Wird sich die römisch-katholische Kirche in Deutschland bewegen? Ihre Bischofskonferenz leitet zusammen mit dem ZdK einen „verbindlichen synodalen Weg“ ein. Dessen Gestaltung ist noch offen und ungeklärt die Frage, welchen Einfluss dabei „das Volk“ überhaupt nehmen kann, denn gemäß Kirchenrecht behalten die Bischöfe das alleinige Beschlussrecht. Statt diese Frage zu klären, bereiten die Bischöfe vorsorglich schon vier Themenkreise zu klerikaler Macht, Sexualmoral, priesterlicher Lebensform und zur Stellung der Frau vor. Klar scheint zu sein, dass man das Fiasko des „Gesprächsprozesses“ (2010-2015) nicht wiederholen will und Maria 2.0 den Druck massiv erhöht hat.
1. Abstrakte Belehrungen und Warnungen
In die erwartungsvoll gereizte Stimmung platzte ein Brief, den Papst Franziskus an das „pilgernde Volk Gottes“ in Deutschland richtete; die „Hirten“ bzw. „Oberhirten“ gehören nicht dazu [Einl., 5, 12] und gut klerikal ist der Brief auf den 29. Juni, das Fest der Apostelfürsten datiert. Man mag sich füglich streiten, ob der Papst den Brief selbst geschrieben hat. Diesem Text fehlen die Frische und Direktheit zahlreicher anderer Schriften aus päpstlicher Hand. Außerdem ist es der Papst nicht gewohnt, passagenweise sich selbst zu zitieren. Er würde wohl kaum von „Leitkriterium“ [6] und „kirchlicher DNA“ [11] sprechen oder den Sensus Ecclesiae so eng auf das 2. Vatikanum beziehen [9]. Schließlich argumentiert Franziskus in der Regel konkret und anschaulich, oft mit erfrischenden Beispielen gewürzt. K. Mertens SJ schließt auf die Ermüdung des Papstes, R. Löbbert auf einen deutschsprachigen Ghostwriter, wofür manche inhaltliche Finesse spricht. Ganz sicher kam der Papst nicht selbst auf die Idee, in einem Augenblick zu intervenieren, in dem sich weder Fisch noch Fleisch herauskristallisiert haben. Am meisten irritiert eine andere Beobachtung: Die brennenden Fragen des Augenblicks, die das katholische Gottesvolk weltweit in Enttäuschung und Wut versetzen, werden auch nicht in einem Nebensatz genannt.
Gewinnen wir zunächst einen ersten Eindruck: Der Brief belässt es bei recht allgemeinen Belehrungen, Ermutigungen und Warnungen, für die es keines eigenen Schreibens bedurft hätte. Zudem stellt er fest, die Fragestellungen der gegenwärtigen Zeitenwende seien mit unseren Hirten schon besprochen [Einl.], die katholischen Gemeinden Deutschlands stünden gut da und die Ökumene habe 2017 Früchte getragen [1]. Doch unbestreitbar sei ein Verfall des Glaubens [2]. Die Synodalität verlaufe zunächst von unten nach oben, dann aber setze sie sich von oben nach unten fort und erfordere einen langen Reifungsprozess [3]. Dabei stehe immer die Versuchung zu komplizierten Argumentationen, Analysen und Lösungen ins Haus, die uns von der „Begegnung mit dem treuen Volk und dem Herrn“ fernhalten [4].
Deshalb solle man sich nicht auf die „Reform von Strukturen, Organisationen und Verwaltung“ konzentrieren und sich die Dinge neu zusammenbasteln, das führe zu einer seelenlosen Verweltlichung [5]. Nicht Prognosen und Berechnungen, sondern die göttlichen Tugenden müssten einen Wandlungsprozess herbeiführen [6], denn der Anpassung an den Zeitgeist stehe der „Primat der Evangelisierung“ gegenüber [7]. Jetzt endlich, so der erste Eindruck, ist die Botschaft ganz bei Franziskus: Wir müssen zu den „Schwellen unserer Kirchentüren“ gehen. Straßen, Gefängnisse und Krankenhäuser, öffentliche Plätze sind der Ort des Evangeliums, weil dort das Leben der Menschen pulsiert. Genau dort kann die Kirche die wahren Zeichen der Zeit erkennen [8]. Die Gedankenführung ist, wenn man so will, zu einem konkreten Ziel aufgestiegen, und wer wäre nicht bereit, auch in Deutschland daraus die Konsequenzen zu ziehen.
