Am 23.03.2021 lud Kardinal Woelki zu einer Pressekonferenz ein. G. Doliwa kommentierte sie und griff 35mal auf das Wörtchen „irgendwie“ zurück. Das war ein entlarvendes Stilmittel, denn alles, was Woelki erklärte, blieb „irgendwie“ unklar. Dabei sollte das neue Gutachten von Gercke-Wollschläger (GW) doch Zweifel ausräumen, Vorwürfe widerlegen und die Rücktrittsforderungen entkräften. Doch Woelkis Selbstverteidigung wirkte merkwürdig verwaschen und ungenau. Er gestand schwere Fehler zwar ein, ließ aber nicht erkennen, um welche es sich handelt. Wortreich wich er vielen Fragen der Presse aus. Trotz seiner elfjährigen Präsenz in den Leitungszirkeln des Bistums und obwohl er regelmäßig über Personalentscheidungen informiert wurde, will er von Missbrauchstaten nie etwas gehört haben. Außerdem habe er auch als Meisners Privatsekretär (1990-97) nichts von der Sonderakte gewusst, die sein Chef über die „Brüder im Nebel“ führte. So ließ Woelki sein Publikum ratlos zurück. Zerstörte er gar den letzten Rest seiner Reputation? Welche Triebfeder hat sich hinter diesem düsteren Verhalten verborgen?
Misslungener Befreiungsschlag
Dabei war das Schauspiel doch klug inszeniert. Der Kardinal präsentierte sich zerknirscht und sprach bisweilen mit stockender Stimme. Ein Gespräch mit einem Missbrauchsopfer habe ihm die wahren Abgründe solcher Verbrechen gezeigt. Seitdem zweifle er daran, ob er alles richtig gemacht habe. In jedem Fall hätte er mehr tun können, müssen, sollen. Umso entschlossener will er gemäß den neu entwickelten Maßstäben handeln, zugunsten der Opfer notfalls sogar das Kirchenrecht brechen. Was will man mehr?
Doch hinter der pauschalen Selbstanklage steckte harte Selbstverteidigung. Nur Gerichte dürften urteilen oder verurteilen, womit er wohl meint: Der Öffentlichkeit steht kein Recht zu, über ihn zu urteilen. Wer seinen Rücktritt fordere, so Woelki weiter, mache es sich zu einfach, denn die Einzelfälle seien hochkomplex. Im Klartext heißt das: Ihr Kritiker könnt klerikalen Missbrauch und dessen Vertuschung überhaupt nicht richtig bewerten. Wenn ich ginge, so seine Prognose, würden die nicht aufgearbeiteten Probleme bleiben; ähnliches könnte man auch von Lukaschenko hören. Doch ein Kardinal weiß auch, wie man seine Sturheit mit Gottes Willen und einem sakramentalem Auftrag begründet. Er wisse, dass die Wahrheit verdunkelt wurde und bringe deshalb Licht ins Dunkel. Wie denn?
Von solch messianischem Bewusstsein beflügelt trug dann Markus Hofmann, Woelkis Generalvikar, die neuesten Sanierungspläne so feierlich vor, als zelebrierte er ein mit Weihrauch parfümiertes Hochamt. Köln hätte sich damit an die Spitze der reformwilligen Bistümer katapultieren können (was wohl die Absicht war), doch Hofmann verpackte nur überfällige Versäumnisse in neues Glanzpapier.
Spätestens jetzt begann das Publikum zu zweifeln und die Atmosphäre kippte, als Woelki sich den Fragen der Journalisten stellte. Je verzweifelter er versuchte, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, sich vom klerikalen System zu distanzieren und Handlungsstärke zu beweisen, umso hilfloser und stammelnder wurden seine Worte. Er schien nicht einmal zu bemerken, wie sehr er selber im klerikalen System steckt und mit der versuchten Selbstbefreiung die Ketten nur noch enger zurrte. Unter Klerikalismus versteht er wohl nur die übliche bischöfliche Eitelkeit, also eine menschliche Schwäche. Das gemeine Volk hingegen versteht unter „Klerikalismus“ das knallharte System, das machtbesessen und empathiefrei als Selbstläufer agiert, seine eigenen Interessen durchsetzt.
Recht statt Moral
Allmählich klären sich auch die Vorgänge um das erste Gutachten von Westphal-Spilker-Wastl, das Woelki noch immer unter Verschluss hält. Folgende Entdeckungen drängen sich auf.
