Als erster warf Kardinal Marx das Zauberwort in die Debatte und machte damit Eindruck: In Deutschland sollte sich die römisch-katholische Kirche auf einen „Synodalen Weg“ [SW] begeben und damit das durch Missbrauch und Vertuschung verlorene Vertrauen der römisch-katholischen Kirche zurückgewinnen. Die meisten Bischöfe und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken schlossen sich dem Vorschlag an und bald wurden erste Schritte gesetzt. Man erarbeitete eine Satzung, bestimmte die Mitglieder der verschiedenen Gremien und einigte sich auf vier Kernthemen: kirchliche Macht, Sexualmoral, priesterliche Lebensform, Frau in der Kirche. „Wir müssen reden!“, sagte man sich. Wer wollte das bestreiten?
Gespaltene Situation
Doch anders als vor der Würzburger Synode (1971-75) begannen jetzt die Ideen nicht zu sprudeln. Die Liste der beanstandeten Missstände war schon vorher klar, obwohl viele Symptome noch als Ursachen gehandelt werden. Doch der Strauß der Zukunftsperspektiven blieb merkwürdig farblos und ließ jeden Duft vermissen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Warnungen und Ermutigungen sind betulich und allgemein. Wird es nur beim Reden bleiben oder werden Taten folgen? Wird sich das höchst unzufriedene Kirchenvolk durchsetzen und in das Dickicht obrigkeitlicher Verbote und Gebote eindringen? Man beschwört gegenseitige Wertschätzung und Vertrauen, erwartet Offenheit und Kritikfähigkeit. Wichtig sei eben, dass sich etwas ändert, erklärte ein Bischof. Was aber? Man möchte dem Heiligen Geist nicht vorgreifen, lässt ein anderer verlauten. Glaubt man wirklich, dass der Heilige Geist die bisherige Unbeweglichkeit der Purpurträger ausgleicht?
Bischof Wiesemann (Speyer) erhofft eine neue Machtverteilung und die Teilhabe aller Gläubigen, meldet aber einen entscheidenden Vorbehalt an: Alles müsse geschehen „unter Wahrung des der Kirche eingestifteten Weiheamts und seines besonderen Dienstes am Volk Gottes“. Einfacher gesagt: Wir Bischöfe bleiben die Herren des Spiels. Dabei sind die höchsten Verwalter des Weiheamts doch die Hauptverursacher der gegenwärtigen Misere. In einem Interview verweigert Bischof Koch (Berlin) die Antwort auf die Frage, wie er sich zum Priestertum der Frau stelle. Da wolle er im offiziellen Meinungsaustausch erst die Argumente der anderen hören. Dabei hat er doch sicher eine Meinung und warum stellt er sie nicht zur Diskussion? Ungewollt gibt er zu erkennen, wie sehr er jetzt schon die Rolle eines Richters einnimmt, der die Neutralität zu wahren und erst am Schluss zu entscheiden hat. Das aber ist nicht das Erwartungskalkül der vielen Unzufriedenen und Enttäuschten. Sie möchten ihrerseits endlich überzeugende Argumente von bischöflicher Seite hören und dazu Stellung nehmen.
So bildet sich die gespaltene Situation jetzt schon ab. Kirchenrechtlich ist der SW ein sich anmutig darbietendes Phantasieprodukt. Kuriale Stellen Roms gaben das Beginn September 2019 zu erkennen. „Synodal“ verspricht zwar eine Teilhabe aller und die Metapher vom „Weg“ ruft die Erwartung auf eine offene Dynamik wach. Aber offiziell eröffnet eine römisch-katholische Synode den „Laien“ keinerlei Entscheidungsräume und den Erneuerungsbegehren sind strengst dogmatische Grenzen gesetzt. Genau darauf wollte Rom hinweisen und es ist ein Irrtum, den päpstlichen Brief vom Juni 2019 als Ermutigung auszulegen. Sind die Planungen also nicht von ungedeckten Schecks umgeben, deren Zerfall vorauszusehen ist?
