beginnt die Sowjetunion zu zerfallen. Im März 1985 erreicht Michail Gorbatschow den Gipfel der Macht, mit Glasnost (Transparenz) und Perestroika (Umbau) leitet er das Ende des Kalten Krieges ein, was ihm letztlich seine eigene Macht kostet. Weiterlesen

Worte zur Corona-Krise 8: Gedenken und Danken in schwieriger Zeit

Liebe Freundinnen und Freunde aus Kämpfelbach,
In Besinnung auf unsere Gebrechlichkeit!

Noch leben wir in einer Phase der Hilflosigkeit und Angst. Endlose Fragen nach unserer persönlichen und gemeinsamen Zukunft bleiben ohne Antwort. Bislang mussten wir etwa 7000 Väter, Mütter, Geliebte, Geschwister und Freund/innen für immer aus unserer Obhut geben und niemand kann richtig abschätzen, wie viele Abschiede uns noch bevorstehen, ab wann wir auf einen medizinischen Schutz hoffen können. Weiterlesen

Ein Buch über den vergessenen Gott. Kenntnisreich, einladend, auf der Höhe der Zeit

Norbert Scholl, Gott, der die das große Unbekannte. Staunens-Wertes und Frag-Würdiges, Grünewald 2020, 192 Seiten.
Schon die unkonventionellen Titel und Untertitel wecken die Neugier auf dieses Buch und niemand wird enttäuscht. Weiterlesen

Worte zur Corona-Krise 7: „Hast Dein Volk gezüchtigt sehr“

Liebe Freundinnen und Freunde aus Kämpfelbach,
In Erinnerung an eine neu gewordene Geschichte!

An jedem 7. September, dem Vortag der Feier von Mariä Geburt, erinnert Ihr Euch an ein dramatisches Geschehen, das in Ersingen und Bilfingen vor 663 Jahren wütete, rund 180 Jahre, bevor die Bevölkerung von Oberammergau dieses Schicksal erlebte. Von schätzungsweise 500 Einwohnern starben in kürzester Frist 232. Der Schwarze Tod hatte Ersingen und Bilfingen erreicht, Weiterlesen

Worte zur Corona-Krise 6: In Gottes Händen?

Freundinnen und Freunde,
Auf der Suche nach einem letzten Geheimnis!

Noch immer liefern uns Religionen umfassende und sehr wirksame Lebens- und Weltmodelle. Sie können – so jedenfalls ihre eigene Überzeugung – uns anleiten zu einem sinnvollen Umgang mit Unrecht, Katastrophen, Elend und Tod. Sie beeinflussen und prägen die übergroße Mehrheit der Menschen, gleich ob Frauen oder Männer, Jugendliche oder Kinder. Darunter sind Christen (2,25 Mrd.), Muslime (1,6 Mrd.), Hindus (1,1 Mrd.), Buddhisten (468 Mio.), Juden (17 Mio.) und andere Religionen (857 Mio.). Die mir vorliegende Statistik fügt 792 Mio. Menschen hinzu, die sich religionslos nennen. Natürlich sind solche Globalstatistiken immer umstritten, doch ihrer großen Linie ist zu trauen. Weiterlesen

Worte zur Corona-Krise 5: Im Griff der Natur

Liebe Freundinnen und Freunde,
Hilflose vor den Gesetzen des organischen Lebens!

In diesen Tagen entwickelt die Natur in Deutschland eine strahlende Pacht. Innerhalb weniger Tage legen sich die Büsche ein grünes Gewand zu und umgeben uns blau und rosa schimmernde Blumen. In den Gärten blühen Osterglocken und Tulpen auf, am Grab Hölderlins (Tübingen) etwa 900 an der Zahl.

Jetzt wäre die Zeit zu singen: „Geh‘ aus, mein Herz, und suche Freud …!“ Natürlich können wir zu zweit oder im Familienverband die Wohnung verlassen, doch rechte Freude kommt nicht auf, denn diese Natur, die unser Herz erfreut, hält uns zugleich im tödlichen Griff Weiterlesen

Worte zur Corona-Krise 4: Verschwörung auf Leben und Tod

Liebe Freundinnen und Freunde,
Hoffende in unabwendbarer Angst!

