Was uns Benedikts Verteidigungsbrief lehrt

Am 8. Februar 2022 hat Joseph Ratzinger auf die Einlassungen des Münchener Gutachtens vom 20. Januar 2022 zweifach geantwortet: Er präsentierte eine juristische Verteidigungsschrift, die von vier Sachkundigen erstellt wurde, sowie einen persönlich gehaltenen Brief.

1. Narzissmus statt Empathie

Die juristische Stellungnahme macht einer Verteidigung vor Gerichten alle Ehre. Sie distinguiert und differenziert, wälzt den Verdacht der Falschaussage hin und her und grenzt ihn ein, bis sich alle Vorwürfe ins Nichts auflösen. Das Hauptproblem dieses Verfahrens besteht nicht darin, dass man diese Verteidigungsreden erneut relativieren und durch Gegendiskurse auflösen könnte. Es besteht darin, dass sich aus keinem Ansatz ein Ja oder Nein ergeben will; den Kernfragen wird ausgewichen. Mehr denn je zweifeln die Betroffenen an der Lauterkeit des hohen Herrn. Es geht ihm um seine Person, nicht um die Sache. Details treten in den Vordergrund, aber das Grundversagen löst sich wie im Nebel auf. So fragen sie sich: Warum gibt sich der Würdenträger von damals für solche Niederungen her? Hat er diese Rechthaberei nötig? Hat er das Gespür für alles, was die Gedemütigten verletzt hat und heute noch bewegt jetzt endgültig verloren? Diese Fragen sind in vielen Reaktionen zu spüren.

Noch mehr Enttäuschung löste der persönlich gehaltene Brief aus, den Ratzinger von seinem Privatsekretär Georg Gänswein verlesen ließ, ‑ eine Aufgabe, die dieser nur unkonzentriert und mit irritierenden Lesefehlern erfüllte, als ginge es um eine Nebensache.

Das öffentliche Echo war verheerend. Im Brief äußert sich voller Selbstmitleid ein selbstbezogener, schwer enttäuschter Mann. Zuerst dankt er allen, die treu zu ihm stehen, als ob das ein verdienstvoller Glaubensakt wäre. Zu Beginn spricht er die „Schwestern und Brüder“ an, zum Schluss segnet er „liebe Freunde“. Wen genau redet er an? Spricht er als Privatperson, als Ex-Papst oder als einer, der die Aura des Papstamts noch immer genießt? Dann greift er auf die ausgehöhlten, liturgisch überstrapazierten Floskeln von „tiefer Scham“, „großem Schmerz“ und „großer und übergroßer Schuld“ zurück, vermeidet jedoch ein konkretes, auf sein Handeln und Dulden bezogenes Schuldbekenntnis. Darin folgt er der Generalstrategie der deutschen Bischöfe; deren Ton die Musik macht: Er erhebt sich über die Schicksale der Gedemütigten. Viel wichtiger ist ihm das „dunkle Tor des Todes“, durch das er am Lebensende schreiten muss. Doch dort werde er einen gnädigen „endgültigen Richter“ finden, den er zugleich seinen Freund nennt. Wie kann man sich nur so selbstbewusst inszenieren.

Beim Lesen wird das Ungesagte immer wichtiger als der wohlformulierte Inhalt. Die Frage, warum die Betroffenen so in den Hintergrund treten, verdampft ebenso wie die Frage, wie viele Opfer – Richterfreund hin oder her ‑ ihn dort oben anklagen werden, weil sie um Anerkennung ihrer Geschicke kämpfen. Warum ließest Du uns damals in München im Stich, warum verstummten unsere Stimmen später in den Verliesen der Heiligen Inquisition? Weshalb beschäftigte Dich für lange Zeit die blasphemische Befleckung der Priesterwürde mehr als die Schändung der Kinder und Jugendlichen? Offensichtlich fiel es Dir lange Zeit schwer, ohne Wenn und Aber den Opfern beizustehen, denn das Ansehen der Kirche und die Solidarität mit Deinen „Mitbrüdern“  im geheiligten Männerbund gab den Ausschlag, bis sich die Skandale nicht mehr vertuschen ließen. War Wegschauen für dich die bessere Lösung?

