Liebe Freundinnen und Freunde,
Schwestern und Brüder unseres irdischen Lebens!
Schon freute ich mich auf die Predigt, die ich in einer Stuttgarter Kirchengemeinde hätte halten sollen. Jetzt macht uns der Corona-Virus einen Strich durch die Rechnung, denn das Unmögliche ist eingetreten: selbst für die Fastenzeit, die Karwoche und für Ostern sind die Gottesdienste gestrichen. Ist das seit 1945 je einmal passiert?
Die Sicherheiten schwinden
Dabei waren wir bei der Ankündigung gar nicht so falsch gelegen. Wir hatten schon von einer Welt gesprochen, die keine Sicherheit mehr bietet, einem Klima, das aus den Fugen geraten ist, dem wachsenden Terrorismus und einer zynischen Machtpolitik, die ganze Länder in Angst und Schrecken versetzt. Mehr denn je bricht die Frage auf, worauf wir noch vertrauen können.
Inzwischen ist eine Krise hinzugekommen, vom neuen Corona-Virus verursacht, das uns die Medien wie einen bunt strahlenden Ball präsentieren. Doch es bedroht die biologische Lebensbasis von uns allen, legt die Wirtschaft, die Kultur und das Schulsystem lahm und bringt unser Gesundheitssystem an seine Grenzen. Die italienischen, zu Totentransportern umfunktionierten Militärwagen gehen wohl in unser kollektives Gedächtnis ein. Inzwischen sind ganze Subkontinente und Länder lahmgelegt, viele Sicherheiten unseres Alltags sind uns genommen.
Wer hätte das vor einigen Wochen für möglich gehalten? In „unterentwickelten“ Gebieten, ja, da hielten wir das für möglich. Ich erinnere mich an das Ebolafieber, das 2014 afrikanische Länder in Atem hielt. Natürlich, so dachten wir, geschieht so etwas in Zentralafrika, wo man von Infektionen keine Ahnung hat, keine hygienischen Vorschriften kennt und noch an Hexen und böse Geister glaubt. Auch erinnere ich mich an meinen Vater, der vor gut 60 Jahren für meinen Geburtsort ein Theaterstück schrieb. Darin gedachte er einer Pestwelle, die 1356/57 nahezu die gesamte Bevölkerung ausrottete. Die Überlebenden gelobten, jährlich der Ereignisse mit Fasten und Gottesdiensten zu gedenken und bis heute lebt die Tradition dieses „Gelübdetags“ fort. Selbstverständlich war die Pest von Gott geschickt, verursacht durch die Sünden der Menschen und von Gott wieder weggenommen. Die Menschen glaubten, beteten und verzweifelten.
Durch Reformation, Aufklärung und moderne Wissenschaften haben wird diese magischen Zeiten überwunden und niemand kann leugnen, dass unsere Welt seitdem um ein Unendliches sicherer und berechenbarer wurde. Weltreisen sind so selbstverständlich geworden wie ein geregeltes Alltagsleben. Die Gesundheitsvorsorge hat ebenso ungeheure Fortschritte gemacht wie eine bevölkerungsbreite Bildung. Die durchschnittliche Lebenserwartung deutscher Frauen ist von 25 Jahren im Mittelalter auf inzwischen über 84 Jahre gestiegen. Was wollen wir mehr? Ist unsere Lebenszuversicht nicht ins Utopische gestiegen? Leben wir nicht sicherer denn je?
Das Unheimliche der Statistik
Dann dieser Donnerschlag, der jetzt über die Kontinente hallt und selbst den Alleskönner Donald Trump aus der Fassung bringt; die COVID-19 Pandemie hält uns im Griff. Seit gut zwei Monaten sind wir Zeugen dieses unglaublichen Geschehens. Zuerst hielt sie China in Bann und die ersten Ausläufer in Deutschland konnten wir spielend beherrschen. Jetzt beherrschen sie uns; die Infektionen steigen exponentiell. Über die Folgen klärt uns niemand verlässlich auf. Ausgerechnet die Heilshüter der Stunde, Virus- und Epidemiespezialisten, höchst vertrauenswürdige Leute, konfrontieren uns mit der einzig sicheren Aussage, dass wir nämlich in absehbarer Zeit auf keinen wirksamen Schutz rechnen, auch in Zukunft vor solchen Weltereignissen nie sicher sein können.