Perspektive der Opfer
Woher kommt schon im Vorfeld diese halbherzige Laschheit, Unentschiedenheit und Unklarheit, die – abgesehen von einigen pressure groeps – überall, vor allem in den Gemeinden zu spüren sind? Erklären kann dies vielleicht eine breite Stimmung, die sich auf dem Gebiet der deutschsprachigen Theologie gerade abzeichnet. Natürlich wurde unsere Theologie seit 2013 offener und kritischer. Unbefangener als früher thematisiert sie christentumskritische, interreligiöse sowie säkulare Fragestellungen und geht distanzierter mit kirchlichem Handeln und spezifisch katholischen Themen um. Die Kritik wird nicht mehr wie unter den Vorgängerpäpsten sorgfältig verborgen, als Homosexualität noch für inakzeptabel und ökumenische Gastfreundschaft für gefährlich galt, man über die Ordination von Frauen lieber nicht offen redete und das Volk sich zum hörenden Glauben ermahnen ließ. Große Zustimmung löst etwa Michael Seewald aus, der sich seit 2018 mit zwei Büchern und einem Sammelband äußerst kundig, virtuos und in großer Intensität den Fragen kirchlicher Erneuerung zuwandte.[1]
Allerdings ist nicht recht ersichtlich, in welche Richtung er seine Reformwelle lenken will. Zunächst will er „dieselbe Kirche anders denken“. Gewiss, am Beginn auch einer jeden Erneuerung stehen Gedanken. Doch ein Vergleich mit Büchern von Hans Küng[2] oder Hubertus Halbfas[3] zeigt: Seewald legt zwar kenntnisreiche Analysen vor, die den immer wendigen Lehramtsgeist der Kirche spekulativ durchdringen und dessen kurvenreiche Flügelschläge durch die Jahrhunderte analysieren. Doch nichts wird aus der Perspektive der Betroffenen berichtet, alles ohne einen Blick für konkrete Konflikte und schreiendes Unrecht, Unwahrhaftigkeit oder Unehrlichkeit. Er entwickelt eine moralfreie Hermeneutik, die eben den großen Gang kirchlicher Entwicklungen erklärt, bei dem auch Hobelspäne fallen. Wo Änderungen verschleiert und damit Kritiker betrogen wurden, spricht Seewald vom Autokorrekturmodus, wo das Lehramt unangenehme Fakten verdrängt und damit Kritiker ins Leere laufen lässt, vom Obliviszierungsmodus, wo man Änderungen der Lehre vertuscht und unaufrichtig den heuchlerischen Rechthaber spielt, stellt der Autor einen Innovationsverschleierungsmodus fest. Es ist also eine Hermeneutik, die Konflikte schon mal prinzipiell unter den Teppich kehrt. Eine konfliktbereite Berufung auf die Schrift wird den Protestanten überlassen. Anders gesagt: gemäß einem vor-kritisch romantischem Verstehenskonzept, das bei Walter Kasper normgebend vorgebildet ist, kann die Kirche als ganze nie irren.
Deshalb werden auch keine Irrtümer korrigiert, vielmehr wird die Wahrheit nur besser verstanden. Eine Lehre kann allenfalls „hart, abstoßend, frostig, abweisend, unverständig, für das wirkliche Anliegen des Anderen formuliert …, rechthaberisch und voreilig abgefasst“ sein. [4] Wenn die Kirche also durch Jahrhunderte behauptet, außerhalb ihr gebe es kein Heil, dann ist das nicht falsch, sondern nur voreilig. Wenn Frauen aus den Kernfunktionen der katholischen Kirche ausgeschlossen bleiben, soll das dann nur unverständig sein?
