Selten prallten Anerkennung und Enttäuschung in einem päpstlichen Dokument so eng aufeinander wie in diesem Brief, der die Amazonas-Synode vom Oktober 2019 endgültig abschließt. Er entfaltet eine soziale, kulturelle und ökologische Invasion und zieht daraus Konsequenzen für eine amazonische Kirche. Dort aber kommen ein Priester- und ein Frauenbild zur Geltung, die den vorhergehenden Idealen Hohn sprechen. In Deutschland reagieren engagierte Katholikinnen unterschiedlich: Sie kämpfen unverdrossen weiter, gehen erst recht ihren eigenen Weg oder verlassen die römisch-katholische Kirche.
Ein prominenter Plan
Es war zu erwarten, das zwiespältige Echo auf diesen päpstlichen Brief, denn sein Inhalt ist zutiefst doppeldeutig und verschärft damit das Grunddilemma dieses Reformpapstes. Doch beginnen wir mit dem Positiven, dem Lob für die offene Zuwendung und Empathie seines Autors für das einzigartige Amazonas-System, das den klimatischen Zustand der gesamten Welt mitbestimmen kann. Es verlangte wohl einiges Rückgrat, diese ökologische Schlüsselregion der Welt mit einer Synode ins Zentrum der Weltkirche zu holen. Ihr Repräsentant lenkte alle Aufmerksamkeit auf einen Großraum, der zwar nicht zu den wirtschaftlich oder militärisch führenden Weltregionen zählt, wohl aber zu einer Schatzkammern bedrohter, aber reicher und vielfältiger Kulturen gehört. Franziskus spart nicht mit seiner kompromisslosen Kritik am Raubbau, den global agierende Ausbeuter mit Rohstoffen und Agrarprodukten entfesseln, sogar viele Bewohner dieses Großraums selbst in einen Rausch der Zerstörung treiben, dies zum Verderben indigener Ethnien, die dieser Entwicklung nahezu wehrlos ausgeliefert sind. Auch der Stil des Schreibens kann für Bewunderung sorgen, denn der Papst entfaltet hier keinen tiefsinnig argumentierenden Traktat. Vielmehr verrät er uns, wovon er träumt: von einem ökologisch funktionierenden, kulturell geachteten und sozial blühenden Amazonien sowie einer amazonischen Kirche, die diese materielle und geistige Erneuerung vorantreibt (7) und zur weiteren Entfaltung bringt. Beflügelt von diesem Traum entfaltet er in den vier Kapiteln des Schreibens eine soziale (8ff.), kulturelle (28ff.), ökologische (41ff.) und eine kirchliche Vision (61ff.). Oft beschränken sich diese Visionen nicht auf abstrakte Analysen, sondern übernehmen auch stilistisch anspruchsvolle kulturelle Texte, damit in diesem Brief auch die Schönheit des Landes durch den Lesegenuss zum Tragen kommt.
Vieles erinnert an die Enzyklika Laudato si´ (2015), der Franziskus eine unverwechselbare Sprache gab. Zu den treibenden Konstanten gehören auch jetzt die Option für die Entrechteten, der Schrei von Mensch und Natur, die unerbittliche Kritik an einem verselbständigten, von Gier getriebenen ökonomischen System, die Anklage gegen den alltäglichen Konsumismus, die destruktiven gesellschaftlichen Kräfte, zugleich die Aufmerksamkeit für dieses multireligiöse und plurikulturelle Großsystem, in dem jedes Volk das Recht auf Identität und Überleben behalten muss. Der Papst lässt keinen Zweifel daran: ein neuer und lebensförderlicher Umgang mit diesem Lebensraum und seinen Bewohnern setzt auch eine spirituelle Erneuerung voraus.
Dieses Ziel ist allen Menschen guten Willens aufgetragen, die dort leben, und zur Erreichung dieses Ziels lässt sich keine Lebens- und Daseinsdimension ausklammern. Selbst der alte, sozusagen urkatholische Thomas von Aquin vom 13. Jahrhundert kommt hier zur Geltung. Seine Losung ist bekannt und friedenstiftend, auch wenn sie (zu Unrecht) als ein antiprotestantisches Alleinstellungsmerkmal gilt. „Die Gnade setzt die Natur voraus“, nach Franziskus die Gnade auch die Kultur (68), denn sie verleiblicht sich in den Völkern (77). Im Kern kirchlichen Geschehens sind „das Göttliche und das Kosmische, die Gnade und die Schöpfung“ geradezu vereint. (81f.)
