Wider das destruktive Menschenbild der römisch-katholischen Kirche. Warum eine neue Sexualmoral nicht ausreicht

„Leben in gelingenden Beziehungen“, diesen sympathischen Titel gab Forum IV des Synodalen Weges (SW) seinem Basistext zu Fragen der Sexualität (in zweiter Lesung verfügbar). Zu Beginn geht er kurz auf die skandalösen Anlässe ein, die zum SW führten, dann bemüht er sich möglichst kontextfrei um eine prinzipielle, theologisch und anthropologisch verantwortete Stellungnahme. Die klassischen römisch-katholischen Diskussionspunkte werden zurückhaltend besprochen. Es geht um das neutestamentliche Eheverständnis, die genitale Fixierung der kirchlichen Sexualfragen, aber auch um die positiven und gesamtmenschlichen Seiten der Sexualität, die verschiedenen Geschlechtsidentitäten, auch über Sinn und Grenzen des katholischen Eheverständnisses sowie um die leidige Frage nach der künstlichen Geburtenregelung. So ist dem Forum ein weit gespannter und zeitgemäßer Entwurf gelungen. Er kann nicht nur Angehörige der katholischen Kirche, sondern in großen Teilen auch die Christinnen und Christen anderer Konfessionen überzeugen. Er weiß sich einem humanen, allgemein plausiblen Lebenskonzept verpflichtet.

Verzerrtes Menschendbild

Doch etwas mehr heiliger Zorn und prophetischer Geist hätten dem Text gutgetan. Der vornehm akademische Ton und die unterschwellige Schonung von Hierarchie und kirchlichen Fehlentwicklungen nimmt ihm seine Entschiedenheit und im Verlauf seiner Lektüre geraten die skandalösen Anlässe von Missbrauch, Duldung und mangelndem Reformwillen aus dem Blick. Dabei stellt sich die Frage nach den entscheidenden Gründen von Tag zu Tag dringender. Wie wurden die Skandale möglich, doch nicht einfach durch ein monokratisches System!

Die jüngsten Berichte über das brutale Umerziehungsprogramm in den kanadischen Residential Schools zeigen ein neues Ausmaß an institutioneller Arroganz, an Menschen- und Kulturverachtung sowie einer brutalen Pädagogik, die an etwa 150.000 indigenen Kindern durchexerziert wird. Selbst schwerer Hunger, Folterungen, Flucht, Suizide, der unkontrollierte Tod und das anonyme Verscharren von Kinderleichen werden in Kauf genommen; schamlos vertuscht wurden sie auch. Sogar von ihrer Verbrennung in Öfen ist die Rede und selbst der Papst sprach von Genozid. Wie lassen sich solche Abgründe erklären, die nicht einfach dem Triebstau oder den perversen Neigungen von Kriminellen entstammen, sondern einer offiziellen, an Schreibtischen ersonnenen Strategie von Kirchenleitungen, deren Vollzug frommen Nonnen übertragen war und die an die aktuellen chinesischen Umerziehungslager erinnern? Die bloße Intransparenz und Verselbstständigung klerikaler Machtakkumulation reichen als Erklärung nicht aus.

Wo liegen die eigentlichen Gründe? Einen ungewollten Hinweis gibt der Alternativentwurf zum genannten Basistext, der inzwischen auf der romtreuen Internetplattform www.synodale-beitraege.de aufgetaucht ist. Er schlägt keinen human-sexualethischen, sondern einen strikt traditionell-theologischen Ton an. Unvermittelt stellt er die Tragweite der Sünde und den Erlösungstod Christi in den Mittelpunkt. Er spricht von einer „besonderen Freiheit“ sowie einer „neuen Existenz“, die die Erlösten (erst) durch Christus erhalten haben. Sie ergebe sich maßgeblich aus der „Vergebung der Sünden“, wozu Jesus sein Blut vergossen hat. Bevor der Mensch selbst liebt, sei er geliebt worden; die rettende[!] Antwort auf die menschliche Ohnmacht sei der Glaube an Christus „in seiner Kirche“.

