Kardinal Marx überschätzt seine Rolle

Ein Gespenst geht um in Europa –
das Gespenst des Kirchenzerfalls.

Eigentlich sollte mich nach einer Skandalfolge von über 60 Jahren in meiner Kirche nichts mehr überraschen, doch das hätte ich nicht für möglich gehalten. Kardinal Marx, der sprachfreudige, optimistisch agierende Machertyp des deutschen Katholizismus, bietet dem Papst seinen Rücktritt an und steht für eine Schuld ein, in die er weniger verstrickt ist als viele seiner Kollegen. Zwar kommt sein Eingeständnis erst elf Jahre, nachdem in Sachen sexueller Gewalt die Alarmglocken anschlugen, doch es kommt in einem unerwarteten Augenblick; Überraschung gelungen.

Fähig zur Selbstreform?

Zunächst waren die Lernschritte der deutschen Bischöfe ärgerlich mühsam, oft kleinkariert und mit neuen Verletzungen der Betroffenen verbunden. Erst sahen die Kirchenleiter nur das Ansehen der Kirche beschädigt und manche schämten sich dieser ekelhaften Vorgänge, doch über ihre eigene Rolle dachten sie kaum nach. Dann rückten die Betroffenen in den Mittelpunkt des Interesses, obwohl sich manche Bischöfe mit wirklicher Zuwendung immer noch schwertun. Starke Personen halfen bei einem Sinneswandel mit, etwa Klaus Mertens SJ, Matthias Katsch, die Mitkämpfer vom „Eckigen Tisch“ sowie Hans Zollner SJ in Rom. Aber noch immer musste man die Bischöfe zum Jagen tragen; selbst der Missbrauchsgipfel in Rom (Februar 2019) führte zu keinem Durchbruch.

Allmählich wurden die strafbaren Vertuschungspraktiken unserer Bischöfe und Ordensoberen ruchbar und wieder erhofften wir einen Durchbruch. Doch viele Bischöfe begannen erst recht zu mauern und erstaunlich selbstgerecht zu reagieren. Die Diskussionen stagnierten erneut, denn das Problem hatte seinen harten Kern, die Fähigkeit zur Selbstreform erreicht und endlich wurde die Frage hoffähig, ob und wie sich dieses System aus dem Sumpf ziehen will.

Das war von Anfang an schwierig, denn spätestens jetzt erinnerte ich mich an die Frage von Christiane Florin an Kardinal Marx im September 2018, ob denn einer der Bischöfe an Rücktritt denke. Die schockierende Kurzantwort lautete „Nein!“. Im Zuge dieser erstarrten Grundstimmung konnte sich der erzreaktionäre Kardinal Woelki gestärkt fühlen und sich zum lebenden Beweis dafür mausern, dass die Riege der Selbstgerechten keine Reform durchsetzen, aber auch nichts aus der Hand geben will. Sich einem fremden Urteil auszuliefern, das war noch nie die Stärke der Purpurträger.

Das Rücktrittsangebot von Marx fällt zeitlich in diese Phase und faktisch erhöht es den Druck nicht nur auf Woelki, sondern auch auf die Mehrheit der deutschen Bischöfe, die sich hinter Wortführern verstecken oder in Rom gegen Reformen intrigieren, denn nach Marx hat die katholische Kirche einen „toten Punkt“ erreicht. Ob er damit nur den deutschen oder den weltweiten Katholizismus meinte, muss offen bleiben. Es gibt aber keine Anzeichen dafür, dass man in anderen Kulturkreisen mit der Situation besser umgeht. Vielleicht erzeugt dieser Tatbestand eine trügerische Ruhe, da sich jetzt alles auf Woelki konzentriert. Doch Münchens Kardinal kommt das Verdienst zu, sie zu durchbrechen und ins öffentliche Bewusstsein zu holen.

Das Ausmaß der Katastrophe

Sicher ist die Entscheidung des Münchner Erzbischofs von ernsten Motiven getragen. Im Dezember 2020 gründete er aus eigenen Mitteln eine Stiftung für vom Missbrauch Betroffene und als erster der kirchlichen Führungskader überhaupt übernimmt er glaubwürdig eine Verantwortung für die pervertierte Subkultur, die im römisch-katholischen System aufblühen konnte. Doch möchte ich zwei Fragen stellen.

