Unaufrichtigkeit – Tod einer lebendigen Demokratie

Zu den Auseinandersetzungen mit Boris Palmer

Das Wichtigste, was ihr verstehen müsst, ist,
dass ein Beweis immer eine Herleitung braucht.
(Lehrerin im Film ‚Das Lehrerzimmer‘, 2023)

Warum mich die Geschicke des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer so sehr beschäftigen? Ich weiß es nicht wirklich. Dass ich Bürger der Stadt Tübingen bin und Palmers vielfältige Leistungen sehr schätze auf dem Gebiet der Ökologie und Kultur, des sozialen Zusammenlebens und der Ausländerpolitik, der kreativen Interventionsbereitschaft in außerordentlichen Situationen, des allgemeinen politischen Diskurses überhaupt, – das alles fließt in mein Gesamturteil ein, setzt aber eine vorgegebene Sympathie voraus. Dabei bin ich ihm nur selten persönlich begegnet, war auch nicht parteipolitisch aktiv, da ich mich – nach langer Tätigkeit im Ausland – erst 2005 endgültig in Tübingen niederließ. Eine Rolle mag eine alte Sympathie zu seinem Vater spielen: zu Helmut, dem sozial orientierten Menschen, dem bodenständigen Gärtner, Spezialisten für Apfelbäume, Gemüsehändler, Bürgerrechtler und „Remstalrebell“, der – wie wir in jungen Jahren fanden – für jede Provokation zu haben war, der behördliches Fehlhandeln entlarvte und den Politikern mit oft überdeutlichen Worten die Meinung steckte.

Der Vater Helmut

Allerdings hat mich die wohlfeile Stammtisch-Sympathie für diesen Haudegen nie wirklich überzeugt. Zu schnell wurde sein Verhalten zu unterhaltsamen Anekdoten missbraucht, zum allgemeinen Amüsement berichtet. Die ernsten Hintergründe seines schwierigen, von Unfrieden und Protest getriebenen Charakters wurden tunlichst verschwiegen. Dieses Verschweigen verwundert mich noch heute, zumal ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger gerne auf den Vater verweisen. „Ich habe ihn auf dem Rathausplatz erlebt“, „Mich hat er nicht bedient, weil ich nur eine Plastiktüte hatte“. „289-mal hat er erfolglos als Bürgermeister kandidiert“, „Zum Tübinger Bürgermeister schrie er von seinem Gemüsestand hinauf: ‚Du Sesselfurzer‘“. „Sein Boris musste mit ihm Bäume schneiden.“ …

Dass Helmut Palmer (1930 geboren) während des Nationalsozialismus – als unehelicher, von der Mutter später zu den Großeltern abgeschobener Sohn eines jüdischen Vaters – ständigen Bedrohungen, Demütigungen und Angriffen ausgesetzt war, dass er „Moses“ gerufen wurde, Schule und Jugendgruppen ihm oft zur Hölle wurden, weil sie ihn ausgrenzten, dass er schließlich an einem Ort aufwuchs, an dessen Eingängen Schilder prangten mit der Aufschrift: „Hier sind Juden unerwünscht!“, davon war nie die Rede. Kaum jemand hat wohl darüber nachgedacht, welch schreckliches Erbe dieser Mann mitschleppen und ertragen musste. Man hätte ihn dafür bewundern müssen, dass er sich trotz einer Kindheit in Anfeindung so intensiv für das Gemeinwohl engagierte und Deutschland nicht den Rücken kehrte. Man hätte sich seines Schicksals durch Zuwendung und Zuhören annehmen, ihn nachhaltig unterstützen müssen. Aber das war im Nachkriegsdeutschland wohl nicht opportun. Vielerorts wünschte man sich Versöhnung, aber nicht unbedingt im pietistischen Geradstetten, das ihm wohl zur Hölle wurde, und seiner schwäbischen Umgebung. Oder kennt man einen Bürgermeister oder Schulleiter, der ihn einmal in eine Schule oder zu einem öffentlichen Auftritt eingeladen hätte?

Hermann Liggesmeyer (Tübingen) berichtet in einem Leserbrief (10.05.23) über Helmut Palmer: „In Schmähbriefen wurde er unter anderem als ‚Remstaljude‘ verunglimpft. Zur ‚fachlichen Auseinandersetzung‘ mit dem neuartigen Baumschnitt gab es auch eine Schrift, die mit den Worten begann: ‚Helmut Palmer, der uneheliche Sohn eines …‘. Die Botschaft war eindeutig: ‚Du gehörst nicht zu uns, wir machen dich fertig.‘ Bei Helmut Palmer haben sie es geschafft und faktisch seine wirtschaftliche Existenz vernichtet.“ Vor Gericht musste er sogar um die ihm zustehende Entschädigung für ein Grundstück kämpfen, das ihm in Köngen (Kreis Esslingen) enteignet wurde. Liggesmeyer versteht deshalb, weshalb Boris Palmer in Frankfurt „dünnhäutig“ reagierte. Ich verstehe hingegen, weshalb er höchst sensibel reagiert auf jeden latenten und offenkundigen Rassismus (gleich ob antisemitisch oder nicht), auch dann, wenn ihn ein autoritärer Moralismus mit ständigem Kesseltreiben zum Rassisten stempeln will.

