Zum Tod eines großen Theologen

Hans Küng und seine Kirche

Der Tod eines Menschen ändert den Blick auf ihn. Es ist, als ob ein See erstarrt, keine Wellen mehr aufwirft, nie mehr über die Ufer tritt, keine Überraschungen mehr bietet. Jetzt kann man endgültig sagen, wer dieser Mensch war und was er für die Nachwelt bedeutet. Trotz schwerer Krankheit ist Hans Küng in den vergangenen Jahren nur langsam verstummt. Noch kein Jahr ist es her, dass der letzte Band seiner Sämtlichen Werke unter dem Titel Begegnungen erschien. Nichts anderes könnte dieses überreiche, spannungsvolle und mit Konflikten überladene Leben besser charakterisieren.

Mit visionärer Kraft entdeckte er immer Neues und er war – wie man in der Rückschau sagen kann – seinen Kollegen, seiner Kirche und der Verkündigung des Glaubens immer ein Stück voraus. Das begann während seines Studiums in Rom (1948-55). Ausgerechnet im so stolzen Zentrum des Katholizismus machte er (mit dem Erzprotestanten Karl Barth) die Ökumene zu einem katholischen Thema. Zur Vorbereitung des Konzils (1962-65) schrieb er ein Büchlein, das für viele die geistige Tagesordnung dieses epochalen Treffens wurde. Gegen Ende des Konzils entfaltete er sein Bild von einer schrift- und zeitgemäßen Kirche (1967), an dem sich die Konservativen ihre Zähne noch heute ausbeißen. Seinen Parforceritt setzte er 1970 mit seiner prophetischen Kritik am Unfehlbarkeitsdogma fort und in den 1970er Jahren entwickelte er eine umfassend theologische Grundlegung in der Trilogie von Christsein, Existiert Gott? und Ewiges Leben?

Den Hierarchen in Rom und in Deutschland wurde das zu viel. Sie entzogen ihm zu Weihnachten 1979 offiziell die kirchliche Lehrerlaubnis, hatten die Rechnung aber ohne den Wirt gemacht. Denn mit ungeheurer Energie entdeckte und entwickelte er jetzt über 20 Jahre lange – in mehreren Standardwerken und endlich ohne christlichen Überlegenheitsaffekt – das weltübergreifende und weltbewegende Thema der Weltreligionen, lange Zeit bevor Rom dieses faszinierende Thema für sich entdeckte. Seine kirchlichen Reformimpulse ließen dadurch nicht nach und der Kreis seines Denkens schloss sich, als er im gleitenden Übergang das Projekt Weltethos entwickelte. Diese Projekt ist kein naiver Appell zur moralischen Aufrüstung, sondern setzt die gesamte theologische und religionswissenschaftliche Grundlagenforschung voraus, die Küng früher geleistet hatte und die er auf seinen Weltreisen mit immer mehr konkreter Erfahrung und Anschauung füllte. Er wurde zum Mahner des Weltfriedens und zur Erinnerung daran, dass die Weltreligionen dabei eine enorme Rolle spielen können.

Ausgerechnet jetzt musste er gehen, da das katholische Deutschland zu beben beginnt. Der Synodale Weg setzt unerwartete Kräfte frei. Die seit 1965 verdrängten Themen brechen erneut auf. Frauen fordern handfeste Anerkennung, Homosexuelle ihre umfassende Würde ein. Vielerorts wird wieder über die Unfehlbarkeit des Lehramts diskutiert, vor allem aber stehen überall seine großen Themen von 1974 erneut im Mittelpunkt: die wissenschaftlich reflektierte und dogmatisch nicht überlagerte Gestalt Jesu von Nazareth ebenso wie seine stetige Warnung, Glaubensbekenntnisse zu rational abgesicherten Sachdefinitionen verkommen zu lassen, ferner seine Kritik vor einem tödlichen Klerikalismus, der deutlicher denn je seine Fratze zeigt. Verständlich, dass den Glaubenshütern auf Bischofsstühlen und Kathedern diese Verunsicherung nicht zupass kam. Man muss an den Großinquisitor von Dostojewski denken.

Wie hat Küng darauf reagiert? Auf dem Höhepunkt seines Schaffens hat er die Herren mit Kritik nicht geschont. Doch in diesem entnervenden Kampf hat er sich nie aufgezehrt. Dafür interessierte er sich viel zu sehr für Kulturen, Literatur, Musik, ‑ und für Menschen. Sprichwörtlich war, solange er sie noch leisten konnte, seine Gastfreundschaft, die weder konfessionelle, professionelle noch nationale Grenzen kannte.

Am meisten Bewunderung forderte er mir aber in den letzten Monaten seiner schweren Krankheit ab, als er nur noch mühsam sprechen und sich kaum mehr bewegen konnte. Der brillante Unterhalter, der einst große Gesellschaften dominierte und mühelos von Sprache zu Sprache wechselte, wurde zu einem milden, innerlich zufriedenen Menschen. Er habe ein gutes Leben gehabt, konnte er sagen. Offensichtlich spürte er in den letzten Tagen seinen Tod nahen und er empfing ihn in großer Zufriedenheit. Ein Wunsch blieb ihm allerdings unerfüllt, den er vor wenigen Tagen noch äußerte: Eine Rehabilitierung seines theologischen Lebenswerks durch Rom blieb ihm leider verwehrt. Die Gründe für diese Verweigerung werden Rom, Rottenburg und die Deutsche Bischofskonferenz irgendwann erklären müssen.

Jetzt erfährt Hans Küng wohl, was er 2009 in seinem großen Glaubenszeugnis mit dem Korintherbrief so formulierte: „Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich ganz erkennen, wie auch ich ganz erkannt worden bin. Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei. Das Größte unter ihnen ist aber die Liebe.“ Hans Küng, dieser unermüdliche Arbeiter im Weinberg des Herrn, ein Eidgenosse, dem Tübingen zum Lebensort geworden ist, hat in Gottes Reich seine Heimat gefunden. Er hat meine Theologie und meinen Glauben tief geprägt. In tiefer Ehrfurcht verneige ich mich vor ihm.