Am 15.12.2020 forderten die Bayrischen Bischöfe die Staatsregierung auf, für den Heiligabend die Ausgangssperre gemäß der religiösen Praxis der katholischen Bevölkerung in Bayern zu lockern. Die Petition ist veröffentlicht und Interessenten können sich ihr anschließen. Dabei berufen sich die Bischöfe auf die religiöse Praxis der katholischen Bevölkerung, auf das Grundrecht der freien Religionsausübung (Art. GG4) und den besonderen Festcharakter des Abends.
1. Gesellschaftliche Solidarität
Dieses Anliegen ist verständlich, denn viele Christ/innen erfahren die aktuellen Einschränkungen als besonders schmerzlich. Doch sollten sich die Bischöfe daran erinnern, dass sie um ein Privileg für maximal 55% der bayerischen Bevölkerung kämpfen. Das Begehren schwächt die gesamtgesellschaftliche Solidarität; diese ist jedoch notwendiger denn je.
Die aktuelle Epidemie stellt ja nicht nur die Kirchen, sondern die gesamte Gesellschaft vor enorme Herausforderungen. Ihr gesamtes soziales Verhalten ist erschüttert und Verunsicherung breitet sich aus. Elementare Grundrechte wurden eingeschränkt, kulturell tief verankerte Feste und Gepflogenheiten stehen plötzlich auf dem Prüfstand. In dieser Situation ist es die solidarische Pflicht auch der christlichen Kirchen, sich in die wohlbegründeten und offiziell festgelegten Beschränkungen einzuordnen. Aus medizinischer Sicht sind sie notwendig und zwingen uns dazu, genauer über den Sinn von Gottesdienstfeiern und Weihnachten nachzudenken.
2. Fromme Rituale
In der katholischen Kirche sind die aktuellen sakramentalen Rituale, insbesondere die Eucharistiefeiern, das Ergebnis einer lange gewachsenen, vielfach inkulturierten Glaubens-, Frömmigkeits- und Volkspraxis. Dabei wurden viele ursprüngliche Dimensionen verdeckt oder verfremdet. Zudem ist die katholische Praxis noch immer von antiprotestantischen Akzenten geprägt.
Dies zeigt ein einfacher Blick in das Neue Testament und die ersten christlichen Jahrhunderte. Zwar fühlen wir uns dem Abendmahlsauftrag Jesu verpflichtet, von Anfang an traf sich die Gemeinde zum sonntäglichen Gottesdienst. Doch zunächst hat man das Brot nicht in Tempeln oder Kirchen, sondern in den Häusern gebrochen und es gibt keinen Bericht darüber, dass diese Praxis in Konfliktfällen sozialen und gesundheitlichen Erfordernissen vorgezogen wurde.
Der einseitig überhöhte Stellenwert, der die Eucharistie zu „Quelle und Höhepunkt des Lebens und der Sendung der Kirche“ erklärt und die Bedeutung des Wortes ihr unterordnet, entspricht nicht dem ursprünglichen Kerngefüge christlicher Existenz. Zu ihr gehören zunächst die Annahme und Verkündigung des christlichen Glaubens sowie eine tätige Nächstenliebe. Es darf heute nicht erneut der vorkonziliare Eindruck entstehen, ohne Eucharistie sei ein gutes Christentum nicht möglich. Im Gegenteil, nur wer sein/ihr Christsein kennt, bejaht, danach handelt sowie im Alltag seine Erfahrungen damit macht, kann sinnvoll Eucharistie feiern. Das Johannesevangelium hat den Abendmahlsbericht durch den Bericht von der Fußwaschung ersetzt. In diesem Sinn ist die Bedeutung liturgischer Zusammenkünfte relativ. Deshalb kann der Verzicht auf sie u.U. zur Pflicht von verantwortungsbewussten Christen werden. Heute ist dies der Fall; Katholiken sind keine Sakramentalisten.