Woelki unterscheidet streng zwischen einer juristischen und einer moralischen Ebene. Die moralische Ebene instrumentalisiert er zur Selbstempfehlung; er parliert, wie schon erwähnt, im Stil frommer Sündigkeit. Die juristische Ebene hingegen missbraucht er, um seine eigenen Mitarbeiter sang- und klanglos abzuservieren, als hätte er nichts mit ihnen zu tun. Über die inneren Zusammenhänge und die kirchliche Diskrepanz zwischen Recht und Gerechtigkeit verliert er kein Wort. So wirft er mit keinem Satz die Frage auf, was genau den Opfern geschadet hat, ob den juristischen Verfehlungen nicht ein entscheidendes moralisches Versagen voranging und welche Genugtuung dafür fällig ist. Somit handelt Woelki moral-los, also amoralisch im klassischen Wortsinn. Seine Exilierung von Moral disqualifiziert ihn als Christen ebenso wie als Theologen.
Aus juristischer Perspektive kann sich Woelki gerade noch reinwaschen, indem er einen Grenzfall selbstbarmherzig ignoriert, der ihm bedrohlich werden könnte. Zugleich ahndet er unbarmherzig die juristischen Verfehlungen seiner Mitarbeiter, mit denen er doch kooperiert hat und die in seinem Sinne bzw. im Sinne seines Vorgängers handelten. Indem sich Woelki so auf einen kirchenrechtlichen Buchstabengehorsam zurückzieht und ‑ entgegen eigener Beteuerung ‑ die Perspektive der Opfer erneut ignoriert, handelt er unmoralisch, wenn nicht gar zynisch. Damit zerstört er irreparabel seine bischöfliche Autorität.
Wie wenig Respekt der Kardinal einer kritischen Öffentlichkeit entgegenbringt, demonstrieren die restriktiven Methoden, mit denen er nach Kräften ein Bekanntwerden des missliebigen Gutachtens von WSW behindert. Erst versuchte er, ein Schweigegebot durchzusetzen, dann verordnete er eine 90-minütige Lesebeschränkung, während der die Handys abzugeben sind. Offensichtlich treibt ihn die Angst vor einem systemgefährdenden Dokument um. Weshalb klärt ihn niemand über diese von Angst getriebene Arroganz seines Verhaltens auf?
Warum überhaupt reagiert er auf das erste Gutachten (WSW) mit so viel diskriminierendem Widerstand? Schon jetzt sind die Konturen klar. Das WSW-Gutachten stellt innerkirchliche Standards zur Diskussion. Es thematisiert einen möglichen(!) Zusammenhang zwischen Pflichtzölibat und sexuellem Missbrauch; zur Rettung des Zölibats haben Bischöfe diesen Zusammenhang schon früher empört zurückgewiesen. Ferner verweist es auf die herausragende Verantwortung, die Priester und Seelsorger als Vertrauenspersonen genießen und missbrauchen. Schließlich kritisiert es den „mehr oder weniger gleichgültigen“ Hinweis vieler Kirchenoberen, Missbrauch gebe es auch außerhalb der Kirche. Kurz, Woelki erwartet mehr Hochachtung vor den klerikalen Handlungsräumen und Attitüden der Hierarchie. Das alles hat nichts mit Empathie für die Gedemütigten zu tun.
Widerstand geboten
Ordnen wir Woelkis Verhalten schließlich in sein autoritäres Kirchenbild ein, auch dies kann einiges klären: Offensichtlich konzentriert er sich auf eine rein juristische Ebene, weil er die moralische Ebene von Missbrauch und Vertuschung noch immer nicht ernstnimmt. Vor allem will er von der strukturellen, dogmatisch sanktionierten Ebene ablenken; nach Woelki lässt sie keine Diskussion zu. Wer aber von Missbrauchstaten eine Brücke schlägt zum Pflichtzölibat und zur überhöhten Stellung des Klerus, verletzt nach Woelki eine methodische unerlaubte Grenze. Anders gesagt: Empathie für die Geschändeten hin oder her, die festgelegte Kirchenordnung bleibt tabu. Ohnehin steht dem Gottesvolk da unten keinerlei Rücktrittsforderung von Bischöfen zu; er geht nicht einmal auf dessen Argumente ein.
Genau hier ist schärfster Widerstand geboten, denn Woelkis Handeln ist eben doch von einem beinharten Klerikalismus motiviert. Er setzt den Wesensunterschied zwischen Klerikern und Laien kompromisslos durch, ist einem mythischen Sakramentsbegriff ebenso verhaftet wie von der unfehlbar gültigen Qualität dogmatisierter Aussagen überzeugt. Für ihn gilt, was Klaus Mertes und Matthias Kasch nachdrücklich betonen: Wer innerhalb dieses Systems agiert, ist unfähig zur Selbstreform. Mehr noch, er muss aus Prinzip schon jede Reformdiskussion ablehnen.
