Ein prominentes und anspruchsvolles, arbeitsreiches und bewegtes Leben ist zu Ende gegangen. Natürlich gehört es sich, den emeritierten Papst wie alle anderen, die von uns gehen, der vorbehaltlosen Güte Gottes anzubefehlen. Mögen ihn die Engel, wie die katholische Liturgie singen lässt, ins Paradies begleiten und möge die Wahrheit seines Lebens so zur Geltung kommen, wie er sie in seinen besten Absichten angestrebt hat. Dante Alighieri und viele mittelalterliche Darstellungen vom Jüngsten Gericht haben sich angemaßt, über Erlösung oder Verdammung prominenter Mitmenschen zu entscheiden. Das sollte nicht mehr der Stil des 21. Jahrhunderts sein. Auch ich möchte nicht, dass man mich in meiner Todesstunde unbarmherzig auf meine Fehler festnagelt. Der Wunsch, Joseph Ratzinger möge in Frieden ruhen, sei also vorbehaltlos ausgesprochen. Keine Bischofs- und Kardinals-, auch keine Papstwürde und kein übermenschliches Schlüsselamt, auch nicht die so seltene Existenz eines emeritierten Papstes mögen ihn weiterhin belasten.
Ratzinger verstehen?
Dennoch wäre es in dieser Stunde falsch, das Schicksal all derer zu ignorieren, die von seinem Wirken betroffen waren: der körperlich und geistig Missbrauchten, deren Täter er geschont hat, der von den Sakramenten Ausgeschlossenen, weil sie eine kirchliche Gesetzgebung missachteten, der vielen Disziplinierten in Seelsorge und Theologie, die unter den Anordnungen seines Regimes gelitten haben. Ja, Gott gebe seiner Seele Frieden, doch umso wichtiger ist es, ein sachgerechtes Urteil über sein irdisches Leben und Wirken zu finden. Wie aber diese Gerechtigkeit finden, ohne selbstgerecht zu werden? Wie umgekehrt das Handeln dieser kirchenöffentlichen Person an anderen Grundsätzen messen als den christlichen, die auf ihre Weise kompromisslos sind?
Angesichts des aktuellen Abschieds ist das doppelt schwierig, denn in den kommenden Tagen werden uns widerstreitende Meinungen wie Tsunamiwellen überrollen. Kirchen- und gesellschaftspolitische Interessen bringen sich ebenso zu Gehör wie die Stimmen von Verzweifelten, von klerikalen und kirchenpolitischen Opfern. Wieder einmal werden sich die deutschen Medien mit dem Namen des „emeritierten“ Papstes identifizieren oder auf Distanz zu ihm gehen, sich polarisieren und über die Frage streiten: zog dieses Leben durch seine Jahrzehnte hin eine sinn- und glanzvolle Bahn oder ist es von Etappe zu Etappe gescheitert? Welche Rolle spielte dieser anspruchsvolle Theologe und oberste katholische Glaubenskontrolleur, wie wirkte er jahrzehntelang hinter den vatikanischen Mauern und was bewirkte der Kirchenpolitiker und spätere Führer eines autokratischen Kirchensystems? Welche Gründe steckten hinter seinen Verdikten gegen eine kritische Schriftauslegung, gegen die Befreiungstheologie oder eine erneuerte Liturgie, gegen innerkirchliche Transparenz, die Ordination von Frauen und gegen eine humanere Sexualmoral? Was bewog ihn zur unbegreiflichen Schonung von Sexualverbrechern, die zu seiner Klerikerklasse gehörten? Aus welchen Quellen speisten sich sein programmatisches Wort von der „Diktatur des Relativismus“, sein Gewaltvorwurf gegen Muhammad und seine Fürbitte um die Erleuchtung der Juden? Aus welchen Motiven erklärte er in den 1970er Jahren, Hans Küngs historisch verantwortetes Jesusbild sei „der Fäulnis überliefert“. Was bewog ihn im Jahr 2000, zu behaupten, alle Nichtchristen bewegten sich objektiv in einer schwer defizitären Situation?
Wenigstens jetzt möchten wir den Versuch wagen, Ratzinger angemessen und ohne störende Zwischenrufe zu verstehen. Was waren die Motive, die ihn ehrlichen Gewissens seinen Weg gehen ließen? Das wird nicht einfach sein, denn angesichts der profilierten Positionen, die Ratzingers Handeln auf dem Höhepunkt seiner Kirchenmacht ausagierte, können wir uns kaum auf ein ausgleichendes Sowohl-als-auch zurückziehen. Die Wirkungsgeschichte des letzten Konzils mit seinen enormen Polarisierungen kann zeigen, wie verheerend es ist, unvereinbare Gegensätze um des lieben Friedens willen als Kompromisse zu verharmlosen. Sie werden keinen Frieden schaffen. Es gehört nun mal zum Schicksal der jüngsten römischen Kirche, dass sie über 50 Jahre lang die Widersprüche einer überdehnten Kompromissideologie ertragen hat. Sie konnten auch nicht vom zukunftsorientierten Nachfolger Franziskus gelöst werden. Leider hilft trotz ihrer 1150 Seiten auch die umfassende, an Informationen überbordende Biographie von Peter Seewald nicht weiter. Denn ungewollt bestärkt sie nur den schlimmen Verdacht, Ratzingers Handeln und Selbstdarstellung erkläre sich umfassend als Reaktion auf eine „sprungbereite“ Papstkritik, er sei also als ein Reaktionär im elementaren Wortsinn zu begreifen. Seewalds kurzatmige Verteidigung hilft dem Kirchenfrieden nicht weiter.