Die erste lautet: Was erhofft sich der Kardinal von seinem spektakulären Schritt? Er hat ja einen doppelten Boden eingebaut. Zum einen spricht er verräterisch von einem „Zeichen“. Zeichen wofür? Will er seine Kollegen aufrütteln und den Papst zu einer Stellungnahme zwingen, in Wirklichkeit gar nicht zurücktreten? Hinzu kommt die Tücke des autoritären Kirchenrechts, das nicht einmal dieser hochrangigen Person einen freien Rücktritt erlaubt; er kann höchstens darum bitten und sich dem päpstlichen Urteil ausliefern. Dies tut Marx ausdrücklich im gebotenen Gehorsam. Aufhorchen lässt auch seine Absicht, sich weiterhin pastoral zu engagieren, wenn der Papst es für „sinnvoll und gut“ erachtet. Damit setzt er auch den Papst unter Druck und es kommt die Frage auf, ob wir einen weiteren frei flottierenden Kardinal brauchen, der ohne genauere Funktionen in Rom und sonstwo seine Fäden zieht. Wenn Marx schon zurücktritt, dann sollte er sich in seinem Heimatbistum als Priester unter Priestern nützlich machen. Man darf auf die päpstliche Entscheidung also gespannt sein.

Meine zweite Frage lautet: Weiß der Kardinal um das wirkliche Ausmaß der kirchlichen Katastrophe? Sein Herz hängt ja am „Synodalen Weg“, der ihm viel zu verdanken hat, und seine Diagnose vom „toten Punkt“ ist eng mit der Blockade dieses Prozesses verknüpft. Doch sollte er nicht übersehen, wie verengt dieser Weg konzipiert ist. Er soll Symptome kurieren, ohne die grundlegenden Strukturen zu ändern, obwohl das Ausmaß des Debakels noch nicht einmal richtig ausgemessen ist. Der Sargassosee vergleichbar dreht sich unter der Oberfläche noch immer ein gigantischer Müllstrudel im Kreis, der wirksam verdrängt, verharmlost oder mit der kirchlichen Lehre legitimiert wird.

Denn neben den bekannten stehen weitere verzweigte Komplexe zur gründlichen Bearbeitung an. Ich nenne den massiven körperlichen Missbrauch von Frauen in Nonnenklöstern, klerikalen Ausbildungsstätten und in Häusern, für die sich in gewissen Ländern jetzt schon die Presse interessiert. Ich nenne die destruktiven Perversionen einer verleugneten Homosexualität in manchen Studienhäusern und im Vatikan. Hinzu kommt das noch weitere Feld des geistig-geistlichen Missbrauchs von Abhängigen in Ordenskongregationen und religiösen Gemeinschaften. Er wird gefördert durch eine oft übergriffige Pastoral, dies bis weit in eine international gängige Beichtpraxis hinein. Ich denke auch an den bisweilen respektlosen und demütigenden Umgang mit Priestern und Nonnen, die aus finanziell abhängigen Ländern zu uns kommen und hier arbeiten, bis man sie wieder wegschickt. Zahlreiche Fälle sind inzwischen bekannt, auch wenn die Täterlobby der Respektlosen noch zusammenhält. Doch irgendwann wird auch hier eine kritische Masse erreicht und mit Unschuldsmiene werden Bischöfe wieder erstaunt reagieren.

Was sich ändern muss

Mit hohem Engagement kritisiert Papst Franziskus den Klerikalismus und Kardinal Marx stimmt ihm zu. Doch beide verkürzen diesen Missstand auf eine Art arroganter, in Macht verliebter Mentalität. Der beklagte „tote Punkt“ ergibt sich ja nicht aus dem bösen Willen von Mitbischöfen und Klerikern. Primär ist er kein psychologisches Phänomen, sondern in unveränderlichen Strukturen und unfehlbaren Dogmen, in der systematischen Missachtung von Menschenrechten sowie in einem Kirchenrecht verankert, das geschwisterliche Empathie konsequent unterläuft. Diese Kirche will immer rechthaben und das ist keine polemische Übertreibung, sondern unaufgebbare Überzeugung. Selbst nach dem 2. Vatikanischen Konzil mit seinen ökumenischen Impulsen sah man in unerträglicher Arroganz über Luthers Kernbotschaft hinweg. Die Kleriker unterscheiden sich „dem Wesen nach“ von den „Laien“. Noch vor wenigen Wochen vergaß Kardinal Marx das „Wort Gottes“ bei der einseitigen Behauptung, die „Sakramente“ seien der Herzschlag der Kirche. Solche Engführungen sind möglich, weil in kirchlichem Machtinteresse die komplexe Botschaft der Schrift noch immer verengt, das Neue Testament mit den Methoden des byzantinischen Hellenismus interpretiert, Jesus von Nazareth zu einem allmächtigen Halbgott („Pantokrator“) hochstilisiert wird, weil man aktuelle Sinnorientierungen als Zeitgeist diffamiert und die Not der Welt je nach Bedarf oder Gewohnheit übersieht.