Da liegen sie nun schutzlos blank, die tiefen Ängste um uns und unsere Lieben, vor allem um die Älteren unter uns: Eltern und Großeltern, liebgewordene Lebensgefährtinnen und Lebensgefährten, die uns buchstäblich lebenswichtig sind, oder um alle, die sich in Krankenhäusern oder Altersheimen einsetzen und so täglich einer möglichen Infektion ausgesetzt sind. Die vorhergesagte Erwartung von „meist milden Verläufen“ beruhigt uns nur wenig, denn diese statistische Erwartung betrifft niemanden direkt und alle zugleich. Sie macht die Einsicht nur noch brutaler, dass der Scharfrichter willkürlich zuschlagen oder verschonen kann.
Gewissheit statt Sicherheit
Doch hilft diese Klage nicht weiter, zudem könnte sie jede und jeder von uns, je nach Situation, direkter und konkreter, ergreifender und eindrücklicher, wütender oder verzweifelter beschreiben. Mir bleibt nur noch zu sagen: Diese bedrohte Grundsituation, dieses Scheiternkönnen und diese letzte Machtlosigkeit schlummern schon immer in uns allen. Wer von uns hat nicht irgendwann um das Leben eines Mitmenschen, vielleicht um sein Kind oder sein eigenes Leben gebangt. Jetzt werden diese individuellen Erinnerungen in eine gemeinsame Schreckenserfahrung eingesammelt; wir leben damit nicht mehr allein. Auch das hat sein Gutes.
Doch geht es nicht darum, dass wir ab heute zu miesepetrigen Jammerlappen werden, uns gar jede Freude verbieten. Vielmehr könnten wir lernen, diese unsichtbare, aber uns aufgezwungene Gefahr als Grundbedingung unseres Lebens zu akzeptieren, die nie einfach verschwinden wird. Wir bewegen uns immer zwischen Geburt und Tod, in denen alles auf der Kippe steht. Wir schwimmen auf keinem unsinkbaren Panzerboot, sondern auf einem recht labilen Floß dahin. Philosophie und Soziologie, die moderne Anthropologie und Psychologie haben sich ausführlich mit dieser Zerbrechlichkeit beschäftigt.
Auch fromme Protagonisten haben es meist aufgegeben, für unsere Lebensfragen Scheinsicherheiten anzubieten. Und ausgerechnet mir als katholischem Theologen wurde vor Jahren der ungeheure Durchbruch klar, als Martin Luther zwischen Sicherheit und Gewissheit unterschied. Unbedingte Sicherheit gibt es nirgendwo, weder in religiösen noch in weltlichen Dingen. Wir sollten sie uns abschminken, auch wenn sie sich uns heute als Begeisterung für die modernen Naturwissenschaften, in der Erwartung neuester Sicherheitssysteme oder für die ungeheure Leistung „künstlicher Intelligenzen“ anbietet.
Gewissheit dagegen hat es mit Vertrauen und der Überzeugung zu tun, dass es sich lohnt, jemanden oder etwas zu lieben und dass die Liebe stärker sein kann als der Tod, weil sie mir niemand nehmen kann. Diese entschlossene Gewissheit ist deshalb nie ein sanftes Ruhekissen, vielmehr fordert sie uns zu aktivem Handeln, zur Sorge und zu einem praktischen Lebensrealismus heraus. Sie macht uns das Leben nicht leichter, gibt ihm aber einen Sinn. Sie zeigt uns ein Gespür für die Dinge, auf die es ankommt und behütet uns davor, zu vergesslichen Menschen zu werden, die sich in der Euphorie des nächsten Erfolgs schon wieder verlieren.
Von der Verzweiflung zur Hoffnung?
Ist es deshalb gut, dass uns die Coronakrise jetzt überfallen hat? Wird sie dafür sorgen, dass wir wieder zu uns kommen? Diese Folgerung halte ich für leicht übertrieben. Bleiben wir auf dem Boden der Tatsachen; jeder schwer schädigende oder tödliche Krankheitsverlauf ist einer zu viel, ebenso wie jede seelische Überlastung und jedes bleibende Trauma, eine jede Insolvenz oder soziale Katastrophe nichts Gutes ist. Aber da sie uns und unser Zusammenleben nun mal in die Zange genommen hat, könnten wenigstens die unter uns, die nicht von existentiellen Nöten überrollt werden, die Zeit zur Arbeit an der Frage nutzen: Wer sind wir eigentlich und wo wollen wir – allein oder mit unseren Lieben zusammen – hin? Eine letzte Distanz zu dem, was uns fesselt und täglich umgibt, tut uns, sofern sie noch möglich ist, allen gut.