Während Ratzinger als Kardinalpräfekt der Glaubenskongregation (1981-2005) die Geschicke der katholischen Kirche im Verborgenen mitbestimmte, nahm er mit seinem Papstamt (2005-2013), die Geschicke dieser Mammut-Organisation selbst in die Hand. Zuvor hatten starke theologische Neigungen sein mangelndes Organisations- und Führungstalent verdeckt, zumal er ‑ statt seine Leitungsaufgaben zu erledigen ‑ unangemessen viel Zeit seinen Jesusbüchern widmete. Vielleicht wäre er besser Theologe geblieben, denn als katastrophal erwiesen sich jetzt die absolutistische Herrschaftsstruktur sowie eine verheerende Wechselwirkung zwischen Geheimniskrämerei und unkontrollierten Enthüllungen; 2011 wurde der Begriff Vatileaks geboren. Seine Zuneigung zu konservativen, moralisch fragwürdigen Säkularinstituten (Integrierte Gemeinde, Piusbrüder, Opus Dei, Legionäre Christi, das Werk u.a.) schädigte zunehmend sein Ansehen. Umso dringender bleibt die Frage, von welchen Motiven das Phänomen Ratzinger wirklich gesteuert war. Ich nenne dazu zwei Stichworte: unreflektierte Kindheit und lehramtlicher Triumphalismus.
Unreflektierte Kindheit:
Dass Ratzinger zeit seines Lebens stark von seiner Kindheit und frühen Jugend geprägt war, gab er oft selbst zu verstehen. Mit Freude war er Ehrenmitglied der bayerischen Gebirgsschützen und nach eigenem Bekunden stellte er sich noch in hohem Alter den Himmel vor wie seine eigene (höchst fromme und kirchentreue) Familie. Er freue sich darauf, wieder mit seinen Eltern, Geschwistern, Freunden beieinander zu sein und sich vorzustellen, dass es wieder so schön sein wird, wie es bei ihnen zu Hause war. Die katholische Kirche seiner frühen Jugend durchstand – so seine Überzeugung – den Nationalsozialismus ohne jeden Makel. Sie bewährte sich als Fels in der Brandung und der machtbewusste Kardinal Faulhaber wurde ihm zum Ideal eines integeren Kirchenmannes. Befangen in dieser umstrittenen Grunderfahrung begriff er Kirchenkritik immer als ungerecht.
In diesen Erfahrungswelten unreflektiert zu verharren, war für ihn keine Kunst, solange er sich an der vor-konziliaren Theologie sowie an den Überzeugungen der damaligen Bischöfe und Theologen maß. Er musste andere Erfahrungen nur konsequent von sich fernhalten; auch dies war im damaligen klerikalen Ausbildungssystem kein Problem.
So gesehen ist der Verstorbene der letzte wirkmächtige Repräsentant einer vorkonziliaren Theologie und Kirchenpraxis geblieben, die sich den empirischen Wissenschaften nie annäherte und sich den komplexen Herausforderungen der Moderne nicht wirklich stellte. An seinen Kosmos (Kinderglauben im besten Wortsinn) klammerte er sich umso entschiedener, als er den Niedergang der vorkonziliaren Kultur mit Schmerzen verspürte und sich leidenschaftlich dagegen stemmte. Seine intensive Beschäftigung mit dem Theologen und Zeitkritiker Bonavantura (gest. 1275) sowie mit dessen Endzeitphobien verschaffte ihm eine willkommene Bestätigung. Sie verlieh dem modern-antimodernen Zeitdiagnostiker eine oft weltfremde, ironisch distanzierte, geradezu unduldsame Note. Doch der Hintersinn seiner oft überraschenden und bestechenden Metaphern blieb oft verschlossen. Bei seinem Amtsantritt als Papst etwa präsentierte er sich als „einfacher[!] Arbeiter im Weinberg des Herrn“. Er schuf damit ein schwerwiegendes Missverständnis, denn er verschwieg, dass Bonaventura dieses Wort als Kampfansage an eine überkluge Theologie verstand, die bei nahender Endzeit versagen müsse und ihre Sendung verliere. In diesem Sinne war auch bei jedem sanften Ratzingerwort Vorsicht geboten.