Für Franziskus, den studierten Chemiker, ist diese kühne Synthese kein Problem und macht einen Teil seiner Faszination aus, dem viele Leser/innen auch jetzt wieder erliegen. Das beinhaltet für ihn eine weitere Folge: Wenn in den Kreislauf des Heils schon Natur und Kultur aufgenommen sind, dann natürlich auch alle „Menschen guten Willens“, also nicht nur die besonders engagierten, die bekennenden oder getauften Christ/innen. Diese Überlegungen werden allen Menschen angeboten. Zugleich enthalten sie einen unerbittlichen Anspruch, denn nach päpstlicher Überzeugung kann sich kein Mensch aus diesem Kosmos der Forderungen heraushalten. Kann man dies zu Recht von ihnen erwarten? Zweifel kommen beim vierten Kapitel auf.
Überzeugende Visionen?
Auf den ersten Blick ist auch die Kirchliche Vision (das weitaus längste der vier Kapitel; 61-110) von dieser universalen Offenheit geprägt. Im Blick steht eine Kirche, die – so die Erwartung ‑ auf das real existierende Amazonien zugeht und in ihm zu Hause ist. Sie soll also eine wirklich amazonische Kirche sein, die soziale, kulturelle und ökologische Kontexte integriert und an deren Heilung mitarbeitet. Doch das europäische Produkt „Kirche“ besteht seit gut 1700 Jahren schon außerhalb des amazonischen Kulturraums, hat sich zunächst in Europa verwurzelt und deshalb eine Anpassungsarbeit zu leisten, die sich über Nacht erledigen lässt. Diese Kirche kommt ja nicht aus dem Nichts und will nicht am Nullpunkt beginnen. Im Gegenteil, die römisch-katholische Kirche ist eine übermächtige, auch in Amazonien präsente, also höchst konkrete Wirklichkeit. Sie kam nach Lateinamerika mit ihrer eigenen Vorgeschichte, ihren Erinnerungen und einer Verknotung mit ganz anderen Kontexten, die bis in hellenistische, römische und byzantinische Zeiten zurückreichen und diese globale Institution bis in ihre Wurzeln hinein bestimmen.
Formal greift das vierte Kapitel noch einmal auf die genannten Aspekte zurück und spitzt sie auf eine spirituelle und liturgische, auch ökumenische und interreligiöse Zielrichtung zu. Dieser ganze Kosmos soll jetzt zur würdigen und vor Gott gefeierten Wirklichkeit werden. Für die Kirche Amazoniens ist das ein enormer und lobenswerter Anspruch. Inwieweit lässt sich aber die altehrwürdige, ureuropäische Weltkirche in dieses Projekt integrieren?
Unmerklich verschieben sich jetzt die Akzente, denn unversehens und von innen her wird die Architektur dieser faszinierenden Visionen konfrontiert mit einer ungeheuer mächtigen und weltweit agierenden Institution, die schon lange ihre Gestalt gewonnen hat. Sie weist religiöse und institutionelle Grundformen auf, die seit Jahrhunderten zum Erweis ihrer Identität geworden sind. Klar ist: Trotz vielfältiger Korrekturversuche lebt diese Kirche doch aus Wurzeln, in denen kulturelle, gar ökologische Kontexte nie reflektiert wurden und soziale Fragen höchstens eine Nebenrolle spielten. Zwar erklärt der Brief zu Recht, die analysierten Kontexte Amazoniens könnten „im Lichte des Evangeliums zur Vollendung“ kommen (66). Wird dieses Evangelium aber von der katholischen Großkirche gelebt und repräsentiert? Oder müsste diese erhabene Feststellung nicht viel bescheidener, z.B. als Postulat formuliert werden? Die Kirche Amazoniens muss versuchen, diese Kontexte zur Vollendung zu bringen. Wie sich noch zeigen wird, gehört es zu den unverzeihlichen Schwächen dieses Briefes (wohl auch der synodalen Dokumente), dass diese kritische Rückfrage weder formuliert wurde noch zu einer selbstkritischen Analyse, gar zu einem Bekehrungsaufruf der dort präsenten (römisch-katholischen) Kirche und Kirchenlehre führte. Rom legt nicht schon dadurch seinen Eurozentrismus ab, dass dort ein nicht-europäischer Papst einzieht. Vielleicht hätte man diese Synode besser in Lateinamerika gehalten.
