Zum Advent 2024
Wir leben in dunklen politischen Zeiten. Seit über zwei Jahren kämpft die Ukraine um ihr Überleben und im Oktober 2023 wurde der Nahe Osten erneut zum hochgefährlichen Pulverfass, das gerade dabei ist, einen Flächenbrand auszulösen. Der Patriarch von Moskau, Oberhaupt des „Dritten“, d.h. des unübertrefflichen Rom, rechtfertigt den brutalen russischen Überfall mit pseudoreligiösen Argumenten. Das erste Rom hat ihm bislang nicht klar widersprochen und eine weltweite Bewegung fordert die Ausrottung des Staates Israel. Zugleich ist die politische Situation der USA besorgniserregend; dort stehen urdemokratische Prinzipien zur Disposition.
Doch statt sich auf gemeinsame, christliche oder wenigstens humane Werte zu besinnen, erstarken in europäischen Ländern extrem rechte Dystopien und Deutschland hat allen Grund, vor dem Erstarken der rechtsextremen Partei „AfD“ zu erschrecken. Dieses Land mit seiner Geschichte – so im In- und im Ausland eine breite Reaktion – kann doch nicht so naiv, gar zynisch und selbstzerstörerisch sein, dass es sich erneut auf diese Experimente von Selbstverherrlichung, brutalem Antisemitismus, empathieloser Islamo- und Xenophobie einlässt. Es hat diese Abgründe des Grauens schon einmal durchexerziert, sich als arrogante Herrenrasse aufgeführt, über sechs Millionen Juden in die Gasöfen geschickt und der Welt zwischen 1939 und 1945 gegen 60 Millionen Tote beschert. Nur bodenlose Dummheit oder Ignoranz können die Trommeln der hasserfüllten Neonazis neu rühren. Welcher Gefahr sehen wir da ins Auge?
Eine Gruppe entschlossener Klimaaktivisten in Deutschland nennt sich „Letzte Generation“ und manche ihrer Mitglieder nehmen diese Selbstbezeichnung bitter ernst; sie blicken dem Ende einer bewohnbaren Welt entgegen. Seit dem Überfall über die Ukraine gilt in Berlin das Wort von der Zeitenwende. Es sei dahingestellt, was dieser Aufruf bewirkt hat, doch im deutschen Sprachraum hält sich die Losung. Je nach Präferenz wird sie politisch, militärisch, ökonomisch oder religiös ausgelegt.
Zeitenwende? Für Jesus ist die Zeit „erfüllt“, also zu Ende gekommen. Zugleich fühle ich mich an die Botschaft Jesu, an den Propheten Jesaja und an eine Losung der Adventszeit erinnert. Sie stellt das waghalsige Prophetenwort von Jesaja ins Zentrum. Über fünf Jahrhunderte vor Christus wurde es ausgerufen: messianische Gerechtigkeit möge aus den Wolken träufeln, gemäß christlicher Umdeutung möge der Himmel den Gerechten aus den Himmeln regnen: „Rorate coeli desuper, tauet Himmel den Gerechten“, so wird im lateinischen Sprchraum gesungen. Die „Grerechtigkeit“ mutierte also zum „Gerechten“, zu Christus in Person. Wer genau könnte es sein, der den Knoten der Gegenwart löst?
Der Jesaja-Ruf gab schon immer zu denken; bis heute gibt er Rätsel auf. Damals waren Israels politische und kulturelle Auslöschung wohl beschlossene Sache. Schon nach dem Untergang des Nordreichs (um 720) mussten Tausende Israeliten emigrieren; sie wurden ins Zweistromland um Babylon deportiert. Nach dem Untergang des israelischen Südreichs wiederholte sich diese Katastrophe und für gut 40 Jahre (597-539) führte sie zum (zweiten) Babylonischen Exil. Wollte man den Vertretern des Judentums ihre kulturelle Identität endgültig rauben, diese widerständige, politisch unzuverlässige Lebenshaltung endgültig in die Knie zwingen, wie es viel später, gegen siebzig Jahre nach Jesu Tod, dann wirklich geschehen sollte?