Das passt nicht zusammen: In der Natur meldet sich der Frühling mit seinem sprießenden Leben, genießen wir eine strahlende Sonne und hell aufleuchtende Tage. Der Gang ins Freie lässt sich nicht aufhalten, auch wenn sich die Beschränkungen überall bemerkbar machen. Doch ausgerechnet in dieser Jahreszeit ist unsere Gesellschaft in einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt. Opfer gelten als unvermeidlich. Weiterlesen

Worte zur Corona-Krise 3: Blockierte Gemeinschaft

Liebe Freundinnen und Freunde,
Verbundene in erzwungener Distanz!

In den vorhergehenden Texten habe ich über zwei Schlüsselerfahrungen nachgedacht, die in der Corona-Krise scharf zutage treten, den schwindelerregenden Verlust aller Sicherheit und den verzweifelten Versuch, unsere Zeiträume zum Stillstand zu bringen. Was aber soll dieses tatenlose Nachdenken? Die Infektion wartet nicht, bis wir sie begriffen haben. Inzwischen hat sie alle Kontinente im Griff und zwingt alle Menschen in dieselbe globale Drohkulisse: Globalisierung ist zum Fluch geworden. Weiterlesen

Worte zur Corona-Krise 2: Entfesselte Zeiten

Liebe Freundinnen und Freunde,
Mitgefangene in einer entfesselten Zeit!

Wer kennt nicht das berühmte Wort von Shakespeare: „Die Zeit ist aus den Fugen!“, und wer erinnert sich nicht an die Angstphantasien der apokalyptischen Literatur, da sich die Sonne schwarz, der Mond blutrot färbt, das Himmelszelt zusammenbricht und die Sterne auf die Erde fallen? Auch wir wissen noch nicht, was genau auf uns zukommt und wie lange es andauert. Weiterlesen

Worte zur Corona-Krise 1: Verlorene Sicherheiten

Liebe Freundinnen und Freunde,
Schwestern und Brüder unseres irdischen Lebens!

Schon freute ich mich auf die Predigt, die ich in einer Stuttgarter Kirchengemeinde hätte halten sollen. Jetzt macht uns der Corona-Virus einen Strich durch die Rechnung, denn das Unmögliche ist eingetreten: selbst für die Fastenzeit, die Karwoche und für Ostern sind die Gottesdienste gestrichen. Ist das seit 1945 je einmal passiert? Weiterlesen

Ein Laokoon, der weiterkämpft

Wer kennt den Laokoon nicht, der in den Vatikanischen Museen mit den hochgefährlichen Schlangen ringt? Politi erinnert mich daran, wenn er in hoher Dramatik den Kampf schildert, den Papst Franziskus gegen die vielen Gegner führt, die sich in der Kurie und in weltweiten Bischofskreisen gegen ihn verschworen haben. Eine überschaubare Gruppe von Wortführern lässt nichts unversucht, ihn als ruchlosen Machiavellisten zu isolieren oder als Häretiker zu diskreditieren. Weiterlesen

„Da gilt weder Mann noch Frau“ – Zum Ausschluss der Frauen aus den kirchlichen Kernfunktionen

Bei seinem Reformvorhaben lässt sich der Synodale Weg (SW) von vier Kernfragen leiten lassen. Er debattiert über Art und Verteilung kirchlicher Macht, die angemessene Lebensform der Priester, ein Leben in gelingenden Beziehungen sowie über FRAUEN IN DIENSTEN UND ÄMTERN IN DER KIRCHE. Es ist gut, dass das letzte, beinahe vergessene Thema noch hinzugefügt wurde, denn es signalisiert kein bloßes Zusatzproblem. Es verleiblicht sich prominent in der Machtfrage, prägt das Grundverständnis der priesterlichen Existenz massiv mit und unterwirft die Frage gelingender Beziehungen einem unverzichtbaren Wirklichkeitstest. Schließlich kulminiert es aktuell in der viele bewegenden Frage: Warum, in Gottes Namen, soll den Frauen der Zugang zu den zentralen kirchlichen Ämtern nicht nur verboten, sondern auch prinzipiell unmöglich sein? Weiterlesen

Was ist Klerikalismus?

