Psychiater Lütz behandelt die Falschen. Wie ein Nachruf im Verteidigungsdruck implodiert

Beginn Februar 2023 veröffentlichte die NZZ einen Gastbeitrag des Psychiaters und Theologen Manfred Lütz über Joseph Ratzinger/Benedikt XVI.. Bei manchen Verehrerinnen und Verehrern des Verstorbenen löste der Text Begeisterung aus, doch andere ließ er ratlos zurück. Zwar versuchte er einen Lobpreis, doch wider Willen demontierte er seinen Helden. Was hat Lütz von seiner Überfigur zu berichten? Er beginnt mit einem missglückten Zitat des Weltenbelehrers Markus Lanz. Es gebe nicht viele, soll dieser gesagt haben, bei denen mediale Überzeichnung und Realität so sehr auseinanderklafften wie bei Joseph Ratzinger. Wie recht er hat, wenn E. Stoiber ihn als den „größten Sohn Bayerns“ würdigt und andere behaupten, Ratzinger habe die Kirche nachhaltiger als andere Päpste geprägt, oder wenn sein Hofbiograph Peter Seewald wortreich erklärt, niemals zuvor habe ein einzelner Mensch das Papsttum von einem Tag auf den anderen so verändert wie dieser. Dabei hat der Überforderte nach acht päpstlichen Amtsjahren schlicht das Handtuch geworfen und mit seiner Bemerkung, ein Papst sei nie allein, zu erkennen gegeben, wie allein er zu dieser Stunde war. Tragisch nannte selbst Lütz diesen Lebenslauf.

Dch viel Gutes weiß Lütz nicht zu berichten. Ratzinger, so sein Fürsprech, habe für Macht „kein Händchen“ gehabt, doch hat er Leben lang nach ihr gegriffen. Er habe diese Ämter aus „religiöser Pflicht“ übernommen, doch Lütz hätte dies auch Selbstüberschätzung nennen können. Ratzinger sei schon an der Universität „überfordert“ und auf seine Mitarbeiter angewiesen gewesen, wegen eines Assistenten habe der die Uni Münster verlassen. Offensichtlich müssen seine Getreuen als Sündenböcke herhalten, um für alles Fehlverhalten gerade zu stehen. An Institutionen, so der Seelenfreund, war sein Held nicht besonders interessiert; administrativ „unbeholfen“ war er, wollte weder Erzbischof von München, noch Präfekt der Glaubenskongregation noch Papst werden. Gut, dann hätte er halt keines dieser drei Ämter übernehmen dürfen. Wenn Ratzinger selbst im Blick auf seine bevorstehende Papstwahl vom „drohenden Fallbeil“ sprach, warum hat der eine Kandidatur nicht abgelehnt, wie es der konkurrierende Hoffnungsträger Kardinal Martini tat? Oder wollte er nur ein paar Jährchen Papst spielen, wie er in seinem Kinderzimmer schon die Messe las?

Vielleicht war er sich seiner göttlichen Sendung zu gewiss; mehr Selbstkritik hätte ihm gutgetan. Als Erzbischof von München, so Lütz, habe er sich dadurch gerettet, dass er die installierten Mitarbeiter einfach übernahm und machen ließ. Sie ihrerseits hätten den armen, schwachen Ratzinger „mit heiklen Details belästigt“, gemeint ist wohl seine Zustimmung zur Übernahme des Sexualverbrechers P.H. in den pastoralen Dienst. Warum aber hat er bis zum Beweis des Gegenteils seine Teilnahme an der einschlägigen Sitzung abgestritten? Und bemerkte Lütz nicht die Ironie, dass das Münchner Missbrauchsgutachten seine Gegenwart ausgerechnet mit den offiziellen Mitteilungen über die Aktionen gegen Hans Küng nachweisen konnte? Natürlich haben ihn auch seine Mitarbeiter dazu überredet, „alte päpstliche Utensilien“ zu benutzen.