Die Empathie, die dieser Brief gegenüber den Geschädigten erkennen lässt, wirkt merkwürdig gestaltlos und gebrochen. Ich erinnere mich an Papst Benedikt, der im Mai 2006 Auschwitz besuchte und einen vergleichbaren Eindruck hinterließ. Bei aller Erschütterung, die dort zu spüren war, stellte er die Nationalsozialisten und das jubelnde Volk dann doch wieder als Verführte und Verblendete dar. Über die Weltsicht seiner Kindheit war er noch nicht hinausgekommen. Klar, auch damals ließen sich die Vorwürfe kaum juristisch beweisen; vier Rechtanwälte hätten auch diese wortreich widerlegen können. Doch der Abgrund lag und liegt auch damals in den unausgesprochenen Widersprüchen, die zwischen abstraktem Schuldbekenntnis, verdeckter Schuldrelativierung und dem wirklichen Grauen klafften. Hinzu kommt jetzt eine verstörend selbstverständliche Heilssicherheit vor Gott, die auf eine Vergebungsbitte verzichtet. So kann nur schreiben, wer sich nicht hineinversetzen kann in die Verzweiflung, die den Protest der Gedemütigten antreibt.

Im September 2009 wurde der britisch-deutsche Ratzingerkenner Alan Posener in der WELT deutlicher. Er nannte die damalige Rede „ein Dokument des intellektuellen und moralischen Versagens“ und den Versuch, „aus Tätern Opfer zu machen“. Dieses Mal stilisiert sich der Oberverantwortliche selbst zum Opfer, wo doch das Grauen von Priesterverbrechen aufzuarbeiten wäre. Alte Kirchenreflexe werden so aktiviert. Ratzinger behauptet, ein Versehen werde dazu ausgenutzt, um an seiner Wahrhaftigkeit zu zweifeln, ja, ihn als Lügner darzustellen. Das „hat mich tief getroffen.“ Der Sache nach reagiert er nicht besser als Bischof Voderholzer, der im Münchener Gutachten nur eine „Instrumentalisierung des Missbrauchs“ für kirchenkritische Ziele erkannte. Die allgemeine Empörung sei nur „das Feuer, auf dem die Suppe des Synodalen Weges gekocht wird.“ Viele bleiben da sprachlos, gleich, ob Ratzinger seinen Brief selbst formulierte oder nur eine Vorlage seiner Freunde unterzeichnete.

2. Amtsanspruch statt Dialog

Ich teile die beschriebenen Eindrücke, doch ich warne auch vor einer simplen Personenschelte, einer Personalisierung des Problems; denn nur bedingt lässt der unsägliche Brief auf Ratzingers moralischen Charakter schließen. Gerade dieser als theologisches Genie verherrlichte Mann ließ sich schon früh von den Rollen aufsaugen, in die er jeweils schlüpfte, genau dies bewirkte seinen kometenhaften Aufschwung. Nach 1968 war er – immer unter heteronom konservativen Vorzeichen – erst der kirchenloyale Theologe schlechthin, dann der linientreue Erzbischof ohne Furcht und Tadel, später der voranstürmende Vollzugschef der römischen Inquisitionsbehörde, schließlich der sendungsbewusste Stellvertreter Christi in Person. Doch im Jahr 2013 geriet er, der geborene Rollenspieler, in eine paradoxe Lage. Offiziell trat er vom Papstamt ja zurück. Er hätte also sein Papstgewand ablegen, in seinen früheren Status als Kardinal oder Erzbischof zurückkehren, auf jede Papst-Titelei verzichten und den Vatikan verlassen, sich ganz auf seine Person und seine persönliche Ausstrahlung zurücknehmen müssen. Zahllose Bischöfe handeln in diesem Sinn auf der ganzen Welt.

Warum ist ihm dieser Abschied nicht gelungen? Offensichtlich konnte er nicht mehr ohne eine kirchlich definierte Rolle leben. Noch immer lässt er sich als Papst anreden und nennt sich „emeritiert“. Sollen wir übersetzen mit „ausgedient“ oder „außer Dienst“, „im Ruhestand“ oder „pensioniert“? Die Antwort hat er seinem Biographen P. Seewald gegeben (1076ff). Der Ex-Papst sieht zwar keine Beteiligung mehr am „konkreten Rechtsgehalt“ seines früheren Amtes und keinerlei konkrete „rechtliche Vollmacht“, wohl aber eine geistige Zuordnung und Verbundenheit zum Papstamt, eine „spirituelle Bindung als eine Realität“. „Die spirituelle Seite des Vaterseins[!] bleibt bestehen, während auf der Seite der konkreten Rechte und Pflichten die Situation sich entsprechend ändert“. Mal wieder zieht sich der Platonist Ratzinger auf das Reich der Ideen zurück, die er mit der Realität verwechselt. Gewiss, er versteht sich nicht als Ersatzpapst und will vor dieser Welt „verborgen“ bleiben (was bislang nicht der Fall ist). Doch seine aktuelle Selbstverteidigung trägt erneut päpstliche Züge. Er meint, er rette die Ehre der Kirche, dieser reinen Braut Christi, wenn er seine Hände in Unschuld wäscht. Zudem haben seine „Freunde“ ihn zum spirituellen Urbild eines Papstes hochstilisiert, deshalb geht es dem Integralisten auch jetzt um das Ganze des Glaubens.