Jüdische Gemeinschaft in Königsbach

Später erfuhr ich: Der Vater von Helmut Palmer, also der jüdische Großvater von Boris, hatte ursprünglich eine Metzgerei in der wohlhabenden Stadt Pforzheim, in dessen Nähe ich aufwuchs. Er (und seine Vorfahren) stammten aus einer jüdischen Gemeinde im benachbarten badischen Ort Königsbach (heute: Königsbach-Stein). Schemenhafte Erinnerungen aus meiner Kindheit tauchen auf, so etwa eine Kolonne von Männern mit Schaufeln und Spaten auf dem Rücken. Meine Mutter erklärte mir, das seien Juden, die zur Arbeit geführt wurden. Diese Information erstaunte mich, denn mein Großvater, wohlhabender Bauer und Inhaber einer Gaststätte im katholischen Nachbarort Kämpfelbach-Bilfingen, hatte einige Zeit früher von seinen vielfältigen Beziehungen zu den Königsbacher Juden berichtet. In seinen Erzählungen waren es keine Landarbeiter, vielmehr handelten sie mit Vieh und Zigarren. Mein Großvater bewirtete sie in seiner Gaststätte regelmäßig, gerne und mit Gewinn.

Es muss Ende 1944 gewesen sein, da berichtete mir meine Mutter auf meine Frage hin, jetzt seien alle Juden verschwunden. Wohin? Das wisse sie nicht. Heute erinnert an die ausgerottete jüdische Gemeinschaft noch ein kleiner Friedhof: versteckt, vor einigen Jahren mit Hakenkreuzen geschändet, nur über einen Trampelpfad erreichbar (so in Wikipedia zu lesen), das Zugangstor verschlossen. So mutierte dieser verwunschene Ort meiner kindlichen Phantasie zu einem Ort der Leere, dann zu einem Ort der Schande, dem sich die Bewohnerschaft von Königsbach offensichtlich – lange Zeit jedenfalls – nicht stellen wollte.

Epidemische Antipathie

Mit diesem beunruhigenden Hintergrundwissen versuchte ich später, den Tübinger OB mit seinen Ecken und Kanten, den ständigen Konflikten und Auseinandersetzungen zu verstehen. Die nachhaltige Verbissenheit, mit der man ihn kritisierte, oft schmähte, weckte meine Neugier. Fast nie waren mir die Motive und inhaltlichen Gründe, die zu diesen Explosionen von Beleidigung und Ablehnung gegen ihn führten, wirklich klar. Noch weniger verstand ich, wie sich im Laufe seiner Amtsjahre die Streitkulisse verselbständigte, in den Leserbriefen des Tagblatts zu bizarren, nach meinem Urteil pathologischen Auswüchsen führte sowie zu organisierten Kampagnen mit hohem moralischem Anspruch, als ob B. Palmer eine Bedrohung für unsere Demokratie darstellte (man erinnert sich an die Vorurteile gegen seinen Vater).

Besonders irritierte mich die Kritiklust des Schwäbischen Tagblatts, das ihn mit Hingabe als einen Besserwisser, als geltungssüchtigen und reizbaren Zeitgenossen darstellte, bisweilen selbst seine moralischen Qualitäten und Kompetenzen in Zweifel zog. Die Kommentare zu seinem alltäglichen Handeln relativierten mit Vorzug die positiven Aspekte, akzentuierten die negativen umso mehr. Der Akzent lag oft nicht auf den Fakten, sondern auf einer missmutigen, meist grenzwertigen Begleitmusik. Hinzu kam, dass der intellektuelle Debatter vielen seiner KontrahentInnen überlegen war; das begünstigte eine aggressive Stimmung. Schließlich erhoben ihn seine Gegner zum Feind und machten ihn zur Bug-Figur ihrer politischen Aggressionen. War er zu einer TV-Veranstaltung eingeladen, gereichte ihm das zur Aufforderung, er solle sich mehr um die Stadt kümmern. Nahm er nach dem Geschmack seiner Antifront zu viel Einfluss auf die stadtinterne Diskussion, hieß es, er solle sich mehr um konkrete Sachprobleme kümmern. Bat er um Entschuldigung dafür, dass er über das Ziel hinausgeschossen sei, legte man die Platte von einem ständig wiederkehrenden Muster auf: bewusste Provokation, Rückrudern, gesteigerte Provokation usw. Das ist bis heute so geblieben und mancher aktuelle Leserbrief liest sich wie die leicht modifizierte Abschrift von Texten aus den vergangenen Jahren.

Einen bizarren Höhepunkt erreichte die Auseinandersetzung im Wahlkampf um das Amt des Oberbürgermeisters im Oktober 2022. Zwei Konkurrentinnen (von den Grünen bzw. der SPD unterstützt) definierten ihre Kandidatur mit Vorrang als Alternative zu Palmer, so sehr war er zum Buhmann geworden. Genuin eigene Ideen zu entwickeln, dazu war ihr Ehrgeiz offensichtlich nicht groß genug. Sie wollten zugänglicher, freundlicher, kommunikativer sein und niemanden ausschließen. Absurd war schließlich ein Aktionskomitee ohne eigenen Kandidaten, das mit hohem moralischem Anspruch nur Palmers Wiederwahl verhindern wollte, als ob die Geltung des Grundgesetzes oder die politische Kultur Tübingens zur Debatte stünde (auch das erinnert an seinen Vater). Über allgemeine moralische Verurteilungen kam keine Gruppe hinaus. Seine kommunalpolitischen Leistungen an konkreten Punkten zu bemängeln, das fiel wohl schwer. In den letzten Wochen des überhitzten Wahlkampfs gaben Palmers Befürworter ihre eigenen Leserbriefaktivitäten getrost auf; zu peinlich war das erreichte Niveau. Sie hatten einen guten Instinkt, denn in Konkurrenz mit drei weiteren kandidierenden Personen erreichte Palmer auf Anhieb 52,6 Prozent. Palmer hatte sich durchgesetzt, die Grünen waren gespaltener denn je, die SPD ratlos. Die Lage schien sich zu beruhigen.

