Wladimir Putin hat in ruchloser Weise einen Krieg gegen die Ukraine eröffnet. Zahllose Länder stellen sich auf die Seite des überfallenen Landes, doch ausgerechnet Kyrill I., der Patriarch von Moskau, spricht von den Feinden Russlands und den „Mächten des Bösen“. Damit demütigt er ein Land, das in gewaltloser Weise seinen eigenen Weg wählen möchte. Er verhöhnt die vielen Wehrlosen, die hilflos den tödlichen Bomben und Raketen ausgesetzt sind, in Kellern oder U-Bahnstationen Schutz suchen, aus ihrer Heimat flüchten, sowie diejenigen, die unter schwerster Lebensgefahr ihr Land verteidigen. Inzwischen zeigt sich, dass Putin bereit ist, diesen Krieg mit barbarischer Brutalität zu führen; auch darauf hat Kyrill I, Herr des Dritten Rom, nicht reagiert.
Aus christlicher Perspektive ist das ein ungeheurer Skandal. In schamloser Weise missachtet dieser schweigende Kirchenfürst den Friedensauftrag aller christlichen Kirchen und verspielt damit das Recht, sich auf die gemeinsame Glaubensbotschaft zu berufen. Als Mitchristinnen und Mitchristen schämen wir uns für ihn, weil er die christliche Botschaft bis zur Unkenntlichkeit pervertiert. Noch immer unterwirft er sich den herrschenden Weltpotentaten als von Gott eingesetzten Mächten.
Genau besehen sind die römisch-katholische Kirche und die großen orthodoxen Kirchen des Ostens in vergleichbaren vormodernen Paradigmen befangen. Ebenso wie die Vertuschung von Sexualverbrechen hier hat die Bejahung des Kriegsterrors dort systemische Gründe, denn die östlichen Kirchen haben sich nie vom konstantinisch-imperialen Paradigma getrennt, das sich zu Unrecht auf den Römerbrief beruft, in rigoroser Weise eine unwürdige Unterwerfung unter weltliche Machthaber einfordert und dem Staat autoritäre Strukturen zugesteht. Zwar hat sich die Kirche des Patriarchen von Rom im Laufe des Mittelalters ungleich mehr Unabhängigkeit von den säkularen Mächten erworben und eine Ethik auf der Basis des Naturrechts entwickelt, doch in Glaubensfragen hat sie sich dasselbe autoritäre Modell bewahrt. Noch auf dem 2. Vatikanum (1962-1965) vertrat der einflussreiche französische Theologe Yves Congar (gest. 1995) die These, die wahre Reform der Kirche beginne mit der kirchlichen Lebenspraxis, dürfe aber die Glaubenslehre nicht antasten. Das 2. Vatikanum hat diese Doppelung weitgehend übernommen und damit eine innere Spaltung provoziert, die bis heute nicht überwunden ist.
Diese Trennung der Ebenen in einen Bereich der Natur und einen Bereich der Gnade – vor allem vom französischen Theologen Henri de Lubac (gest. 1991) ausgebaut und propagiert – wirkt heute bei Papst Franziskus nach. Zwar fordert er nachdrücklich und eindrucksvoll eine spirituelle Erneuerung bei Haupt und Gliedern (und darin ist ihm zuzustimmen), aber in dogmatisch festgelegten Glaubenspositionen zu Lehre und Struktur bleiben für ihn die Türen geschlossen. Damit reduziert er seine Klerikalismuskritik auf Fragen der Moral und einer tugendhaften Mentalität, die er als Spiritualität qualifiziert. Deshalb hat auch er das Ausmaß einer zeitgemäßen (ökumenisch, interreligiös und säkular verantworteten) Erneuerung noch nicht begriffen.
