Und wenn du dich fragst: Warum hat mich das alles getroffen?, so wisse: Wegen deiner großen Schuld
(Jer 13,22)
Mit seiner Präsentation am 20.01.2022 in München hat das jüngste Missbrauchsgutachten von Westpfahl-Silker-Wastl (WSW)[1] Geschichte geschrieben; sofort begann eine bislang unbekannte Austrittswelle. Vier Tage später gestand Joseph Ratzinger seine Falschaussage mit neuen Ausflüchten ein, nach einer Woche übernahm Kardinal Marx die moralische Verantwortung für die Gräuel, die in München-Freising seit 1945 insgesamt 497 dokumentierte Opfer erdulden mussten, die hohe Dunkelziffer nicht eingerechnet. Die hartnäckigen Leugnungen und Relativierungen von Verbrechen, deren Vertuschung und die Vereitelung von Konsequenzen wurden endgültig entlarvt. Der ehemalige Papst wurde der Lüge überführt und Kardinal Marx konnte die Schreckensbilanz für sein Bistum nur noch bestätigen. Er sprach von der „dunklen Seite“ der Kirche, von „systemischen“ Fehlern und davon, dass man sich um die Opfer nicht gekümmert habe. Über das Ausmaß der Verbrechen zeigte er sich erneut bestürzt und doch klang alles hilf- und orientierungslos.
Denn diese Rhetorik ist aus seinem Mund nicht neu. Gewiss hat er es erneut ernst gemeint und für viele überzeugend vorgetragen, doch blieben gründliche Schönheitsfehler. Den Vorsatz zur Erneuerung hören wir schon seit 12 Jahren; was ist in der Zwischenzeit geschehen? Schon 2010 hatte er ein Gutachten in Auftrag gegeben, warum blieb es vollumfänglich unter Verschluss? Seinem Rücktrittsangebot vom vergangenen Juni folgte keine sichtbare Tat. Ja, damals lehnte der Papst ab, doch nach Überzeugung vieler hätte er jetzt, ein halbes Jahr später, definitiv zurücktreten müssen; schließlich wäre es seine, keine päpstliche Gewissensentscheidung. Hätte er damit kirchenrechtliche Bestimmungen verletzt, dann hätte er seine Glaubwürdigkeit umso nachdrücklicher wieder hergestellt.
So aber bleibt ein Schleier über dem Spiel, das zwischen München und Rom gespielt wird. Zu selbstverständlich geht der Kardinal im Vatikan ein und aus. Doch ebenso unentschlossen kam er wieder auf sein abgelehntes Rücktrittsangebot zurück und erklärte etwas rätselhaft, er klebe nicht am Amt. Wie denn, klebt er oder klebt er nicht? Dem fügte er die wichtige Erklärung hinzu: „In einer synodalen Kirche werde ich diese Entscheidung nicht mehr mit mir allein ausmachen.“ Was könnte er mit synodaler Kirche meinen? Ich komme später darauf zurück.
1. Verantwortung und Klerikalismus
Genau besehen agiert Marx mit drei schillernden Begriffen: Verantwortung, systemisch und synodal. Alle drei stimmen hoffnungsvoll und im kirchlichen Reformvokabular sind sie zu Hause. Doch keiner dieser Indikatoren führt zu einem bestimmten Ziel. Bei Marx bleiben sie abstrakt und moralfrei, also wirkungslos.
1.1 Verantwortung
Zwar übernimmt Marx für alles [schon das ist verräterisch] (1) die „ihm zugeschriebene“ Verantwortung. Doch im nächsten Satz spricht er verallgemeinernd von (2) seiner „größten Schuld“. Sie bestehe – noch abstrakter ‑ darin (3) „die Betroffenen übersehen zu haben“. Im folgenden Satz wird seine persönliche Schuld wieder relativiert, denn das alles habe (4) auch „systemische Gründe“. So muss man schon dafür dankbar sein, dass er als amtierender Bischof dafür eine (5) „moralische“ Verantwortung übernimmt. Sie geht aber im Nebel dieser Sätze unter. Dieser Aufhäufung von Schuldvarianten folgt noch eine anders begründete (6) Entschuldigungsbitte bei Betroffenen, Gläubigen und Gemeinden. Kann man diese drei Personengruppen unterschiedslos in einem Satz ansprechen? Ich gestehe: vor lauter Bäumen sehe ich den Wald nicht mehr und befürchte von Kardinal Marx dasselbe. Könnte es sein, dass er nichts erreicht, weil er mit einem Federstrich alles erreichen will und nur vor den konkreten Fragen wegläuft?
Die Analysen des Beziehungsbegriffs Verantwortung, die ich kenne, nehmen neben der isolierten Tat immer auch deren Folgen und die angemessene Genugtuung in den Blick, die mit einer Entschuldigung gerade nicht abgetan ist. Im institutionellen Rahmen kommt das Problem erwiesener Inkompetenz hinzu; in der Politik sind entsprechende Rücktritte gang und gäbe. Doch nichts davon ist bei Marx zu lesen. Angenommen, unsere Bischöfe würden von einem frei gewählten Kontrollorgan oder Parlament begleitet, dann hätten die meisten angesichts des „moralischen Infernos“ (Presseclub) schon längst ihre Krummstäbe abgeben müssen. Das Jesuswort vom Mühlstein dürfte sie keine Nacht mehr schlafen lassen.
1.2 Systemisch:
Im Statement des Kardinals taucht zweimal der Begriff systemisch auf. Die ganze Schuldgeschichte, so seine Botschaft, ist nicht einfach individuellen Personen anzulasten, sondern auch grundlegend defizitären Zuständen der Kirche. Er reagiert damit auf das Gutachten, das auf 30 Seiten neun „systemische Ursachen“ eruiert, darunter Klerikalismus, Angst und Sprachlosigkeit sowie Defizite beim Kirchenrecht und seiner Handhabung.[2] Diese Sorgfalt lässt erkennen, wie vielfältig der Begriff verwendet werden kann.