Nun denn, die roten Schuhe wurden eigens für ihn gefertigt und das Pallium sollte neu gestaltet werden; den Renaissance-Thron hat er wohl selbst ausgesucht. Weit hergeholt klingt zudem die Behauptung, ihm seien die Gewänder, die er als emeritierter Papst trug, „herzlich egal“ gewesen. Er hat sich als Ex-Papst gerade nicht in ein Eremitengewand, eine unscheinbare Soutane gehüllt oder – gemäß guter Tradition – sich in das Outfit eines Kardinals zurückverwandelt. Nein, sein Ex-Papsttum sollte etwas ganz Neues werden, das seine Kirche bislang noch nicht kannte. Der Bescheidene ließ sich in aller Form mit „Heiligkeit“ anreden, weil ihm der Titel eben nicht gleichgültig war. Er ließ sich für seinen Ruhestand ein ganzes Kloster umbauen und herrichten, wo ihn vier gottgeweihte Jungfrauen umsorgten und ein Erzbischof dem Ausgedienten die Post öffnen musste. Für einen in Gebet und Meditation versunkenen Mönch war das ganz schön anspruchsvoll und nicht sehr überzeugend. Besonders irre klingt zudem Ratzingers Bemerkung über den „schrecklichen Personenkult“ in dem Augenblick, da er seinen wohlsortierten Besuchern Ex-Papstbildchen zum Mitnehmen anbot. Irgendwas stimmt da nicht, Herr Lütz! Zugeschriebene Bescheidenheit und faktische Amtsansprüche klaffen zu sehr auseinander.

Im Klartext: Wer Lützens unkoordinierten Bemerkungen folgt, stößt auf einen Funktionär, der zu keinen Funktionen, die er wahrnahm, fähig war, der kein nennenswertes eigenes Profil entwickelte und dessen Image völlig vom publikumswirksamen Hans Küng abhing, weil dieser den Machtlosen ständig in die Pfanne haute. Dabei hatte Küng, wie sein theologisches Gesamtwerk zeigt, wirklich Wichtigeres zu tun.

Gegen solche Erniedrigung möchte ich den verstorbenen Ex-Papst entschieden verteidigen und sicher schließen sich mir viele seiner Kritiker an. Zwar hat er sich selbst überschätzt, dennoch entwickelte er ein eigenes, wenn auch hochkonservatives und kirchenschädliches Profil. Die Verantwortung für sein Verhalten wusste er mit wortreicher Eleganz zu verteidigen und durchzusetzen. Das konnte er glänzend! Er setzte seine kirchenpolitischen Ziele mit unnachgiebiger Härte durch und ließ über seine Nähe zu rechten Gruppierungen und Säkularinstituten (bis hin zur Katholischen Integrierten Gemeinde und zum Opus Dei) keinen Zweifel. Man lese nur den bitteren Nachruf, den ihm der schwer gedemütigte Leonardo Boff widmete. Statt sich den päpstlichen Leitungsaufgaben zu widmen, hatte dieser Papst sich regelmäßig zum Schreiben seiner Jesusbücher zurückgezogen, die (auch das muss man sagen) leider dreißig Jahre zu spät erschienen, theologisch also rein gar nichts mehr bewirkten.

Über dieses hochwirksame Profil und dessen desaströse Auswirkungen auf eine heillos darniederliegende Kirche hätten wir gerne Genaueres gehört. Es fällt schon auf, wie sehr die Verehrer von Ratzinger oft mehr über seine KritikerInnen berichten als über die dunklen Seiten des bayerischen Sohnes selbst, gar über die genaueren Inhalte seiner Theologie. Es lässt auf die Schwäche der Verteidiger schließen, wenn sie für Ratzingers Scheitern so viele Sündenböcke benötigen. Peter Seewald hatte 2020 diese Strategie der Fremdanklagen vorgegeben: Der arme, unschuldige Ex-Papst wurde missverstanden oder nur aus Neid niedergemacht. Das Register seines Ratzingerlebens spiegelt den Horizont dieser Heldensaga wieder, die sich weit mehr auf kirchenpolitische und familiäre Innenverhältnisse konzentriert als auf interessante theologische Auseinandersetzungen. Seewald meldet gut 130 Einträge zu Johannes Paul II, gegen 70 Einträge zum Papstbruder Georg, 46 zur Mutter Maria, 45 zum Vater Joseph. Dann folgen schon 41 Einträge zu Hans Küng. Die 32 zu Augustinus und 14 zu Bonaventura fallen stark ab; dasselbe gilt erst recht für andere Theologen, unter denen etwa K. Rahner mit nur 29 noch heraussticht. Man fragt sich, über welche theologische Quellen diese Biografie überhaupt gründlich informiert. Warum erreichen bei diesem selbstbewussten Jesuskenner Matthäus, Markus und Lukas nicht mehr als 2 bzw. 3 Einträge und kommt Johannes nicht über 15 Vermerke hinaus?