Wir erwarten von den Repräsentanten der westlichen Kirchen, dass sie den genannten Skandal mit der Macht ihres Wortes öffentlich anprangern, selbstkritisch seine systemischen Gründe benennen und versuchen, auf ihre östlichen Kollegen einen Einfluss zu nehmen, der sich nicht – wie es Kardinal Marx getan hat – auf öffentliche Bemerkungen beschränkt. Andernfalls werden sie trotz ihrer Solidaritätsbekundungen gegenüber den Opfern zu Komplizen eines grauenvollen Geschehens. Zugleich muss sich die römisch-katholische Kirche der gemeinsamen autoritären Wurzeln bewusst werden, die auch bei ihr die christliche Botschaft im 21. Jahrhundert noch immer pervertieren und vor der ganzen Welt zu einer abschreckenden Ideologie verkommen lassen. Solange sich die altehrwürdigen Kirchen nicht Ihrer gefährlichen Erbteile bewusst werden, werden sie in der Gegewart ein Fremdkörper bleiben.
3. März 2022: Heftige Kritik an diesem Kommentar hat mich zu folgender Ergänzung bewogen
Aus christlicher Sicht müssen das gegenseitig gestörte und von Misstrauen beschädigte Ost-West-Verhältniss auf einer tieferen, der (implizit) religiösen Ebene saniert, die Verwandtschaft der gewaltaffinen Denkstile erkannt und bearbeitet werden. Seit der großen Kirchenspaltung (1054) stehen sich widerstrebende, im Grunde feindselige Grundhaltungen der Rechthaberei und eines kulturellen Vormachtstrebens gegenüber; schon lange bestimmen sie auf beiden Seiten die DNA der Alten Kirchen und der mit ihnen verwobenen Kulturen. In der Alten Kirche des Westens steigerte sie sich Schritt um Schritt, bis hin zu den kompromisslosen Primatsansprüchen des Patriarchen von Rom, dem ein Ehrenvorrang nicht mehr genügte.
Im Osten bildete sich nach dem Niedergang Konstantinopels ein ganz neuer, aber vergleichbarer Machtanspruch aus, der im 16. Jahrhundert im Selbstbewusstsein eines „Dritten Rom“ in Moskau kulminierte. Jetzt bestand Moskau darauf, den alten Privilegien Roms Einhalt zu gebieten. Umgekehrt dachte Rom nicht daran, Moskau als ebenbürtig anzuerkennen; es blieb in der offiziellen Rangordnung der sechste der gesamtkirchlichen, der fünfte der ostkirchlichen Patriarchensitze. Doch mit ihren konkurrierenden Narrativen unterstützten beide Seiten in gleichem Maße die umfassende politische Unterwerfung ihrer als Einheit begriffenen Kultur, der „westlichen“ hier, der „russischen“ dort. Auf beiden Seiten wirken diese Unterwerfungsansprüche bis heute unter säkularisierten Vorzeichen fort.
Das zeigt ein Vergleich von Kardinal Ratzingers großem Europaartikel (2000) mit der Wutrede Wladimir Putins am 21. Februar 2022, die den bevorstehenden Überfall über die Ukraine rechtfertigen sollte. Im bekannten Dreiklang von griechischer Philosophie, römischem Recht und christlichem Glauben machte Ratzinger die Bedeutung, die Legitimität, sogar den Umfang Europas letztlich abhängig von der Präsenz und Akzeptanz der römisch-katholischen Kirche, obwohl die Wiege des Christentums nicht in Europa, gar in Rom, sondern in Vorderasien stand. Illegitim ist für ihn schon die Reformation, erst recht dann die Französische Revolution und schließlich das moderne Phänomen der Enthellenisierung. Ratzingers Argumente sind alles andere als schlüssig und kommen gelegentlich einer Geschichtsklitterung gleich. Doch alle dienen sie der uneingeschränkten kulturell-religiösen Dominanz der römisch-katholischen Kirche, also Roms über den Rest Europas.