 Der sofortige und unmissverständliche Hinweis auf den Glauben an Christus in seiner Kirche mag verwundern, es steht ja das Verhalten gerade dieser geheiligten Institution unter Kritik. Eine trotzig wirkende Kirchlichkeit hilft da nicht weiter. Müsste man die Rolle der Kirche unter den neuen Umständen nicht erst selbstkritisch illustrieren? Zudem fragt man sich, warum ein sexualethischer Entwurf ausgerechnet mit einem allgemeinen Sündenbekenntnis beginnen soll. Offensichtlich wirkt hier die Sexualphobie nach, die das katholische Tugendleben schon jahrhundertelang beherrschte und paradoxerweise viele Missbrauchsverbrechen begünstigt hat.

Dennoch schmetterte die Mehrheit der Forumsmitglieder diesen Ansatz zu schnell als eine Meinung unter anderen ab, denn dieser Alternativtext vertritt nicht die Sonderlehre einiger Reaktionäre, sondern thematisiert eine Kernüberzeugung der römisch-katholischen Kirche, auch wenn sie hochproblematisch ist. Sie wird seit dem Vatikanum II gerne verdrängt, ist aber im Bewusstsein der Kirchenmitglieder tief, wenn auch diffus verankert. Es ist der Glaube an den Sühnetod Christi, ohne den kein Mensch aus seinem Unheil zu erretten ist. Es ist das Narrativ, dass wir als Nachkommen von Eva und Adam alle als Sünder geboren sind. Schon als Säuglinge stehen wir in Ungnade vor Gott und bedürfen deshalb der Taufe, später der sakramentalen Belehrung, Leitung und Begleitung durch kirchliche Amtsträger. Diese Überzeugung ist in den Katechismen, in zahllosen liturgischen Texten, Kirchenliedern, Gebeten in oft aufdringlicher diffuser Weise dauerpräsent und nach wie vor gilt die Kirche als die alleinseligmachende Institution schlechthin. Gemäß Benedikt XVI. haben sich die einheimischen Völker Lateinamerikas schon vor ihrer Kolonialisierung nach dieser Erlösung gesehnt. Auch Papst Franziskus rückte auf seiner Kanadareise (August 2022) nicht ab von dieser Überheblichkeit, die schließlich zum dortigen Umerziehungsprogramm führte.

Nun will der SW keine neue Lehre installieren, sondern strebt zur Überwindung der Krise einvernehmliche Lösungen an, die auch die Bischöfe mit ihrer Sperrminorität überzeugen und für die Weltkirche von paradigmatischer Bedeutung sein sollen. Deshalb lässt sich dieser Angelpunkt christlicher Erlösungslehre nicht einfach unter den Teppich kehren. In der unvermittelten und verschwiegenen Diskrepanz zwischen den genannten Ansätzen wiederholt sich ein Kommunikationsproblem, das unsere Kirche auseinanderreißt, weil die einen verdrängen, woran die anderen ihr Herz hängen. Wenn der SW sein erklärtes Ziel erreichen will, kann er dem klassischen Konzept von Sünde und Erlösung nicht einfach einen humanwissenschaftlich abgesicherten Mantel umhängen; das könnte zu keinen nachhaltigen Ergebnissen führen. Der SW darf die Zögernden und Unentschlossenen nicht im Regen stehen lassen, sondern muss auch die fundamentalen Aussagen der kirchlich legitimierten Lehre geduldig sowie kritisch-konstruktiv durchbuchstabieren, um in ihr (am besten in ökumenischer Zusammenarbeit) den Weizen von der Spreu zu scheiden. Was hat er also zum ungeliebten, aber allgegenwärtigen Glaubenssatz von der Ur- oder Erbsünde zu sagen?