Das Gutachten ordnet die Qualifikation „Klerikalismus“ theologisch genauer ein als der Papst und die Bischöfe, die meist schwammig und moralisierend über psychologische und gruppendynamische Phänomene sprechen, indem sie die Machtgier, die Insiderkultur und Intransparenz klerikaler Kreise geißeln. „Klerikalismus“ zielt aber auf ein System, das sich auf das „unauslöschliche Merkmal“ des Priestertums und auf die „apostolische“ Qualität des Bischofsamts beruft, sich also mit moralischen Appellen und spirituellen Tiefenbohrungen nicht überwinden lässt. Immerhin hat auch das 2. Vatikanum diesen Unterschied „dem Wesen, nicht nur dem Grade nach“ bestätigt.[3] Marx geht nicht darauf ein, sondern zieht sich auf den undifferenzierten Sammelbegriff „systemisch“ zurück. Er meint damit so etwas wie: grundlegend, ganzheitlich, nachhaltig, vielleicht strukturell. Dabei müsste dem ausgewiesenen Sozialwissenschaftler und Karl-Marx-Spezialisten doch klar sein, wie nichtssagend und leer eine solche abstrakte Redeweise bleibt. Doch vor Konkretisierungen scheut er zurück, die Zweiständestruktur der Kirche könnte unter Druck geraten. So verdrängt der Kardinal die Konsequenzen seiner eigenen Beteuerungen.
1.3 Synodal:
Diese Unentschiedenheit zeigt sich auch beim dritten Begriff, auf den Marx zurückgreift. Er spricht zweimal vom Synodalen Weg, der einen „langen und mühsamen Weg“ zur Erneuerung gehe. Er spricht auch von einer synodalen Kirche, mit der er gegebenenfalls eine Rücktrittserklärung absprechen wird. Die Einführung dieses Begriffs in die Gesamtdiskussion ist nicht ungeschickt. Im Jahr 2019 avancierte er zum reformorientierten Zauberwort. Man labte sich an seinen Kernaspekten: gemeinschaftlich, partizipativ, auf die Teilnahme aller gerichtet, in etwa demokratisch. Doch geflissentlich übersah man (und verschwiegen die Fachleute), dass dieser Begriff der autoritären Grundstruktur der römisch katholischen Kirche widerspricht und deshalb auf eine streng domestizierte Synodalität gestutzt wurde; ihre Kernintention ging flöten.
Zuvor war es anders. In der Spätantike war von allen zu entscheiden, was alle betraf. In den großen klassischen Synoden (z.B. den Konzilien der ersten Jahrhunderte) stimmten alle gleichberechtigt ab und man achtete auf eine konsequente Einmütigkeit. Kein Patriarch oder Papst konnte sich über das Gremium stellen.[4] Zwar kamen – neben politisch prominenten „Laien“ ‑ nur Bischöfe zusammen, doch sie waren von ihren Gemeinden gewählt und repräsentierten so in glaubwürdiger Weise ihr „Volk“. In den Synoden orthodoxer Kirchen werden die Anteile von Bischöfen, Ordinierten und Nichtordinierten noch heute so austariert, dass den „Laien“ eine effektive Mitwirkung zukommt.
Doch die römisch-katholische Kirche hat den Begriff ohne seinen Geist übernommen; denn die absolute Machtfülle der Hierarchie musste unbeschädigt bleiben. Auch die kommende Weltsynode mit dem Titel „Synodale Kirche“ steht in der verstümmelnden Tradition der päpstlichen(!) Bischofssynoden; sie unterscheidet zwischen einer Phase der Beratung und der Beschlussfassung. Damit wird der synodale Geist zur Augenwischerei, denn die Beschlussfassung steht ausschließlich den Bischöfen zu. Dass sie im Sinne der Frauen und der männlichen „Laien“ entscheiden, ist ein zwar frommer, aber naiver Wunsch. Die Bischöfe werden sich nach wie vor auf ihr Wahrheitsgewissen berufen, das mehrheitlich vom alten absolutistischen Kirchenbild verbildet ist. Vor genau diesem Problem steht auch der deutsche Synodale Weg, dessen Statuten den Bischöfen eine Sperrminorität zuerkennen. Norbert Lüdecke hat dieses Problem in Die Täuschung scharfsinnig analysiert.[5] Wer also die „systemischen“ Probleme der katholischen Kirche analysieren und lösen will, kann sich deshalb nicht auf moralische, spirituelle oder strukturelle Aspekte beschränken.
1.4 Der entscheidende Webfehler
Der entscheidende Webfehler der systemischen Defizite liegt im dogmatischen Grundansatz der offiziellen katholischen Identität, nämlich in ihrer autoritären, männer- und machtbezogenen Ausprägung von Lehre und Institution. Dabei sind die Stolperfallen der Lehre und Kirchendisziplin engstens aufeinander bezogen, wie Domino-Steine aneinander gereiht. Sobald ein Element ins Wanken kommt, fallen die anderen mit. Deshalb sind viele Bischöfe auch so nervös.
Doch können wir sicher sein: Langfristig werden alle Konzepte zerbrechen, die einen narrativ verantworteten Zugang zur Botschaft Jesu und deren Verantwortung vor der gegenwärtigen Menschheit blockieren. Ich denke an unsere machtorientierten Gottes- und Christusbilder, die dualistischen Theorien über Menschen und Heil, die Einteilung der Menschheit in eine herrschende (männliche) und dienende (weibliche) Hälfte. Für unsere Gegenwart verdunkeln diese Modelle mehr, als sie erhellen. Sie machen gerade nicht immun gegen die verlockenden Todfeinde einer jeden humanen Religion: Machtgewinn, Selbstüberschätzung, Menschenverachtung, Intoleranz und sakrale Magie. Ihre endemischen Folgen sind ein deprimierendes Menschenbild, Verachtung aller Körperlichkeit, Frauenverachtung, schwarze Pädagogik, Kontrolle der Sexualität sowie Misstrauen gegen allen Kampf für soziale, politische und persönliche Freiheit. Wer diese Mängel noch immer als Schönheitsfehler relativiert, erliegt nur dem Glanz auf den Schuppen der Schlange. Er beweist damit, wie blendend sich diese Ideologien hinter klugen Argumenten verstecken.