Man spürt auch, dass die Sprache in Kapitel vier oft abstrakter, ungenauer wird und an Klarheit verliert. Die pralle Gegenwart der vorhergehenden Sprache ist verschwunden. Sie beschwört (66) und beruft sich auf päpstliche Vorgänger (67) und kritisiert Missionare, die das Land nicht verstehen (69). Der Wojtyla-Papst wird mit der Erklärung zitiert, die Kultur sei „nicht nur Gegenstand der Erlösung und Erhöhung, sondern kann auch Mittlerin und Mitarbeiterin“ (67). In der Eucharistie gelange Gott „auf dem Höhepunkt des Geheimnisses der Inkarnation […] durch ein Stückchen Materie in unser Innerstes“ (82). Die Liturgie solle „viele Elemente der intensiven Naturerfahrung“ aufgreifen (82), doch die konkrete Entwicklung einer neuen Liturgie bleibt Postulat. Die Forderung nach konkreter Inkulturation wird vielfach illustriert (70-80), doch bleibt manches abstrakt: Wir seien etwa berufen, in unser Handeln eine Dimension der Empfänglichkeit und der Unentgeltlichkeit einzubeziehen (83). Dann häufen sich die Überlegungen, die nur noch kirchliche Insider verstehen.
Der blinde Fleck
Ich führe diese wachsende Abstraktion auf den Mangel an konsequenter Selbstkritik zurück. Der Text bleibt blind dafür, dass endlich auch die ältere, europäische bzw. eurozentrische Tradition ihre früheren Kontexte aufarbeiten muss. Und man kann es an den Folgen sehen: dieses massive Versäumnis führt zu enttäuschenden Folgerungen und zerrt die faszinierenden Träume und Visionen in die kirchliche Bedeutungslosigkeit. Zwar wird noch einmal prinzipiell von einer „Inkulturation der Dienste und Ämter“ geredet (85), an entscheidenden Punkten wird sie ausgeschlossen. Unvermittelt rückt jetzt „größere Häufigkeit der Eucharistie“ (86) im Zusammenhang mit dem Priestermangel in den Mittelpunkt. Dann folgt eine Erklärung, die allem sonstigen Denken des Papstes in Begegnung und Beziehungen, in Gemeinschaft und Verbundenheit widerspricht: Im Sakrament der Weihe werde der[!] Priester Christus gleichgestaltet. Er allein habe einen „nicht delegierbaren Auftrag“ empfangen (87). Darin bestehe „seine große Amtsgewalt“ (88). Zwar sollen die Ämter verschiedene Ausformungen erhalten, doch die zentrale Amtsfigur des Priesters steht dem Inkulturationsgedanken geradezu feindlich gegenüber.
Damit fällt Franziskus auf uralte, von römischem Machtdenken korrumpierte Vorstellungen zurück. Im Gegensatz zu allen bisherigen Visionen, zu allem Traum von Gemeinschaft und Synodalität taucht sie wieder auf, die solitäre Gestalt, um die sich ‑ spätestens seit gegenreformatorischen Zeiten – das Basisgeschehen Kirche drehte. Die Frage des Zölibats wird nicht einmal erwähnt, eine Ohrfeige für die Synode selbst.
Da wirkt es schon peinlich, dass in fünf Nachfolgenummern (99-103) noch „die Kraft und die Gabe der Frauen“ besprochen wird. Wir kennen dieses paternalistische Frauenlob schon aus früheren Texten; der Wojtyla-Papst hat ihre Tradition begründet. Man braucht ihre Mitarbeit, das kann niemand bestreiten, aber verweigert ihnen eine priesterliche, sogar diakonale Ordination! Das klassische Totschlagargument vom „Funktionalismus“ taucht auf und ein hinterhältiges gegen die „Klerikalisierung der Frauen“ wird hinzugefügt (100). Dass genau dieses Klerikalismusargument den Klerikalismus der Männer schützt, wird übersehen. Die Konsequenz ist klar, auch wenn sie von allen franziskanischen Visionen unbeleckt ist: Wir brauchen die Frauen, aber zu den „heiligen Weihen“ haben sie keinen Zugang (103).