Lehramtlicher Triumphalismus
Am klarsten erschließt sich Ratzingers theologisches und kirchenamtliches Denken in dem denkwürdigen Dokument Dominus Iesus (August 2000). Es wurde im Wesentlichen von Kardinal Ratzinger verfasst und von ihm unterzeichnet, seine Veröffentlichung vom damaligen Papst angeordnet. Wie in einem letzten, sich aufbäumenden Trotz schrieb er seine Kernbotschaft an das neue Jahrhundert nieder. In einem autoritären Lehrstil beteuerte er die traditionelle römische Kirchenlehre, die katholische Sonderstellung und deren Anspruch auf die einzige Wahrheit und Heilsvermittlung. Er ist vom „defizitären Charakter“ aller nicht-sakramentalen Kirchen und nicht-christlichen Religionen zutiefst überzeugt. Zur Verteidigung dieses Dokuments konnte man höchstens noch hinzufügen: Diesen Überzeugungen hing damals noch die Mehrheit der römisch-katholischen Bischöfe und ChristInnen an. So konnte er sich wieder einmal als „Verteidiger des Glaubens“ profilieren, doch ohne das Hauptproblem zu spüren: Er war in dramatischer Geschwindigkeit dabei, die Gruppe der ergebnisoffenen, biblisch und kontextuell orientierten TheologInnen sowie der engagierten Kirchenmitglieder zu verlieren. Spätestens die aktuellen innerkirchlichen Konflikte können diesen Notstand bezeugen, den er aufzuhalten hoffte.
Darin liegt Ratzingers Tragik. Trotz seiner hohen Intelligenz hat er die Zeichen der Zeit nicht erkannt, höchstens als „Zeitgeist“ desavouiert. Trotz seiner gewinnenden Formulierkunst – man erinnert sich an den „honigsüßen“ Ambrosius – sind seine Texte, wenn auch unmerklich, oft durchsetzt von unduldsamen und bitteren Verurteilungen sowie von Zeichen der Rechthaberei. Zwar kannte er die klassische und die traditionell katholische Theologie ausgezeichnet (und geschmeidig konnte er sie nach-formulieren), aber zu anderen, etwa genuin biblischen, reformatorischen und emanzipatorischen Denkansätzen blieb ihm jeder Zugang verschlossen. Statt eines Mutes zur Erneuerung ließ er sich in Schlüsselereignissen seines Lebens von Angst und Rückzug bestimmen. Man denke an seine Reaktionen während der 1968er Jahre, die manche geradezu als Wende seiner Theologie betrachten. Man führe sich seine Ängste vor einer erneuerten Liturgie vor Augen, seine Panik gegenüber der Befreiungstheologie sowie den abgründigen inneren Zwang, mit dem er die Institution Kirche vor jedem moralischen Schatten schützen wollte, ihr aber gerade dadurch schadete. Sein Unvermögen, die Zerstörung von Kinderseelen ernst zu nehmen und ihr Einhalt zu gebieten, gehört zu den dunklen Flecken seines Handelns, die kein menschliches Nachsehen mehr erwarten können. Geradezu narzisstisch nahm er die Missbrauchsverbrechen nur als Blasphemie am sakramentalen Priesteramt wahr – Folge eines hoffnungslos überhöhten Kirchenbildes, dem menschliche Regungen abhanden gekommen, wenn nicht gar verboten waren.
Die Frage an uns
Es wäre nun leicht, zum Schluss dieses Nachrufs doch noch über den Verstorbenen den Stab zu brechen. Ich möchte das nicht tun. Stattdessen stelle ich die Frage, warum sich die römisch-katholische Kirchengemeinschaft auch im deutschen Sprachraum so lange einem Regime unterwarf, das von diesem Geist geprägt war, und dessen Unrecht über Jahrzehnte hin duldete. Seit dem Vatikanischen Konzil und den bahnbrechenden theologischen Entwürfen der 1970er Jahre hätte man es besser wissen können. Doch erst seit kurzer Zeit scheint sich ein wirksamer Widerspruch durchzusetzen, aber noch immer ist er viel zu sanft, nicht radikal genug. Auch den Reformgruppen steht diese Aufgabe noch bevor. Kaum jemand wagt es, an die eurozentrischen, hellenistisch-dogmatischen Grundlagen der Kirchenlehre zu rühren, die für Ratzinger so wichtig waren. Erst wenn wir uns von innen her von den Netzen dieses autoritären Denkens befreit haben, gewinnen wir die Kraft, uns in innerer Freiheit mit dem Regime auseinanderzusetzen, das der Verstorbene repräsentierte.
So bleibt der Tod dieses gescheiterten Theologen und Kirchenführers auch eine Frage an uns: Wie weit sind wir mit ihm noch immer verwandt, wie weit haben wir uns von einem kirchenautoritären Regime wirklich gelöst? Reformgruppen haben erklärt, Ratzinger hinterlasse ein schweres Erbe. Wirklich? Es ist nur solange schwer, als wir uns nicht in Leichtigkeit von ihm lösen. Nun, da er von uns gegangen ist, sollte uns das möglich sein. Ungewollt hat dieser Theologe und Kirchenführer uns zur Klärung unserer eigenen Situation gezwungen.