Deshalb sollten sich die Mitglieder des Synodalen Weges gut überlegen, wo die Fußangeln einer oberflächlichen Schein-Synodalität versteckt sind. Spiegeln ihre Dokumente wirklich eine unvoreingenommene Glaubenserfahrung und Theologie und wo arbeiten die klerikalen Scheren, die schon vorausgreifend Konflikte vermeiden möchten? Wir brauchen keinen „langen und mühsamen Weg“, wie Kardinal Marx meint, sondern ein konsequentes Reformkonzept sowie einschneidende Beschlüsse, die unsere Machterhalter und Opportunisten durch aufrichtige Frauen und Männer ersetzen. An Letzteren besteht in unserer Kirche kein Mangel.
Vielleicht hat Kardinal Marx das auch nach 12 Jahren noch nicht verstanden, weil er in seiner Kirche und ihren verrechtlichten Sakramenten noch immer eine Heilsgarantie entdeckt. Früher sprach man von der alleinseligmachenden Kirche. In seiner Reaktion erklärte Marx: „Es gibt keine Zukunft des Christentums ohne eine erneuerte Kirche!“ Dieses apodiktische Wort erschreckt mich, weil es die römisch-katholische Kirche erneut zur Bedingung des christlichen Glaubens hochstilisiert, als ob es keine anderen Kirchen und christlichen Gemeinschaften, keine anderen Religionen gäbe und als ob die Botschaft Jesu auf diese real existierende Kirche angewiesen wäre. Die aktuelle Austrittsbewegung muss nicht in einer spirituellen Katastrophe enden; sie kann auch zum Mutterboden neuer jesuanischer Inspirationen werden.
2. Webfehler Zölibat
Der Zusammenhang zwischen Zölibat und sexuellem Missbrauch ist umstritten, in manchen Gutachten wird er zurückhaltend „Begünstigungsfaktor“ genannt. WSW referiert die Positionen anderer, nimmt selbst aber keine Stellung. Doch im hinhaltenden, wenn nicht gar obstruktiven Verhalten der Bischöfe und Verantwortlichen spielt der Zölibat sicher eine systemische Rolle. Beim verwerflichen Umgang mit den Tätern hat (vom Kirchenrecht gedeckt) der damit verbundene Zölibatsbruch oft ein größeres Gewicht als das den Opfern zugefügte Verbrechen. Zudem begünstigt die (seit 1073 endgültig auferlegte) Koppelung von Priesterberuf und Ehelosigkeit schwere Defizite im Menschenbild und einem Frömmigkeitsideal, das oft zu toxischen Reaktionen führt.
Präsent sind noch immer die spätantiken, stoischen Vorbehalte gegenüber Leib und Leiblichkeit. Sie provozieren einen Machtkampf zwischen Leib und Geist und stilisieren ihn zu einer existentiellen Schlüsselerfahrung hoch. Vielfach führt der Kampf gerade junger Männer um eine harte sexuelle Selbstdisziplin zu einer unnatürlichen, gar verkrampften Konzentration auf die eigene Identität. Sie kann Mitmenschen (gleich welchen Alters und Geschlechts) zu Objekten der Begierde degradieren und umso begehrenswerter, weil zu willenlosen Objekten machen. Doch nicht nur die Übeltäter, auch ihre untadeligen Kollegen haben wohl mit dieser tabuisierten, verschwiegenen Faszination gekämpft und in der ständigen Triebkonfrontation eine unbewusste Solidarität mit den Tätern entwickelt; man kann nachfühlen, wie es den anderen erging. Ein verbrämter kollektiver Narzissmus ist die Folge. Je entschiedener man den Kampf besteht, umso offener kann man sich vor Gott belohnen mit den Privilegien dieser Elite und sich gegenüber „normalen“ Menschen überlegen fühlen. Die Opfer schrumpfen dann zum Betriebsunfall zusammen. Gemäß meiner Wahrnehmung wirken fünf Komponenten zusammen.
2.1 Kollektive Verunsicherung
In allen Männerbünden gewinnen sexuelle Beziehungen eine irritierende Aufmerksamkeit; sie werden streng kontrolliert oder unter Quarantäne gestellt. In zölibatären Männerbünden verdichten sich solche Mechanismen zu einer kollektiv herrschenden Atmosphäre, die in Missbrauchsfällen Täter und Verantwortliche miteinander verbindet. Im verdrängten Bewusstsein aller verwandeln sich die Begehrten zu lästigen und bedrohlichen Störenfrieden. Der Eigenwert der Opfer versinkt ins „Nichts und Sünde“ (Augustinus) und wie bei Alkoholikern können die Mitverschworenen der Gruppe in ihrem Mitgefühl zu Ko-Tätern werden. Entscheidend scheint mir zu sein, dass bei allen Sexualverbrechen auch die Verbündeten solidarische Schamgefühle entwickeln, die den Blick von den Opfern ablenken, weil sie sich nur noch mit sich selbst beschäftigen. Genau das ist beim „Vergessen“ der Missbrauchsopfer geschehen.