Doch dann ändert sich die Perspektive, denn unversehens stehen nicht mehr das Evangelium und die Nähe zu den Menschen im Mittelpunkt, sondern der gesamtkirchlich institutionelle Konsens. In Zeiten starker Fragmentierung seien das Leben und Empfinden mit der Gesamtkirche, der Sensus Ecclesiae, zu pflegen. Er erinnere an die Schönheit der Kirche und wir sollten nie vergessen, dass wir wesentlich Teil eines größeren Leibes sind [9]. Auf keinen Fall dürfe die Gemeinschaft der Gesamtkirche bedroht werden. Zu vermeiden sei jede Spaltung, die von einer vermeintlich erleuchteten Gruppe ausgehe, den Leib der Kirche zerstückle, dem Vater der Lüge diene [10] und übersehe, dass das Ganze mehr sei als seine Teile [11]. Wir hätten uns von „falschen und sterilen Protagonismen“ abzuwenden und uns von der endlosen Spirale der Selbstrechtfertigung zu lösen [12]. Doch der Geist Christi erlaube uns einen Neubeginn [13].
Die ersten Reaktionen auf den Papstbrief waren auffallend uneinheitlich. Die Optimisten lobten die vielen ermutigenden Worte, die Kritiker gaben sich enttäuscht. Gemäß dem Presseecho verstehen viele Bischöfe und einige Laienverbände den Brief als eine Ermutigung; man sieht sich auf dem geplanten Weg bestätigt. Zurückhaltender erklärt der Kölner Kardinal Woelki, der Papst beschönige nichts. Bischof Genn aus Münster erwartet Auseinandersetzungen und laut dem Generalvikar von Regensburg kann es kein „weiter so“ geben. Viele beklagen, dass der Brief kein klares Thema gefunden hat. Andere betonen, dass der Papst sich zurücknimmt und einfach unterstützen will.
2. Zwiespältiger Eindruck
In der Tat enthält der Brief viele positive Passagen: Anerkannt werden Engagement und Leistungen der deutschen Gemeinden, die theologische Arbeit und die ökumenischen Aktivitäten [1]. Ermutigt wird zu einem „gesunden aggiornamento“ [3] und anerkannt wird, dass auch das Evangelium zu Spannungen und Ungleichgewichten führen kann [5]. Wir sollten die Dinge werten, hinhören, auswerten und beachten, das Evangelium leben [6], den Weg der Jüngerschaft gehen und die Freude am Evangelium wiedergewinnen [7], deshalb – wie schon gesagt ‑ zu den Menschen hinausgehen [8], die Vielfalt von Welt und Kirche aufgreifen und die Eigenbrötelei aufgeben [9]. Dazu gehören auch Beten und Fasten sowie die Erinnerung an die Kenosis Christi [12]. Schließlich endet der Brief mit dem Sendbrief der Geheimen Offenbarung an die Gemeinde von Ephesus, der von Standfestigkeit und all dem spricht, was die Gemeinde im Namen des Herrn durchgestanden hat [13]. Allerdings bleibt unklar, wer heute damit gemeint ist.
Dennoch kommt der Brief zu einem höchst zwiespältigen Ergebnis, denn keine Ermutigung kann so richtig überzeugen. Die ökumenischen Erfolge von 2017 waren alles andere als berauschend, das weiß auch der Papst [1]. Den Kern der Synodalität stellt er durch ihre Doppelung in zwei Bewegungen auf den Kopf [3]. Der Blick auf die Reformanstrengungen führt zur Warnung vor zu viel Gerede und Argumentation [4] und mal wieder wird die vermeintliche Häresie des Pelagianismus ins Feld geführt, den (a) niemand versteht, der (b) den aufrichtigen Mönch Pelagius schon damals falsch interpretierte und der (c) in der Kirchengeschichte je nach Bedarf als Totschlagargument gegen allzu fordernde Reformen bemüht wurde. Dies klingt genauso zynisch wie die Unterstellung einer seelenlos technokratischen Flickschusterei [5]. Im folgenden Paragrafen taucht schließlich der Verdacht auf, die Reformer nähmen Jesu Hingabe am Kreuz nicht ernst, ferner würden sie sich an „Prognosen“ und „Berechnungen“ verkaufen [6] und sich an den Zeitgeist anpassen. Das alles führt gemäß der Amateurpsychologie des Briefes zu Apathie, Bitterkeit, Kritiksucht und Traurigkeit [7].