Ermordung von Basiru Jallow

Doch neue Irritationen brechen auf.
Am 30.03.2023 wird im Alten Botanischen Garten (Bota) der aus Gambia geflüchtete Basiru Jallow ermordet. Am ersten Tag würdigt B. Palmer als Oberbürgermeister den Ermordeten, den Vater eines jungen Sohnes, in angemessener Weise; das wird jedoch schnell vergessen, denn unmittelbar danach kommt er warnend auf die Drogensituation im Bota zu sprechen, in dem der Mord geschah. Er teilt unvorteilhafte Details aus dem Tübinger Vorleben des Ermordeten mit und legt am folgenden Tag die Gründe für seine Intervention dar. Mich überzeugt diese Intervention, doch prompt bricht ein Sturm der Entrüstung los. Ignoriert wird Palmers leidenschaftliches Anliegen, die öffentliche Ordnung des Bota wiederherzustellen, nachdem einige Teile von ihm zum Umschlagplatz von Drogen geworden sind und Frauen sich abends nicht mehr in den Park trauen. Einige Tage später erklärt im Tagblatt ein schwachbrüstiger Kommentar, wenn man dort die Drogendealer vertreibe, tauchten sie nur andernorts auf. Was wieder einmal bleibt, ist der sichtlich begründungsfreie Vorwurf, in rassistischer Absicht habe Palmer das Andenken an einen Toten verunglimpft.

Der MdB-Abgeordnete Dr. Martin Rosemann wird später den gegenstandslosen Vorwurf nachschieben, „vermutlich“[!] habe Palmer u.a. den Datenschutz verletzt. Warum hat er ihn dann nicht angezeigt? Erneut steht der Standardvorwurf des Rassismus im Raum und die Presse bläst munter in dasselbe Horn. Dabei bin ich auch jetzt davon überzeugt, dass Palmer weder rassistisch gehandelt noch rassistisch geredet, auch jetzt niemanden auf Grund seiner/ihrer allochthonen Herkunft diskriminiert, oder einer bestimmten Menschengruppe negative Eigenschaften zugeschrieben, gar Menschen als Angehörige einer bestimmten Gruppe identifiziert hat, um sie dadurch zu diskriminieren.

Doch wurde mir endgültig klar, dass Boris Palmer – falls sich die Diskussion nicht fundamental ändert – in diesem öffentlichen Umfeld keine Chance mehr hat, denn seine KritikerInnen in Presse und sozialen Medien fühlen sich für ihre Vorwürfe schon lange nicht mehr begründungspflichtig. Zwar stehen ihre Anwürfe auf äußerst schwachen Füßen, doch können sie sich auf die verbreiteten Angriffe aus früherer Zeit berufen. Für sie gewinnt eine Kritik an Überzeugungskraft, je öfter sie wiederholt wird; bei jeder Kontroverse bleibt etwas hängen. Der offene Brief der MdB Dr. Martin Rosemann (SPD) vom 06.05.2023 zeigt, wie sich die Konfrontation verhärtet hat und wie selbst ein Bundestagsabgeordneter ungestraft beleidigende und unrichtige Behauptungen in die Welt setzen kann.

Eklat in Frankfurt

Dann folgt in Frankfurt am 28.4. 2023 der vorläufig letzte Akt: Boris Palmer wird an einem Symposion zu Fragen des Umgang mit Flüchtenden teilnehmen. Der Ablauf des Symposions ist mir nicht bekannt. Das Fernsehen verbreitet später zwei private Smartphone-Aufnahmen.

– Die eine gibt ein Statement von Palmer wieder, in dem er sich (wohl während des Symposions) zum Umgang mit dem bekannten N-Wort äußert. Seine Position scheint mir überzeugend: Entscheidend, so Palmer, ist der Kontext seiner Verwendung. Die Beschimpfung einer Person mit diesem Wort stehe außer Diskussion. Das Wort, das nicht zu einem gängigen Wortschatz gehöre, dürfe aber dann ausgesprochen werden, wenn es um die Diskussion über das Wort als solches gehe, seine Bedeutung und Verwendung also reflektiert werde. Zudem hält er es nicht für sinnvoll, das Wort aus früher erschienen Texten zu streichen. Als Beispiel dient ihm u.a. Pippi Langstrumpf von Astrid Lindgren. Er bekräftigt seine Position, indem er in diesem reflektierenden Kontext das Wort auch tatsächlich ausspricht. Was daran skandalös sein soll, ist mir nicht einsichtig. Umso mehr fällt mir auf: In zahllosen Kommentaren wird nur berichtet, wie oft Palmer das ominöse Wort benutzt hat. Die Frage nach dem Kontext wird also schlicht unterschlagen. Wenn das keine böswillige Absicht war, dann mindestens unverzeihlicher Leichtsinn, wenn nicht gar bodenlose Dummheit.