So führt die kollektive Verunsicherung zur kollektiven Verdrängung, Missachtung und Verachtung, wie schon in der Alten Kirche – je nach Kontext ‑ Eva oder die Frau als Pforte des Bösen beleidigt wurden. Angesichts solcher Erschütterungen wird ein nur geistlicher Missbrauch noch als respektvolles Verhalten erfahren, denn die anderen (so würde Ratzinger sagen), werden ja nicht körperlich berührt. In der Reaktion von Kardinal Marx ist die Fluchtbewegung vor diesem Kernproblem mit Händen zu greifen. Hätten die Bischöfe oder Verantwortungsträger irgendwann gelernt, ohne Sexualängste, also unbefangen, mit intimen Beziehungen umzugehen und hätten sie selbst Kinder um sich, dann hätten Duldung, Vertuschung und der anhaltende Widerstand gegen Aufklärung wohl nicht diese diabolischen Ausmaße annehmen können. Deshalb müssen sich die verantwortlichen Ko-Täter ausnahmslos einer Therapie unterziehen, bevor sie zu einer authentischen und öffentlich glaubwürdigen Stellungnahme überhaupt fähig sind. Ihre aktuelle Inkompetenz ist offensichtlich.
2.2 Überhöhung des Kirchenbildes
Hinzu kommt die grenzenlose Übersteigerung des (wie Luther 1539 sagte) „blinden und undeutlichen“ Worts Kirche. Die Alte Kirche wusste noch um die Ambivalenz ihrer Kirchenwirklichkeit. Sie galt als sichtbar und unsichtbar, als heilig und sündig zugleich; der spätere Ausdruck „Kirche der Sünder“ wirkt dagegen harmlos, weil (Kardinal Ratzinger legt darauf Wert) nicht die Kirche, sondern nur ihr Mitglieder sündig werden können. Ambrosius sprach dagegen drastisch von der keuschen Hure.[6] Doch seit der Reformation rückte der Katholizismus immer einseitiger seine klerikalen (juridischen, doktrinalen und sakralen) Funktionen in den Mittelpunkt; eine Funktionsteilung zwischen den Geweihten und den Profanen setzte ein. Jetzt wurde die Kirche der Kleriker zur moralisch vorbildlichen Anstalt; man ertrug die Ambivalenz des normalen Lebens nicht mehr. Immer exklusiver nahm der (bischöfliche) Klerus die belehrende, leitende, heilige Seite der Kirche in Anspruch, um die Laienschaft den heilsbedürftigen Abgründen ihres Lebens zu überlassen.
Leitstern der neuen Kirchenloyalität waren die ignatianischen Regeln zur kirchlichen Gesinnung (um 1535). Gleich zu Beginn erklären sie, wir müssten gehorchen „der wahren Braut Christi, unseres Herrn …, die da ist unsere heilige Mutter, die hierarchische Kirche“. (353) Später wird auch zu Recht und Lehre Klartext gesprochen: „Was meinen Augen weiß erscheint, halte ich für schwarz, wenn die hierarchische Kirche so entscheidet, im festen Glauben, dass in Christus unserem Herrn, dem Bräutigam, und in der Kirche, seiner Braut, derselbe Geist wohnt …“ (365). Wird hier der Intellekt geopfert? Nach 1860 wurde sogar die kritische reflektierende Theologie vom Lehramt ausgeschlossen; die belehrende Klasse war endlich unter sich. Jedenfalls entfalteten im katholischen Reformeifer solche Sätze eine fatale Tiefenwirkung. Manch ein Kirchenherr handelt diese Regeln noch als bare Münze. Andere mildern sie vielleicht ab. Eine klare lehramtliche Distanzierung konnte ich bis heute nicht finden. Die wachsende, von außen anstürmende Kirchenkritik bewirkte ein Übriges: Rückzug in die eigene traditionsgeschützte Welt, vielleicht ins Schneckenhaus, sowie ein wachsendes Unverständnis für alles, was in Wissenschaft, Kunst und Kultur vor sich ging. Religionsfeindliche politische Entwicklungen verschärften diesen Trend.
Wenn sich aber die Konflikte zwischen Selbsterfahrung und Wirklichkeit ins Unerträgliche verstärken, so die Psychoanalyse, dann wird die Wirklichkeit durch Wörter ersetzt. Sie schieben sich wie ein Vorhang vor die Wirklichkeit, die man nicht mehr versteht.[7] So begann vor etwa 80 Jahren die antike Kirchenmetaphorik ins Unkontrollierbare zu explodieren. Dies zeigt sich beim französischen Theologen Henri de Lubac (1896-1991), der mit Joseph Ratzinger eng befreundet war und von Papst Franziskus hoch verehrt wird. Er saugt die spätantike Symbolwelt geradezu auf, um allen Widerspruch der empirisch orientierten Moderne wie an einer Gummiwand abblitzen zu lassen. In seiner höchst erfolgreichen, auch in Deutschland viel gelesenen, in Exerzitien und geistlichen Vorträgen reich verbreiteten „Betrachtung über die Kirche“[8] findet diese Kulmination ihren Höhepunkt.