Um klar zu sein: Auch Küng wird – bei Lütz und bei Seewald ‑ nur zum Antipoden, geradezu zum Sammelbegriff und Generalrepräsentanten des Neids und der Besserwisserei, mit denen man Ratzinger konfrontiert sieht. Auch bei W. Beinert, der sich von Ratzingers Schüler und Freund zu seinem klaren Kritiker wandelte, hat sich dieser Reflex automatisiert, indem er Küng – ohne nähere Angabe von Gründen ‑ schlicht als arroganten Propheten abkanzelt und dem Priester Ratzinger gegenüberstellt. Es ist, als bliebe Ratzinger ohne seinen Förderer Küng eine blasse Figur. Das erinnert mich an die These des Würzburger Bischofs Stangl, der 1976 zur Verteidigung des Klingenberger Exorzismus verkündete, an Gott könne nur glauben, wer an den Teufel glaubt. So kann ich als Küng-Schüler doch wieder stolz sein und das bringt mich zu Lütz zurück. Wer ihm folgt, muss zur Überzeugung kommen, dass Ratzingers Ruhm sich nur dem Gegenfeuer von Küng verdankt. „Medial“, so Lütz, habe „Küng gegen Ratzinger gesiegt“. Dass Küng posthum noch so viel römische Ehre erringt, das hätte er zeit seines Lebens nicht zu hoffen gewagt.

Ja, bei so viel Fixierung auf Küng (wollte Lütz nicht einen Nachruf auf Ratzinger schreiben?) mussten auch die Klischees der 1968er wieder lebendig werden, die später Ratzingers Phantasie noch immer zu Hochleistungen trieben. Unter den 68ern, so Lütz, hätten deren professorale Verteidiger am meisten zu leiden gehabt; die Namen der Betroffenen bleibt er schuldig. Auch habe es damals zwischen Professoren „Raufereien“ gegeben, auch dies geschah wohl anonym, denn niemand hat davon erfahren. Gemäß einem früheren Ratzingerinterview, so meine Erinnerung, seien sogar Schüsse gefallen. Da muss die Phantasie des Verängstigten doch übergekocht sein.

Schließlich erinnert Lütz mal wieder an ein vertrautes Bild, an Küngs Alfa-Romeo, und erfindet dazu ein bislang ungehörtes Detail: Küng „bretterte“ durch Tübingen. Ich höre schon, wie der Motor aufheult und sehe, wie die Fußgänger der Bachgasse sich in die Hauseingänge flüchten, der arme Joseph aber schwer verletzt vom Fahrrad stürzt. Dagegen berichtet Lütz nicht davon, wie oft sich Ratzinger von Küng in diesem Alfa-Romeo zu Veranstaltungen und Tagungen mitnehmen lässt und sie die gemeinsame Zeit zu intensiven theologischen Gesprächen, u.a. über das Projekt einer „Christologie von unten“ nutzten. Einmal fuhr Ratzinger gar zusammen mit Küng nach Stuttgart, als im Juni 1969 dort Krzysztof Pendereckis skandalträchtige Oper Die Teufel von Loudun (mit bessenen Nonnen in der Badewanne) aufgeführt wurde. Sicher hätte Lütz daraus geschlossen, Küng habe Ratzinger unter dem Vorwand der Satansthematik zu unzüchtigen Gedanken verführen wollen. Aber Ratzinger, Verehrer des psychisch überreizten Pfarrers von Ars, glaubte tapfer an den Teufel und daran, dass dieser sich gerne mit Priestern anlegt. In Wirklichkeit war der Übeltäter also nicht Küng, sondern der Diabolische selbst, der aus der römischen Kirche auszutreiben ist. Wie titelte Lütz einmal so schön: „Neue Irre – wir behandeln die Falschen“.

Zum Schluss: Vor Jahrzehnten kannte ich einen Kollegen aus der Medizin, der zugleich Violinist und Konzertmeister des Universitätsorchesters war. Seine Mitmusiker erzählten, er sei ein glänzender Mediziner, seine Fakultätsgenossen hielten ihn für einen ausgezeichneten Geiger. Manfred Lütz stellt sich als Psychiater und Theologe vor. Dabei hatte ich schon immer den Eindruck, dass er ein guter Seelenheiler ist. Was wohl die professionellen Seelenkenner von ihm halten?

PS: Dieser Beitrag wurde von der NZZ nicht veröffentlicht.

 

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