– Die andere Aufnahme zeigt Palmers Ankunft vor dem Uni-Gebäude. Eine Gruppe von Studierenden fängt ihn ab; ein dunkelhäutiger junger Mann fordert ihn offensichtlich dazu auf, das N.-Wort auszusprechen (biblisch gesprochen: er stellt ihm eine Falle). Palmer tut es, in diesem Kontext hat das Wort ja keinerlei beleidigenden Charakter, sondern leitet eine Reflexion über das Wort ein und beginnt seine Position zu erklären. Doch das interessiert die Studierenden wenig. Sie hatten ja nur auf das Wort gewartet und wie auf Kommando beginnen sie zu klatschen und zu johlen: „Nazis raus, Nazis raus“. Um ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen, klatscht Palmer zunächst mit, denn auch er ist gegen die Nazis. Dann aber reagiert er ernst und versucht, seine Position argumentativ zu verteidigen. Als man ihn noch immer nicht hören will (und klar ist, dass sie keine Argumente hören wollen) geht er zur Gegenkritik über.

Jetzt aktiviert sich sein traumatisches Familienerbe. Seinen Vorfahren zwang man den Judenstern auf, um sie in der Öffentlichkeit zu diskriminieren (man erinnere sich: sein Vater musste in einem „judenfreien Dorf“ aufwachsen). Jetzt versucht man, ihm die Plakette „Rassist“ aufzudrücken, um ihn als politische Unperson kaltzustellen. Presse und Personen des öffentlichen Lebens empören sich über diesen Vergleich, denn er relativiere das Schicksal der Juden. Warum aber darf er das nicht sagen? Warum nicht darauf verweisen, dass man die Grabsteine seiner Vorfahren mit Hakenkreuzen beschmiert hat, um die Toten diskriminieren? Wie wagt man es, einem Nachfahren von Juden, (deren nationalsozialistisches Schicksal in seine Familiengeschichte intensiv eingeschrieben ist) zu verbieten, dass er Dritte bei ihrer Diskriminierungsaktion mit diesem Zusammenhang konfrontiert? Macht man ihm das Schicksal zum Vorwurf, was Deutsche seinen jüdischen Vorfahren angetan haben? Den Skandal dieser Konfrontation sehe ich darin, dass seine Reaktion in der Öffentlichkeit skandalisiert, sogar von seinem „Freund“ Kretschmann massiv kritisiert und von seinem Anwalt rüde sanktioniert wird.

Folgerungen

Ich halte ein, um Klarheit zu gewinnen und ermahne mich zur Vorsicht, denn Fehlverhalten stellt sich wohl nie ohne Anlass ein. Natürlich muss auch ein angebbarer Grund für diese katastrophale Entwicklung zu finden sein, dass Boris Palmer nämlich so infam (wie ich empfinde) behandelt wird. Die ihn kritisieren, müssen keine verachtenswerten Menschen sein, obwohl manches verachtenswerte Wort gefallen ist, das besser nicht gefallen wäre, weil es eine üble Langwirkung erzielt. Warum also wird dem Vollblutpolitiker Boris Palmer neben Arroganz und Unbeherrschtheit regelmäßig Rassismus vorgeworfen?

Im Vergleich zum politisch korrekten Mainstream sehe ich bei ihm ein wichtiges Merkmal. Wer in Deutschland (und angesichts unserer Geschichte) politisch korrekt sein will, sei es aus Überzeugung oder aus Opportunismus, wird schon jeden Anlass zu einem rassistischen Missverständnis vermeiden, also schon im Vorfeld präventive Weichen stellen.

(1) Zum Beispiel wird diese Person das N-Wort in jedem Fall, auch in analysierenden und literarischen Kontexten vermeiden, obwohl dies zu merkwürdigen Effekten führen kann. Häufig wird um den heißen Brei herumgeredet, um peinlichen Situationen zu auszuweichen. Wenn aber die geradezu religiöse Tabuisierung sensibler Wörter konsequent fortgesetzt wird, wissen jüngere Menschen bald nicht mehr, wie dieses N-Wort überhaupt heißt. Deshalb kann nur noch eine vermeintlich rassistische Regelverletzung ihrem Unwissen abhelfen. Ich erinnere mich an die skurrile Situation eines Kindes, das seine Mutter als „A.-L.“ beschimpfte. Darauf erklärte die Mutter, dieses Wort gebe es überhaupt nicht. Doch das Kind bestand zu Mutters Ärger darauf, dass sie es in der Kita gehört habe. Hätte die Mutter ihrem Kind das Wort nicht besser erklären, also in den Mund nehmen, ihm dessen bösen Sinn erschließen und klarmachen sollen, dass es damit keine anderen Menschen beschimpfen sollte? Man kann also darauf warten, bis das Wort „N-Wort“ selbst tabuisiert wird, da es ja das N-Wort vollinhaltlich vertritt, also nicht mehr benutzt werden darf (Anhang 2).