Auch für Putin hängen Gelingen und Identität der russischen Kultur von ihrer politisch-kulturellen Unterordnung unter ihr behauptetes Machtzentrum, nämlich Moskau ab, obwohl sich die russische Kultur und Volksidentität von der Kiewer Rus aus dem 11. Jahrhundert herleiten. Wäre Putin konsequent, müsste sich sein Russland von der Ukraine her legitimieren lassen. Doch auch hier gilt nur die Herrschaft des Machtbesitzers. Macht heiligt auch das notwendige Unrecht.
Dass Putins Argumentation genau den Vorstellungen der russisch-orthodoxen Kirche entspricht, ist offensichtlich. Kyrill I. („Patriarch von Moskau und der ganzen Rus“) war lange Zeit aktiver Offizier des sowjetischen Geheimdienstes; in Sachen Gewaltanwendung ist er wohl nicht zimperlich. Das delikate Außenverhältnis zwischen dem römischen und dem Moskauer Patriarchen spiegelt die ideologische Konkurrenz schon darin, dass Kyrill und Franziskus ihr erstes Treffen auf neutralem Boden (2016), nämlich auf dem Flughafen in Havanna organisierten, – für naive Augen Anzeichen einer kindischen Rechthaberei.
Kyrill ist jedoch offen für andere Kirchen, auch die römisch-katholische. Zudem verfügt er über eine reiche ökumenische Erfahrung. Doch wie das offizielle Rom bleibt auch er erzkonservativ. Innerhalb der Europäischen Menschenrechtscharta fordert Kyrill einen Freiraum für die östlich-orthodoxe Moral, die auch die römisch-katholische sein könnte. Er kritisiert den Feminismus und sieht in der Legalisierung der Homo-Ehen ein Anzeichen zum beginnenden Weltuntergang; an der Spitze des Internets stehe der Antichrist. Die Affinitäten mit Rom sind auch hier offensichtlich.
Die Wahl Putins zum Präsidenten (2012) hat Kyrill als „Wunder Gottes“ gepriesen. Umso kompromissloser wird er gegenüber der ukrainischen Kirche, die (und weil sie) sich 2019 für unabhängig von Moskau erklärte. Ihre Selbständigkeit lehnt er massiv ab und ist gnadenlos konsequent: Gemäß Wikipedia erklärt er den Kriegsdienst beim Überfall über die Ukraine als „Nächstenliebe nach dem Evangelium“. Er erblickt darin „ein Beispiel der Treue zur den hohen sittlichen Idealen des Wahren und Guten. Dem Präsidenten Putin wünscht er Seelenfrieden und Gottes Hilfe bei seinem hohen Dienst am russischen Volk.“ Hingegen bezeichnet er die Gegner der russischen Armee als „Kräfte des Bösen“. Zudem diagnostiziert er „dunkle Kräfte von außen“, die wohl aus dem Westen stammen; sie könnten sich über Russland lustig machen. Damit hat er in der ukrainischen Bevölkerung stark an Ansehen verloren sowie die schon bestehende inner-ukrainische Spaltung zwischen seinen Anhängern und denen der autokephalen Landeskirche in unseliger Weise verschärft. Doch in dieser Frage sind Putin und Kyrill ein Herz und eine Seele. Die barbarischen Folgen einer solchen Haltung sind inzwischen offenkundig. Wer sich Moskau nicht unterwirft, wird zur Ausgeburt der Bosheit erklärt. Dieses Denkschema kennen wir auch vom Westen.
Mit diesen Feststellungen sollen weder Kyrill noch Putin dämonisiert werden, doch die dämonische Kraft einer geheiligten, aber unseligen Tradition umschließt wie eine Krake ihre Herzen und verharmlost das Grauen, das gerade geschieht. Mehr noch, es wird den Herrn nahezu unmöglich, sich aus dem Zwang dieser religiös legitimierten Verblendung zu befreien. Kann man unter diesen Bedingungen noch Christin oder Christ sein? Nur unter scharfem Protest.