So sieht es auch Gänswein, der auf Kampfstimmung gebürstet ist: Seine „Gegner“ hätten jetzt „die ideale Gelegenheit, abzurechnen und das Andenken des Papstes zu verfluchen[?] … Leider lassen sich viele von diesem feigen Angriff täuschen, es gibt hier viel Dreck.“ In ähnlicher Tonlage beschimpfte Gänswein im Oktober 2019 den unbestechlich analysierenden Ratzingerfilm von Christoph Röhl Verteidiger des Glaubens. Dieser Film sei eine „Sauerei“, erklärte er damals. Es muss im Ex-Papst doch noch etwas Unberührbares, bleibend Päpstliches stecken. Mehr noch, für Gänswein und Konsorten repräsentiert er genau diese Unberührbarkeit, die er und sein weißes Gewand noch immer darstellen. Offensichtlich gibt es das Papstamt an sich, an dem er noch immer teilhat.

Diese Vergeistlichung und abstrakte Überhöhung hat ihre vorgegebene Kirchenlogik, denn sie ergibt sich aus einem Spezifikum der (römisch)-katholischen Ämter. Von ihnen gilt: Sie sind unmittelbar von Christus eingesetzt und als „Weiheämter“ – geradezu magisch ‑ tabuisiert. Der Papst vertritt Christus in einem rechtlich und sinnenhaft fassbaren Sinne. Eine ähnliche Magie gilt auch für die Sakramente, insbesondere die Eucharistie, in der der Priester Brot und Wein in einem objektivierten, dinglichen Sinn „verwandelt“ (trans-substantiiert) und sie mit allen Zeichen göttlicher Anbetung umgibt. Direkt im Namen Christi handeln diese geweihten Männer immer, da ihre Seelen für alle Zeiten mit einem „unauslöschlichen Merkmal“ ausgestattet sind. Sie vermitteln uns den göttlichen Segen; an Weihnachten und Ostern tut der Papst dies urbi und orbi, welch megalomaner Anspruch, es sei denn, diese Kirche wäre für das Weltenheil wirklich unverzichtbar.

Alle diese Prädikate sind lehramtlich beglaubigt, kirchenrechtlich geschützt, von einer rational ausgefuchsten Dogmatik begründet und bruchlos in das hochkirchliche Gesamtsystem eingebaut. Die ganze Sprach-, Denk- und Erfahrungswelt des Römisch-Katholischen ist mit dieser Fraglosigkeit und Unbeirrbarkeit umgeben. Deshalb musste sie irgendwann zum natürlichen Feind einer Moderne werden, die von steter Verunsicherung, kritischer Rückfrage und Dauerreflexion, von einer „Diktatur des Relativismus“ geprägt ist. Die Angehörigen der römisch-katholischen Kirche können sich hingegen als die einzig Glücklichen der Welt verstehen, denn nur ihr Kirchenglaube und nur ihre Kirchenpraxis kennen kein objektives Defizit. So hat es der Glaubenspräfekt Ratzinger im Jahre 2000 in einer hochrangigen Erklärung festgelegt (Dominus Iesus über die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche, 22).