Der Mythos von der Ursünde

Natürlich hätte es wenig Sinn, die zahlreichen Theorien zur Erbsünde aufzuzählen, die in der Vergangenheit entwickelt wurden; der SW ist kein theologisches Seminar. Im 19. und 20. Jahrhundert sind ihre Deutungen ja geradezu explodiert. Der Ursündenmythos wurde differenziert, vertieft, erweitert und rastlos modifiziert. Hochspekulative Analysen über Freiheit, Unfreiheit und ihre Interaktionen kamen hinzu. Man wollte dem dunklen Geheimnis des Bösen, auch der Frage nach Gottes Güte neu auf die Spur kommen, dies jetzt unter wissenschaftlichen, politischen und technischen, modernen und postmodernen Bedingungen. Ist die Ursünde eine Schuld oder ein Verhängnis, eine Frage der Situation oder der selbstgeschaffenen Konstitution, Sache der Person oder der Natur? Hat „Sünde“ hier noch ihre elementare oder nur eine analoge Bedeutung? Julia Knop hat auf diese unterschiedlichsten Zugänge hingewiesen und entdeckt in ihrer Vielfalt, wie ungeheuer fruchtbar die Ursündentheorie für eine christliche Anthropologie sein kann.

Vielleicht trifft dieser Jubel auf die kreativen Selbstdenkerinnen und Selbstdenker der deutschsprachigen akademischen Theologie zu. Sie sind im Umgang mit existentialen und existentialistischen, phänomenologischen und analytischen, idealistischen und transzendentalen Ansätzen, mit den Erwägungen von I. Kant und F.W. Hegel, S. Kierkegaard, J.G. Fichte und F.W. Schelling, R. Girard und P. Ricoeur hochtrainiert. Doch haben diese Geistesprodukte keinen Einfluss auf Verkündigung und pastorale Praxis, Tauffeiern und Beichtgespräche, weder auf die Heilsangst und erhabene Christusfrömmigkeit der Kirchentreuen noch auf die Vorbehalte und Zweifel derer, die dieser Kirche nichts mehr abgewinnen können. Unsere hohen Fakultäten haben das Erbsündendekret des Konzils von Trient (1546) ebenso wenig geändert (oder gar kritisiert) wie die geniale Sündenerfindung des manichäisch infizierten Augustinus (gest. 430). Die aktuell verhandelten Probleme haben ihre Bodenhaftung verloren und sich in spezialistische Theorien verlagert. So entstanden im Gesamtspektrum immer neue Fraktale, die die Kernstruktur an sich nicht änderten, sondern nur beliebig wiederholten. Unter der Hand ist aber ein sublimer Neokonservatismus entstanden, der alles beim Alten beließ, weil ihn die pastorale Implosion von Verkündigung und Seelsorge kaum mehr interessierte. Vielleicht ist Papst Franziskus in seiner Unentschiedenheit das beste Beispiel dafür, weil er zwar den Traditionalismus rügt, sich aber an keinen (vermeintlich) dogmatischen Satz wagt.