In Übernahme altkirchlicher Symbolwelten spricht er davon, dass die hierarchische Kirche uns in ihrem mütterlichen Schoß versammelt. Sie macht(!) die Eucharistie, die zu verwalten das höchste Vorrecht der Hierarchie ist. Christus und Maria verhalten sich wie Bräutigam und Braut. Die Kirche ist eine Mutter: keusch, fruchtbar, ehrwürdig, geduldig, achtsam, liebend, brennend, weise, schmerzensreich, stark und unerschrocken, von uns allen zu preisen. Sie flößt uns einen lauteren Glauben ein. Sie ist eine lebendige Arche, ein fleckenloser Spiegel für das Wirken Gottes. Ihr Andenken ist süßer als Honig und wer sie hört, wird niemals zuschanden. „O du Große Mutter! Heilige Kirche, wahrhaftige Eva, einzig wahre Mutter der Lebendigen“ (248-250). Diese Vorstellungswelt wirkt abgehoben und schwebt über aller Realität. Aber sie entlastet von jedem Bezug zur lästigen Wirklichkeit. Vor solchem Glanz sind die Kleriker, von Gott gerufene Repräsentanten, bereit, sich einem unbarmherzigen Reinheitsgebot zu stellen, das kein kritisches Wort mehr zulässt. Unvorstellbar, wie fatal eine solche Sprache neuerdings wieder auf zölibatäre Männer zumal in Lebensphasen wirken muss, in denen sie ihren Weg noch suchen. Ich wüsste nicht, wie unsere Bischöfe sich diesem Sog entgegenstellen könnten.[9]
2.3 Unfähigkeit zum Konflikt
Mit diesem weltfern illusionären, zugleich selbstgerechten Kirchenbild hängt wohl auch die Unfähigkeit vieler Bischöfe und anderer Verantwortungsträger zusammen, innerhalb der Kirche mit Konflikten umzugehen. In dieser heiligen Welt haben Auseinandersetzungen keinen Platz und demokratische Modelle wirken destruktiv, denn der Vorgesetzte verleiblicht eine göttliche Ordnung, die den Frieden und das Heil realisiert. So werden Konflikte, die nach außen dringen, nach Möglichkeit ausgeschieden oder ignoriert. Das gilt auch für die Missbrauchsopfer, denn sie werden zur Anklage der Kirche, deren Heiligkeit doch nicht zu beflecken ist. Wo sich aber solche Konflikte nicht abwimmeln lassen, werden sie autoritär, d.h. ohne seine sachgemäße Verarbeitung entschieden. Statt die zahllosen, ihm bekannten Missbrauchsfälle aufzuarbeiten, vollendete Papst Benedikt XVI. an freigeräumten Nachmittagen lieber seine hochtheologischen Bücher; warum ist er nicht Theologe geblieben? Nicht den weltlichen Opfern, sondern dem vergöttlichten Kirchenideal gilt das letzte Wort. Nicht das Lazarett, sondern das hehre Kirchenlob war seine Welt.
2.4 Traumatische Erfahrungen
Hinzu kommt, dass viele Bischöfe noch die traumatischen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und dem Regime der DDR in sich tragen oder die Emotionen und Deutungen ihrer Vorgänger übernehmen. Es war eine Kirche, die immer wieder mit wirklichen und böswillig unterstellten Fehltritten geschmäht und erpresst wurde; das hat das eigene Unrechtsbewusstsein minimiert. Es gab selbst Bischöfe, die in Angst vor gefährlichen Enthüllungen aus ihrer eigenen Biografie lebten. Geblieben ist ein spontanes, vor-reflektiertes Misstrauen gegen alle öffentliche, als unchristlich gebrandmarkte Kritik. Bestimmte Verdrängungsmechanismen lassen sich in Berichten von Benedikt XVI. über den Faschismus ebenso entdecken wie in Erinnerungen solcher, die den ersten oder zweiten Kirchenkampf erlebten. Die Überzeugung, dass nur die eigene Kirche bestimmte Werte hütet, setzt sich als Kernerfahrung fest und überrollt die eigenen Untaten. Diese Wagenburgmentalität (Graf), die sich schon verteidigt, bevor sie angegriffen wird, ist allgegenwärtig.
2.5 Unwürdigkeitskomplex
Ein fünfter Faktor rundet die Symptomatik des Versagens ab. Die leitende Kirchenelite ist in strengste Gehorsamsregeln eingeübt, schließlich hat man nicht sich, sondern eine geheiligte, über alles erhabene Institution zu vertreten. In Grenzfällen ist Nichthandeln deshalb besser als ein falsches Handeln. Was aber tun, wenn in dieser allwissenden Institution die Anweisungen ausbleiben? Wie wir wissen, werden viele Bischofskarrieren von Erfahrungen des Ungenügens, der „Unwürdigkeit“ begleitet. Die Betroffenen erklären, das mache sie „demütig“. Doch diese Demut ist heteronom geprägt: Man sieht seine Ernennung als unverdiente Gnade und hofft, dass die Amtsgnade das eigene Ungenügen ausgleicht. Wo aber soll sie herkommen, wenn mich ein Missbrauchsfall hilflos macht? Von Joseph Ratzinger wissen wir, wie er sich bei der Bischofsweihe fühlte, als er beim Weiheritus (der Priesterweihe vergleichbar) ausgestreckt, sozusagen willenlos auf dem Boden lag. Wem lieferte er sich da aus? Dem Heiligen Geist oder dem kirchlichen Regime? Bei diesem Akt erschien ihm „das brennende Gefühl des Ungenügens, der eigenen Unfähigkeit vor der Größe des Auftrags noch stärker als bei der Priesterweihe“.[10] Bei dieser Grundstimmung muss die Auseinandersetzung mit so unangemessenen, unkirchlichen, „schmutzigen“ Dingen wie einem sexuellen Missbrauch geradezu Fluchtreflexe hervorrufen. Es ist die notwendige Folge eines Amtsverständnisses, das ebenso überzogen ist wie das geheiligte Selbstbild der Kirche.
Diese fünf genannten Faktoren führen uns zu einem deprimierenden Ergebnis:
(1) ein unbearbeitetes Verhältnis zur Sexualität, das bei Missbrauchsfällen zu Fluchtreflexen führt,
(2) ein überhöhtes Kirchenbild, das nicht mit Verbrechen und Opfern sexueller Art umgehen kann,
(3) eine Konfliktunfähigkeit, die spontan alles Beunruhigende ausschließt,
(4) traumatische Erinnerungen, die jede Kritik von außen abschneidet, sowie
(5) das Gefühl eines prinzipiellen Versagens, das den Mut zu einem konsequenten Handeln blockiert.
Wohlgemerkt, ich belege hier keinen Bischof mit individuellen Vorwürfen; jeder muss selbst wissen, wie er mit dem kollektiven Versagenskomplex und den Missbrauchsfragen umgeht. Doch mit diesen kollektiven Vorprägungen sollte sich jeder auseinandersetzen. Hätten wenigstens einige Bischöfe und Verantwortungsträger schon früher offen über solche Dispositionen geredet, vielleicht ihre wachsende Verwicklung in diese Duldungsstrukturen zugegeben, dann wäre uns mancher Skandal erspart geblieben. Die Bekenntnisse des Augustinus hätten ihnen als Vorbild dienen können.