Ein schwer belehrbarer Papst
Schon vor Veröffentlichung dieses Briefs liefen die Spekulationen heiß über die Anfeindungen gegen den Papst und die kurialen Zwänge, denen er unterliegt. Hat er ihnen nachgegeben und resigniert? Wartet er nur auf eine bessere Gelegenheit, um die alten Barrieren zu lockern? Nein, der Papst weiß genau, was er tut. Sein Problem ist, dass seine Spiritualität und seine (dogmatisch fixierte) Theologie getrennte Wege gehen. Genauer gesagt: Er hat keine originelle Theologie. Wie sich in vielen Details zeigen ließe, orientiert er sich streng am französischen Theologen Henri de Lubac, dem nachkonziliaren und hochkonservativen Freund von J. Ratzinger. Über seine römischen Berater darf man spekulieren. Spätestens jetzt zeigt sich auch, dass Papst Franziskus in den vergangenen Jahren nichts hinzugelernt hat. Jetzt war er nicht einmal gewillt, weiterführende Anregungen der Amazonien-Synode aufzunehmen. Wenn es hart auf hart kommt, reagiert er zwar freundlicher, aber genauso autokratisch wie seine Vorgänger.
Mit dieser Kritik will ich die Verteidiger des Briefes nicht einfach ins Unrecht setzen. Natürlich sind viele seiner Anregungen von hohem Wert, auch möchte er vor weiteren Entwicklungen nicht die Türe verschließen. Doch das hebt den enttäuschenden und blockierenden Endeffekt nicht auf, den Franziskus selbst verursacht. Warum hat er diesen Brief überhaupt geschrieben? Hätte nicht eine einfache Zustimmung zu den Synodendokumenten genügt? Ob er es will oder nicht, sein aktuelles Schweigen lässt sich nicht als Aufruf zu neuer Kreativität verstehen. Schließlich agiert er in einem Amt, das durch monokratische Lehr- und Leitungsvollmacht definiert ist. Das setzt nicht nur ihn unter persönliche Zwänge, sondern versieht auch seine Äußerungen mit einer höchst monokratischen Autorität, die relativierende Kontexte ausschließt. Wenn er diese Wirkung aufheben will, dann muss er schon seine absolute Amtsmacht relativieren. Schrift und Tradition würden das legitimieren. Deshalb hilft auch der Aufruf nicht weiter, bestehende Konflikte durch die Erweiterung der Horizonte zu überwinden und in neuer Weise kreativ zu sein (104f.). Diese erweiternden Horizonte sind schon seit Jahrzehnten, großenteils schon seit den 1960er Jahren bekannt und theologisch legitimiert.
Zwei Auswege
Doch sind im Schreiben zwei Kerngedanken formuliert, deren Reichweite der Papst wohl übersieht. Der erste erinnert an die Bedeutung des Wortes. Franziskus findet es wichtig, in der Sonntagsliturgie „dem Licht des Wortes und der Eucharistie zu begegnen“ (83) und die „Begegnung mit dem Wort …. durch verschiedene Laiendienste zu fördern“ (93). Dieses Wort können auch Nicht-Priester/innen verkünden (89). Mit solchen Hinweisen hält der Papst wenigstens rudimentär die Erinnerung daran wach, dass die Kirche (die Eucharistie eingeschlossen) primär aus dem erinnernden Wort lebt, nicht umgekehrt; sie ist creatura verbi. Die einseitige Re-Sakramentalisierung und Re-Sakralisierung des katholischen Kirchenbildes ist ja ein Grundübel der nachkonziliaren Entwicklung, die uns um Jahrzehnte zurückwirft und ökumenische Fortschritte bislang unmöglich machte.