Vor 500 Jahren, als es in der Kirche gärte, bot M. Luther einen vielversprechenden Ausweg. Zwar verschärfte er unter augustinischem Druck die individuellen Versagens- und Verdammungsängste, doch im Rückgriff auf die Schrift stärkte er die Schlüsselrolle eines persönlich vertrauenden Glaubens und nahm den kirchlichen Amtsträgern die Macht über die Seelen. So demütigte er das perfekt organisierte Rettungssystem der römischen Kirche, das prompt mit Verhärtung reagierte. Entschiedener denn je zurrte es die Binde- und Lösegewalt der klerikalen Amtsträger sowie ihre sakramentalen Rituale fest. Seitdem gebärdet sie sich als Problemlöserin für das Sündersein schlechthin. Ihre Heilsmacht funktioniert einzig, eindeutig, objektivierbar und rechtlich zwingend. Ihre Rettungsmechanik ist nach Belieben einsetzbar, gegebenenfalls auch zu verweigern. Man denke an die Taufe von Jung und Alt („widersagst du dem Satan?“), die beliebige Wiederholung der Ohrenbeichte (in Sachen Sexualität nur schwere Sünde!) und des erlösenden Kreuzesopfers mit gesicherter Transsubstantiation, den wachsenden Brauch einer autoritären „Seelenführung“ zumal in den Klöstern. Definitiv versteht sich diese Institution jetzt nicht einfach als die erinnernde Instanz, die Gottes Wort verkündet und zuspricht (Geschöpf des Wortes, creatura verbi), denn sie repräsentiert und verfügt in „Vollmacht“ die Wege zur Befreiung der Bittstellerinnen und Bittsteller, die trotz Taufe und Firmung noch als religiös Unmündige behandelt werden. Sie hat sich zum „Ursakrament“ erklärt, das alle Zweifel überwindet. Diese Kircheninstitution ist selbst zur (autoritären) Instanz geworden, die immer distanzloser Gottes Reich beginnen lässt. Die Vergebungsbedürftigen aber haben sich demütig dem Joch der priesterlichen Heilsvermittlung zu unterwerfen und je mehr diese Kirche (so etwa auf dem 2. Vatikanischen Konzil) betont, sie lasse nicht ihr eigenes, sondern Christi Licht leuchten, umso mehr rückt sie paradoxerweise sich selbst in den Mittelpunkt; das biblische Dienstmodell ist zur unkontrollierbaren Ideologie mutiert.

Zerstörte Einheit

Doch darin ist auch die Katastrophe begründet, denn dieses Modell geistlicher Herrschaft treibt die Heilsgewährer in eine hoffnungslose Überforderung. Die Hierarchen katapultieren sich in eine Überwelt der Gnade. Um ihren Heilsanspruch fraglos einlösen zu können, haben sie keine andere Wahl, als sich über den Rest zu erhöhen. Gregor VII. erklärt 1075, niemand könne den Papst vor ein Gericht zitieren; 20 Jahre später eröffnet Urban II. den ersten Kreuzzug unter dem Motto: „Gott will es!“ Ignatius von Loyola erklärt um 1534: „Was in meinen Augen weiß erscheint, halte ich für schwarz, wenn die hierarchische Kirche so entscheidet.“ Pius IX. versteht sich 1870 als kirchliche Tradition und lässt die kirchliche bzw. päpstliche Unfehlbarkeit definieren, Pius XII. macht 1950 ohne sichtbaren Anlass von diesem Recht Gebrauch, der schwer erkrankte Johannes Paul II. identifiziert sich 2004 mit dem Gekreuzigten und Benedikt XVI. erklärt 2013, angesichts seines Amtes sei er nie allein. Das sind punktuelle Indizien für ein überstrapaziertes Amtsverständnis. Denn auch die Amtsträger bleiben Adams leibhafte, höchst fehlbare und sündige Söhne. Doch sie spalten ihr bleibendes Sündersein (vor allem ihre Leiblichkeit und Sexualität) von ihrer heiligen Rolle ab; die Psychoanalyse könnte einen strukturellen Selbsthass vermuten. Dafür werden sie als geheiligte Überfiguren sichtbar. Ihre persönliche Identität aber wird unkontrollierbar, bis heute durch ein Übermaß an liturgischen Kleidern und Hoheitszeichen sowie in geschlechtsneutralen Talaren verdeckt.