9. März 2022: Inzwischen hat die kirchlich interessierte Öffentlichkeit die Thematik aufgegriffen
Zu Recht entdeckte Johannes Röser eine Neuauflage des slawischen Messianismus, der – wie schon bei Johannes Paul II. – zu einem unerträglichen Konservatismus führt. Madlen Krüger von der FEST Heidelberg, präsentierte eine ausführliche Rollenbeschreibung der beteiligten Kräfte. Die Ostkirchenexpertin Regina Elsner veröffentlichte die bislang differenziertesten und kundigsten Kommentare zu Entwicklung und aktueller Explosion des Konflikts. Sie zeichnete nicht nur die höchst ambivalente Rolle von Kyrill I. nach, sondern auch das unglückliche Verhalten des Papstes. Aus unterschiedlichen Gründen ringt sich keiner von beiden zu einer klaren Verurteilung des Überfalls durch und offensichtlich wird weder dem einen noch dem anderen klar, wen sie damit im Stich lassen und welch enormen Schaden sie für das Ansehen ihrer Kirchen heraufbeschwören. Schon wird der Papst für die politischen Ziele Russlands vereinnahmt und macht das Wort vom Tod der Moskauer Orthodoxen Kirche die Runde.
Ich frage mich: Warum hat die Kirche Moskaus nichts aus den stalinistischen Schreckensjahren gelernt? Warum findet sie keinen besseren Popanz als die Homosexualität, in der das Böse Wirklichkeit wird? Und wie gehen wir mit der Tatsache um, dass diese Homophobie auch im römisch-katholischen Konservatismus eine Schlüsselrolle spielt? Schöpfen nicht beide Kirchen immer noch aus trübsten männerfixierten (eben: „patriarchalen“) Quellen, die man endlich gemeinsam aufarbeiten sollte?
Im Augenblick aber wären der Papst, die anderen orthodoxen Patriarchen und Häupter der autokephalen Kirchen gut beraten, ihrem Amtskollegen ein Stoppschild zu zeigen. Früher hätte man ihn (wohl erfolglos) exkommuniziert, heute sollten sie ihm einhellig erklären, dass er die christliche Heilsbotschaft in abscheulicher Weise mit Füßen tritt und kein Recht mehr hat, sich ein Christ zu nennen, sein Amt also aufgeben sollte. Nur auf diesem Weg ließe sich auch dem Präsidenten Putin seine kirchenfreundliche Maske vom Gesicht reißen.
Im Gegensatz zur beschämenden christlichen Lethargie wurde jedoch die interreligiöse Organisation Religions for Peace aktiv. Sie veröffentlichte einen Friedensappell, den auch russische und ukrainische Orthodoxe unterzeichneten. Ferner schrieb Religions for Peace Europe einen Brief an Kyrill mit der Bitte um ein Gespräch. Die Ägypterin Azza Karam, Generalsekretärin dieser interreligiösen Organisation, hält es auf Grund ihrer langen Erfahrung bei der UNO für wichtig, Gesprächsfäden zu knüpfen und nicht abreißen zu lassen. Dabei kann sie sich in der ZEIT vom 10.03.2022 nicht ihre Beobachtung verkneifen, „wie Männer sich wieder kriegerisch gebärden und Frauen beiseite drängen“, und wie sehr sie sich wünscht, „dass Religionsführerinnen ihre Stimme für den Frieden erheben“. Von Männern wie Frauen gemeinsam erwartet sie, „dass sie erkennen, worin ihre Macht besteht: sich nicht länger zur Rechtfertigung von Kriegen benutzen zu lassen, sondern sich zu verbünden und ein Gewissen der Welt zu sein.“ Wenn nicht alles täuscht, wachsen interreligiöse Vereinigungen allmählich in diese weltgeschichtliche Rolle hinein, – eines Weltgewissens, das den Tyrannen der Welt im Namen eines gemeinsamen Ethos Paroli bietet.