(2) Diese Person wird über konkrete Mitmenschen mit dunkler Hautfarbe nie eine negative Aussage machen, auch wenn sie nicht rassistisch ist, weil andere diese Intervention als Wasser auf die Mühlen ihres eigenen Rassismus lenken und unkontrolliert für ihren Fremdenhass ausnutzen könnten. Ist damit deren Rassismus aber geheilt oder nur in ein weiteres dunkles Verlies abgedrängt, wo es weitergären kann? Wer das Gefühl bekommt, er dürfe bestimmte Inhalte nicht mehr aussprechen, wird nicht zum bedachtsamen Kommunikator, sondern zum missmutigen oder misstrauischen Mitmenschen. Genau das möchte B. Palmer vermeiden.

(3) Diese Person wird über schädliche Missstände lieber schweigen, als gegebenenfalls eine Person mit dunkler Hautfarbe zu kritisieren, auch wenn die Kritik aus wichtigen Gründen (etwa der öffentlichen Ordnung) ausgesprochen werden müsste. Im Grund führt diese Intransparenz zur Benachteiligung anderer allochthoner Mitmenschen, die sich z.B. gesetzestreu verhalten, denn mit einer konkreten, sachbezogenen öffentlichen Kritik wird auch ihr Schutz aktiviert, rational unterbaut.

An diesen Punkten liegt der neuralgische Dissens, den Palmer aus eigener Verantwortung nicht übergehen kann. Die meisten Deutschen bauen in ihrer eigenen Psyche einen massiven Schutzschild vor dem Rassismus auf, weil sie ihn als ihre eigene Verlockung erkennen und fürchten, sodass sie ihn sicherheitshalber auch bei anderen vermuten. Sie kämpfen mit einer latenten Infektion, die immer neue Abwehrkräfte erfordert. So stellt sich, Corona vergleichbar, ein möglichst klarer und großer Sicherheitsabstand vor diesem Abgrund ein, der ständig im öffentlichen Diskurs lauert. Wer den Abstand nicht einhält, gilt zumindest als fahrlässig, wenn nicht gar als Rassist.

Boris Palmer hingegen, der kraft familienbedingter Identität schon lange massive antisemitische (sprich: rassistische) Verwundungen in sich verarbeitet hat, kennt diese Ängste – noch zum Zeitpunkt der Frankfurter Auseinandersetzung – nicht, muss sie auch nicht haben. Er sieht keinen Anlass, mit der deutschen Öffentlichkeit in therapeutischer Vorsicht umzugehen. Rassistische Folgerungen, die sich nicht aus seinen Äußerungen ergeben, bedeuten für ihn kein Tabu. Im Gegenteil, er erwartet in allen Diskussionen schlicht absolute Ehrlichkeit. Jedes unehrliche und intransparente, verdeckende und verdrängende Verhalten, auch das präventive Schweigen nimmt er als Beschädigung mitmenschlicher bzw. gesellschaftlicher Beziehungen wahr, weil es eine Intransparenz in Kauf nimmt. Das Gedächtnis seiner Familie hat diese Frage schon hinreichend verhandelt. Deshalb schreckt er auch nicht mehr vor den angestammten Deutschen zurück, die aus scheinbar antirassistischen Motiven seine Herkunft mit brutalsten Mitteln zu zerstören drohten und massenweise zerstört haben. Er kann nur noch ein ‚Ja-Ja‘ oder ein ‚Nein-Nein‘ dulden. Mehr noch, Boris Palmer kann es den angestammten Deutschen nicht ersparen, dass sie sich endlich die Präzision der absoluten Ehrlichkeit erarbeiten. Drei Beispiele können es illustrieren:

– Als Angela Merkel angesichts der Flüchtlingskrise von 2015 erklärt: ‚Wir schaffen das!‘ und damit eine emotional wirksame Losung in politische Bewusstsein lanciert, reagiert Boris Palmer mit dem Buchtitel ‚Wir können nicht alles!‘ Er will damit Merkel nicht blockieren, sondern korrigieren, sie nicht ins Unrecht setzen, aber differenzieren. Er stellt dem emotionalen Appel eine rational akzentuierte Aussage entgegen, die die vorhersehbaren Probleme nicht verschleiert; unbestritten ist, dass er in seiner Stadt die Herausforderungen des damaligen Zustroms vorbildlich löste. Kurz, er erweist sich als Anwalt der Aufrichtigkeit; seine Kritiker wittern hingegen nur Kritik um der Kritik willen.

– Als die Deutsche Bahn ein Reklamebild mit mehrheitlich nicht-weißen Mitbürgern in einem Zugabteil zeigt, fragt er kritisch zurück, ob diese Darstellung die aktuelle Situation widerspiegle. Er möchte nicht, dass ein geschöntes Bild gezeichnet wird, auch wenn es vielleicht positive Emotionen aufrufen sollte. Prompt wird ihm dies als Rassismus ausgelegt.

– Als er einen dunkelhäutigen Mitbürger mit dessen eigenen rassistischen Äußerungen konfrontiert (indem er einfach dessen brutale Worte zitiert), können seine KritikerInnen diese entlarvende Technik nicht einmal erkennen, – für mich ein weiteres Armutszeugnis für ihre Fähigkeit zur Kommunikation.