Schon früh hat das Klerikalsystem den fundamentalen christlichen Gleichheitsgrundsatz (Gal. 3,28) irreparabel gesprengt und im 2. Jahrtausend wird die Zweiklassenstruktur zur Brutstätte tiefgehender Zerwürfnisse, die immer wieder aufbrechen und wofür sich Hierarchen meist bitter rächen. Man denke an die Bewegungen der Katharer und Albigenser, Waldenser und Humiliaten, Beginen und Begarden sowie der Hussiten, bevor die Reformation zur bleibenden Spaltung führte. Die Kontroll- und Verfolgungsinstanz der Allerheiligsten Inquisition etabliert sich als grausames Machtinstrument. Das böse Wort von Bonifatius VIII. wird zur prophetischen, wenn auch spiegelverkehrten Projektion. Man wisse, erklärt er 1296, dass die Laien den Klerikern spinnefeind sind (Clericis laicos inimicos esse). Bis heute kann ein Großteil der Hierarchen seine Fehlhaltungen und -handlungen, seine Ängste vor und seine Geringschätzung gegenüber den „Laien“ (den Frauen besonders) nicht angemessen steuern, denn nie und nimmer reichen diese sündigen Heilsempfänger an die auratische Würde ihrer Erlösungsbringer heran, die geheiligten Herrn hingegen werden ihr leibhaftiges Sündersein nicht los. Anders gesagt: Seit Jahrhunderten ist es dieser institutionelle Heilsanspruch, der die sündigen Laien einem übergriffig korrigierenden Handeln aussetzt, kirchliche Einheit durch immer neue Zwangsmaßnahmen erzwingt (und damit zerstört) und schwerste Verbrechen gegen Menschen und Menschlichkeit vor der „übernatürlichen“ Ehre der geheiligten Institution verharmlost.

Die Ambivalenz dieses römisch-katholischen Erlösungskonzepts ist schon lange bekannt. Bei gutem Willen mag man das Ineinander von Sündigkeit und erlösendem Sühnetod als eine heilbringende Dialektik begreifen. Je mehr ich mir meines Elends bewusst bin, umso dankbarer werde ich gegenüber einem rettenden Gott. Tiefstes Gottvertrauen schafft eine tiefe Heilserfahrung, dies gehört zum Kern der reformatorischen Rechtfertigungslehre. Doch in der römisch-katholischen Praxis wird diese Dialektik destruktiv. Der Grund liegt in den verdinglichten und verfügbaren Heilsansprüchen der kirchlichen Institution, die das Narrativ der Erlösung eins zu eins abbilden will. Dabei wird die zerstörerische Wirkung übersehen: Dieser Heilsanspruch führte zur Arroganz, zum konstitutiven Misstrauen gegen die menschliche Freiheit und eine wahrheitsfähige Vernunft. Dieses Heilskonzept kann nur übergriffig wirken.

Der Sündenfall Augustins

Lässt sich dieser Zustand ohne Zerstörung der Kircheninstitution bzw. der christlichen Botschaft ändern? Es gilt nur, die christliche Botschaft ernst zu nehmen. Bis heute gehört es zu den Schwächen katholischer Tradition, dass sie das Gewicht biblischer Erzählungen unterschätzt und im Sinne späterer Überzeugungen konsequent instrumentalisiert. Deshalb reicht es nicht, wenn Papst Franziskus neuerdings zwischen Tradition und Traditionalismus, zwischen Ideologie und Kirchenmeinung unterscheidet. Auch die Behauptung des Orientierungstextes, die Tradition interpretiere die Schrift und die Schrift die Tradition, ist zu kurz gegriffen, denn regelmäßig erhält bei offiziellen Glaubenslehren die spätere, oft sekundäre Tradition die Oberhand. Gegen diesen Missstand reagierte schon die Reformation und musste dafür den pauschalen Vorwurf des Biblizismus ertragen. Deshalb ist ein kritischer Rückblick der Mühe wert.

Schon die Erzählung von der Vertreibung auf dem Paradies gibt die Inhalte der späteren Erbsündentheorie nicht her, auch wenn Adam und Eva unser aller Geschick erklären sollen; dafür mache man sich nur in der Exegese kundig. Die Jesuserinnerung weiß von keinen Strafgerichten und Sündigkeitslehren. Für ihn ist die Axt gerade nicht an die Wurzel gelegt (er blieb der Täuferbewegung nicht treu), sondern er spricht – durchaus nachvollziehbar – von der heuchlerischen Selbstgerechtigkeit mancher Thoratreuer, die sich über andere erhaben fühlen; auch für heue ist dieser Aspekt von höchster Relevanz.