3. Schritte der Erneuerung
Angesichts dieser kaum lösbaren Verstrickung können nur tief eingreifende Strukturänderungen und Personalentscheidungen weiterhelfen. Sie setzen allerdings voraus, dass die systemischen Mechanismen kirchlicher Verdrängung, Selbstbeschönigung und Selbstverteidigung auch mental aufgegeben und überwunden werden. In Sachen Missbrauch hat die katholische Kirche Deutschlands ihre Fähigkeit zur Selbstheilung verspielt und vermutlich ist die aktuelle Katastrophe nur das Symptom für weiteres Versagen, das allmählich ans Licht kommt. Niemand kann die Bischöfe zur Selbstentmachtung zwingen. Sie müssen sich allerdings klar darüber sein: Langfristig wird ihre Mentalität zum geistigen Bankrott führen. Künftig wird sie in ihren Kernaufgaben versagen, gerade wenn sie den Weg der radikalen Selbstkorrektur vermeiden will. Deshalb scheinen mir folgende Schritte unumgänglich.
3.1 Die Aufarbeitung des massiven Unrechts an den Opfern und der Versuch, ihre Würde wieder herzustellen, sind unmittelbar staatlichen Instanzen zu übergeben, damit diese ihre rechtlichen, sozialen und psychologischen Ressourcen zum Wohl der Opfer einbringen.
Dazu gehören angemessene Untersuchungen sowie angemessene Bestrafungen von Tätern, Duldern und derer, die bislang eine Aufarbeitung und angemessene Wiedergutmachung behindert haben. Die nötige Arbeit kann in Kooperation mit, aber nicht unter der Leitung von kirchlichen Stellen geschehen. Die existierenden Selbsterfahrungs- und Selbsthilfegruppen sind angemessen zu beteiligen. Die unmittelbare, jeweils individuelle Zuwendung zu den Opfern ist konstitutiv; auch hier sind die Unabhängigkeit der staatlichen Stellen und die Einhaltung professioneller Standards zwingend. Die rechtliche und disziplinarische Beurteilung von betroffenen Bischöfen und verantwortlichen Personen ist unverzichtbar. Gegebenenfalls ist die Wiedergutmachung mit einer „Wahrheitskommission“ zu begleiten, die eine öffentliche Diskussion initiiert und steuert.
Diese Arbeit ist unabhängig von den innerkirchlichen Reformaktivitäten voranzutreiben.
3.2 Unabhängig von der gebotenen vielschichtigen Aufarbeitung gemäß 3.1 ist der Pflichtzölibat wegen erwiesener Sinnwidrigkeit – aus menschenrechtlichen und spezifisch christlichen Gründen ‑ ab sofort aufzuheben.
Diese Lebensform, Menschen als Pflicht auferlegt, ist biblisch, anthropologisch oder kulturell nicht begründbar und wegen ihrer toxischen Nebenwirkungen zu verurteilen. Der hohe Respekt vor einem freiwillig zölibatären Leben wird dadurch nicht berührt, ebenso wenig das Leben von Frauen und Männern in Orden, Säkularinstituten oder Klöstern. Dieser Schritt wird die Prävention gegen zukünftige Übergriffe wesentlich erleichtern.
3.3 Angesichts des kollektiven bischöflichen Versagens von wenigstens 12 Jahren sowie ihrer vielfach beschriebenen kollektiven Verstrickung in zahllose (entdeckte und unentdeckte) Fälle müssen die Bischöfe geschlossen zurücktreten.
Dafür gibt es zwingende moralische, juridische und institutionelle Gründe. Moralisch gesehen haben die Bischöfe die Chancen eine Wiedergutmachung auf Grund ihres individuellen Verhaltens verspielt Außerdem sind die ungezählten Missbrauchsverbrechen als ein kollektives Phänomen zu betrachten. Schließlich gibt es keinen anderen Weg, um die ideologischen Grundlagen dieses Dauerskandals zu durchbrechen. Ein moralischer und mentaler Neubeginn muss sichtbar dokumentiert werden.
3.4 Zukünftig sind die Bischöfe für einen bestimmten Zeitraum zu wählen. Bei einer Bischofswahl müssen die nicht ordinierten Kirchenmitglieder (Kirchengemeinden und kirchliche Gemeinschaften) konstitutiv und glaubwürdig mitwirken.
Erste Vorschläge zur Bischofswahl wurden schon in den 1960er Jahren geäußert. Neuerdings schlägt Bischof Schick eine Amtszeit von sieben Jahren vor. Die Wiederwahl und die Möglichkeit einer vorzeitigen Abwahl aus schwerwiegenden Gründen muss möglich sein. Bei einer Bischofswahl sind die Gemeinden und zugehörigen Gemeinschaften angemessen zu beteiligen.
3.5 Letztlich wurden die bisherigen Blockaden von einem vormodernen theologischen Paradigma legitimiert und durch eine vormoderne Kirchenstruktur begünstigt. In einer ersten Stufe sind deshalb die elementaren Grunderkenntnisse der Reformation (biblisch orientierte Amts- und Sakraments- und Herrschaftskritik Justierung der Heiligen- und Marienverehrung, Kritik der Fiskalisierung) zu übernehmen. In diesem Sinn muss die römisch katholische Kirche ökumenisch werden.
Die Kirchen der EKD, deren Ämter und Abendmahlfeiern sind vorbehaltlos anzuerkennen, ihr theologisches Denken entschieden in katholische Visionen zu integrieren.
Die katholische Kirche hat ihre Versprechen des 2. Vatikanum endlich einzulösen und endgültig Abschied zu nehmen von der zutiefst selbstgerechten Scheinökumene, die sich seit 1965 in offiziellen Kirchengremien entwickelt hat. Ohne eine selbstkritische ökumenische Annäherung und ohne einen dialogisch offenen Umgang mit ihrer Theologie und Kirchenpraxis ist keine katholische Reform möglich.