Doch meistens wird folgendes übersehen: Zwar weinten die Umgesiedelten voller Heimweh an Babylons Flüssen (Ps 137), doch offensichtlich nährten sie auch eine unbeugsame Hoffnung. Ihre Erinnerung ließen sie nicht nehmen. Dann aber geschieht etwas Unerhörtes: Angesichts der politischen Umstände verwies Jesaja, sprachstark und von mächtigen Visionen beseelt, nicht einfach auf gut jüdisch Jahwes rettende Macht, sondern recht realistisch auf den Perserkönig „Kores“, also auf Kyros II (gest. 530), der später der „Große“ genannt wird. Gewiss eroberte er Babylon und andere Länder nicht als Menschenfreund, sondern aus hartem Machtkalkül, doch er ließ die Exilierten wieder nach Hause und gab ihnen ihre Kultur zurück, nachdem sie in Babylon manche Weltweisheit gelernt hatten. Das aber zählte für den Überlebenswillen des verjagten Volkes. Nach ihrer Heimkehr begann in Israel mit Thora und Tempelpriestertum eine neue Ära.
Doch außergewöhnlich bleibt bis heute der Lobpreis, den Jesaja 45, 1-8 (Fachleute reden vom Deuterojesaja) auf Kyros II. eröffnet. Für die christliche (wohl auch die jüdische) Tradition ist dieser Lobpreis ungewöhnlich, nach Überzeugung vieler nach Inhalt und Sprache an der Grenze des Akzeptablen. „So spricht der Herr zu Kores, seinem Gesalbten[!], den er an der rechten Hand[!] gefasst hat, um ihm die Völker zu unterwerfen[!] …Um meines Knechtes Jakob willen, um Israels, meines Erwählten, willen, habe ich dich bei deinem Namen gerufen[!]“
Meint Jesaja nun Kyros oder den verheißenen Messias der Juden, der zur Rechten Gottes sitzt? Weicht er mit diesen Hoheitstiteln für Kyros nicht vom wahren Weg des Judentums ab, das allein auf Jahwe setzt? Jesaja richtet alles Vertrauen auf den übermächtigen Herrscher. Durften sich die Heimkehrenden jetzt über das neue, in Kriegen erzwungene multinationale Großreich freuen? Kyros muss doch ein kriegsverliebter Herrscher gewesen sein, unter dem sie schließlich einen begrenzten Freiraum erhielten. Ließ sich der Prophet vielleicht korrumpieren vom Glanz eines neuen Großimperiums, das dann einige Jahrhunderte über zahlreiche Volksgemeinschaften herrschen sollte, sich triumphierend brüstete (so die Skulpturen von Persepolis) über zahlreiche Volksgemeinschaften, die er zum Tribut in seinen Großpalast beorderte, immer mehr Gebiete eroberte und diesen mächtigen Globalisierungs-Schub als Fortschritt anpries.
Aber offensichtlich ließ sich der Prophet nicht einfach blenden, denn auch für positive Erinnerungen an den neuen Weltherrscher gab es gute Gründe. Zu Kores`Verdiensten zählen die Befreiung von Sklaven, eine großzügige, schriftlich verbürgte Anerkennung religiöser Vielfalt und ethnischer Gleichberechtigung sowie eine erste Charta der Menschenrechte. Im Iran gelang es sogar nach der Islamisierung des Landes, sein prachtvolles Grab zu schützen, indem man es zum Grab der Mutter von Sultan Suleiman auf dem 16. Jh. erklärte.
Dennoch blieb die Botschaft von Jes 45 ein gewagter Schritt und der zeitgenössische christliche Fundamentalismus, auch der gewaltfreie, hat mit dieser „Heiligsprechung“ des Kyros bis heute seine Probleme. Zugegegeben, heute ist es mit der prekären Harmonie zwischen Gottvertrauen und Realpolitik nicht einfacher geworden, doch Gottvertrauen muss kein Konkurrenzunternehmen zu politischer Klugheit sein und umgekehrt, es gibt jedoch für einen einvernehmlichen Ausgleich von beiden keine definitive Lösung. Sogar die biblische Weihnachtsgeschichte, die durch und durch eine Friedensbotschaft sein will, steht unter staatspolitischen Vorzeichen.