So gesehen ist Palmer für die deutsche Kommunalpolitik, auch für einen korrekten Umgang mit Allochthonen, ein Glücksfall. Man muss auch rassistische bzw. antisemitische Worte nennen und benennen dürfen, um ein klares, unmissverständliches Verhältnis zum Rassismus zu erzielen und diesem die Fratze vom Gesicht zu reißen. Irgendwann mussten und müssen jüdische Eltern ihren Kindern erklären, was es heißt: „Juda verrecke“, „Judensau“ oder „Saujude“. Wer die Erinnerungen an solche existentielle Bedrohungen in sich trägt und durchgestanden hat, hat keine Berührungsängste mehr, auch wenn die deutsche Öffentlichkeit vor dieser Angst fliehen will und deshalb lieber ins fruchtlose Schweigen verfällt. Palmers Vorfahren sind durch das Stahlbad antisemitischer Mordlust gegangen; er ist hinreichend gegen jeden Rassismus gestählt, dem nur noch eine letzte Aufrichtigkeit Widerstand leisten kann. Boris Palmer weiß besser als seine schreienden Kritikerinnen und Kritiker, was Antisemitismus und Rassismus bedeuten. Vermutlich macht gerade das seine Kontrahentinnen so wütend und hilflos, obwohl sie sich eine moralische Überlegenheit einbilden, die Ihresgleichen sucht.

Dass die schwäbische Öffentlichkeit darüber noch nie nachgedacht hat, empfinde ich als Symptom eines sträflichen Empathiemangels. Wenn etwa ein Journalist erklärt, Palmer solle endlich die Klappe handeln, dann spürt er wohl nicht, wie hässlich sich sein eigenes Mundwerk gebärdet. Wer so primitiv bellt, gibt damit nur zu erkennen, wie empfindlich er selbst durch diese rückhaltlose Offenheit getroffen ist. Wer mit Häme gegen B. Palmer erklärt, der Kontext von Palmers Auseinandersetzung in Frankfurt sei keine Sachanalyse gewesen, sondern Geschrei, verfälscht hinterhältig einen Kontext, in dem die rational vermittelnden Erklärungsversuche von Palmer schlicht niedergeschrien wurden. Kassandra wird zum Opfer des Unheils gemacht, das sie anderen mitteilt.

Den Höhepunkt der Anmaßung und des Zynismus (nicht unbedingt gewollt, treffsicher aber in seiner Wirkung) finde ich in der Tatsache, dass man nach dem Frankfurter Eklat dem Betroffenen einen Vergleich mit Nazivorwurf und Judenstern verboten hat. Doch Palmer hat schlicht erklärt, damals habe man seinen Vorfahren den Judenstern als Etikett aufgezwungen; heute heiße das Etikett, das man ihm aufdrückt „Nazi“ bzw. „Rassist“. Die Replik der ehrbaren Damen und Herren, er relativiere damit die Schoah, ist pure Heuchelei, von selbstgerechten Weltverbesserern vorgetragen, die sich um die Identität und den Erfahrungshorizont ihres Kontrahenten um keinen Deut kümmern.

Die anerkannte Migrationsforscherin Susanne Schröter, die B. Palmer zur skandalträchtigen Konferenz „Migration steuern, Pluralität gestalten“ in Frankfurt eingeladen hatte und von puristischen Gruppen ebenfalls als Rassistin unter massiven Beschuss genommen wurde, erklärte später: Beim Versuch, die Konfrontation vor dem Gebäude den Konferenzteilnehmern zu erklären, habe Palmer das N-Wort „immer wieder“ wiederholt. „Ich war wie vom Donner gerührt: Was macht der Mann da?“ Warum aber war sie wie vom Donner gerührt? Hat er das umstrittene Wort denn im Sinne einer Diskriminierung verwendet? Mitnichten, er verblieb in einem analysierenden Kontext, machte sich also keiner Regelverletzung schuldig. Dass Frau Schröter dennoch irritiert war, kann ich jedoch nachvollziehen, denn das Wort ist und bleibt für das Sprachgefühl der Deutschen unschön, hässlich, und man sollte es auch in legitimen Zusammenhängen nur sparsam verwenden.

Warum aber ist das der Fall? Weil dieses böse Wort uns mit einem hässlichen Teil unserer eigenen Vergangenheit konfrontiert, die wir nicht einfach auslöschen können; es ist ein Stück dieser geronnenen Geschichte mit ihren destruktiven Nachwirkungen bis heute. Deshalb erinnert es uns unbarmherzig an einen Rassismus und einen Imperialismus, für den wir uns zu Recht schämen. Deshalb bildet es auch einen ständigen Anstoß (= Skandal) zur Auseinandersetzung mit unserer Identität. Man kann kaum erwarten, dass Boris Palmer mit seiner Erinnerungslast von dieser Scham geleitet wird. Darauf mit Aggression zu reagieren, zeugt kaum von einem reifen politischen und solidarischen Bewusstsein, sondern beweist nur, dass wir mit den Brüchen unserer eigenen Identität nicht umgehen können.

Ich fasse zusammen:

In der der aktuellen Diskussionen um Boris Palmer ist ein Virus wirksam, der die Kommunikation vergiftet, schrittweise zerstört und sich nicht schämt, einen vitalen Politiker nur deshalb in die Knie zu zwingen, weil er ein entscheidendes Defizit entlarvt, nämlich eine tiefsitzende, als Moralismus verbrämte Unaufrichtigkeit. Dieser Virus ist vor lauter Selbstschutz weder willens noch fähig, sich der eigentlichen Herausforderung zu stellen, mit der sie dieser herausragende Lokalpolitiker konfrontiert.