Man ist ratlos, denn selbst diese Warnungen verraten kein umfassendes Konzept; sie kommen abstrakt und in einer recht willkürlichen Auswahl daher. Was haben z.B. Pelagianismus und Apathie, intellektuelles Gerede und Technokratie mit dem geplanten Weg zu tun? Vielleicht haben solche Ermahnungen ihren Platz in einem Ausbildungsseminar für pastorale Funktionäre, kaum aber in der Planung einer synodalen Aktion, bei der den Betroffenen das Wasser am Halse steht.
Bei einer zweiten Lektüre wird mir diese irritierende Lücke zum Ärgernis. Der Brief umreißt weder die aktuelle Krise noch nennt er die möglichen Adressaten; die Betroffenen kommen nicht vor. Setzt sich Franziskus auseinander mit verbitterten reformgesinnten „Laien“, denen er Pelagianismus vorwirft, mit klugen Theologinnen und Theologen, die er des Gnostizismus verdächtigt und zugleich überschüttet mit den giftigen Unterstellungen der Ruhmsucht, Eitelkeit und Verfälschung des Gotteswortes, zielt er auf die uneinsichtigen und widerstrebenden Bischöfe oder auf die Lethargischen einer Mehrheit an der Basis, die er zum Handeln anspornen muss?
Meint der Text gar die Bischöfe, die seit Jahren schon mit Prognosen arbeiten und in ihren Gemeinden ein organisatorisches Chaos anrichten, den wahren Problemen aber nicht auf den Grund gehen? Können sich also alle Leserinnern und Leser bestätigt wissen, gleich in welcher Funktion sie agieren und welche Ziele sie verfolgen?
Man muss sich etwa folgende Passage auf der Zunge zergehen lassen und sich fragen, gegen wen sie gerichtet ist: „Dies [Gesalbtsein durch den Geist] hilft uns, auf diese alte und immer neue Versuchung der Förderer des Gnostizismus zu achten, die, um sich einen eigenen Namen zu machen und den Ruf ihrer Lehre und ihren Ruhm zu mehren, versucht haben, etwas immer Neues und Anderes zu sagen als das, was das Wort Gottes ihnen geschenkt hat. Es ist das, was der heilige Johannes mit dem Terminus proagon beschreibt (2 Joh 9); gemeint ist damit derjenige, der voraus sein will, der Fortgeschrittene, der vorgibt, über das ‚kirchliche Wir‘ hinauszugehen, das jedoch vor den Exzessen bewahrt, die die Gemeinschaft bedrohen“ [9].
3. Unangemessene Polemik
Vielleicht werden die Fragen ab Paragraf 9 geklärt, denn jetzt bricht die zuvor entwickelte Textdynamik ab und statt des Evangeliums erscheint als neues Leitthema der Vorrang der (in Rom geeinten) Gesamtkirche. Jetzt wird die Synodalität so definiert, wie sie gemäß dem Autor „vor über fünfzig Jahren“, also mit dem 2. Vatikanum begann [9]. Die Insider erkennen sofort: Hier kommt W. Kaspers domestiziertes Konzilsverständnis zu Wort, das er seit 1985 propagiert und insgeheim damit eine autoritäre Dynamik reaktiviert. Seit Ignatius von Loyola ist der Sensus Ecclesiae (also das „Empfinden mit der Kirche“) mit einer antiprotestantischen Programmatik überladen. Diese Formel mag unschuldig und plausibel klingen, denn wer von ihren engagierten Mitgliedern möchte nicht zur Kirche gehören?