Diese vor-modern absolute Objektivität und ihre unerschütterliche Heilsgarantie werden im Papsttum prägnanter als in allen anderen Ämtern dokumentiert. Es präsentiert den Amtscharakter aller Ämter schlechthin, weil es in einem unmittelbaren, rechtlich bewehrten Sinn Christus vertritt. Wer ihm und der Papstkirche die Treue hält, steht auf der richtigen Seite. Man kann das schon in der Verurteilung M. Luthers und in den Dekreten des Konzils von Trient (1545-1563) spüren. Eine wachsende Intensität erreicht es in den kommenden Jahrhunderten und erhält auf dem Vatikanum I (1870) im Primats- und Unfehlbarkeitsanspruch des Papstes eine unerreichte monokratische Steigerung. Zur Blüte kam sie in der rigiden Neuscholastik (1860-1960); die in den 1950er Jahren die Überzeugung gewann, im Grunde hätte sie alle Glaubensfragen gelöst. Wozu überhaupt ein neues Konzil?

Einen Bruch dieser Sicherheitsillusion bedeutete höchstens das Vatikanum II (1962-1965), doch Rom und seine reaktionären Anhänger hatten den Konzilsschock bald überwunden. So verwundert es nicht, dass der monokratisch eingeschworene Ratzinger, alias Benedikt, heute noch meint, aus ihm spreche keine subjektive Meinung, sondern das objektivste aller Ämter. Spätestens als er Glaubenspräfekt wurde, gab er bei dem Herrn, den er später vertrat, seine eigene Individualität ab. Dieses autoritäre Amtsbewusstsein musste ihm bleiben, weil es neben sich kein anderes mehr duldete; diese Höhe war nicht mehr zu übertreffen. Nicht ohne Grund hatte er schon seine Jesusbücher unter doppeltem Namen publiziert. Von der Ideologie aller Ideologien geprägt, verfügt er über keine wirklich persönliche Stimme mehr. So kann er nicht mehr wahrnehmen, wie weltfern und unbarmherzig er wirkt; er schwebt distanzlos in seiner eigenen Überwelt, die die katholische Kirche gerne Übernatur nennt. Offensichtlich kann er von seinem zeitlosen Orbit herab die Menschen und ihre Schicksale da unten nicht mehr erkennen und der briefliche Dank für seine „Freunde“ ist ihm wichtiger als die Anerkennung konkreter Schuld. Das sind zwar denkbar schlechte Voraussetzungen für einen Künder der christlichen Botschaft, aber in der katholischen Weltkirche sind sie noch zu Hause.

3. Objektivismus statt Erfahrung

Das Gesagte ist unter Reformkräften irgendwie bekannt, doch es auszusprechen gilt als defätistisch oder überspitzt, selbst Papst Franziskus kritisiere den grassierenden Klerikalismus. Bestimmt lasse er sich in Hierarchie, Vatikan und bei den Päpsten bei heftigem Drängen und einigem guten Willen überwinden, mehr Bescheidenheit und Gemeinschaftssinn sei kein Hexenwerk. Ich bin da anderer Meinung, denn der Klerikalismus stellt ein Problem der Kirchenlehre und Kirchenstruktur, der Dogmen und eines eingefleischten Autoritarismus dar. So einfach lassen sich die Anker dieser Fehlbildung nicht mit Appellen und Petitionen lichten, denn im Kern sind sie nicht psychologischer oder je individueller Art. Zur Debatte steht nicht weniger als die Identität des römischen Katholizismus, also
– die immer gepriesene Dauerkontinuität, mit der er alle Konflikte aus der Perspektive der Sieger beschönigt,
– die Verwechslung versöhnter Gemeinschaft mit den Kontrollorganen der römischen Monokratie, die bei jeder Frage und Entscheidung nach Rom schielt,
– eine unreflektierte, aber eingefleischte Rechthaberei, die als Glaubenstreue und Gabe des Geistes missverstanden wird, schließlich
– ein geschichts-, gender- und kontextfeindlicher Wahrheitsbegriff, der den persönlichen Dialog durch abstrakte Belehrungen ersetzt.

Eine jede dieser Umdeutungen ließe sich historisch belegen und inhaltlich analysieren. Selbstbestätigung herrscht vor, Objektivismus ist Trumpf, Erfahrungen werden diskriminiert. So gesehen ist Joseph Ratzinger kein Sonderfall, sondern ein universalkirchliches Muster. Zur Debatte stehen bei ihm keine isolierten Fakten, sondern die allgegenwärtigen Kennzeichen eines mentalen, doktrinal untermauerten, zugleich wohlorganisierten Globalsystems. Wie ein schleichendes Gift dringen diese Denk- und Handlungsblockaden als Vorurteile in unsere Wahrnehmung ein: die Entpersönlichung der Sprache, der prinzipielle Ausschluss von neuen Erfahrungen, die Verhöhnung der Zeichen der Zeit. Deshalb erfordert der Weg in eine neue Zukunft nicht weniger als einen Paradigmenwechsel, der das Ganze in den Blick nimmt.