Vielleicht ist es gut, dass Palmer nun selbst seine jüdische Herkunft jetzt in die Diskussion eingebracht hat. So wird endlich der Stachel sichtbar, der schon lange hinter den beschämenden Auseinandersetzungen lauert. Sichtbar wird endlich auch die Infamie von TV-Beiträgen, die in dummer Arroganz Berichte über Boris Palmer mit unterirdischen Reportagen über seinen Vater mischen. Vielleicht wird man jetzt auch den Karikaturisten den Strich verbieten, wenn sie Boris Palmer mit Hakennase zeichnen. Bislang hat sie dafür nie jemand zur Rechenschaft gezogen. Nach Daniel Neumann sind die Deutschen der Überzeugung, jetzt auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Das sei der Grund dafür, dass sie nun umso redseliger anderen die Welt erklären und „im Konzert der Moralisten die erste Geige spielen wollen“ (vgl. Anne Strotmann in Publik Forum 10/2023).

Die Grünen aber, die Palmers Abschied aus ihrer Partei irgendwann bereuen werden, sollten sich die Verteidigungsschrift von Rezzo Schlauch noch einmal zu Gemüte führen. „Unzweifelhaft“ so Palmers damaliger Anwalt, ist es „der Tatkraft, dem Ideenreichtum, der Konfliktfreudigkeit und der Risikobereitschaft von Tübingens Oberbürgermeister zu verdanken, dass die Stadt in so vielen Feldern viel beachtete Pionierarbeit leistet.“ Dazu gehören auch Palmers Klärungsversuche für einen aufrecht humanen Umgang mit den kulturell und sprachlich unterschiedlichsten Mitmenschen, die in unserer Gesellschaft endlich ankommen möchten.

27.05.2023
Hermann Häring

PS vom 08.06.2023:

In einer Diskussion um die deutsche Asylpolitik erklärte am 06.06.03 die Bildungsministerin von Schleswig-Holstein und stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU, Karin Prien einem Radio-Beitrag über eine Neubewertung sicherer Herkunftsländer über die Grünen-Politikerin Aminata Touré gesagt: „Natürlich ist Aminata Touré durch ihre eigene Fluchtgeschichte geprägt [sie ist 1992 in Neumünster als Tochter malischer Eltern geboren]. Aber am Ende muss man in der Lage sein, als Politiker sich auch von seinem eigenen Schicksal ein Stück weit zu lösen und sich auch neben sich zu stellen und auch Entscheidungen mitzutragen, die einem persönlich wehtun.« Man darf gespannt sein, bis solche Überlegungen auch auf B. Palmer angewandt werden. Dabei ist hat Karin Prien jüdische Wurzeln; ihre Eltern hatten den Nationalsozialismus in den Niederlanden überlebt.

PS vom 02.08.2023:

Am 31. August wurde Boris Palmer, der nach der Frankfurter Auseinandersetzung eine vierwöchige „Aus-Zeit“ von seinen Amtsaufgaben genommen hatte, von Markus Lanz zu seiner jetzigen Situation und Position gefragt. Er erklärte u.a., dass er künftig vom Gebrauch der fraglichen, politisch tabuisierten Wörter Abstand nehmen werde. Damit akzeptierte er die verständlichen Vorbehalte vieler Deutscher gegen solche Wortwahlen. Dieser Entschluss verdient allerhöchsten Respekt. Doch er nannte auch die hochsensiblen Hintergründe seiner Familiengeschichte, von denen er sich nicht trennen kann, und illustrierte sie mit drei traumatisierenden Besuchen seines Vaters im Gefängnis von Stammheim mit peinlicher Kontrolle von seiner Mutter, seinem Bruder und ihm (Ausziehen bis zur Unterhose). Mir wird dabei noch deutlicher als früher: Faktisch wird er – wie viele andere – mit seinem Erbe alleingelassen, das ihm die deutsche Geschichte eingebrockt hat. In unserem Land können kulturelle, insbesondere jüdische Minderheiten, offensichtlich nicht mit öffentlicher Empathie rechnen, erst recht nicht solche Personen, die ihr schweres kulturelles Erbe nicht an die große Glocke hängen, sondern in sich selbst verarbeiten wollen und eine eigene willens- und tatkräftige Identität aufgebaut haben.