Aber dieser „Kirchensinn“ aktiviert mit seiner ganzen Wucht einer langen Tradition eben nicht das partizipative Verständnis einer Glaubensgemeinschaft, die keine Diskriminierungen nach Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit oder sozialer Schicht mehr kennt (Gal 3,28). Vielmehr gilt noch heute, auch für den Jesuiten J. Bergoglio, das ignatianische Programm: „Indem wir jedes eigene Urteil beiseitesetzen, müssen wir unseren Geist bereit und willig halten, in allem der wahren Braut Christi, unseres Herrn, zu gehorchen, die da ist unsere heilige Mutter, die hierarchische Kirche“ (Exerzitienbüchlein, 1. Regel zur Kirchlichen Gesinnung). Damit klärt sich auch die Aufteilung des synodalen Weges in zwei Teile. Entscheidend und letztverbindlich ist nicht der erste Gang von unten nach oben, sondern der zweite, der unbehelligt von oben nach unten verläuft, also die definitive Definitions- und Beschlussrechte des hierarchischen Systems vorbehaltlos intakt lässt. Reproduziert wird das Vorgehen der Kirchenkonstitution Lumen Gentium (1964). Wie wir wissen, sprach ihr 2. Kapitel mit erneuerndem Schwung vom Volk Gottes, daraufhin reproduzierte das 3. Kapitel ungehindert die alte hierarchische Kirchenverfassung, als wäre nichts geschehen, und macht so die meisten erneuernden Impulse zunichte.
Diese restaurative Tendenz setzt sich im Rest des päpstlichen Textes fort. Er unterstellt die Engführung der Kirche auf eine „erleuchtete Gruppe“, die Missachtung einer „unscheinbaren, zerstreuten Heiligkeit“ (also des sog. einfachen Volkes) und warnt „vor jeder ideologischen, pseudo-wissenschaftlichen und manipulativen“ Verfälschung [10]. Man bemüht den „Vater der Lüge und der Trennung, den Meister der Spaltung, der beim Antreiben der Suche nach einem scheinbaren Gut … den Leib des … Volkes Gottes zerstückelt.“ Schärfere Geschütze lassen sich kaum auffahren, und damit auch den Letzten klar wird, dass sie vorbehaltlos der römischen Kirche vertrauen können, hören wir, dass „die Kirche im Gang der Jahrhunderte ständig der Fülle der göttlichen Wahrheit entgegenstrebt, bis an ihr sich Gottes Worte erfüllen.“ (Dei Verbum 8).
Wie besprochen, ist dieser Paragraf 10 gewiss der Höhepunkt der restaurativen, die Atmosphäre vergiftenden Polemik. Der kurze Paragraf 11 wurde offensichtlich später eingefügt. Er möchte ebenfalls verhindern, dass die Synodalität einen zu demokratischen Zungenschlag erhält und sich zu sehr von Einzelkonflikten steuern lässt. Das Ganze sei mehr als der Teil: „Man darf sich also nicht zu sehr in Fragen verbeißen, die begrenzte Sondersituationen betreffen, sondern muss immer den Blick weiten, um ein größeres Gut zu erkennen, das uns allen Nutzen bringt“. Gleichwohl seien „die Wurzeln (des Glaubens?) in den fruchtbaren Boden zu senken und in die Geschichte des eigenen Ortes, der ein Geschenk Gottes ist.“ Der Ghostwriter will die Stimmen von unten nicht ausschalten, fürchtet aber ihr Gewicht, wenn es sich nicht in kirchlichem Gehorsam unterordnet. Solche Gedankenführungen passen kaum zu den befreiungstheologischen Ansätzen des Papstes. Anderes gewendet: Man sollte sich überlegen, ob eine derart domestizierte Befreiungstheologie ihrem Ursprung überhaupt treu bleibt.
Außer der erneuten Warnung vor „falschen und sterilen Protagonismen“ sowie vor dem „Wunsch nach Selbstrechtfertigung und Selbsterhaltung“ fügt Paragraf 12 dem Gesamtdokument keine neuen Aspekte hinzu und der letzte ermutigende Paragraf kann nach den vorhergehenden Ausführungen kaum mehr überzeugend wirken.
4. Glaubenszerfall statt Kirchenskandal?
So haben die letzten Paragrafen die offene Frage nach den Adressaten wenigstens indirekt beantwortet. Das Dokument warnt vor den Kritikern und ungestümen Erneuerern vor Ort und mit harten Bandagen kämpft es für den Traditionsbestand all dessen, was dieses konservativ orientierte Dokument zum wahren Glauben zählt. Dies geschieht mit teils unlauteren Mitteln, denn es unterläuft ständig den ursprünglichen Zusammenhang der reich zitierten Papstdokumente. Dadurch wird der Brief endgültig zu einem parteilichen Dokument, und umso erstaunlicher ist es, dass es von Franziskus unterzeichnet wurde.