Aller Voraussicht nach wird Woelki seine unerbittliche Linie fortsetzen, das zeigt sich auch in seinem Verhalten gegenüber dem Synodalen Weg. In Sachen Kirchenordnung interessieren ihn Laienstimmen nur wenig. Wiederholt intervenierte er im Vatikan gegen die vermeintlich liberalen Beschlüsse von Deutscher Bischofskonferenz und Synodalem Weg. Die Integrität einer Pfarrgemeinde, so Woelki, hängt entscheidend davon ab, ob sie von einem Priester geleitet wird. „Ohne den Dienst des Priesters kann die Kirche nicht sein“ (30.03.2021). Der begeisterte Motorradsegner Woelki (Juni 2019) lobt heute das vatikanische Segnungsverbot homosexueller Paare. Er zeigt sich darüber empört, dass der Synodale Weg eine alphabetische Sitzordnung praktiziert, den Kardinal und Erzbischof also weit hinten unter „W“ einordnet; protestantisch sei das. Dabei ist theologische Kreativität nicht unbedingt seine Stärke; seine Dissertation zur Promotion an der römischen Opus-Dei-Universität della Santa Croce in Rom ist nur in Teilen einsehbar und tiefere Begründungen für sein Handeln sind kaum zu hören. Seine Argumentationen überschreiten nie den bürokratischen Rahmen katholischen Traditionsdenkens.
Weiß Woelki also, dass auch er in die tödliche Falle tappt, die Rom sich selbst stellt? Es sei daran erinnert: Seit 1870 ist diese absolute Monokratie irreformabel; sie könnte sich nur durch einen ausdrücklichen Systembruch aus diesem selbstbezogenen System herauslösen und müsste dazu offizielle Konzilsbeschlüsse korrigieren. Nach wie vor gilt ihr offizieller Lehrbestand als unveränderlich wahr; auch kleine Korrekturen eines Dogmas kämen einer Irrlehre gleich. Bischöfe sind so streng in diesen Absolutismus eingebunden, dass sie kraft eigener Entscheidung nicht einmal zurücktreten können. Bleibt nur zu fragen, warum sich Woelki über diese Begründungen ausschweigt. Er kann sie doch nennen, wenn sie richtig sind. Lässt er sich verdeckt von den Zielen des Opus Dei leiten? Die Frage muss gestellt werden.
Unaufrichtiges Verschweigen
Zugleich rühren wir an ein weiteres Problem. In den 1970er Jahren wurde noch leidenschaftlich über Einzeldogmen und die theologische Bedeutung der Schrift, über Primat und Unfehlbarkeit diskutiert. Ende 1979 würgte Rom die heißen Debatten ab, indem sie Hans Küng die kirchliche Lehrerlaubnis entzog. Die deutsche Theologie, noch nie widerspruchsstark, verfiel ebenso ins Schweigen wie die Bischöfe. Offensichtlich waren sie von der Thematik so traumatisiert, dass sie ihr nach Möglichkeit auswichen. Stattdessen bot ihnen die Transzendentaltheologie phantasiereiche, wenn auch recht spekulative Auswege an. Die Unfehlbarkeit tauchte nur bei den beiden Vorgängerpäpsten (1994 und 2012) im Blick auf das Ordinationsverbot für Frauen auf. Neuerdings wird sie historisiert, kaum aber kritisiert. Auch die Debatten des Synodalen Wegs verdrängen die petrifizierte Rolle von Dogmen konsequent. Stattdessen verweisen unsere Bischöfe in kritischen Fällen – schwammig genug – auf die Lehrkompetenz Roms oder den Glauben der Gesamtkirche.
Warum erklärt man nicht klipp und klar, dass nach offizieller Doktrin außerhalb der katholischen Kirche kein Heil, der Wesensunterschied zwischen Priestern und Laien zwingend geboten, die Ordination von Frauen undenkbar, die Eucharistie als Wandlungswunder und als Sühneopfer Christi zu verstehen ist, dass kirchliche Leitungsvollmachten sakramental verankert und nicht demokratisch teilbar sind, Schriftauslegung und Sakramentspraxis streng dem kirchlichen Urteil und ihrer „Tradition“ unterworfen bleiben? Warum nimmt man nicht zur Kenntnis, dass globalkirchlich gesehen die traditionelle, sakramental fixierte Sexualmoral sich kaum reformieren und Homophobie nicht überwinden lässt, dass der Pflichtzölibat die Regelform priesterlichen Lebens bleibt und die Bischöfe auf ihren sinnwidrigen Machtinsignien (Wappen, Herrscherstab, Mitra und Ring) ebenso beharren wie auf ihren angestammten Privilegien, dass unsere Kirche in Deutschland also nicht weiterkommt, solange sie nicht den Mut zu einem eigenen Weg aufbringt?