Anhang 1: Mail vom 21.04,2022 an MdB Dr. Martin Rosemann

Sehr geehrter Herr Dr. Rosemann,
Ihre Kritik an OB Palmer und Ihre angekündigte Kontaktverweigerung stößt auf mein Unverständnis, dies aus folgenden Gründen:
1. Sie beschimpfen BP als Rassisten. Diese Behauptung ist nachweislich falsch und unbegründet; damit bricht der Sinn der ganzen Aktion in sich zusammen.
2. Sie werfen ihm zu Unrecht mehrere Rechtsverstöße vor. Warum gehen Sie nicht gerichtlich gegen ihn vor, statt diese Vorwürfe im Raum ihrer Vermutungen stehen zu lassen?
3. Sie unterstellen BP Motive, die nur lächerlich und nicht nachvollziehbar sind. Er ist ein leidenschaftlicher Kämpfer für das Wohl und für lebensfreundliche Verhältnisse unserer Stadt. Dass er zudem sozial denkt und sich um Geflüchtete große Verdienste erworben hat, lässt sich nicht leugnen.
4. Auch Sie verfallen dem moralistischen Trugschluss, bei Geflüchteten und Allochthonen müssten gegebenenfalls Fakten verschwiegen werden, die zwar richtig, aber unbequem sind.
5. Sie übernehmen das Reservoir der Vorwürfe, die vor der Wahl abstruse Dimensionen angenommen hatten und in Leserbriefkampagnen systematisch geschürt wurden. Mit einem selbständigen Urteilsvermögen hatte und hat dies nur noch wenig zu tun.
6. Mit der pathetischen Ankündigung, sämtliche Kommunikationen mit B. Palmer abzubrechen und der Neujahresversammlung der Stadt Tübingen fernzubleiben, überschätzen Sie Ihre Wirkung. Vor diesem Hintergrund hat der Angegriffene souverän reagiert: Sie dürfen ruhig wegbleiben.
7. Gehen Sie bitte davon aus, dass sich auch Palmers Wählerinnen und Wähler von Maß, Vernunft und moralischen Maßstäben haben leiten lassen, dies nicht zu Ihrer Irritation, sondern als wertvoller Lernimpuls auch für Sie.
8. Der Moralismus, von denen Sie sich leiten lassen, bringt uns nicht weiter. Bei den Einen halte ich ihn für heuchlerisch, bei an Anderen für wenig durchdacht.

Mit freundlichen Grüßen

Anhang 2: Ulla Steuernagel (Schwäb. Tagbl. 22.05.2023)

Die Abkürzung schafft neue Präsenz

Langsam frage ich mich, was die dauernde Verwendung „N-Wort“ mit einem macht. Ich kannte eigentlich niemanden, der oder die den unabgekürzten Namen überhaupt noch verwendet hätte. Er unterlief manchen nur noch in der zusammengesetzten Form der mittlerweile zum Schokokuss eingebürgerten Süßware.

Und nun lese ich andauernd ,,N-Wort“, und wenn ich mich dazwischen noch im Wirrwarr aus ,,W-Wort“, ,,Z-Wort“ oder ,,I-Wort“ und all den anderen zum Anfangsbuchstaben enttriggerten Tabu-Wörter zurechtfinden muss, bin ich fast gezwungen, sie mir wieder rück zu übersetzen. Psycholinguisten haben vielleicht schlaue Erklärungen dafür, was das im Gehirn anrichtet. Ich finde: nichts Gutes.

Ich weiß, es ist ein überaus vermintes Gebiet, und ich habe keine Freude daran, es zu betreten und eine Mine hochgehen zu lassen. Ich möchte auch nicht in die gleiche Kerbe wie diejenigen hauen, die die Debatten um Abkürzungswörter und Gendersprache genussvoll nutzen, um ihre eigene Oberlehrersicht auf die Welt auszubreiten und all die bedrohlichen Denkverbote zu kritisieren. Ich meine im Gegenteil, dass dieses sogenannte Denkverbot durch das Abkürzungsdiktat unterwandert wird.

Als „N-Wort“ wird der herabsetzende Name zwar auf die Metaebene geholt. Es wird dann also über die Bezeichnung gesprochen, das Schimpfwort wird als Wort gedacht. Aber es bekommt dennoch eine Präsenz, die es in keinster Weise verdient hat. Die Ersatz-Formulierung verhält sich also seltsam übergriffig und trägt zu einer Unsicherheit in alltäglichen Begegnungen bei, die vielleicht schon überwunden war. Ich kann jetzt so viel falsch machen. Ist Schwarzer oder Schwarze noch angemessen? Oder spreche ich von PoC, also People of Color? Mittlerweile ist diese, wie ich finde nicht gerade respektvoll klingende Bezeichnung erweitert worden zu BIPoC, also um Black und Indigenous ergänzt worden. Damit sind dann nicht etwa verschiedene Hautfarben gemeint, sondern Rassismus-Erfahrungen verschiedener Herkünfte. Es gibt dafür keine Übersetzung ins Deutsche.

Nehmen wir die ebenfalls tabuisierte Frage nach der Herkunft. Sie ist häufig Thema in fortschrittlich gesinnten Gruppen. Die Debatte beginnt gewöhnlich mit einem Dialog zwischen einem Biodeutschen (auch so ein furchtbares Wort) und einem BIPoC, der, auf die Herkunftsfrage „Gütersloh“ oder ähnliches antwortet und dann gefragt wird, woher er denn „ursprünglich“ komme. Einigkeit wird in den Diskussionsrunden immer darin erzielt, dass es auf die jeweilige Situation und ein echtes Interesse des Fragenden ankomme und niemand ein generelles Frageverbot will. Beim inkriminierten „N“ verhält es .sich anders, das sollte außer den Betroffenen, wenn sie es sich in einem Akt der Selbstermächtigung zurückholen, niemand mehr sagen. Die vielen Debatten darüber – nicht die notwendigen in den Schulen – öffnen dem Platzhalter-Wort alle Türen, und so schlüpft das gecancelte Wort mit hinein.