Doch bei der dritten Lektüre kommt zu meinen vorhergehenden Irritationen noch eine weitere hinzu. Es stimmt gar nicht, dass das Dokument den Anlass seiner Entstehung verschweigt. Der Brief stellt „gemeinsam mit euch schmerzlich die zunehmende Erosion und den Verfall des Glaubens fest mit all dem, was dies nicht nur auf geistlicher, sondern auch auf sozialer und kultureller Ebene einschließt.“ Der weitere Verlauf des Briefes zeigt: Das ist nicht nur eine einleitende Vorbemerkung, sondern genau dieser Glaubensverfall hat, bitteschön, das Thema des synodalen Wegs zu sein. Faktisch werden damit die aktuellen Konflikte und die vorläufigen Pläne der Bischofskonferenz vom Tisch gewischt und mit dieser Feststellung erschließt sich das gesamte Dokument neu.
Seine Botschaft lautet: Redet über den Glaubensverfall in Deutschland und nicht schon wieder über aktuelle Krisen und strukturelle Reformforderungen; das kann nur in die Irre führen. Über die Skandale von Klerikalismus, finanziellem Fehlverhalten, sexueller Gewalt und unsäglicher Vertuschung habe ich schon mit Euren Bischöfen gesprochen. Lasst Euch nicht von den Unruhestiftern und Spaltern, den pelagianischen Selbsterlösern und Statistikgläubigen oder von denen irritieren, die sich erleuchteter und gescheiter vorkommen als Ihr, in Wirklichkeit aber nur eingebildet sind. Und vergesst nicht das eiserne Gesetz der römisch-katholischen Kirche: die Gesamtkirche geht immer den Teilen voran und eine Teilkirche darf es nicht wagen (vgl. Ratzinger, Anm. 37), der hierarchisch geordneten Gesamtkirche vorauszueilen. Man vergesse nicht: Vorwürfe wie Pelagianismus, Gnosis und im Sinne von 2 Joh 9 ein proagon (Vorkämpfer/in) zu sein, stempeln die Angeschuldigten zu Häretikern, die die Kirchengemeinschaft verspielt haben. Die alltägliche Aufregung darüber hält sich nur deshalb in Grenzen, weil niemand mehr diese Floskeln versteht oder wirklich ernstnimmt. Diese paternalistische Sprache hat sich schon lange abgenutzt.
So versteht sich auch, warum das Ergebnis nicht nur unklar, sondern niederschmetternd ist. Der Brief übernimmt eine hinterhältige Alternative, die W. Kasper wiederholt schon thematisierte. Sie lautet: Wer sich die Strukturfragen der Kirche ins Zentrum rückt, weicht nur den wirklich brennenden Glaubensfragen aus. Die Reformorientierten sollten sich lieber um den Gottesverlust in ihrer Gesellschaft kümmern. Tun sie es wirklich nicht? Verlieren sie sich tatsächlich in oberflächlichen Reformdiskussionen? Diese Unterstellung ist umso ärgerlicher, als sie ausgerechnet von einem Kurienkardinal, also aus den engsten Kreisen der Kirchenleitung kommt, über deren Versagen heute alle Welt spricht. Offensichtlich haben diese Herren immer noch nicht begriffen, wie enorm hoch ihr Anteil an der beklagten Glaubenserosion ist.
Genau deshalb lässt der vorliegende Brief ja so Viele schwanken, denn viele der vorgetragenen Vorwürfe wirken ja überzeugend. Man muss sie nur an die Adresse der Kirchenleitungen richten:
‑ ökumenische Rechthaberei, Geldverschwendung und finanzielle Intransparenz,
‑ seelenlose Bürokratie, Anpassung an den Zeitgeist, autoritäres Gehabe sowie Argumentationen, Analysen und Lösungen, die niemanden überzeugen,
‑ Passivität und Resignation sowie ein Pelagianismus, der alles Vertrauen auf die Verwaltung setzt und zur konzeptionslosen Flickschusterei in verfahrenen Situationen sowie einer technokratischen Verwaltungslogik [Anm. 11] führt.