Viele Theologinnen und Theologen haben dagegen argumentiert und es treibt mir die Zornesröte ins Gesicht zu sehen, wie gnadenlos man sie abserviert, noch nie über eigenes Versagen nachgedacht hat. Geradezu prophetisch hat Hans Küng schon 1968 in seinem Buch Wahrhaftigkeit gegen eine reaktionäre Konzilsinterpretation argumentiert; es sei auch Kardinal Marx zur Lektüre empfohlen. Küngs Frage lautete: Ist „eine Manipulation der Wahrheit nicht unvermeidlich geworden, um das Lehrsystem aufrechtzuerhalten?“ Und er erklärt, was zu diesem Zweck ständig passiert: „Die Wahrheit wird in den Dienst des Systems gestellt und politisch gehandhabt. Die Worte werden nicht zur Kommunikation, sondern zur Domination verwendet. Die Sprache wird korrumpiert, durch taktische Zweideutigkeit, sachliche Unwahrheit, schiefe Rhetorik und hohles Pathos. Unklares kann somit als klar und Klares als unklar hingestellt werden. Die eigene Position wird hinaufgelobt und der Gegner ohne ernsthafte Begründung abgeurteilt. Die fehlende Kontinuität wird durch Auslassungen und Harmonisierungen beschafft. Das Eingeständnis und die Korrektur von Irrtümern werden strikt vermieden und dafür eine praktische Allwissenheit der Autorität insinuiert. Nicht mehr um unermüdliche Wahrheitssuche geht es, sondern um den trägen, eingebildeten und mit allen Machtmitteln aufrechterhaltenen Wahrheitsbesitz.“ (S. 181) Die höchsten Amtsträger Wojtyla und Ratzinger haben diese Strategien in unerträglicher Weise perfektioniert und als liberal geltende Theologen keinen Widerspruch eingelegt, nachdem sie selbst das süße Gift kirchlicher Würden inhaliert hatten.

Seit 1965 hat diese Fehlentwicklung das Lehramt und die offizielle Theologie neu, jetzt aber in trotziger und polarisierender Weise geprägt. Es gibt für mich keine arroganteren, historisch klar widerlegten Klerikalansprüche als die Behauptungen, die Bischöfe seien die „Nachfolger der Apostel“ und die männlichen Priester handelten am Altar im Namen des Mannes Christus. Viele Kleriker ließen sich diese Überheblichkeit als zweite Natur einimpfen; ein geschwisterlicher Geist wurde durch Rechthaberei und Buchstabengehorsam ersetzt. Da verwundert es nicht, dass ein solches Machtbewusstsein bis auf leibliche Dimensionen durchschlug und Übergriffe aller Art rechtfertigte.

So ist diese Kirche nicht am toten Punkt angelangt, sondern stürzt im freien Fall noch weiter. Wie es jetzt aussieht, können nur Massenaustritte zu einer Besserung führen, weil sie aller gehorsamen Unterordnung den Boden entziehen und eine Neubesinnung in die Wege leiten. Mehr denn je gilt auch hier das Wort von Hannah Arendt: „Wir haben kein Recht zu gehorchen.“ Dies gilt mindestens solange, als sich die Bischöfe nicht von der Basis wählen und abwählen lassen. Auch Papst Franziskus muss sich damit auseinandersetzen. Weder er noch Kardinal Marx sollten ihre Rolle in einer synodal geordneten Gemeinschaft überziehen.