Der Kampfbegriff „Klerikalismus“ wurde im 19. Jahrhundert im Streit um das Verhältnis von Staat und Kirche geprägt. Er zielte auf die öffentlichen Macht- und Rechtsansprüche kirchlicher Institutionen, die von den Klerikern vorgetragen wurden. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff auf innerkirchliche Verhältnisse ausgeweitet. In diesem Fall zielt er auf die kritisierte Vorherrschaft von Klerikern gegenüber den Nichtklerikern, die im Kirchenrecht noch immer „Laien“ genannt werden. Weiterlesen

Visionen im Widerspruch – Die falschen Folgerungen aus einem guten Ansatz

Selten prallten Anerkennung und Enttäuschung in einem päpstlichen Dokument so eng aufeinander wie in diesem Brief, der die Amazonas-Synode vom Oktober 2019 endgültig abschließt. Er entfaltet eine soziale, kulturelle und ökologische Invasion und zieht daraus Konsequenzen für eine amazonische Kirche. Dort aber kommen ein Priester- und ein Frauenbild zur Geltung, die den vorhergehenden Idealen Hohn sprechen. In Deutschland reagieren engagierte Katholikinnen unterschiedlich: Sie kämpfen unverdrossen weiter, gehen erst recht ihren eigenen Weg oder verlassen die römisch-katholische Kirche. Weiterlesen

Macht über die Seelen – Kernkompetenz und Kernproblem des Katholizismus

Die aktuelle Krise der römisch-katholischen Kirche (im folgenden oft „Kirche“ genannt) ist eng verkoppelt mit ihrem inneren und äußeren Machtzerfall, der seit einigen Jahrzehnten vor allem im westeuropäischen Kulturraum offenkundig wird, und er trifft diese Kirche besonders, weil in ihr schon seit der Spätantike ein ausgeprägtes und prominentes Machtdenken herrscht. Weiterlesen

Durchbruch oder trotzige Selbstbeschwörung? – Der Synodale Weg hat sich noch nicht gefunden

Als erster warf Kardinal Marx das Zauberwort in die Debatte und machte damit Eindruck: In Deutschland sollte sich die römisch-katholische Kirche auf einen „Synodalen Weg“ [SW] begeben und damit das durch Missbrauch und Vertuschung verlorene Vertrauen der römisch-katholischen Kirche zurückgewinnen. Die meisten Bischöfe und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken schlossen sich dem Vorschlag an und bald wurden erste Schritte gesetzt. Man erarbeitete eine Satzung, bestimmte die Mitglieder der verschiedenen Gremien und einigte sich auf vier Kernthemen: kirchliche Macht, Sexualmoral, priesterliche Lebensform, Frau in der Kirche. „Wir müssen reden!“, sagte man sich. Wer wollte das bestreiten? Weiterlesen

Pflichtzölibat und Priestertum – Ein Rettungsversuch aus den Vatikanischen Gärten

Am 15. Januar 2020 erreichte uns aus den Vatikanischen Gärten ein Text zur Aufrechterhaltung des Pflichtzölibats und er sorgte für reichliche Diskussion. Geschrieben wurde er vom schweigenden und gehorsamen Mönch, der sich dort niederließ, um für die Kirche zu beten und „beim Kreuz Christi“ zu bleiben. Die römisch-katholische Welt, zu sehr noch auf alte Autoritäten fixiert, war erregt. Sie fürchtete einen Aufstand der Reaktionäre, der unter ex-päpstlicher Führung zu einer Kirchenspaltung führen könnte. Weiterlesen

Die Religionen und die Krankheit des Fundamentalismus – Im Gespräch mit Hermann Häring

Interview mit der SRF Sendung Perspektiven vom 17.12.2017

Vgl.: https://www.srf.ch/sendungen/perspektiven/die-religionen-und-die-krankheit-des-fundamentalismus

Im Namen der Religion geschieht weltweit Schreckliches. Und damit sind jetzt nicht nur Terroranschläge von Islamisten gemeint, selbst Buddhisten verfolgen in Myanmar Muslime mit großer Brutalität. Religionen wollen für Liebe und Barmherzigkeit stehen. Doch was nützen solche Ansprüche, wenn sich religiöse Menschen nicht daran halten? Diese Frage stellt sich der Theologe und Friedensforscher Hermann Häring. Häring war 25 Jahre lang Theologieprofessor in den Niederlanden. Seit seiner Emeritierung lebt er in Tübingen und arbeitet beim Projekt Weltethos und bei der Herbert Haag-Stiftung. Für ihn gilt das von Hans Küng geprägte Wort: „Kein Frieden auf Erden ohne Frieden unter den Religionen.“ Hans-Jörg Schultz hat sich mit Hermann Häring unterhalten. Weiterlesen