Dieser abwiegelnde, Korrekturen immer verschleiernde, sich zur Not aber unbeirrbar gebende Umgang mit unserer Kirchenwirklichkeit bestimmt vorerst die Grundmelodie des Synodalen Weges, soweit er sich schon herauskristallisiert hat. Schon der Begriff SW bezeugt diese Halbheiten. Der Begriff „synodal“ soll vergessen lassen, dass am Ende die Bischöfe beschließen und alles unter päpstlichem Vorbehalt steht (Obliviszierungsmodus). Der Begriff des Weges soll den Eindruck erwecken, dass wir – wie das letzte Konzil suggeriert ‑ uns schon ohne große Änderungen auf dem Weg der Erneuerung befinden (Innovationsverschleierungsmodus), und die ständigen Warnungen der Bischöfe, die kirchliche Einheit und den geschuldeten Respekt vor dem Papst zu wahren, lenken davon ab, dass Bischöfe und Papst schon immer geändert und erneuert haben (Autokorrekturmodus).[5]
Lassen sich die subklerikalen Männer und ohnehin laikalen Frauen, die am Geschehen teilnehmen, auf das Spiel ein? Gemäß den jetzt schon vorliegenden Grundsatzpapieren wird eher an Symptomen gebastelt, doch unbequeme, wenn auch unverzichtbare Ausgangspunkte und Kriterien (außer der Kirche, die im Dorf bleiben muss) werden nicht genannt. Bislang sehe ich zu wenige Grundfragen aufblitzen, die unsere gängigen Problemgehäuse sprengen und Argumentationsstränge wirklich erweitern könnten. Diese Tendenz hat etwas Selbstbezogenes und kann auf den Weihrauch noch nicht verzichten. Nabelschau verdeckt die Weltverantwortung. Die Bischöfe streben nach der Glaubwürdigkeit der von ihnen repräsentierten Institution und greifen damit zu kurz, denn es soll um die Menschen, nicht schon wieder um die Institution gehen. [6] Die nicht-bischöflichen Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden sich entscheiden müssen, ob sie sich dieser Argumentationsebene anschließen oder der Gefahr instrumenteller Fassadenglättung entschlossen versagen.
Erst die Praxis, dann die Theorie
Geht es wirklich um die Glaubwürdigkeit der Kirche? Sie ist gewiss eine hohes, aber eben nicht das letztgültige Gut, denn deren Verlust ist nur die Folge anderer inner- und außerkirchlicher Vorgänge, die die christliche Botschaft verderben und das Christsein selbst zerstören. Geht es um die Austrocknung des Missbrauchs- und Vertuschungssumpfes? Ja, aber auch dazu ist ein fundamentaler Umbau des sakramental-klerikalen Kirchensystems unabdingbar. Geht es um die Erhöhung der Frauenquote in Leitungsämtern? Gewiss, doch nicht, indem man die Quote mechanisch erhöht, sondern indem ihre Würde rundum anerkannt und nicht durch subtile Klerikalprivilegien auch in den Kernfragen unterlaufen wird, die an das Heilige rühren. Es gibt keine Wahrheit im Halben.
Denn bei allen Auseinandersetzungen um Details (ja, sie können zermürbend sein) sollte nicht vergessen werden: Über alle konzeptuellen Unterschiede hinweg definiert sich Kirche als eine lebendige Lebensgemeinschaft aus vertrauendem Glauben, also im Rahmen einer konkret vollzogenen Lebenspraxis. Kirchenreform beginnt deshalb nicht als bestechende Theorie, sondern als ein neu aktivierter Respekt voreinander, als eine grundlegende Heilung von zerstörten oder vernachlässigten, möglicherweise nie aktivierten Beziehungen, in einer Begegnung also, die die klerikalen Unterschiede verschwinden lässt.
Erst aus diesem neuen Kontext kann das beschworene neue Denken kommen und seine erste Feuerprobe steht den Gremien des SW erst noch bevor. Seine Inspiration muss aus aufrichtigen Begegnungen erwachsen, die eine erneuerte Gemeinschaft vorwegnehmen. Es geht, wie schon gesagt, nicht um eine neue Volte des Heiligen Geistes, der 1870 eben autoritär dachte, auf dem 2. Vatikanum sich in Kompromissen äußerte und jetzt etwas demokratischer und gendergerechter wirken soll. Unabdingbar sind deshalb die ausgesprochene Reue über die Zustände, die zu überwinden sind, die offene Selbstkritik wegen manchen Frevels, der stillschweigend in Kauf genommen wurde, sowie die vollzogene Genugtuung für erkanntes Unrecht. Wir Deutsche wissen vielleicht besser als andere Nationen, dass sich vergangenes Unrecht nur durch Eingeständnisse, durch die Bitte um Vergebung und durch Taten der Wiedergutmachung entgiften lassen.