Diese Frage lässt sich auch in der aktuellen Auseinandersetzung über die Segnung homosexueller Paare stellen. Mit Fug und Recht laufen viele Seelsorgerinnen und Seelsorger, Theologinnen und Theologen sowie engagierte Kirchenmitglieder Sturm gegen das jüngste Dokument der Glaubenskongregation. Aus guten Gründen bringen sie biblische, ethische, anthropologische und kulturtheoretische Argumente in Stellung. Aber das entscheidende Motiv der römischen Argumentation verschweigen auch sie, nämlich die römische Unfehlbarkeitsdoktrin, die das 2. Vatikanische Konzil nicht abgemildert, sondern noch verschärft hat.
Im Meer dieser verschwiegenen Abgründe lebt auch Woelki. Selbst manche Reformkreise schwimmen in diesem Haifischbecken mit, oft nicht wissend, in welchen fragwürdigen toxischen Elementarpositionen sie sich bewegen. Der einzige Unterschied zu den Bischöfen besteht dann darin, dass sie ihrer Empörung mit modern demokratischen und menschenrechtlichen Argumenten Luft machen, ohne überhaupt zu wissen, aus welch mächtigen, historisch tief eingesenkten Quellen die männerbündische Bischofsriege ihren Widerstand stärken. Schizophrenie breitet sich aus.
Exemplarische Auseinandersetzung
Vor diesem Hintergrund wird klar: Woelki verkörpert exemplarisch eine reformunfähige Hierarchie. Stellvertretend für sie verschweigt er die dogmatischen Handlungsmotive, ignoriert er die Argumente der Kritiker, konfrontiert er das Gottesvolk mit dem knallharten Autoritarismus und antimodernen Klerikalismus, den Rom seit 150 Jahren entwickelt und propagiert. Daraus erklärt sich auch sein unreflektierter, geradezu selbstverständlicher Narzissmus, als er sich etwa an Weihnachten bei den Missbrauchsopfern für die Angriffe entschuldigte, die – man höre und staune – doch gegen ihn gerichtet waren. Meint er denn wirklich, deren Selbstachtung hinge von der Würde eines Bischofs ab? Daraus ergibt sich auch die Übergriffigkeit, mit der er ein missliebiges WSW-Gutachten und dessen Autorenteam mit unbewegter Miene diskriminiert. Dies ermöglicht auch schließlich sein unbußfertiges Verhalten, mit dem er Leute absetzt und seine eigene Haut rettet, ohne die entsprechenden Gutachten in Ruhe gelesen zu haben. Offensichtlich ist er der Meinung, er könne seine eigene Geschichte mit einem vertraulichen Beichtgespräch und einer amtlichen Sündenvergebung aus der Welt schaffen. Dabei sind gerade öffentlich relevante Verfehlungen von Bischöfen öffentlich zu besprechen.
Im unverbindlichen, meist liturgisch abgesicherten Raum finden viele seiner Predigten und Ansprachen oft zu einer bescheidenen, freundlichen und empathischen Sprache. Das sei durchaus anerkannt. Doch sobald er Kirchenkonflikte in den Blick nimmt und dabei amtlich wird, spricht aus seinen Worten Gewalt. Man kann auch mit freundlichen Worten verletzen. So ist es ihm in wenigen Wochen gelungen, unter Kölns Katholiken eine wahre Austrittswelle loszutreten. Das Schlimmste dabei ist nicht der Aderlass, den er verursachte, sondern das selbstherrliche Gift, mit dem er bei diesen Menschen die christliche Botschaft pervertierte. Wenn aber durch sein Verhalten Gott zur selbstherrlichen und interessengesteuerten Projektion wird, dann kommt ihm ein trauriges Verdienst zu: Er vergiftet den Glauben und das Gottvertrauen dieser Menschen. Eine schlimmere Verfehlung kann ein Kirchenmann nicht auf sich laden. Seine Mitbischöfe aber sollten sich fragen, in welchem Maße sie ein vergleichbares Spiel spielen.
Rücktritt geboten
Im Jahr 1985 belegte Johannes Paul II. – in einem Anfall von päpstlicher Überheblichkeit – den brasilianischen Theologen Leonardo Boff mit einem Bußschweigen. Ein Jahr solle er sich zurückziehen und über seine Irrlehren nachdenken. Kirchendienern, die der Kirche so sehr schaden wie Sie, verehrter Herr Kardinal, sollte ein Bußschweigen von mindestens einem Jahrzehnt auferlegt werden. Dem Gottesvolk sei aber gewünscht, in unserer Periode amtskirchlicher Selbstzerstörung möge es einen wohlbedachten eigenverantwortlichen Weg finden. Nicht das Gottesvolk trennt sich von Leuten wie Woelki, denn er hat sich zuvor vom Gottesvolk getrennt.