4. Elite statt Teilhabe

Trotz der großen Erfolgsgeschichten, die der römisch-katholischen Kirche eingeschrieben sind, geriet sie in den Zwang zu wachsender Selbstrechtfertigung, denn wider Willen wurde auch sie zum Kind einer Neuzeit, die blind und hilflos in die Post-Moderne schlittert. Doch dabei geriet die Kirche in einen augenfälligen Widerspruch: Wie kann sie den unvermittelten und unbedingten Heilsanspruch mit der Pluralisierung und dem Versagen unserer Wahrheitssysteme, wie ihre „Heiligkeit“ mit den Mängeln, gar Verbrechen ihres defizitären Bodenpersonals versöhnen? In vormodernen Gesellschaften mochte und mag diese Diskrepanz verdeckt bleiben, denn schon im römisch-byzantinischen Herrschaftsraum übernahm die Kirche das Zweiklassenmodell, das zwischen dem „Volk“ und den Klerikern unterschied. Es baut intransparente Trennmauern auf, die noch heute funktionieren. Dass Hierarchie und Klerus dort oben, in Stadtpalästen und Burgen, als Künder der Wahrheit fungierten und eine objektive Erlösung garantierten, ließ man sich gerne gefallen.

Doch spätestens die Reformation legte den Finger in die Wunde, weil keine Elite von Menschen das Heil garantieren kann. Darauf reagierte Rom 500 Jahre lang hilflos mit Verurteilung, Exkommunikation und weiterer Konzentration auf klerikale Privilegien. Denn wer objektives Heil besitzt, muss dies wenigstens mit einer Elite beweisen können. Seitdem bildete z. B. eine solide Priesterausbildung eine wichtige Rolle. Doch je offener die (westliche) Gesellschaft wurde und je steiler die klerikale Elite herausragte, umso verletzlicher wurde sie. Josef Ratzinger, der aufstrebende Junge aus Marktl am Inn, hat beides vorgelebt und exemplarisch realisiert. Er wurde zum unerreichten, lupenrein, vorbildlich glaubenden, heiligmäßig lebenden Papst-Theologen, der sogar als Ex-Papst noch Papstqualitäten realisiert, vielleicht das Ideal überweltlicher Reinheit erreicht und zum Überwinder postmoderner Verwirrung wird. Doch er hat auch Widersprüche ausgelöst, mit denen er nicht umgehen konnte. Umso dramatischer ist die Enttäuschung vieler Gutwilliger und Engagierter, deren Idealbild schon früher Risse bekam und jetzt (wie es scheint) zerstiebt. Selbst der Gipfelstürmer kirchlichen Elitedaseins zerbricht an den selbstgesteckten Zielen, denn auch die Elite muss irgendwann zur Kenntnis nehmen, dass ihr überhöhtes Selbstbewusstsein an ihrer eigenen Schwäche zerbricht.

Umso entschiedener fordern die Reformkräfte Teilhabe am Gesamtgeschehen ihrer Kirche. Doch für eine monarchisch verfasste Kirche bedeutet dies keine Schönheitskorrektur, sondern einen revolutionären Akt, keine Regel- und Sprachkosmetik, sondern einen Eingriff in die bisherige DNA, eine Neubesinnung auf die Gründungsimpulse, die wir nur in der Jesusgeschichte finden können. Wie aber bleiben sie unverfälscht? Schließlich bildet ihre institutionelle Verhärtung eine stets gegenwärtige Gefahr. In den Kirchen, ihren von Leidenschaft durchsetzten Gemeinschaften und ihren Hierarchien missrät Jesus regelmäßig zur „gefrorenen Gewalt“ (Brigitte M. Mayer), weil das kirchliche Immunsystem zu gerne versagt. Dämme lassen sich nur bauen durch eine stetige und selbstkritische Rückfrage, dies im Dialog mit allen, die danach suchen, gleich, ob sie sich innerhalb oder außerhalb einer christlichen Gemeinschaft befinden.