Auch bei der Rechtfertigungslehre des Paulus ist genau hinzuschauen, denn der Vorkämpfer für ein thorafreies Christentum äußert sich in einem schweren Konflikt, also in zuspitzender Polemik und nicht nach allen Seiten hin abgewogen. Seine unbedachte Rede vom „Fluch des Gesetzes“ (Gal 3,13) hat zu unseligen Folgen geführt. Im Gefecht verweist er die Thora in engste Schranken und erklärt in einer apodiktischen Grenzaussage, allein aus eigener Kraft könnten wir überhaupt kein Heil bewirken (im gleichen Atemzug glaubte er gemäß Röm 9 an Israels endgültiges Heil). Zudem verengt er die Rechtfertigungsfrage auf ein innerliches Problem und nimmt der jüdischen Leidenschaft für Gerechtigkeit für lange Zeit ihre Kraft. Er vertritt die Überzeugung, das Todesschicksal Adams sei auf alle Menschen übergegangen und fügt als Begründung hinzu: „weil alle sündigten“ (Röm 5,12). Angesichts späterer Entwicklungen ist auch diese These unterbestimmt, denn sie schwankt zwischen einer empirischen Menschheitserfahrung (alle sündigen) und einem universalen Mythos (Jesus Christus ist der Neue Adam). Das Narrativ vom Neuen Adam sollte später eine eigene Dynamik entwickeln, die der Jesuserinnerung nicht immer gut tat.

Doch erst Augustinus (gest. 430), hat diese israelkritische Kampftheorie zur späteren verbindlichen Form verschärft: Die Menschen, so Augustinus, seien durch ihre Teilhabe an Adams Schuld von Geburt an verdammungswürdige Sünder; gemäß einer falschen Übersetzung von Röm 5,12 haben wir alle „in Adam“ gesündigt; so sind wir „nichts und Sünde“, ein „verdammter Haufen“ (massa damnata). Neben Schwäche und faktischem Scheitern sind uns Bosheit und eine Gottesfeindschaft ins Herz geschrieben, die schon den Säuglingen den Weg zur Anschauung Gottes versperren. In der Rückschau wird der bibelfremde Kontext des Hellenismus klar erkennbar. Heute wirkt er verfälschend, weil er die Frage nach der menschlichen Autonomie nicht in Rechnung stellt.

Mit Augustinus übernimmt die werdende Volks- und Staatskirche also ein definitiv gebrochenes, auf Bosheit und Sündenstrafe hin fixiertes Menschenbild und reagiert im Laufe der Jahrhunderte glänzend auf den Sog, der durch diese Entmündigung entsteht. Ein Heilsmonopol für die gesamte damals bekannte Menschheit bildet sich aus: außerhalb der Kirche kein Heil. Faktisch führt dieser Anspruch zur kirchlichen Beherrschung der Seelen. Sie verhindert bis heute ein unbefangenes Verhältnis zur menschlichen Freiheit und zu den von den Menschen geschaffenen Verhältnissen.

Dabei sprechen zwei Bemerkungen des Katechismus der Katholischen Kirche Bände. Die erste lautet: „Der Heilige Geist, den der auferstandene Christus uns sendet, ist gekommen, um ‚die Welt der Sünde zu überführen‘ (Joh 16,8)“ (Nr. 388). Faktisch hat die Kirche diese Aufgabe übernommen; sie überführt uns der Sünde. Soll das ihre Aufgabe sein? Die zweite Bemerkung lautet: Die Nichtbeachtung der Erbsünde führe „zu schlimmen Irrtümern im Bereich der Erziehung, der Politik, des gesellschaftlichen Handelns und der Sittlichkeit.“ (Nr. 407) Es gibt also keinen Bereich der menschlichen Kultur, der dem kontrollierenden Blick dieser heiligen Institution entzogen wäre. In Wirklichkeit lassen sich diese Heilsansprüche der kirchlichen Institution weder im Einzelnen noch im Gesamtpaket von der christlichen Botschaft ableiten.