„Warum ich katholisch bleibe“ Zum Missio-Entzug von Hans Küng vor 40 Jahren

15. Dezember 1979: Johannes Paul II., im Kirchenkampf schon bestens erprobt, lässt seine Glaubenskongregation erklären, Hans Küng könne weder als katholischer Theologe gelten, noch als solcher lehren. Zwar konnte er die Folgen dieses Schrittes nicht absehen, doch Gründe dafür konnte er unschwer finden: Küngs Unfehlbarkeitskritik verachte das kirchliche Lehramt und in Christsein leugne er die Wesensgleichheit Christi mit dem Vater sowie die Jungfrauschaft Mariens, ferner irre er beim gültigen Vollzug der Eucharistie. Weiterlesen

Zuerst Mensch! – Konsequenzen für den gesellschaftlichen Dialog – Thesen von Hermann Häring und Walter Lange

I.       Grundlegende Beobachtungen

1. »Die Welt aus den Fugen.« Mit diesem Shakespeareschen Buchtitel traf Pe­ter Scholl-Latour im Jahre 2012 den Nerv eines aufkommenden Zeitgefühls, das sich inzwischen voll ausgebildet hat.

2. Unsere Gesellschaft steht in einem gesellschaftlichen und kulturellen Um­bruch, der seinesgleichen sucht und uns ratlos macht. Weiterlesen

Ein Aufruf gegen Macher und erleuchtete Gruppen – Der Papst und seine Ghostwriter

Wird sich die römisch-katholische Kirche in Deutschland bewegen? Ihre Bischofskonferenz leitet zusammen mit dem ZdK einen „verbindlichen synodalen Weg“ ein. Dessen Gestaltung ist noch offen und ungeklärt die Frage, welchen Einfluss dabei „das Volk“ überhaupt nehmen kann, denn gemäß Kirchenrecht behalten die Bischöfe das alleinige Beschlussrecht. Statt diese Frage zu klären, bereiten die Bischöfe vorsorglich schon vier Themenkreise zu klerikaler Macht, Sexualmoral, priesterlicher Lebensform und zur Stellung der Frau vor. Klar scheint zu sein, dass man das Fiasko des „Gesprächsprozesses“ (2010-2015) nicht wiederholen will und Maria 2.0 den Druck massiv erhöht hat. Weiterlesen

„Schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein!“ Christoph Röhl leistet anstrengende Aufklärung

Auch sechs Jahre nach seinem Rücktritt spaltet Papst Benedikt noch Deutschlands Gemüter. Für die einen ist er ein herausragender Theologe und Bayerns größter Sohn, für andere wurde er zum reaktionären Versager auf dem Papstthron, der an seinem korrupten System zerbrach. Christoph Röhl, britisch-englischer Dokumentarfilmer und mehrfacher Filmpreisträger wurde in Deutschland bekannt durch seine Arbeiten zum Missbrauch in der Odenwaldschule („Und wir sind nicht die Einzigen“) und zum Rücktritt von Kaiser Wilhelm II. („Kaisersturz“). Er hat sich der vielleicht komplexesten Figur des jüngsten deutschen Katholizismus angenommen und mehr als vier Jahre an seinem Portrait gearbeitet. Die Mühe hat sich gelohnt. Weiterlesen

Religion und Politik – Quellen von Gewalt? Eine Gewissenserforschung

Einleitung

Weltweit hat sich die politische Großwetterlage verdüstert. Führende Politiker folgen offener denn je egoistisch-machtpolitischen Programmen. Für den Präsidenten der USA gilt „America first“, der Präsident der Türkei steckt Kritiker nach Belieben ins Gefängnis und Russland bricht ohne Wimpernzucken Menschen- und Völkerrecht. Die polnische, von den Brüdern Kaczyński gegründete PiS (Partei für „Recht und Gerechtigkeit“) führt ein autoritär aggressives Regime und die ungarische Fidesz („Ungarischer Bürgerbund“) propagiert unter Viktor Orbán einen „illiberalen“ Staat und agiert gegen muslimische Immigranten, die unter Todesgefahr aus Syrien flüchten. Matteo Salvini von der Lega Nord, seit 1. Juni 2018 Innenminister Italiens, lässt die italienischen Häfen für im Mittelmeer Gerettete schließen. Die Androhung und Ausübung von Gewalt hat in diesen Staaten ein Ausmaß erreicht, wie wir es seit 1990 nicht mehr für möglich hielten. Weiterlesen