Das gilt nicht nur für die Missbrauchsopfer, deren Leiden die deutsche Kirche schon seit zehn Jahren in Atem hält, sondern auch für die zahllosen Katastrophen eines autokratischen, demütigenden und gnadenlosen Kirchenregimes, das aufrecht Engagierte aus unserer Gemeinschaft geekelt, ihrer Anerkennung und Funktionen beraubt und ihnen die Ehre genommen, sie gedemütigt, als Ketzer, Ungläubige, illoyale Kirchenkritiker oder einfach als Eigenbrötler diskriminiert hat. Unstrittige Fälle der vergangenen zehn Jahre (die ich hier nicht zu nennen brauche) sind sofort in Ordnung zu bringen und binnen Jahresfrist sollten die Bistümer möglichst vollständige Listen von geschädigten Frauen und Männern veröffentlichen, dies im Namen der neuen Transparenz. Hilfreich wäre eine Wahrheitskommission, in der prominente Verantwortungsträger über ihr Verhalten Rechenschaft ablegen und Gedemütigte um Vergebung bitten. Denn nur mit solchen existentiellen Bekenntnissen wird eine Selbstkorrektur glaubwürdig, wirksam und in ihrer Tragweite erkennbar. Meines Wissens wurde diese Möglichkeit bis heute noch nicht einmal erwogen. Anders gesagt: der existentiellen Tragweite der Reformankündigung hat sich offensichtlich noch niemand gestellt. Die Kartage würden sich für das Setzen dieser Zeichen eignen.
Die entscheidenden Vorfragen
Erst ein solcher Akt könnte vor Augen führen, wie tief und wie grundsätzlich die kirchliche Erneuerung gehen muss. Er kann auch zeigen, dass das Unternehmen sich vor Beginn aller konkreten Arbeit erst grundlegenden Vorfragen stellen und so die aktuellen Missstände als Spitzen eines Eisbergs begreifen muss:
- Wird unsere Welt- und Lebensgestaltung von einer großen Vision getragen, die unsere Enttäuschungen und unseren Unmut übersteigt? Wie können wir diese Vision gemeinsam beschreiben? Ist sie anschlussfähig an die jesuanische Botschaft von Gottes Reich, das alle Kirchenwirklichkeit qualitativ überragt?
- Welche Visionen leiten, davon abgeleitet, unsere gemeinsamen Vorstellungen von den kirchlichen Verhältnissen sowie von deren aktueller Erneuerung? Sind wir imstande, sie gemeinsam zu formulieren?
- In welchen konkreten Strukturen, übergreifenden Verhältnissen und einschneidenden Prozessen zeigt sich der Bedarf nach Erneuerung? Aus welchen Gründen ist diese Erneuerung unverzichtbar? Wie berühren sie unsere Glaubwürdigkeitsprobleme nach außen und wie tief berühren sie unsere christliche Identität selbst?
- Welche real existierenden Strukturen, Verhaltensweisen, Prozesse und Selbstdarstellungen sind für uns auf Basis der christlichen Botschaft inakzeptabel, welche zerstören die christliche Identität, welche zwingen uns zur Illoyalität?
- Was ist, zugespitzt auf Geschichte und Botschaft Jesu, dringend geboten? Inwiefern gelten uns die Bergpredigt, die Gleichnisse sowie die Heilungs- und Vergebungsgeschichten Jesu als grundlegende Norm und Inspiration unserer kirchlichen Praxis?
- Welche kirchenoffiziellen Lehrstandards, welche kirchenstrukturellen und kirchenrechtlichen Voraussetzungen finden wir angemessen, welche eben noch für akzeptabel und welche für unannehmbar?
- Worin zeigt sich der spezifisch katholische Charakter unserer Kirchenvision, welche evangelischen bzw. ökumenischen Impulse halten wir für hilfreich oder geboten?
- Wie beschreiben wir das Verhältnis der deutschen Kirche zur Gesamtkirche bzw. zur gesamtkirchlichen Leitung? Wie ordnen wir den SW und dessen mögliche Ergebnisse in die gesamtkirchlichen Erneuerungsprozesse ein?