3.6 Angesichts ihres desolaten Zustands in Deutschland muss die römisch-katholische Kirche alle offensichtlichen Fehlentscheidungen der vergangenen Jahrzehnte ins öffentliche Gedächtnis rufen, zu diesen Fehlern stehen sowie die Sanktionen gegen Positionen und Personen in aller Form revidieren.
Seit antireformarischer Zeit hat sich die römisch-katholische Kirche in Angelegenheit der Lehre und der Disziplin jedes Unrechtsbewusstsein verboten. In entscheidenden Angelegenheiten, so ihre Behauptung, werde sie untrüglich vom Heiligen Geist geleitet (vgl. Kirchenkonstitution 25). Diese Theorie ist zu korrigieren. Nur so gewinnt sie einen selbstkritischen Blick zurück, um für die Gegenwart wieder handlungsfähig zu werden. Sie muss die befreiende Erfahrung solcher Korrekturen erleben, um selbst korrekturfähig zu werden.
3.7 Der Staat hat das Recht und die Pflicht, das hohe Maß an kirchlicher Selbstverwaltung und Rechtsprechung nach Maßgabe der allgemeinen Rechtslage zu begrenzen.
Das Konzept der „hinkenden Trennung“ ist neu zu justieren, die rechtliche Behandlung von Straftaten vollumfänglich einer staatlichen Justizkontrolle zu unterwerfen. Gegebenenfalls ist dies durch die Änderung der bestehenden Staatskirchenverträge zu erreichen. Die Verhandlungen sind unverzüglich einzuleiten.
3.8 Zu einer konsequenten Aufarbeitung vergangener Missstände gehören
- nicht nur der sexuelle Missbrauch Jugendlicher und Heranwachsender,
- sondern auch der sexuelle Missbrauch von erwachsenen Frauen und Männern, die in geistiger oder materieller Abhängigkeit von Klerikern leb(t)en, sei es in Klöstern, sonstigen Anstalten oder in Pfarrhäusern,
- das verbreitete Phänomen der geistlichen Übergriffe und des geistlichen Missbrauchs in Klöstern und geistlichen Gemeinschaften, in Beichtstühlen und der allgemeinen Seelsorge. Dazu gehören auch weitere Formen des Sexismus, insbesondere der Homophobie und Diskriminieren von anderen queeren Lebensformen,
- die grassierende, private Sphären missachtende Kontrollsucht von Frauen und Männern in der Seelsorge, der Pflege, der pädagogischen und sozialen Arbeit sowie der theologischen Lehre,
- der (oft unausgesprochene) Rassismus gegenüber nichteuropäischen Personen, die bei uns studieren, in der Seelsorge oder Pflege tätig sind.
Auch diese Missstände verdienen Aufmerksamkeit, weil sie eng mit dem Gefühl einer klerikalen oder europäischen Superiorität verknüpft und in sublimer Weise wirksam sind.
3.9 Die Prinzipien einer synodalen Gemeinschaft sind konsequent durchzusetzen. Deshalb müssen die Reformen vor Ort beginnen. Das römische Einheitsmodell ist im Sinne selbstverantwortlicher Gemeinden und einer versöhnten Vielfalt zu revidieren; Konflikte mit Rom sind in Kauf zu nehmen und selbstbewusst zu regeln.
4. Visionen
Sind diese Forderungen nicht utopisch? Sie mögen es sein, doch diesen Weltverband, insbesondere ihren westeuropäischen Sektor kann nur noch eine Utopie verändern. Wer ihr nicht folgt, trägt an der schleichenden Auszehrung Mitschuld; angesichts eines Zeitversäumnisses von mindestens 12 Jahren hat jetzt zu handeln, wer die Opfer nicht noch einmal verraten will. Gegenwärtiges Warten kommt einer billigen Vertröstung gleich. Wer sich jetzt noch auf die Ankündigung von Reformen, Wiedergutmachungen und innerkirchlichen Sanktionen beschränkt, sich auf langfristige strukturelle Änderungen beruft und Kommissionen für deren Konzeptionen einsetzt, handelt in den Augen der Betroffenen und vieler Engagierter skandalös. Die habituelle Nabelschau der vermeintlichen Selbstsäuberung führt uns nicht weiter.
Natürlich lässt sich auch das ganze Ausmaß der Katastrophe als Folge eines (narzisstischen) Machtspiels begreifen, deshalb spielt auf dem Synodalen Weg die Auseinandersetzung mit ihm eine zentrale Rolle. Doch hilft zur Verbesserung konkreter Verhältnisse eine formale Machtanalyse nicht weiter. Macht als solche gibt es nicht. Um es mit einem Beispiel zu sagen: Einem absoluten Fürsten kann man mit hoher Dringlichkeit nahelegen, menschenfreundlicher und aufgeklärter zu handeln, doch seinen Machtanspruch wird das nicht ändern. Es liegt völlig in seinem Belieben, ob er sich an diesen Ratschlag hält oder Gründe für eine neue Willkür findet; dasselbe gilt für die katholische Hierarchie. Wer Machtverhältnisse wirksam analysieren und überwinden will, hat deshalb die konkreten strukturellen und ideologischen Bedingungen zu ändern, die bestimmte Machtverhältnisse ermöglichen und stabilisieren. Der Karl-Marx-Kenner Reinhard Marx müsste das besser wissen als der Papst und seine übrigen Kollegen im bischöflichen Amt. Umso erstaunlicher ist es, dass er diese Folgerung noch immer nicht zieht und sich stattdessen auf ein breites Spielfeld geplanter Reformansätze begibt. Er sollte nicht vergessen: „Ein Gespenst geht um in der katholischen Kirche ‑ das Gespenst ihres geistigen Bankrotts“.