Doch auch diese Antwort kann sehr banal klingen, denn auch von innerer Distanz und unseren „eigentlichen“ Zielen wird oft zu schnell geredet. Ich denke da an eine Geschichte von jenem ruhelosen Propheten, der gerade von Galiläa nach Jerusalem zog (Mk 9, 14-29). Der Vater eines epileptischen Jungen mit einer fürchterlichen und endlosen Krankengeschichte schrie nach ihm. Konnte Jesus helfen? Offensichtlich verwies er Jesus auf die Kräfte der Selbstheilung, als er erklärte: „Alles kann, wer glaubt.“ Der Vater verstand dies nur zu genau, doch jetzt brach alle Hilflosigkeit erst recht aus ihm heraus, als er rief: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“ Heute würde er wohl sagen: Ich möchte ja, aber ich bin verzweifelt. Zur Debatte steht also kein jenseitiger Glaube, sondern ein letztes Vertrauen, die letzte innere Kraft einer Hoffnung, die uns alle einmal verlassen kann, schon mehr als einmal verlassen hat.
Was geschieht? Der Bericht fasst sich kurz: „Jesus fasste den Jungen an der Hand und richtete ihn auf, und der Junge erhob sich.“ In dieser Nachdenkgeschichte tritt Jesus als der Mitmensch auf, der in der Stunde des letzten Hoffnungsverlusts zur Stelle sein und neue Kraft vermitteln kann.
Vielleicht hätten unsere Kirchen in den vergangenen Jahrzehnten weniger Innerlichkeitspflege veranstalten sollen. Denker wie Ernst Bloch (der sich immer einen Atheisten nannte) und Jürgen Moltmann (der den christlichen Glauben als eine hochpolitische Angelegenheit begriff) zeigten mit großer Sprachkraft: In uns Menschen brechen tiefe und unzerstörbare Hoffnungspotentiale gerade dann auf, wenn uns die Sicherheiten des Alltags aus der Hand geschlagen werden. Wir Menschen sind Wesen, die hoffen müssen, wenn sie sich nicht aufgeben wollen, und tatsächlich blühen immer wieder Hoffnungskräfte auf, die unserem Lebensstil ein Zentrum geben können.
Noch viel zu tun
Damit sind wir mit der Arbeit nicht am Ende, denn auf dem beschriebenen Weg erhält sie Konturen, die sich an den Einzelfragen dieser Tage bewähren müssen: Wie gehen wir mit der Zeit um, die uns plötzlich im Übermaß gegeben ist und nur ungeduldig macht? Was passiert mit unserem Zusammenleben und unserer Gemeinschaft, wenn wir uns plötzlich aus dem Wege gehen sollen? Was geschieht mit den plötzlich Abwesenden, die möglicherweise in einer Quarantänestation vereinsamt sterben sollen? Und gelingt es uns, neue Maßstäbe für eine Zukunft zu entwickeln, die besser werden soll als die vergangene?
Neue Traumbilder werden uns nicht erlaubt sein, auch wenn vor Venedig jetzt wieder Delphine gesichtet wurden. Doch ein neues Gleichgewicht zwischen Familie und Arbeit, Gesellschaft und Natur, zwischen Leistung und Gerechtigkeit sollten uns schon gelingen. Diejenigen unter uns, die sich als entschiedene Christinnen und Christen verstehen, möchte ich daran erinnern: Auch Jesus, einer der größten Propheten der Menschheitsgeschichte, stand und agierte in einer aufgeheizten apokalyptischen Zeit. Seine Auferstehung selbst wurde als ein apokalyptisches Ereignis begriffen und das Urchristentum war für die Fragen des Zeitenumbruchs höchst sensibel.
„Apokalypse jetzt“? Ja und nein. Nicht als ob jetzt alles verloren wäre, aber vieles steht auf dem Spiel. Paulus schrieb: „Darum wollen wir nicht schlafen wie die anderen, sondern wach und nüchtern sein … Wir, die dem Tag gehören, sollten nüchtern sein und uns rüsten.“ Womit? Mit einer nüchternen und unverkrampften Hoffnung. „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“, schreibt Hölderlin, dessen 250. Geburtstag wir in diesen Tagen begehen. Das ist ein Lebensmotto, das sich vor Gott und der Welt sehen lassen kann.