- Ist uns klar, dass, beginnend mit dem 4. Jh., die zu diskutierende Machtfrage alle unsere Lehr- und Ordnungssysteme, alle Kirchen- und Amtsstrukturen, Heils- und Erlösungsvisionen sowie die Ordnungen von Sakramenten und Verkündigung massiv geprägt, vereinseitigt, bisweilen verbildet hat? Wie gehen wir damit um?
- An welchen theologischen oder anderen Bezugsquellen orientieren wir unsere Reformziele? Ist uns bewusst, dass die entsprechende Reformliteratur bis in die 1960er Jahre zurückreicht, zu großen Teilen diskreditiert wurde, aber nichts an Aktualität eingebüßt hat, weil sie von einen unwiderlegbaren Argumentationsstand zehrt, dass der aktuelle Reformwille also weniger mit Mut als mit Liebe zur Wahrheit zu tun hat?
Der SW kann nur gelingen, wenn er sich an diesen Fundamentalfragen entzündet, aufs Ganze geht sowie leidenschaftlich und – um der christlichen Sache willen – konfliktbereit seine Debatten führt. Seit mehr als 50 Jahren hat, wie schon angedeutet, ein lähmender Irenismus unsere Debatten und deren Fortschritte blockiert. Jetzt ist die Chance, angesichts einer katastrophalen Gesamtlage, die selbst von den Bischöfen eingestanden wird, innezuhalten und diese inneren Blockaden zu durchbrechen. Niemand mehr kann den tödlichen Notstand unserer Gemeinden übersehen. Offensichtlich sieht die Mehrheit unserer Ortsbischöfe auch keinen Grund mehr, den Reformimpulsen nur mit Misstrauen und hinhaltendem Widerstand zu begegnen. Wer dies in der gegenwärtigen Situation noch tut, desavouiert sich selbst. Mehr noch, die Bischöfe sollten endlich dafür dankbar sein, dass ihnen so viele Kirchenaktive das Vertrauen noch nicht entzogen haben. Denn faktisch sind die hierarchischen Leitungsansprüche durch geistliche Misswirtschaft ausgehöhlt, ihre Autorität nahezu erloschen.
Mangelnder Bekehrungswille?
Zu Beginn dieses Jahres hat Bischof Koch den Ernst der Lage erkannt. Beim Scheitern des SW ahnt er Schlimmes, aber einen harten Weg auch bei dessen Erfolg. Er ist sich „sicher, dass die eigentliche Bewährungsprobe … erst nach dem Abschluss dieses Prozesses auf uns zukommt“. „Mit Sorge“ nimmt er wahr, „wie viele für den SW in ihren Überzeugungen so unerschütterlich festgelegt sind, dass sie öffentlich verkünden, dass die Kirche nur gerettet werden könne, wenn ihre Überzeugungen zum Tragen kämen.“ Das ist eine ambivalente Aussage. Meint Koch die unverbesserlichen Kritiker, die am 18. Januar 2020 in München vorsorglich schon auf die Straße gingen, um gegen Frauenordination und für den Zölibat zu demonstrieren? Oder sieht er voraus, dass sich die Reformkräfte mit keinen halben Lösungen mehr zufrieden geben? Hier haben die Bischöfe noch Feinarbeit zu leisten. Die Einheit der Kirche oder der Respekt vor Rom, die Geltung konziliarer Beschlüsse oder eingeübte Katechismusregeln reichen jetzt nicht mehr aus, um unliebsame Umbrüche einzudämmen.