3. Neutestamentliche Maßstäbe
Neutestamentlich setzt das Fest der Geburt Jesu andere Maßstäbe. Historisch gesehen ist das Weihnachtsdatum reine Fiktion. Von Tannenbäumen, rieselndem Schnee und Glockengeläut oder von gemütsvoller Innigkeit kann keine Rede sein. Die neutestamentlichen Geburtsgeschichten berichten von orts- und obdachlosen, von allen Türen gewiesenen Eltern, die ein Kind erwarten und es in einen Futtertrog legen, danach fliehen müssen und der Todesgefahr ausgesetzt sind. Selbst die von Franziskus entwickelte Krippenfeier degenerierte unter wohlbürgerlichen Verhältnissen – zugespitzt gesagt ‑ zu einem frommen Kitsch, der mit der ursprünglichen Geschichte von existentieller Ohnmacht nur noch wenig zu tun hat. Daran ist unter den Bedingungen einer Pandemie zu erinnern.
Damit sei die traditionelle Weihnachtsfrömmigkeit nicht pauschal verurteilt. Doch angesichts der aktuellen Situation verdient sie keinerlei Vorrang. In diesem Jahr ist wichtigeren, radikal elementaren Aspekten Vorrang zu gewähren.
4. Jesusnachfolge statt Weihnachtsgenuss
Die aktuelle Epidemie sollte uns dazu veranlassen, das Verhältnis zwischen ursprünglicher Jesusnachfolge und traditioneller Weihnachtsfrömmigkeit neu zu justieren. Die Nachfolge Jesu setzt andere Maßstäbe. In erster Linie muss es darum gehen, uns verstärkt den Vereinsamten und Heimatlosen zuzuwenden, zu ihnen zu gehen, ihnen Schutz zu gewähren und unsere tätige Solidarität zu organisieren. Dadurch würde auch die machtkritische Tendenz zumal der lukanischen Geburtsgeschichte wieder deutlicher: „Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Unterdrückten.“ (Lk 1,52)
5. Rechtsstatus von Religionen
Es ist nur peinlich, wenn Kirchenführer mit formalen Rechtsgründen für das Weihnachtsfest eine Sonderbehandlung einfordern. Im Gegenteil, sie müssten die ersten sein, die in dieser Situation Rechtsverzicht üben. Christ/innen sind ja nicht zur Untätigkeit verurteilt. In den vergangenen Monaten haben christliche Kirchen und Gemeinden auch für die liturgische Kommunikation genug digitale Möglichkeiten entwickelt, viele das eigene Haus als genuinen Ort des religiösen Feierns entdeckt.
Schließlich können wir den Geschwächten unsere Hilfe anbieten, einen Einkaufsdienst auf die Beine stellen, Geschenke vor Haustüren legen oder Briefe schreiben. Uns stehen Telefone und digitale Medien, Zoom und Skype zur Verfügung. Mit ihrer Hilfe können wir während der Weihnachtstage intensiven Kontakt zu anderen Menschen aufnehmen. Sie würden sich darüber freuen und könnten so etwas von göttlicher Güte erfahren.
6. Persönliche Erfahrungen
Vor einigen Tagen fand ich im „Heimatbuch“ meines Geburtsorts die Notiz eines inzwischen betagten Mannes. Er berichtet, wie er am Heiligen Abend 1946 von der Krippenfeier nach Hause kam und vor der Haustür ein Paket mit nützlichen Geschenken vorfand. Noch nach Jahrzehnten erinnert er sich an die Gefühle, die ihn überkamen. Er, der Flüchtlingsjunge, hatte wohl das beglückende Gefühl, dass an diesem Abend andere an ihn denken. Ich kenne auch den gleichaltrigen Jungen, der das Paket niederlegte. Dieser fand zuerst das Haus nicht und fiel bei Glatteis auf einen harten Boden. Deshalb kam er zu spät zur Kirche, wofür ihn seine Eltern hart tadelten: „Was sollen da die Leute denken?“ Heute ist mir klar, welchen wirklichen gottesdienstlichen Auftrag der schenkende Junge erfüllte: „…versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere Deine Gabe.“ (Mt 5,23f.)