Neuerdings wird die Partizipation des gesamten Kirchenvolkes mit Synodalität umschrieben. Doch ist der Begriff im katholischen Raum von Anfang an zurechtgestutzt, wenn nicht gar verfälscht. Im römischen Verständnis verkürzt er die universale Teilnahme auf das bloße Recht auf Gehör, in der kommenden Bischofssynode stimmen allein die Bischöfe über die Voten des Kirchenvolkes ab. Der Synodale Weg gesteht den Bischöfen eine Sperrminorität zu. Das scheint mir nicht akzeptabel.

5. Das heilsame Risiko der Verweigerung

Dieser Text will, wie schon gesagt, die Autorität des ehemaligen Papstes nicht beschädigen. Das hat er selbst getan. Es gilt aber, Benedikts aktuelles Verhalten als Musterbeispiel einer tief verankerten römisch-katholischen Mentalität wahrzunehmen. Es geht mir nicht um seine Verurteilung, sondern um eine Tiefenbohrung, die den wirklichen Ernst aktueller Reformvorhaben in den Blick nimmt. Auf ihre Weise agieren der Synodale Weg und seine Papiere authentisch und unverhüllt. Die Ton- und Forderungslage der dritten Vollversammlung (Februar 2022) hat viel Euphorie ausgelöst, denn sie hat wichtige Fragen auf den Tisch gelegt. Dennoch rate ich zur Skepsis, denn die Grundsatzpapiere berühren nur die Oberfläche. Zu erwartende Konflikte müssten offen genannt, tiefer gehende Grundentscheidungen unverhüllt gewürdigt, zu erwartende Konfliktpunkte unverblümt besprochen werden.

Man könnte mit Fragen an die Bischöfe beginnen. Denn diese „Nachfolger der Apostel“ haben – wenn sie denn gehört werden wollen ‑ nicht über die Beschlüsse von Chalkedon, Trient oder das Vatikanum I, nicht einmal über die zahllosen Kompromisse des Vatikanum II, auch nicht über die zahllosen päpstlichen Enzykliken und Dekrete zur wachen, von denen päpstliche Dokumente vollgestopft sind, sondern über die frühesten, die jesuanischen und biblischen Glaubensimpulse. Was sonst sollte an ihnen apostolisch sein? Und diese lehramtsbewussten Herren sollten sich daran erinnern, dass Pius IX. im 19. Jahrhundert die Theologie nicht mehr als „Teil“ des Lehramts ertragen, sondern ins Unverbindliche verbannt hat. Inzwischen gehören römische Sanktionen geradezu zu den theologischen Gütesiegeln. Wann werden wir aus dieser selbstverschuldeten Engstirnigkeit wieder heraustreten?

So möchte ich vom Synodalen Weg etwa hören, mit welchen heidnisch-sazerdotalen und opferfixierten Elementen unser katholisches Priestertum im Übergang zum Mittelalter gewürzt wurde; ab wann gibt es überhaupt „Priester“ im aktuellen Wortsinn? Woher stammt der diffus machtbesetzte, zudem körper- und frauenfeindliche Begriff des Heiligen, woher das Heiligenideal, das die gesamte Kirchenwirklichkeit durchsäuert? Was genau verstehen wir unter der kirchlichen Einheit, die sich doch aus selbstverantwortlichen Gemeinschaften heraus entwickeln muss? Hat der Synodale Weg einen Plan B für den Fall entwickelt, dass ihre Beschlüsse auf bischöfliche oder römische Ablehnung stoßen? Wie konfliktfreudig wird er im Ernstfall sein? Warum bittet keine kompetente Fachkraft darum, mit evangelisch getränkter Tinte die Texte der Synodalen Arbeit zu spiegeln? Und schließlich: Warum ist der interreligiöse Horizont noch in keinem der Dokumente angekommen; steht er nicht auch im Blickfeld einer zeitgemäßen Kirche?

Auf diesen Fragen muss bestehen, wer das reaktionäre Kirchenkonzept von Josef Ratzinger/Benedikt gründlich durchschauen und überwinden will; zu großen Teilen ist es noch immer unser Kirchenkonzept. Deshalb sehe ich nicht, wie sich die aktuellen Verhärtungen der römisch-katholischen Kirche über Nacht, etwa durch einige Synodalsitzungen der Weltkirche auflösen lassen. Sie verlangen eine langwierige theologische, spirituelle und pastorale Arbeit sowie die grundlegende Umorganisation innerkirchlicher Herrschaftsstrukturen, wahrscheinlich den Austausch unserer Eliten. Der Weg wird sich in die Länge ziehen.

 

Letzte Änderung: 23. Februar 2022