Unbestritten ist ja, dass vor allem die Bischöfe als Interessenwahrer der überlieferten Ordnung auftreten. In gewissem Sinn ist das ihr Job. Doch muss ihnen klar sein, dass auch Bewahrung des Alten begründungspflichtig ist. Seit dem 11. Jahrhundert hat sich der römische Stuhl im Westen als Herr der Rechthaber etabliert, vor gut 480 Jahren alle reformatorischen Impulse verbannt und vor 150 Jahren eine jede unbotmäßige Theologie zum Schweigen gebracht. Die empörte Reaktion der Bischofskonferenz vom 30.10.2019 auf den entlarvenden Film Verteidiger des Glaubens und der peinliche Ausruf „Sauerei!“ von Bischof Gänswein in Frankfurt lässt am Bekehrungswillen der Hierarchen zweifeln. Zwar erklärte Bischof Fürst (Rottenburg), der SW sei alternativlos, doch er äußerte sich kaum zu den wirklichen Aufgaben. Sie aber sind gewaltig, denn alle Dispositive der Macht stehen zur Diskussion, gleich ob sie in die verhärtete Sakramentenlehre eingegangen sind, in die Herabstufung nichtkatholischer Kirchen, in die Abwertung von Frauen im kirchlichen Raum oder in die Lehre von priesterlichen, gar bischöflichen Vollmachten, in das Alltagsregime bischöflicher Ordinariate oder in die Attitüde ständiger Belehrung, von der unsere Bischöfe nicht lassen können. Wer den jüngsten Brief von Josef Ratzinger zu Priestertum und Zölibat gelesen hat, weiß wohl, mit welcher emotionalen und spirituellen Wucht das überlebte alte Paradigma der Priesterkirche noch präsent ist.
Unterscheidung der Geister
Für manche Ohren mögen diese Ausführungen überheblich klingen, gegen diesen Verdacht bin ich wehrlos, vielleicht bin ich in dieser Untugend gefangen. Doch in jesuitischer Spiritualität trainiert weiß ich auch, dass sich unser Geist nie eindeutig präsentiert. Geister kämpfen miteinander und es gilt, sie genau zu unterscheiden. Denn ich entdecke eine komplexe Wirklichkeit und staune oft über die grandiose Vereinfachung unserer kirchlichen Populisten. Wenn sich die genannten Demonstranten in München auf die Schlacht von Lepanto (1571) berufen, weil sie die Kirche so siegreich retten wollen wie damals, dann erschrecke ich vor ihrer Naivität. Von den innerkirchlichen Abgründen, die in den vergangenen Jahren offenkundig wurden, haben sie noch nichts begriffen. Auch stehe ich erschrocken vor dem gewollten und gesteuerten Zusammenbruch zahlloser Kirchengemeinden, diesem kollektiven Suizid, der dem Priestermangel zu folgen hat. Im Februar 2019 erklärte eine verzweifelte Katholikin in Köln-Porz: „Die Kirche hat den Karren vor die Wand gefahren – und jetzt sollen die Laien es retten.“ Doch aus diesen bitteren Worten lässt sich auch Hoffnung schöpfen, denn mit einigem Selbstbewusstsein können die nicht-klerikalen Gemeindeglieder zur Rettung voranschreiten, wenn es denn sein muss, allein auf ihren Mut und die Kraft des Geistes gestellt.
An vielen Orten wird es soweit kommen. Deshalb gilt es, die eigene Phantasie zu beflügeln. Leider ist unser Kirchenbild noch stark von den vergangenen, höchst autoritären 150 Jahren geprägt. Wie wäre es, wenn wir die 18½ vorhergehenden Jahrhunderte Revue passieren ließen, etwa die Zeit, als Rom zwar eine christliche Gemeinde, aber noch keinen Bischof kannte, die kirchliche Gründungsepoche, als es noch Apostelinnen gab, oder die kostbaren Jahre, in denen Jesus seine Vision vom Reich Gottes verkündete, ohne zu wissen, was denn eine Kirche sei. Vielleicht kann dieser Rückblick auch unseren Bischöfen helfen, dem SW den nötigen Freiraum zu gewähren und in der Folgephase mit dem gebotenen Durchsetzungsvermögen für die Ergebnisse vor dem Forum der Weltkirche einzustehen.
Anmerkungen
[1] Michael Seewald, Dogma im Wandel, Freiburg 2018; ders., Reform. Dieselbe Kirche anders denken, Freiburg 2019; ders. (Hg.), Das Erste Vatikanische Konzil. Eine Zwischenbilanz 150 Jahre danach, Darmstadt 2019.
[2] Ist die Kirche noch zu retten?, München 2011.
[3] Kurskorrektur. Wie das Christentum sich ändern muss, damit es bleibt, Ostfildern 2018.
[4] Seewald, Reform, 131.
[5] Ebd., 74, 87, 96.
[6] Jörg Alt, Handelt! Ein Appell an Christen und Kirchen, die Zukunft zu retten, Münsterschwarzach 2020.