Es entspricht katholischer Mentalität, Probleme und deren Lösungen zu personalisieren, umgekehrt die Enttäuschungen auf Sündenböcke (im Augenblick: Joseph Ratzinger) zu projizieren. Ebenso verfehlt ist die Hoffnung, eine erneuerte römisch-katholische Kirche könne das Zentrum christlicher Heilsvermittlung bleiben. Leonardo Boff sprach schon 1985 von der katholischen „Grundpathologie“, die in der „Verabsolutierung und Ontokratisierung [= Verdinglichung]“ dieser Vermittlung besteht. Diese Kirche neige dazu, an die Stelle Christi zu treten.[11] Kardinal Ratzinger, der Boff wegen dieser Position ein „Bußschweigen“ auferlegte, hat diese Pathologie im berüchtigten Dekret Dominus Iesus verteidigt. Im Vergleich zu Mitgliedern der katholischen Kirche, so die Behauptung, befinden sich alle anderen Menschen „objektiv in einer defizitären Situation“ (Nr. 22). Vermutlich wagen viele Bischöfe es nicht, dieser Position zu widersprechen.
Dagegen bringe ich hier eine dritte Neigung dieser Kirche ins Spiel. Es ist ihre globale Neugier und die stete Bereitschaft, sich – trotz häufigen Widerstands von Rom – einzulassen auf die Herausforderungen und Fragen aller Nationen und Kontinente, aller Kulturen und sozialen Schichten, aller Spaltungen in Interessengruppen, Geschlechter und Religionen. Langfristig besteht unsere Rettung nur in Visionen, deren Sprache, Vorstellungswelt und Praxis den traditionellen römischen Monopolanspruch sprengen und die Versöhnung der Starken mit den Schwachen, der Bestimmer mit den Ausgeschlossenen, der Religionen untereinander und mit den Säkularen ins Zentrum rücken, weil sie sich alle nach einer menschenwürdigen gemeinsamen Zukunft sehnen. Eine Kirche entwickelt nur dann ein gesundes und förderliches Selbstverhältnis, wenn sie endlich ihr Zweiklassenprinzip, ihre Männerherrschaft und ihren grässlichen Narzissmus überwindet und den unberechenbaren Charismen Raum bietet. Deshalb sollte sie ihr Unrecht an den Entwürdigten nicht mit dem Ziel wieder gut machen, ihre eigene Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen, sondern um die Geschändeten drinnen und draußen wieder zu Menschen zu machen.
Für dieses Heil der Welt kann sie höchstens einen Dienst unter anderen Diensten leisten. Deshalb muss sie ihre Eigeninteressen endlich vergessen, sich von ihren Verkrampfungen lösen und in der Sache Jesu aufgehen. Eine solche Vision, die sich vielfach konkretisieren lässt, überschreitet die kirchlichen Innenziele und die ökumenischen Zielvorgaben um ein Vieles. Doch nichts davon duldet Aufschub, denn das Reich Gottes ist da. Deshalb haben wir – innerhalb und außerhalb dieser Kirche – auf vielen Ebenen gleichzeitig das Notwendige zu tun und das Schändliche zu unterlassen, so wie in einem Lazarett alle Verzweiflung, alle Wunden und Todeskämpfe zugleich zu heilen sind. Nur so wird Gottes Name geheiligt. Das ist nicht wenig, aber es trägt seinen Lohn in sich.
Amerkungen
[1] Sexueller Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker sowie hauptamtliche Bedienstete im Bereich der Erzdiözese München und Freising von 1945 bis 2019 – Verantwortlichkeiten, systemische Ursachen, Konsequenzen und Empfehlungen.
[2] Genannt werden (1) Klerikalismus, (2) Angst sowie Hilf- und Sprachlosigkeit, (3) Kirchliches (Straf-)Recht, (4) (Erwachsenen-)Homosexualität unter Klerikern, (5) Auswahl der Führungsverantwortlichen und Sachkompetenz, (6) Zuständigkeits- und Kompetenzordnung sowie Aufbau- und Ablauforganisation, (7) Kontrolle und Rechenschaftspflicht, (8) Aktenführung und Transparenz, (9) Fehlender interdisziplinärer Austausch.
[3] Kirchenkonstitution 10
[4] Auf dem 2. Vatikanum hat sich Paul VI. gegen dieses Prinzip mit einer offiziellen „Erläuterung“ durchgesetzt, die später als Anhang zur Kirchenkonstitution veröffentlicht wurde. Dies war eine der Kompromisse, die das Konzil notgedrungen akzeptierte, ohne in aktiv zu bestätigen. Die Folgen sind bis heute noch nicht ausgestanden.
[5] Norbert Lüdecke, Die Täuschung, 2021
[6] Der Begriff wurde z.B. von Leonardo Boff, Hugo und Karl Rahner ausgegriffen und taucht am 28.03.2021 in einer erfreulichen Predigt des Augsburger Bischofs Bertram Meier wieder auf.
[7] Vgl. Norman O. Brown, Life against death: the psychoanalytical meaning of history, 1959, zitiert in Leonardo Boff, Kirche: Charisma und Macht, 1985, S 83.
[8] Die letzte deutsche Ausgabe erschienen unter dem Titel. Die Kirche. Eine Betrachtung, 1968.
[9] Ein Blick auf die Themen von Dissertationen und Habilitationen der deutschen residierenden Bischöfe weist auf eine konservativ-kirchliche Schlagseite hin. Präsent sind mehrere Untersuchungen zu griechischen Theologen der Alten Kirche und zu Augustinus, ferner zu Balthasar, Blondel und de Lubac, zu Guardini und Przywara, zu Transsubstantiation, kirchlichem Handeln und Kirchenrecht. Nur eine Arbeit hat sich mit einem Vertreter der evangelischen Theologie, nämlich W. Pannenberg, auseinandergesetzt.
[10] Peter Seewald, Benedikt XVI., 594.
[11] Boff, 156.