Unsere Kultur erfährt einen Umbruch, der keinen Stein mehr auf dem andern lässt. Mit ihm lösen sich unsere Gottesbilder auf, zumindest verlieren sie ihre Tiefenwirkung und orientierende Kraft. So erleben die Kirchen nicht nur eine äußere Erosion mit wachsenden Austrittszahlen, sondern auch einen inneren Zerfall. Ihr mentaler Zusammenhalt wird labil, denn der traditionelle Gottesglaube verflüchtigt sich, ihre Formensprache zerfällt und mit ihr ein umfassendes Wissensgebäude, das über Jahrhunderte lang Wahrheit garantiert und für Hoffnung gesorgt hat.
Diesem religiösen Mammutproblem stellt sich der erfahrene Gymnasiallehrer Frithjof Ringler. Auf gut lesbaren 271 Seiten stellt er sich die Grundfrage: Geht Gott verloren? Für ihn haben die bisherigen Leitmetaphern und Gotteskonstrukte ausgedient, doch diesem Generalzerfall setzt er einen konstruktiven Neuansatz entgegen: Gott, so seine These, ist absoluter Geist. Statt eines endlosen Gottesstreits brauchen wir ein konsequentes Bilderverbot. Ringler setzt auf eine Spiritualität, die in persönlicher Erfahrung gründet, Gott selbst aber ist unaussprechlich und bleibt Geheimnis.
Der Autor sieht den Sündenfall der Religionen darin, dass sie ihre Ursprungserfahrungen domestiziert, definiert und in autoritäre Systeme gepackt haben. Feste Gottesbilder wurden so zu einer Gefahr, die auch die Glaubwürdigkeit der Kirchen beschädigen. Gottesbilder verdienen nur Respekt, wenn sie als Boten Gottes dessen Geheimnis näher bringen, statt unsere Gottesträume zu verdrängen. So deutet der Autor die Aussagen des Glaubensbekenntnisses als Bilder des Gottvertrauens und der Gottesnähe. Im Christentum drücken sie die Überzeugung aus, dass Gott im Menschen Jesus gegenwärtig war und über den Tod hinaus da ist. So werden sie zum Bild für die Hoffnung, dass nichts sinnlos ist. Wir werden mit Gott und in Gott eins sein.
Diese Gotteserfahrung kommt von unten und verlangt eine neue Sprache, die das Wirken des Geistes benennt. Dieser göttliche Geist findet sich zunächst im „Herzen“ oder der „Seele“, also in der Personmitte der Menschen. Zugleich bestimmt er die leib-geistige Grundstruktur der Wirklichkeit. Er ist also mehrdimensional; unsere „Trennwand“ zur geistigen Dimension kann durchlässig werden. Anders gesagt: der so erfahrene Gott kennt ein Innen und ein Außen. In der Kirche ist aber ein radikales Umdenken, eine Korrektur des gesamten theologischen Überbaus notwendig.
Besondere Aufmerksamkeit widmet der Autor schließlich der „dunklen Seite Gottes“, also der Theodizeefrage, für die es prinzipiell keine Antwort geben kann. Dennoch sieht er gute Gründe dafür, „an dem liebenden Gott Jesu festzuhalten“. Doch Gott ist prinzipiell verborgen und wird oft als abwesend erlebt und möglicherweise begegnet er uns dort, wo wir ihn nicht erwarten. Die letzten Teile des Buches befassen sich mit dem Glaubenssatz von der Auferstehung Jesu von den Toten und schließlich mit der Trinität.
Dieses Buch sei vor allem denjenigen empfohlen, die sich – als verantwortlich denkende, wissenschaftlich orientierte oder gesellschaftskritisch kundige Menschen – von massiven Glaubenszweifeln bedrängt wissen. Das Buch streicht die vor-modern beengenden Spuren des katholischen Glaubensgebäudes nicht ersatzlos, sondern stellt ein neues Modell der Glaubensanschauungen vor. Darin sehe ich sein großes Verdienst. Anzuerkennen ist auch sein Versuch, die Engführung auf bestimmte Spezialfragen zu vermeiden, die dann doch wieder in endlose Einzeldiskussionen führen würden. Ringler unternimmt einen Rundumschlag, eine Art Gesamteinführung in die vielfältigen Glaubenserfahrungen von Christinnen und Christen, die nach einer neuen Mitte suchen.
Allerdings wird dieser Vorteil auch mit Nachteilen erkauft. Unverkennbar spiegelt das Buch einen (römisch-)katholischen Hintergrund, der leider kaum reflektiert wird. Vergleiche mit evangelischen Traditionen, um die Ringler durchaus weiß, hätten manche Aussage noch differenzieren und näher begründen können. Unterbestimmt scheint mir die Grundthese von Gott als absolutem Geist. Sie ist ja nicht neu, sondern hat in der christlichen Theologie schon zahllose Auslegungen erfahren. Zudem wird sich jeder fundamentalistische Trinitätsspezialist (Josef Ratzinger eingeschlossen) ebenfalls auf den Geistcharakter Gottes berufen. Schließlich sind seit den 1970er Jahren zahlreiche biblische, systematische, religionspädagogische und interreligiöse Ansätze zu finden, die Ringler bestätigen könnten und die er sicher kennt. Warum weist er nicht zur besseren Orientierung, Differenzierung und Abschirmung von Missverständnissen auf sie hin?
Dabei kann ich nachvollziehen, dass der Autor sich nicht im Dickicht einer unendlich komplizierten Tradition verheddern wollte. Er wollte einen möglichst elementaren, für Viele nachvollziehbaren Neuansatz präsentieren und damit eine Verstehenshilfe leisten, die diesen Namen verdient. Vielleicht kann er uns in einem erläuternden Aufsatz genauer darüber aufklären, auf wessen Schultern er steht. Schließlich schreibt auch er als Kind seiner Zeit.
Frithjof Ringler, Geht Gott verloren? Spuren zum Geist, der lebendig macht, LIT-Verlag Berlin 2021: ISBN 978-3-643-14873-5 (br.), ISBN 978-3-643-34873-9 (PDF)