Der zweite Kerngedanke blitzt zweimal als Frage nach der Gemeindeleitung auf. Der Papst fordert „die stabile Präsenz reifer und mit entsprechenden Vollmachten ausgestatteter Laien-Gemeindeleiter, die die Sprachen, Kulturen, geistlichen Erfahrungen sowie die Lebensweise der jeweiligen Gegend kennen und zugleich Raum lassen für die Vielfalt der Gaben, die der Heilige Geist in uns sät.“ (94) Hinsichtlich der Frauen drückt er sich gewundener aus. Er fordert für sie „Zugang zu Aufgaben und auch kirchlichen Diensten“, wodurch sie „ihren eigenen Platz besser zum Ausdruck“ bringen. Er räumt ihnen zugleich einen „echten und effektiven Einfluss in der Organisation, bei den wichtigsten Entscheidungen und bei der Leitung von Gemeinschaften“ ein; dabei dürfen sie sogar ihren „weiblichen Stil“ behalten. (103)
Bei solchen Bemerkungen lässt sich der Stil umdrehen. Wenn nämlich Gemeindeleitung und Wortverkündigung selbst nach offiziell-römischer Überzeugung allen getauften Frauen und Männern offenstehen, dann ist die Kernblockade gegen Zölibat und weibliche Ämter aufgebrochen. Man sollte sich nur an Folgendes erinnern:
– Das Amt der Gemeindeleitung geht dem legitimen Vorsitz bei der Eucharistie voraus. Zur Leitung der Eucharistie ist berechtigt, wer die Gemeinde leitet, nicht umgekehrt. Primär vollziehen Gemeindeleiterinnen und Gemeindeleiter alles, was im Regelfall eine Gemeinde (einschließlich gemeinsamer Gottesdienste) handlungsfähig macht.
– Die Bedeutung des Priesteramtes als eines „Weiheamtes“ wird massiv überschätzt. Ursprünglich sind die „Presbyter“ Bischofsgehilf/innen. Zur Isolierung und Sakralisierung dieses Amtes kam es erst beim Übergang zum Mittelalter, als man die Gemeindeleitung auf Messelesen, Predigen und Beichthören verkürzte. Schon die Reformation machte auf diese Fehlentwicklung aufmerksam und die katholische Kirche hätte darauf hören müssen.
– Vergleichbares gilt für die Idee der Realpräsenz Christi sowie der priesterlichen Wandlungsvollmacht; sie haben sich nach langen Auseinandersetzungen erst im 11. Jahrhundert durchgesetzt. Es wäre Zeit, diese Epoche magischen Denkens abzuschließen.
Damit haben die ohnehin archaischen Kämpfe für Pflichtzölibat und gegen Frauenordination jede Plausibilität verloren. Diese Regeln haben ihre innere Bindungskraft schon lange eingebüßt. Mit diesem Wissen sind viele Frauen der offiziellen Blockadesituation voraus. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sich Maria 2.0 zu diesem päpstlichen Schreiben neutral verhält; er kann ihre Positionen nicht mehr berühren. Offensichtlich hat diese Bewegung ihren eigenen selbständigen Weg gefunden. So ist zu hoffen, dass die aktuelle Enttäuschung vollends zur Entlarvung des Amts-, Wandlungs- und kirchlichem Männermythos führt.
Vor Jahren wurde ich Zeuge eines pfingstlichen Gottesdienstes in einer Favela von Sao Paulo. Dass der Pfarrer zu spät kam, beunruhigte die Gemeinde nicht. Als er kam, schloss eine Frau gerade ihre Predigt ab. Während der Eucharistiefeier lag an den beiden Altarseiten jeweils ein Brotlaib. Während der Kommunion empfingen die Anwesenden erst die priesterliche Hostie, dann aus Frauenhand jeweils ein Stück Brot. Auf meine Rückfrage nach dem Gottesdienst erklärt man mir: Heute, an diesem Hochfesttag hat es zum allsonntäglichen Brot als „Sondergabe“ noch eine Hostie gegeben. Das priesterliche Amt war hier schon ohne große Worte degradiert. Papst Franziskus kann wohl kaum behaupten, dass er von solchen Praktiken nichts wisse. Auch ohne Bischöfe und Priester hat die wahre Inkulturation der Kirche von Amazonien schon lange begonnen.
Für Europa aber gilt nach dieser erzwungenen Klärung: Keine Gruppe muss sich mehr verstecken. Auch müssen wir nicht auf Agape-Feiern oder Ähnliches ausweichen. Solange die Kirchenleitungen aus illegitimen Gründen ihrer Fürsorgepflicht nicht nachkommen, steht es uns zu, die Güte Gottes in eigener Regie zu feiern.