‑ Was den Bischöfen fehlt, ist der „Biss“ des Evangeliums, der Primat der Evangelisierung. Unter ihnen sind Apathie, Bitterkeit, und Kritiksucht verbreitet.
‑ Es fehlt ihnen an gelebter Gemeinschaft mit den Menschen, an Verfügbarkeit und Transparenz, an einem wirklich weiten Horizont, am Mut zu einem vielfältigen Gesicht.
‑ Sie leiden an Eigenbrötelei, umgeben sich mit der Aura der Fortgeschrittenen und Besserwissenden.
‑ Sie sind getrieben vom Drang nach Selbstrechtfertigung und Selbsterhaltung.
‑ Die unscheinbare „Heiligkeit von nebenan“ interessiert sie nicht. Deshalb müssen sie sich von ihren falschen und sterilen Protagonismen bekehren.
Ich will mich hier nicht zum großen Bischofskritiker aufspielen. Die aufgezählten Vorwürfe stehen ja alle ohne bestimmte Adressaten im Brief. Sollten sie diese Attacke jedoch als ungehörig, wenn nicht gar als beleidigend empfinden, dann seien sie daran erinnert, wie oft und intensiv seit Jahrzehnten gerade die Mutigen unter dem Gottesvolk mit dieser Hierarchensprache beleidigt werden, wie sehr sie darunter leiden und dass ausgerechnet die Hierarchie den Glauben eher verdunkelt als ihn zu fördern und überzeugend vorzuleben.
5. Ein blockierter Papst
Auch lohnt es sich nicht, über die Autorschaft des Briefes weiterhin zu spekulieren. In jedem Fall hat ihn Papst Franziskus unterschrieben und autorisiert. Er hat sich als Reformer, Freund der Armen und als ein gewinnender Glaubensverkünder in das Papstamt eingeführt und dafür erbitterten Widerstand erfahren. Seinen Verdiensten gebührt Anerkennung. Aber seine Auseinandersetzungen mit dem Katholizismus nördlich der Alpen und jenseits des nördlichen Atlantiks lassen eine große Unsicherheit und Schwäche erkennen. In strikt dogmatischen Fragen leiten ihn nach wie vor sein Vorgänger im päpstlichen Amt und sein Mitjesuit, der französische Theologe Henri de Lubac (1896-1991), dem schon das 2. Vatikanum zu fortschrittlich war. Seine Meditationen über die Kirche kulminierten in einer intensiven Kirchenfrömmigkeit. Für ihn ist die in Rom geeinte Kirche nach wie Ort und Garantin untrüglicher Wahrheit. Bei all seiner Begeisterung für das Evangelium bleibt auch für Franziskus das Unfehlbarkeitsdogma der unsichtbare geheime Gast aller Reformversuche. Wen wundert es, dass sie bislang gescheitert sind?
So intensiv Papst Franziskus immer wieder auf die Schrift zurückgreift, letztlich kann sie nicht als endgültiges Wahrheitskriterium sichtbar werden. Deshalb ist jetzt schon klar, dass z.B. die Frauenordination aus strikt dogmatischen Gründen scheitern und ein Frauendiakonat gegebenenfalls von allen sakramentalen Anklängen befreit werden. Die deutschen Bischöfe wissen das, obwohl sie dazu kein offenes Wort wagen. Ablenkend reden sie von römischen Vorbehalten, der gesamtkirchlichen Einheit oder einer sehr langen Vorlaufzeit, obwohl auch sie wissen, dass sie auf verlorenem Posten stehen.
Deshalb wäre in Reformkreisen endlich mehr Nüchternheit geboten. Nach wie vor werden sie auf Granit beißen. Dabei wäre es schon hilfreich, den römischen Primats- und Unfehlbarkeitsdünkel offen anzugreifen. Dann könnte sich wenigstens das Gottesvolk umfassend von diesem Treuekomplex lösen. Wer sich weiterhin von dem System der Hierarchen blockieren lässt, wird vergebens auf neue Glaubensimpulse in unserer Gesellschaft hoffen.
Der Text wurde Beginn Juli 2019 geschrieben.
Veröffentlicht in: imprimatur 3.2019, S. 140-144.