Ein ökumenisches Projekt

Die Kirchen der Reformation haben, wie schon gesagt, auf dieses Heilsmonopol reagiert. Faktisch spricht M. Luther einer fiskalisierten und machtorientierten Kirche das Recht ab, über das Schicksal der Menschen zu verfügen. Er erinnert an die paulinische Formel „durch Glauben allein, unabhängig von den Werken“ (Röm 3,28). Sie wird zum Kampfruf gegen Ablassglauben, magischen Sakramentalismus, Klerikalismus und einen kirchlich fixierten Moralismus. Doch der Satz von der elementaren Sündigkeit aller Menschen bleibt erhalten und Luther verinnerlicht den Gedanken des heil-losen Beginns. So ist ihm nur eine halbe Korrektur gelungen. Hat er die Reformation versemmelt (Delius)? Es wird Zeit, dass Katholiken und Protestanten ihr Erbe jetzt gemeinsam (und im Bewusstsein eines gemeinsamen Versagens) bewältigen, denn die bisherigen Versuche, die augustinische Erfindung zu korrigieren, sind misslungen.

Die Folgen für Neuzeit und Moderne sind bekannt. Wir erleben eine verschärfte, wenn auch komplex strukturierte Distanz zwischen einem heteronom-religiösen, vermeintlich christlichen und einem autonom-philosophischen Denken, das sich inzwischen als säkular begreift. Genau besehen hat sich die Gesellschaft mit ihren Fragen nach Sinn und Zukunft nicht von christlichen, sondern von kirchlichen Anschauungen emanzipiert. Viele sprechen den aktuellen Kirchen jedes weitere Reformpotential ab. Sie haben recht, solange die Kirchen nicht zu den prophetischen Gerechtigkeitserwartungen des Judentums und zum jesuanischen Vertrauen auf die Menschenliebe zurückkehren.

Ich komme zum Schluss:
Die römisch-katholische Kirche kann in Deutschland und in anderen Ländern die unhaltbaren Zustände nur dann nachhaltig überwinden, wenn sie endlich ihrem verqueren Menschenbild auf den Grund geht. Neue moraltheologische Entwürfe nützen wenig, solange die Axt nicht an ein fehlgeleitetes Heilsverständnis gelegt wird, denn deren innerer Widerspruch ist offenkundig. Paradoxerweise legt die römische Hierarchie ihre Kirchenmitglieder auf eine Ideologie fest, an die sie sich selbst nicht hält und die von den reformatorischen Kirchen nur zum Teil überwunden ist. Ich schlage vor, dass sich der SW dieser Frage in ökumenischer Kooperation so unverstellt und leidenschaftlich wie möglich widmet, auch wenn emotionale Reaktionen zu erwarten sind. Dann wenigstens wissen wir, worüber in den folgenden Jahren zu streiten ist.

Literatur:

  • Friedrich Christian Delius, Warum Luther die Reformation versemmelt hat, Reinbeck 2017;
  • Kurt Flasch, Logik des Schreckens: Augustinus von Hippo …, Mainz 1995;
  • Hubertus Halbfas, Wie das Christentum sich ändern muss, damit es bleibt, Ostfildern 32019, 114-126;
  • Doris Reisinger, „Die Beichte ist oft ein Einfallstor“ (Interview), in: Publik Forum 15 (1055), 28-31;
  • Helmut Hoping, Michael Schulz (Hg.), Unheilsvolles Erbe? Zur Theologie der Erbsünde, Freiburg 2009;
  • Michael Pflaum, Für eine trauma-existentiale Theologie. Missbrauch und Kirche mit Traumatherapien betrachtet, BoD Norderstedt 2

 

 

Letzte Änderung: 21. August 2022