So lässt sich bis heute über die Legitimität autoritärer Machtausübung streiten. Unsere Probleme sind ja nicht neu. Die Evangelisten Matthäus und Lukas verstanden den Bethlehem-Stern, das Erscheinen der drei Weisen, den Gesang der Engel des Friedens und das Magnificat Marias als hochpolitische Signale. Zwar stürzt er die Mächtigen vom Throne, doch bald und unmerklich gleicht sich dieser heiß ersehnte evangelische Friede auch unter Christen der Friedensideologie des römisch-byzantinischen Großreichs an. Er nimmt die ambivalenten Verheißungen der Pax Romana (also des von Rom diktierten Friedens) auf, der für das Christentum später zum Vorbild für den neuzeitlichen Imperialismus wurde. Zudem standen schon in der jüdischen Bibel einander zwei Botschaften gegenüber. Zwar sind beim Propheten Micha (4,1-4) die Schwerter zu Pflugscharen umzuschmieden, doch nach Joel (4,9-12), also 300 Jahre später, sollten diese Pflugscharen wieder zu Schwertern werden. Frieden mit oder ohne Gewalt? Wie weit darf menschliche Selbstverteidigung gehen? Welche politischen und sozialen Bedingungen führen zur einen, welche zur anderen Lösung?
Abstrakt lässt uns diese Dialektik in Ratlosigkeit zu zurück; die weihnachtlichen, gar die prophetischen Friedenbotschaften sind nichts für idyllische Gemüter und nur Ideologen leiten daraus klare Antworten ab. Denn eine konsequente Friedenspraxis provoziert immer offene Auseinandersetzungen um die jeweils bessere, weil am Ende menschenfreundlichere Lösung. Innere Widersprüche zwischen Weinen und Lachen, Armut und Reichtum, Hunger und Sättigung, Gewaltlosigkeit und schützender Gegenwalt bleiben bestehen und sind auch heute auszuhalten. Jesus verkündete zwar den Beginn von Gottes Reich, doch wusste er auch, dass dieses Reich „verborgen“, eben ein schmerzliches Geheimnis blieb. Wann werden die Trauernden sich freuen, die Weinenden lachen können, die Hungernden gesättigt werden? Nicht ohne Grund bittet das Vaterunser, Jahwe möge uns nicht in Versuchung, also nicht in diese schmerzlichen Aporien führen, in denen wir – menschlich gesprochen – gerade im guten Willen immer wieder politische, mitmenschliche, soziale Schuld auf uns laden. Deshalb sollten wir uns – gerade aus Repekt vor Jesus – nicht vorschnell auf ihn berufen, der die Bankiers schließlich vom Tempelhof vertrieb.
Auch Jesaja verfiel keiner vereinfachenden Engführung. Zwar pries er Kyros als den „Gesalbten“, als einen Christus. Doch erflehte er nicht monokratisch „den Gerechten“ aus den Himmeln und er ließ nicht „den Heiland“ aus der Erde hervorsprießen, wie Hieronymus später falsch übersetzt. In realpolitischer Zuspitzung rief er nach erfahrbarer Gerechtigkeit und einem irdischen Heil. Das ist nicht einfach ein christliches, sondern ein interreligiöses und universales Programm, das nicht einfach von Christus, sondern von allen Religionen, allen Volksgemeinschaften, der gesamten Menschheit gemeinsam zu verwirklichen ist.
(Zuerst erschienen unter dem Titel Ploegscharen of zwaarden? Een niet op te lossen dilemma, in MARIENBURG: MAGAZINE VAN EN VOOR KRITISCH KATHOLIEKEN, Dez. 2024, 8-10.)
Hermann Häring